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PRAXIS | FLIEGEN
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Fallschirm serienmäßig: eine Cirrus
SR20 G3, ähnlich
dem norwegischen
Unfallflugzeug
1 | Fast idyllisch: Von der Rettungsinsel aus entstehen diese Fotos der SR22
2 | Abschied: Richard McGlaughlin blickt auf seine notgewasserte Cirrus
3 | Glück im Unglück: die Tochter des Piloten und der vom Wind geöffnete Schirm
4 | Keiner verletzt: die SR20 nach der Schirmlandung in den norwegischen Bergen
5 | Zwölf Minuten vorher: Der Pilot entscheidet, über die Wolken zu steigen
Das Ass im Ärmel
FA L L S C H I R M I M F L U G Z E U G Zwei Cirrus-Unfälle belegen, welchen enormen
Sicherheitsgewinn Gesamtrettungssysteme bringen können, wie sie in Deutschland
für ULs vorgeschrieben sind. Der Pilot muss sie nur rechtzeitig einsetzen
weise Entscheidung, denn die Besatzung
des nahenden U.S.-Coast-Guard-Helikopters erkennt die rot-weiße Kappe schon aus
acht Meilen Entfernung. McGlaughlin findet sogar Zeit, Fotos zu machen.
Erst zur Bergung lassen sich die beiden
vom Leinengewirr des Fallschirms wegtreiben. Das Flugzeug wird später 25 Meilen
entfernt gefunden und geborgen, der Motorschaden soll analysiert werden.
Fast alles falsch gemacht
TEXT
Samuel Pichlmaier, Thomas Borchert
N
ach wie vor sind die CirrusModelle SR20 und SR22 die
einzigen
E-Klasse-Flugzeuge
mit serienmäßig eingebautem
Gesamtrettungssystem. Dennoch ist gerade in Deutschland die Zahl der
Luftfahrzeuge mit Fallschirm an Bord sehr
hoch: Für ULs ist diese Ausstattung hierzulande nämlich vorgeschrieben (siehe auch
Seite 82). Doch immer noch bleibt nach vielen Unfällen die traurige Frage, warum der
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www.fliegermagazin.de #4.2012
Pilot das System nicht ausgelöst hat. Zwei
typische Unfallszenarien der Allgemeinen
Luftfahrt zeigen, wie die Insassen dank Fallschirm unverletzt davon kommen konnten:
bei Motorversagen und nach Einflug in IMC.
Der Fall von Richard McGlaughlin ist
schnell erzählt, auch wenn die Unfalluntersuchung noch nicht abgeschlossen ist: Am
7. Januar 2012 ist der Arzt mit seiner Tochter Elaine in 9500 Fuß Höhe auf dem Weg
von Florida nach Haiti, wo er freiwillig medizinische Hilfsarbeit leistet. Nahe der Bahamas-Insel Andros Island verliert seine SR22
innerhalb weniger Minuten den Öldruck.
17 Knoten Fallgeschwindigkeit am Schirm
statt 60 Knoten Speed beim Aufsetzen – die
Entscheidung für weniger Aufprallenergie
hatte McGlaughlin schon lange vorher bei
theoretischen Notfallüberlegungen getroffen. Nun bleibt tatsächlich der Motor stehen. Der Pilot setzt einen Notruf ab und löst
in 2300 Fuß Höhe das Rettungssystem aus.
Nach dem Aufprall im warmen Wasser
verlässt er mit seiner Tochter das Cockpit
und bläst seine Rettungsinsel auf. Der riesige Fallschirm bleibt vom Wind gefüllt, die
Maschine versinkt nicht. Die beiden halten
sich an den Leinen des Schirms fest – eine
Ein ganz anderes Szenario spielt sich am 28.
Mai 2010 in Südnorwegen ab. Vor Monaten
hat ein Pilot in Stavanger mit drei Freunden
einen Ausflug nach Oslo verabredet. An diesem Freitag soll es losgehen, am Sonntag
ist ein Konzertbesuch geplant. Der Pilot hat
eine VFR-Berechtigung; er fliegt eine Cirrus
SRV, die nur für VFR-Flüge zugelassene Variante der SR20. Etwa 50mal ist er diese 70
Minuten dauernde Strecke schon geflogen.
