Schulerfolg der Migrantinnen und Migranten

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Schulerfolg der Migrantinnen und Migranten
Blickpunkt Bildung
Amt für Bildungsforschung
Erziehungsdirektion Bern
Nr. 1 / 2000
Schulerfolg der Migrantinnen und Migranten
Elisabeth Salm
Das vorliegenden Papier ist in drei Themenschwerpunkte gegliedert: im ersten geht es um die
Situation der Migrantinnen und Migranten im schweizerischen und im bernischen Schulsystem. Im
zweiten wird nach den Ursachen für das Schulversagen der Migrantenkinder gesucht. Im dritten wird
der Frage nachgegangen, ob allein mit der Steigerung der Deutschkompetenzen die Schulerfolge der
Fremdsprachigen zu verbessern sind.
Der abschliessende Kommentar macht Vorschläge für konkrete Massnahmen auf verschiedenen
Ebenen.
1
Migrantinnen und Migranten im schweizerischen und im bernischen
Schulsystem
Beinahe jedes fünfte Schulkind wird im schweizerischen Durchschnitt während der obligatorischen
Schulzeit nicht in seiner Familiensprache unterrichtet; im Kanton Bern trifft dies nur auf jedes siebente
zu. Der Anteil Fremdsprachiger im Kanton liegt mit rund 14% deutlich unter dem schweizerischen
Mittel von knapp 20%.
In den Volksschulen des Kantons Bern hat es vor allem Kinder aus Italien, Spanien, Portugal, der
Türkei und aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien.
Die Kinder von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern machen im Kanton nur einen verschwindend
geringen Teil, nämlich nur rund 1% aus.
Die fremdsprachigen Kinder verteilen sich ungleichmässig auf die Amtsbezirke: So haben die Ämter
Biel (35%) und Bern (23%) überdurchschnittlich viele fremdsprachige Kinder in der Volksschule,
während beispielsweise Schwarzenburg und Frutigen mit je rund 5% vergleichsweise wenig
Fremdsprachige in ihren Klassen haben.
Allgemein geht man davon aus, dass sich die Integration der Fremdsprachigen umso schwieriger
gestaltet, je selektiver ein Schulsystem ist: Diese Kinder werden in Sonderklassen abgeschoben, oder
finden sich im anspruchsloseren Schultyp. Im Vergleich zu andern europäischen Schulsystemen hat
die Schweiz eines der selektivsten. Obschon hier viel von Integration und integrierten Schulsystemen
die Rede ist, zeigen die Schulstatistiken ein gegenteiliges Bild.
Für die gesamte Schweiz stellt das Bundesamt für Statistik eine starke Zunahme der Anzahl Schüler
und Schülerinnen fest, die nach einem besonderen Programm (Sonderklassen, Kleinklassen usw.)
unterrichtet werden. Borkowsky et al. (1999, 72) schreiben: „Die Zunahme lässt sich vollständig auf
eine zunehmende Überweisung der ausländischen Schulkinder in diese Programme zurückführen. Ihr
Anteil ist von 25% (1980/81) auf mittlerweile 45% (1997/98) angestiegen“.
1
Kronig (1996) weist in einer Analyse gesamtschweizerischer Daten sogar nach, dass der Anteil
ausländischer Schülerinnen und Schüler in Kleinklassen für Lernbehinderte zwischen 1980 und 1993
um rund 150% zugenommen, jener der Schweizer Schüler dagegen um rund 25% abgenommen hat
(zit. nach Rüesch, 1998, 23).
Auch im Kanton Bern verteilen sich die Fremdsprachigen sehr ungleich auf die einzelnen Schultypen
und Schulangebote. Sie sind im Vergleich mit den muttersprachigen Kindern und Jugendlichen in den
Kleinklassen und in den Realklassen deutlich übervertreten und in den Sekundarklassen klar
untervertreten, besonders deutlich in den Angeboten "Mittelschulvorbereitung" und "gymnasialer
Unterricht im 9. Schuljahr". Eine Feinanalyse der Zahlen weist auf eine unterschiedliche Praxis in den
Gemeinden hin. So befinden sich im gymnasialen Unterricht des 9. Schuljahres in Thun beispielsweise
6% Fremdsprachige, während es in Biel 19% sind. Eine Freiburger Untersuchung zeigt, dass die
Zuweisungspraxis je nach Herkunftsland unterschiedlich ist und zudem von Kanton zu Kanton
unterschiedlich gehandhabt wird (vgl. Kronig, 1996, 71).
Sturny-Bossart (1996, 15) hat berechnet, dass die Wahrscheinlichkeit in Kleinklassen geschult zu
werden, für Kinder aus der Türkei und aus Ex-Yugoslawien sechsmal höher ist als für
Schweizerkinder. Das weist darauf hin, dass diese Schülerinnen und Schüler vor allem aus
sprachlichen Gründen und wegen kultureller Anpassungsschwierigkeiten Probleme mit der
schweizerischen Regelschule bekunden und nicht weil sie weniger intelligent wären.
Unter anderen sind folgende Ursachen für die Abschiebung der Migrantenkinder in besondere Klassen
zu nennen:
1. Der Glaube an die Wirksamkeit der Segregation scheint ungebrochen.
2. Die Toleranz in Bezug auf Lernzielabweichungen nimmt in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ab,
parallel dazu wachsen die an die Schülerinnen und Schüler gestellten Erwartungen (vgl. Bless
und Kronig, 2000, 11).
3. Die Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Lehrpersonen.
Diese Entwicklung ist in verschiedener Hinsicht problematisch, nämlich:
1. Der ursprüngliche Auftrag der Kleinklassen kann nicht mehr erfüllt werden und damit ist ein
entsprechender Unterricht nicht mehr möglich. Die Kleinklasse hat nach Bless und Kronig die
Funktion einer Entlastung der Volksschule bekommen.
2. Schweizer Schülerinnen und Schüler und Migrantinnen und Migranten, die diesen Klassen wegen
Leistungsschwäche zugewiesen werden, erhalten keinen ihren Bedürfnissen entsprechenden
Unterricht.
3. Die Schulung fremdsprachiger Kinder in der Kleinklasse, die dort zugewiesen werden, weil sie in
der Regelklasse nicht mitkommen, ist teuer. Diese Mittel könnten gezielter eingesetzt werden.
Die stetige Zunahme der fremdsprachigen Kinder einerseits und die sich häufenden Hinweise auf ihr
Schulversagen andererseits machen Massnahmen dringend notwendig.
2
2
Die Suche nach den Ursachen für das Schulversagen der Migrantenkinder
Im ersten Abschnitt wurde dargestellt, wie sich die Situation bezüglich Chancengerechtigkeit für die
Migrantenkinder im schweizerischen und im bernischen Schulsystem in letzter Zeit zunehmend
verschlechtert hat. Im folgenden Abschnitt soll nun anhand von verschiedenen Studien aus der
Schweiz und dem deutschsprachigen Ausland nach den Ursachen gesucht werden.
2.1
Ursachen
• Einfluss der Klasse
In einer Sekundäranalyse der IEA Studie (Reading Litercy Study) wurde die Leseleistung von 2000
Primarschülerinnen und Primarschülern aus über 100 Klassen des dritten Schuljahres der deutschen
Schweiz erhoben. Diese geht der Frage nach, welchen Anteil die Schule selbst am Erfolg oder
Misserfolg der Migrantenkinder hat, denn ihre Schulschwierigkeiten werden meistens primär als Folge
bestimmter Defizite im Bereich der familiären Sozialisation geortet. Rüesch (1997, 271) meint dazu,
dass verschiedene Untersuchungen zeigen, „ ... dass gute Schulleistungen nicht einfach das Ergebnis
von Begabung und privilegierter Herkunft sind. Ins Auge springt vielmehr die Variabilität der
Leistungsergebnisse zwischen Schulen und Schulklassen, die auf das Vorhandensein erheblicher
pädagogischer Handlungsspielräume hindeutet“.
Die rund 100 Schulklassen dieser IEA-Studie wurden aufgrund ihres hohen, mittleren oder tiefen
Leistungsniveaus im Fachbereich Leseverständnis der entsprechenden Gruppe zugewiesen (vgl. die
Abbildung im Anhang). Innerhalb der Klassen wurden die Kinder zudem nach Staatszugehörigkeit
und sozialer Schicht aufgeteilt und hinsichtlich ihres Leistungsniveaus miteinander verglichen.
Zusammenfassend lassen sich aus der Studie folgende Erkenntnisse gewinnen:
- Bei allen Kindern hängt das Leistungsniveau, das sie erreichen, von der Klasse ab, in der sie
unterrichtet werden.
- Eine Leistungsdifferenz zwischen den sozialen Schichten ist in allen Klassen vorhanden.
- Mit steigendem Niveau der Klasse verringern sich die Leistungsunterschiede zwischen
einheimischen und eingewanderten Kindern.
- In Klassen mit einem hohen allgemeinen Leistungsniveau erreichen die Migrantenkinder der
Unterschicht annähernd dasselbe Leistungsniveau wie die einheimischen Kinder der sozialen
Oberschicht in Klassen mit tiefem Leistungsniveau.
- Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulklasse hat somit mehr Einfluss auf die Leistung des
einzelnen Kindes als seine kulturelle Herkunft.
Die Untersuchungsergebnisse zu den Leistungen von Migrantenkindern zeigen deutlich, dass die
sprachlichen Defizite nicht die alleinige Ursache eines schulischen Versagens sein können, sondern
Klassenkontext und Merkmale des Unterrichts eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.
In einer weiteren Studie von Kronig (2000) wurden separierende und integrierende Schulformen
bezüglich Leistungsentwicklung der schulleistungsschwachen Fremdsprachigen untersucht. Als
integrierende Schulform werden in dieser Studie die Regelklassen verstanden, als separierende
Schulform Kleinklassen und Klassen für Fremdsprachige. In letzteren sollen die Schülerinnen und
Schüler u.a. durch Intensivförderung in der Unterrichtssprache auf die Regelklasse vorbereitet werden.
Die beiden Schulformen wurden bezüglich der Entwicklung der Kinder in der Unterrichtssprache,
ihrer sozialen Integration und der Auswirkungen der Erwartungen der Lehrkräfte verglichen.
Die Gesamtstichprobe umfasst 1969 Schulkinder des 2. Schuljahres aus der deutschsprachigen
Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein.
3
• Zur Leistungsentwicklung der Fremdsprachigen in der Unterrichtssprache:
„Eine Gegenüberstellung zeigt, dass in integrierenden Schulformen bedeutsam grössere
Leistungsunterschiede als in separierenden Schulformen (Kleinklassen und Klassen für
Fremdsprachige) erzielt werden....“ (ebd. 239). Migrantenkinder mit Schulleistungsschwächen machen
in Regelklassen grössere Fortschritte in der Unterrichtssprache als in Klassen für Fremdsprachige.
Dieses Ergebnis ist naheliegend, wenn man bedenkt, dass in Klassen für Fremdsprachige nur die
Lehrkraft über die nötige Sprachkompetenz verfügt. Die geringsten Fortschritte werden in
Sonderklassen für Lernbehinderte erzielt.
• Die soziale Integration
Da Migrantenkinder in Klassen für Fremdsprachige zwangsläufig die gesamte Bandbreite
soziometrischer1 Positionen einnehmen, bezieht sich der folgende Vergleich nur auf Regel- und
Sonderklassen.
Die Ergebnisse lassen sich in den folgenden Aussagen zusammenfassen:
Bezüglich der sozialen Integration der Migrantenkinder unterscheiden sich die beiden Schulformen
nicht. Migrantenkinder und Kinder mit Schulleistungsschwächen nehmen signifikant tiefere
soziometrische Positionen ein.
Hingegen sind die soziometrischen Positionen der Migrantenkinder deutlich tiefer als bei Schweizer
Kindern mit vergleichbarem Alter, Leistungs- und Begabungspotential. Kronig meint:“ Die messbare
Deutlichkeit, mit der die Leistungsfähigkeit und die Nationalität die soziale Position eines Schülers
bereits in den ersten Schuljahren bestimmen, ist ernüchternd“ (ebd. 230). Offenbar bietet die
Sonderklasse für Migrantenkinder mit Schulleistungsschwäche hinsichtlich der sozialen Integration
nicht den Schonraum, der als Argument für die Überweisung angeführt wird.
• Erwartungseffekte der Lehrkräfte
Mit Erwartungseffekten bezeichnet Kronig Einflüsse auf Persönlichkeitsmerkmale von Schülerinnen
und Schülern, die von einer Erwartungshaltung der Lehrperson ausgehen.
Insgesamt gesehen scheint die Nationalität die diagnostische Wahrnehmung der Lehrperson zu
verzerren. Migrantenkinder werden bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit von den Lehrkräften
durchschnittlich tiefer eingeschätzt als vergleichbare Schweizer Kinder. Diese Unterschätzung wirkt
sich nachweislich negativ auf ihre Lernentwicklung aus. Eine adäquate Einschätzung oder eine
Überschätzung ihrer Leistungsfähigkeit wirkt sich aber nachweislich hoch signifikant günstig auf die
Lernentwicklung aus. Zudem wurde festgestellt, dass bestimmte Eigenschaftszuschreibungen und
Erwartungshaltungen der Lehrpersonen, wenn sie einmal verfestigt sind, trotz gegenteiliger
Wahrnehmung beibehalten werden.