Am Vormittag hat sich der Pilot im Internet über die Wetterentwicklung informiert.
Die Luft ist labil geschichtet, mit Gefahr von
Cumulonimben und Gewitterschauern. Ein
Telefonat mit einem Freund an der Südküste ergibt, dass dort schon Gewitter stehen.
Der Pilot entscheidet sich daher für den direkten Kurs über das Bergland.
Drei altbekannte Unfallfaktoren vereinen sich: viel Druck, den Flug durchzuführen; eine vertraute Route, auf der es bisher
immer geklappt hat; dazu kritisches Wetter.
Um 18.40 Uhr hebt der Tiefdecker von
der Piste in Stavanger-Sola ab und geht
auf Ostkurs. Die Cirrus steigt bis auf 6000
Fuß. Auf Reiseflughöhe entwickeln sich jedoch in Flugrichtung bereits Wolken. Der
Pilot entschließt sich zum Flug über der
Wolkendecke und bittet um 19.01 Uhr, auf
FL90 steigen zu dürfen. Aber auch dort lassen sich die Wolken nicht abschütteln. Die
Cirrus fliegt jetzt durch eine Art Wolkental,
die grauen Schleier türmen sich bis 500 Fuß
unter der Maschine und auf beiden Seiten,
nach vorn ist die Sicht noch gut.
Nach wenigen Minuten on top quellen
die Wolken jedoch immer höher. Schließlich
bauen sich auch vor dem Cockpit Wolkenberge auf. Der Pilot sucht deshalb sein Heil
in einer Umkehrkurve. Da aber die Gefahr
besteht, beim Drehen für kurze Zeit in die
Wolken zu geraten, fliegt er den Turn per
Autopilot – ganz so, wie es auch das Handbuch bei unbeabsichtigtem Wolkeneinflug
empfiehlt. Nach etwa einem Drittel der
180-Grad-Kurve taucht der Tiefdecker in die
Wolken ein. Durch einen langsamen Sinkflug per Autopilot versucht der Pilot nun, so
schnell wie möglich wieder aus dem Grau
herauszukommen. Der Plan misslingt.
Innerhalb von 15 Sekunden bildet sich
eine bis zu fünf Zentimeter dicke Eisschicht
auf Frontscheibe und Tragflächennase. Zudem wird die Cirrus jetzt von schweren Turbulenzen durchgeschüttelt: Die Maschine
ist in einen Schneesturm geraten. Das Pitot-Statik-System fällt aus – vermutlich hat
der Pilot die Pitot-Heizung zu spät aktiviert.
Aber es kommt noch schlimmer: Das Glascockpit meldet vermutlich aufgrund der
Vereisung einen Stall, worauf sich der Autopilot deaktiviert. Statt Speed und Höhe zeigt
das Glascockpit nur rote Kreuze, immerhin
funktioniert der Künstliche Horizont.
Keine Chance für VFR-Piloten
Als Sichtflieger ist der Cirrus-Pilot mit der
Situation hoffnungslos überfordert. Er verliert die Orientierung und die Kontrolle über
sein Flugzeug. Vertigo! Die Cirrus taumelt
fast eine Minute durch das Grau, stallt, erreicht bei einer VNE von 200 eine Speed von
250 Knoten und eine Querneigung von 120
Grad – all das verrät später der Datenspeicher des Glascockpits. Dann sieht der Pilot
plötzlich durchs Seitenfenster das bergige
Gelände. Erst jetzt trifft er die einzig richtige Entscheidung: Er aktiviert das Rettungssystem. Sieben Sekunden später hängt das
Flugzeug am Schirm. Beim Aufprall auf einem Berghang wird das Flugzeug schwer
beschädigt, doch alle Insassen steigen unverletzt aus. Nur 45 Minuten später landet
ein Sea-King-Rettungshubschrauber unweit
der Cirrus und nimmt die Havarierten auf.
Die Radar-Controller hatten den erratischen Flug der Cirrus und den Verlust des
Radarechos verfolgt und fürchteten das
Schlimmste. Gerade als das Telefon klingelt
und jemand von der Rettung berichtet, findet einer der Lotsen im Internet ein Video,
in dem eine Cirrus am Fallschirm hängend
zu sehen ist. Dass es so etwas gibt, war ihnen
bis dahin unbekannt.
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