Im Folgenden die wichtigsten Empfehlungen, die Kronig aus dieser Studie für die Praxis ableitet:
- Die Einweisung in eine Klasse für Fremdsprachige ist allenfalls zu Beginn des
Zweitsprachenerwerbs für wenige Monate vorzunehmen.
- In einer integrationsfähigen Grundschule sind die pädagogisch sinnvolleren individuellen
Beurteilungen der Schülerinnen und Schüler den am Selektionszweck orientierten Beurteilungen
anhand der Gruppennorm vermehrt vorzuziehen.
1
Soziometrische Verfahren dienen der Messung sozialer Beziehungen innerhalb einer Gruppe. Die Ergebnisse
zeigen die Beziehungsstruktur und lassen auf die soziale Anerkennung der einzelnen Individuen innerhalb der
Gruppe schliessen.
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-
-
Insbesondere sind die negativen Sanktionen gegenüber leistungsschwachen Schülerinnen und
Schülern zu vermeiden, die die übrige Schülerschaft in ihrer intoleranten Haltung gegenüber
Andersartigkeit bestätigen.
Als Massstab für die Zuteilung von zusätzlichen Hilfen für Schülerinnen und Schüler sowie
Lehrpersonen müssen sowohl die objektiven Rahmenbedingungen und allenfalls die durch die
besondere Zusammensetzung der Schulklasse bedingten Erschwernisse als auch deren subjektive
Einschätzung durch die Lehrperson herangezogen werden.
• Klassengrösse
Der Wunsch der Lehrkräfte nach kleineren Klassen, vor allem auch bei hohem Anteil
Fremdsprachiger, wird meistens mit dem Anliegen der individuellen Förderung der Kinder begründet.
Deshalb stellt sich die Frage nach empirisch belegbaren Leistungsunterschieden.
Aussagen zur Klassengrösse finden sich in zwei Schweizer Studien von Rüesch (1997) und Moser
(1998).
Beide Studien kommen zum Schluss, dass die Klassengrösse für die Leistung der Schweizer Kinder
kaum eine Rolle spielt. Hingegen erzielen Migrantinnen und Migranten in kleinen Klassen besonders
schwache Leistungen und in grösseren Klassen bessere Leistungen. Dieses unerwartete Ergebnis
könnte mit der Unterrichtsgestaltung zusammenhängen. Jedenfalls sind kleinere Klassen an sich noch
keine Fördermassnahme für die Fremdsprachigen, auch wenn sie unbestrittenermassen für die
Lehrkräfte eine Erleichterung sind.
Widersprüchlich und komplex sind die Untersuchungsergebnisse bezüglich der Auswirkungen der
sozial-ethnischen Zusammensetzung der Schulklassen.
2.2
Konsequenzen für die Schule
Die folgenden Pisten sollten im Hinblick auf die Verbesserung des Schulerfolgs der Fremdsprachigen
weiter verfolgt werden:
- Ambulante Unterstützung der Lehrkräfte mit hohem Anteil Fremdsprachiger in der Klasse durch
Fachpersonen.
- Ausbau des Kursangebotes für Lehrerinnen und Lehrer zu den Themen „interkulturelle
Erziehung“ und „Praxis der Unterrichtsformen“ (Individualisierung, Team-Teaching usw.) sowie
Themen der Zusammenarbeit und Kooperation mit Fachpersonen.
- Abkehr vom Wunsch nach homogener Klassenbildung und heterogene Klassen als zukünftigen
Regelfall akzeptieren.
- Integrierende Schulstrukturen und integrierende Schulmodelle unterstützen.
- Eine „Integrationsphilosophie“ als Teil des Schulleitbildes iniziieren, nach dem Motto: Die
Integrationsfähigkeit der öffentlichen Schule ist gegeben, wenn sie eine adäquate und
wohnortnahe Förderung aller Kinder garantieren kann, ohne dass sie dabei auf das Mittel der
Aussonderung zurückgreifen muss.
5
3 Mehr Deutsch für Fremdsprachige?
3.1
•
•
•
Von der Bedeutung der Erstsprache
"Man muss den ausländischen Kindern verbieten, sich untereinander in ihrer Sprache zu
unterhalten. Das hindert sie am Erlernen der deutschen Sprache."
"Kroatisch- (Türkisch-, Serbisch-, Bosnisch-, ...) kenntnisse bringen den Kindern ja nichts, sie
sollen lieber ordentlich Deutsch und Englisch lernen. Das können sie später brauchen."
"Seine Muttersprache kann das Kind ohnehin, die braucht es nicht zu lernen. Die spricht es
ohnehin in der Familie."
Solche Aussagen haben wir alle bereits so oder anders gehört.
Im Merkblatt des L-CH wird ebenfalls propagiert: “Deutschkurse für fremdsprachige Schülerinnen
und Schüler sind das A und O jeglicher Leistungsförderung und Integration“.
Diese Aussage ist kritisch zu hinterfragen, denn mehrere Untersuchungen zeigen, dass
1. das Schulversagen der Migrantenkinder nicht allein mit ihren Sprachproblemen zu erklären ist
(vgl. Abschnitt 2) und
2. die Förderung der Migrantenkinder in ihrer Muttersprache positive Effekte auf den Erwerb der
Fremdsprache (in unserem Fall Deutsch) hat und dass
3. Integration nicht auf die Entwicklung der Kompetenzen in der Unterrichtssprache reduziert
werden kann.
Im folgenden Abschnitt soll nun eine Antwort auf die zweite These formuliert werden:
Ausgangspunkt bildet die Schwellenhypothese (vgl. die folgende Abbildung):
Form der Zweisprachigkeit
Kognitive
Auswirkungen
„Additiver Bilingualismus“
hohe Kompetenz in beiden
Sprachen
positiv
„Dominanter
Bilingualismus“
annähernd
muttersprachliche
Kompetenz in einer der
beiden Sprachen
weder positiv
noch negativ
negativ
„Semilingualismus“
niedrige Kompetenz
beiden Sprachen
Abbildung 1
Kompetenzniveaus
obere
„Schwelle“
untere
„Schwelle“
in
Schwellenhypothese der Zweisprachigkeit (Horn, 1992, zit. nach Ruesch, 1998).
Die Schwellenhypothese besagt, dass ein bestimmtes Niveau der sprachlichen Kompetenz erreicht
werden muss, damit Zweisprachigkeit keine negativen, sondern vielmehr positive Auswirkungen auf
6
die kognitive Entwicklung hat. Unterhalb des unteren Schwellenniveaus wird die sprachliche
Kompetenz als Semilingualismus bezeichnet. Dies bedeutet, dass keine der beiden Sprachen voll
entwickelt ist. Schulische Bemühungen müssen also darauf ausgerichtet sein, diese Schwelle auf alle
Fälle zu überschreiten, um negative kognitive Effekte zu vermeiden, die entstehen, wenn weder die
eine noch die andere Sprache wirklich beherrscht wird.
Im Bereich zwischen dem unteren und dem oberen Schwellenniveau verfügen die Kinder in der Erst­
und in der Zweitsprache über gewisse altersentsprechende Kompetenzen, wobei jedoch eine Sprache
dominiert. Rehbein (1987) berichtet von einer Untersuchung mit Kindern türkischer Muttersprache in
der die Kinder eine Geschichte auf Deutsch nacherzählen mussten. Eine Gruppe hatte die Geschichte
nur auf Deutsch gehört, einer anderen Gruppe hatte man die Geschichte auf Türkisch erzählt. Die
zweite Gruppe, bei der die Rezeption durch die Muttersprache erfolgte und bei der daher das
Textverständnis gesichert war, hatte signifikant bessere Ergebnisse als die erste Gruppe. Das Beispiel
zeigt, dass mangelndes Hörverstehen auch zu mangelhafter Sprachproduktion in der Zweitsprache
führt. Weitere Untersuchungen zu dieser Frage zeigen vergleichbare Resultate.
Mit andern Worten: Voraussetzung für gute produktive Äusserungen in der Zweitsprache Deutsch sind
rezeptive Verstehensleistungen, die bei Fremdsprachigen oft über ihre Erstsprache laufen.
Allgemeiner formuliert bedeutet das, dass die Förderung der Kinder in ihrer Muttersprache auch
positive Effekte auf das Erlernen der Zweitsprache hat.
Über dem zweiten Schwellenniveau ist der sogenannte additive Bilingualismus angesiedelt. Hier
werden positive Auswirkungen im kognitiven Bereich vermutet.
Als Konsequenz ergibt sich die Forderung, dass zur Förderung fremdsprachiger Kinder und
Jugendlicher die Kräfte nicht nur auf das Erlernen von Deutsch ausgerichtet sein sollten. Mit mehr
Unterricht in der Unterrichtssprache allein lässt sich die Integrationsproblematik nicht lösen. Der
Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) ist für diese Kinder deshalb gerade auch im
Hinblick auf ihren Schulerfolg in der Unterrichtssprache wichtig.
Jungblut, (1994, 123) warnt mit folgender Aussage: „Die heute vor allem angewendeten Massnahmen,
Kindern und Eltern zusätzlichen Sprachunterricht und Programme zur Erziehungsberatung und
ähnliches anzubieten – im Grunde eine „Blame-the-victim“-Strategie -, könnte erneut für alle
Beteiligten in tiefer Enttäuschung enden und somit am Ende die Migrationsproblematik sogar noch
verschärfen“.
Unter einem gesellschaftspolitischem Aspekt betrachtet verfügen Personen, die eine fremde Sprache
sprechen über zusätzliche Kompetenzen. Fremdsprachenkompetenzen bedeuten einen Wert für das
Individuum selbst, aber auch für die Gesellschaft, der es angehört. Die Kompetenzen der
Fremdsprachigen müssen für unsere Gesellschaft genutzt werden. Bühlman (1999, 4) schreibt:
„Andererseits gehen mit dem in der Migrationsbevölkerung vorhandenen und von der Schweizer
Schule ignorierten Sprachenpotential der schweizerischen Gesellschaft und Wirtschaft wichtige
Ressourcen verloren. ... Eines Tages aber werden wir uns hoffentlich eine Bildungspolitik, die soviel
vorhandene Ressourcen nicht nutzt, gar nicht mehr leisten können.“
Daraus folgt, dass wir vor allem auch in den Unterricht nicht länger einseitig die mangelnden
Deutschkenntnisse der Fremdsprachigen fokussieren sollten, ohne ihre andern Kompetenzen
wahrzunehmen.
Der Einbezug der Muttersprachen dieser Kinder im Unterricht bedeutet eine Wertschätzung dieser
Sprachen und damit auch der Menschen, die sie sprechen. Kinder und Jugendliche, die solche
Situationen erleben, entwickeln ein positives Bild der Minderheit und eine positive Einstellung zur
eigenen Gruppe. Ihr Selbstwertgefühl wird gestärkt, mit allen positiven Folgen für ihre Entwicklung.
Zusätzlich wird dadurch – nicht ganz unwichtig - auch ein Beitrag zur Gewaltprävention geleistet.
7
Sprachaufmerksamkeit ist eine wichtige Voraussetzung, um eine Sprache zu erlernen. Unter
Sprachaufmerksamkeit versteht Oomen-Welke, (1999) die „wache Haltung gegenüber Sprache, die zu
Wahrnehmung, Kategorisieren, Vergleichen, mehr oder weniger willkürlichem Umordnen veranlasst
und so aktuelle Bewusstwerdung und dauerhafte Bewusstheit verkoppelt“. Die Autorin geht davon
aus, dass es vorwiegend das Vorhandensein eines zweiten Systems von Sprache ist, das die
Sprachaufmerksamkeit und die Entwicklung von Sprachbewusstheit auslöst.
Ein Beispiel für Sprachaufmerksamkeit zeigt folgende Situation. In der Gondel einer Bergbahn sind 6
Leute, darunter ein ungefähr 4-jähriger Junge mit seinen Eltern aus Deutschland. Der Kleine plaudert
ohne Unterbruch, dann die Frage: "Vati, wann sind wir an der Ausstation"? Die Eltern korrigieren: "Es
heisst Endstation". Der Kleine: "Nein, Ausstation, wir steigen da aus und unten steigen wir ein.“ Die
Eltern kapitulieren.
Untersuchungen haben ergeben, dass Zweisprachige in der Entwicklung ihrer Sprachbewusstheit
Einsprachigen überlegen sind. Für die einheimischen, meist einsprachigen Kinder, bedeutet der
Einbezug der fremden Sprachen in den Unterricht die Förderung und Entwicklung ihrer eigenen
Sprachbewusstheit und schafft damit günstige Voraussetzungen für den Erwerb weiterer Sprachen.
3.2 Zusammenfassung der Argumente gegen eine einseitige Verstärkung des
Deutschunterrichts für Fremdsprachige
1. Die sprachlichen Schwierigkeiten sind nach Rüesch nicht die alleinige Ursache des schulischen
Versagens der Migrantinnen und Migranten.
2. Die Entwicklung der Kompetenz in einer Zweitsprache ist teilweise abhängig vom bereits
erreichten Kompetenzniveau in der Erstsprache zum Zeitpunkt des Beginns intensiven Kontaktes
mit der Zweitsprache.
3. Die Sprachen der Migrantinnen und Migranten sind als Ressourcen der Gesellschaft und
Wirtschaft zu fördern und zu entwickeln.
4. Würdigung der fremden Sprachen bedeutet Gewaltprävention.
5. Für die einsprachigen Kinder bedeutet der Einbezug der Fremdsprachen in den Unterricht die
Förderung und Entwicklung ihrer Sprachbewusstheit.
3.3 Pädagogische Konsequenzen
• Das Erlernen der Muttersprache gleichzeitig mit der Unterrichtssprache/Zweitsprache (in unserem
Fall Deutsch) in der Schule behindert den Erwerb der Zweitsprache nicht, sondern im Gegenteil:
• Eine stabile Erstsprache fördert und erleichtert den Erwerb der Zweitsprache und aller anderen
Sprachen.
• Untersuchungen zeigen, dass die Fähigkeit zur sprachlichen Analyse und die Qualität und
Quantität von Spracherwerbsstrategien (u.a. Sprachbewusstheit, Sprachaufmerksamkeit) bei
bilingualen Kindern höher ist als bei monolingualen.
• Die sprachliche Kreativität wird gefördert.
• Positive Einflüsse auf die verbalen und nonverbalen Intelligenzleistungen werden festgestellt.
8
4
Zu verfolgende Strategien: 7 Thesen
1. Sprachunterricht in Deutsch bzw. Französisch allein reicht nicht aus, um eine Integration zu
erreichen, es braucht auch andere stützende Massnahmen, da sonst die schulischen
Voraussetzungen für das Weiterkommen in unserem Bildungssystem nicht gegeben sind.
2. Der Sprachunterricht für Migrantinnen und Migranten muss überprüft werden. So stellt sich die
Frage, ob - wenigstens in den Städten - die Muttersprache der Migrantinnen und Migranten
gestärkt werden kann, z.B. mit Hilfe der HSK-Lehrerinnen und -Lehrer. Zu prüfen wäre, ob
Fremdsprachige neben der Unterrichtssprache Deutsch (bzw. Französisch im
französischsprachigen Kantonsteil) als promotionsrelevante Zweitsprache ihre Muttersprache
lernen könnten.
3. Die Entwicklung der Kompetenz in der Erstsprache sollte verbessert werden durch den Beizug der
HSK-Lehrkräfte. Zu prüfen ist, ob der HSK-Unterricht nicht in unsere Stundenpläne eingebaut
werden kann und die HSK-Lehrkräfte in die jeweiligen Lehrerkollegien aufgenommen werden
können, wo sie neben dem HSK-Unterricht auch für weitere Aufgaben herangezogen würden.
4. Die Zuweisungspraxis in die verschiedenen Schultypen und Bildungsangebote muss überprüft
werden mit dem Ziel, eine Überweisung in die Kleinklasse wegen ungenügenden Schulleistungen
aufgrund der Fremdsprachigkeit zu verhindern. Idealerweise müssten die Schülerinnen und
Schüler, die eine Kleinklasse auf der Stufe Realschule besuchen, wieder in die Regelklasse
integriert werden.
5. Im Kanton Bern werden verschiedene Zusammenarbeitsformen auf der Sekundarstufe I
praktiziert. Die integrativen Schulmodelle sollten unterstützt werden, da sie eine bessere
Integration der Fremdsprachigen gewährleisten.
6. Schulmodelle mit integriertem HSK-Unterricht, wie sie auch in Basel und Zürich bereits
praktiziert werden, könnten auch im Kanton Bern Anwendung finden (vgl. Häusler, 1999).
7. Die Schulung fremdsprachiger Kinder muss stärker als heute Gegenstand der Lehrerbildung sein.
9
5
Literaturhinweise für die Praxis zum Thema ‚Migration‘
Häusler, M. (1999). Innovation in multikulturellen Schulen. Bildungsdirektion des Kantons Zürich.
Zürich: Orell Füssli Verlag.
Im diesem Buch werden die Konzepte folgender fünf multikulturellen Schulen der deutschsprachigen
Schweiz vorgestellt:
• Schülerclub Nordstrasse, Zürich
• Schulhaus Pestalozzi, Rorschach
• Schulhaus Steingut, Schaffhausen
• Schulhaus St. Johann, Basel
• Schulhaus Limmat A, Zürich
Diese Fallstudie enthält Anregungen aus der Praxis für die Praxis. Das Ziel ist Chancengleichheit,
Steigerung des Schulerfolges und Integration aller Kinder und Jugendlichen. „ ... verbesserte
Lernbedingungen für die Schulkinder und eine gute Arbeitszufriedenheit der Lehrpersonen sind
wichtige Merkmale guter Schulen.“
Rüesch, P. (1999). Gute Schulen im multikulturellen Umfeld. Bildungsdirektion des Kantons Zürich.
Zürich: orell füssli Verlag.
Das Buch ist ebenfalls an Praktikerinnen und Praktiker gerichtet. Es geht der Frage nach: „Welches
pädagogische Handeln und welche schulischen Konzepte und Massnahmen fördern die Qualität von
Schulen in einem heterogenen Kontext?“ Ziel ist „Lehrpersonen und Schulbehörden (zu) helfen, wenn
sie ihre Praxis überprüfen und Schulkonzepte und Unterrichtspraktiken wirkungsvoller gestalten
möchten“.
Schader, B. (2000). Sprachenvielfalt als Chance. Handbuch für den Unterricht in mehrsprachigen
Klassen. Hintergründe und 95 Unterrichtsvorschläge für Kindergarten bis Sekundarstufe
I. Zürich: orell füssli Verlag.
Im ersten theoretischen Teil des Buches sind Hintergründe, Ziele, Bereiche und Möglichkeiten eines
interkulturellen Unterrichts dargestellt. Der zweite Teil enthält 95 konkrete, praxiserprobte und
detailliert beschriebene Unterrichtsvorschläge. Sie umfassen das ganze Spektrum von nicht
aufwendigen Klein- und Spielformen bis hin zu grösseren Projekten. Neben den verschiedenen
Muttersprachen kommen dabei auch die schulischen Fremdsprachen und die einheimischen Dialekte
zum Zug.
5.1
Zitierte Literatur
Bless, G. und Kronig, W. (2000). Im Schatten der Integrationsbemühungen steigt die Zahl der
Sonderklassenschüler stetig an. schweizer schule , 2, 3-12.
Borkowsky, A. et al. (1999). Bildungsindikatoren Schweiz 1999. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.
10
Bühlman, C. (1999). Die Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer nach der
Jahrtausendwende. Von der Interkulturellen Pädagogik zur Pädagogik der Vielfalt. Beiträge
zur Lehrerbildung, 1,1-2.
Häusler, M. (1999). Innovation in multikulturellen Schulen. Bildungsdirektion des Kantons Zürich.
Zürich: Orell Füssli Verlag.
Jungblut, P. (1994). Lehrererwartungen und Ethnizität. Zeitschrift für Pädagogik, 1, 113-126.
Kronig, W. (1996). Besorgniserregende Entwicklungen in der schulischen Zuweisungspraxis bei
ausländischen Kindern mit Lernschwierigkeiten. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und
ihre Nachbargebiete, 1, 62-79.
Kronig; W. (2000). Die Integration von Immigrantenkindern mit Schulleistungsschwächen. Eine
vergleichende Längsschnittuntersuchung über die Wirkung integrierender und separierender
Schulformen. Zürich: Zentralstelle der Studentenschaft der Universität Zürich.
Kronig, W. (1996). Integration von schulleistungsschwachen ausländischen Kindern in die
Regelklassen. schweizer schule, 3, 19-25.
LCH- Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (1999). Schulen können Integrations­
aufgaben meistern – aber nur mit der nötigen Ausrüstung. Merkblatt. Zürich.
Lischer, R. (1997). Integration – (k)eine Erfolgsgeschichte. Ausländische Kinder und Jugendliche im
schweizerischen Bildungssystem. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.
Moser, U. (1998). Fremdsprachige Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht: Förderung und
Auswirkungen. Bildungsforschung Bildungspraxis, 20 (1), 95-112.
Oomen-Welke I. (1999). Sprachen in der Klasse. Praxis Deutsch, September, 14-23.
Rüesch, P. (1997). Leistung und Chancengleichheit in Primarschulklassen der deutschen Schweiz.
Eine Sekundäranalyse von Schweizer Daten aus der „IEA Reading Literacy Study“.
Bildungsforschung Bildungspraxis, 19 (3), 269-291.
Rüesch, P. (1998). Spielt die Schule eine Rolle? Schulische Bedingungen ungleicher Bildungschancen
von Immigrantenkinder – eine Mehrebenenanalyse. Bern: Lang.
Schader, B. (2000). Sprachenvielfalt als Chance. Handbuch für den Unterricht in mehrsprachigen
Klassen. Hintergründe und 95 Unterrichtsvorschläge für Kindergarten bis Sekundarstufe I.
Zürich: Orell Füssli Verlag.
Sturny-Bossart, G. (1996). Jedes zweite Kind in Kleinklassen besitzt einen ausländischen Pass.
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 3, 13-18.
11
6
ANHANG
Abbildung aus: Rüesch, P. (1997). Leistung und Chancengleichheit in Primarschulklassen der
deutschen Schweiz. Bildungsforschung, Bildungspraxis, 3, 278.
12