Souvenirs kaufen – und schweigen

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Souvenirs kaufen – und schweigen
Montag, 25. Juli 2016 / Nr. 170
Luzern
Zentralschweiz
NEUE LUZERNER ZEITUNG
NEUE ZUGER ZEITUNG
NEUE NIDWALDNER ZEITUNG
NEUE OBWALDNER ZEITUNG
NEUE URNER ZEITUNG
11
BOTE DER URSCHWEIZ
Souvenirs kaufen – und schweigen
TOURISMUS Wie erleben
chinesische Besucher Luzern?
Unsere Zeitung wollte dies
herausfinden, stiess jedoch
auf unerwartete Hindernisse.
GABRIELA JORDAN
[email protected]
«Schreiben Sie, dass alles sensationell
ist», antwortet der chinesische Tourguide und läuft mit seinem Fähnchen
hastig davon. Die übrigen Chinesen aus
der Reisegruppe beäugen uns kritisch
und entfernen sich vorsichtshalber ein
paar Meter. Auf dem Schwanenplatz,
inmitten von Reisecars, Selfiesticks und
verzierten Sonnenschirmchen, stehen
wir zunächst etwas ratlos da. Einige der
Touristen scheinen sich zu fragen: «Was
zum Teufel wollen die von uns?» Eigentlich nicht viel, denken wir uns und
halten nach anderen Chinesen Ausschau, die uns durch ihre grossen Sonnenbrillen nicht abweisend betrachten.
Für eine Sommerreportage wollten wir
einen Tag mit chinesischen Touristen in
Luzern verbringen. Um zu erfahren, wie
sie Luzern erleben und was ihnen die
Fremdenführer erzählen, suchten wir
eine Reisegruppe. Kein Problem, dachten
wir uns mit Blick auf die lächelnden
Chinesen, die in Luzern scharenweise
aus den Cars strömen. Jedoch: Fehlanzeige. «Keine Zeit, kein Interesse», lautete die Antwort auf Anfragen bei Reiseveranstaltern. Beschwichtigungen unsererseits («Wir wollen sie nicht aufhalten,
nur mitlaufen und mithören.») blieben
erfolglos: «Keine Zeit. Am Mittag geht
es weiter nach Paris.»
Trotz Verbeugung eine Abfuhr
Sprechen nur «hinter dem Rücken» über ihre wahren Eindrücke:
chinesische Touristen beim Löwendenkmal in Luzern.
Bild Roger Grütter
herausfinden konnten, ist, dass sie es hier
«wunderschön» fänden, «die Berge toll»
seien und es «viel weniger Kaugummi
auf dem Boden als in China» habe.
So stehen wir nun um neun Uhr morgens zwischen Bachmann und Bucherer Stumm vor Medien und Politikern
Nietlispach erklärt, warum sich die
und versuchen auf eigene Faust, die sich
schnell zerstreuenden Asiaten abzufan- ansonsten zuvorkommenden Chinesen
gen, um uns bei einem Grüppchen an- so reserviert geben: «In China sind die
zuhängen. Leichter gesagt als getan. Menschen sehr vorsichtig, wenn es
Unsere Übersetzerin Nadia Nietlispach darum geht, ihre Meinung zu äussern.
spricht sie zwar charmant und mit einer Vieles ist dort zensiert, und die Leute
gekonnten
chinesind es nicht gesisch-respektvollen
wohnt, offen über
Politik zu sprechen.
Verbeugung an. Doch
Geschweige denn dasobald ihr das Wort
«Käse ist eklig.»
«Zeitung» über die
rüber, was sie stört.»
JUNGER, CHINESISCHER
Lippen kommt, wenDie
kulturellen
TO U R I ST
den sich die Leute ab.
Unterschiede kennt
«Wir wissen nichts,
Nietlispach nur zu
fragen sie den Tourgut: Sie ist in Luzern
guide.» Doch dieser ist zu diesem Zeit- aufgewachsen, lebt aber seit sechs Jahpunkt bereits fähnchenschwingend von ren im Süden Chinas. Ihre Mutter
dannen gezogen oder dabei, die ersten stammt zudem aus Singapur.
Schön und gut, doch wenn FerieneinGruppenmitglieder durch die Buchererdrücke einzelner Chinesen anonym in
Drehtür zu schleusen.
Ältere wie auch jüngere Menschen einer Regionalzeitung fern der Heimat
reagieren ähnlich. Alles, was wir bisher abgedruckt würden, kann das doch nie-
manden interessieren? «Trotzdem ist in
ihnen verankert, dass sie gegenüber
Politikern oder Medien vorsichtig sein
müssen. Hören sie ‹Zeitung›, verstummen sie deshalb gleich», sagt Nietlispach.
In zwei Stunden Luzern «machen»
Strategieänderung. Wir sprechen die
Touristen einfach so an. Dabei lauscht
Nietlispach zuerst kurz ihren Gesprächen,
um zu erkennen, ob es wirklich Chinesen
sind. Dass selbst sie die asiatischen Gesichtszüge nicht gleich einem Land zuordnen kann, ist beruhigend. «China ist
einfach riesig, die Leute im Süden sehen
zum Beispiel ganz anders aus als die im
Norden», meint sie dazu lachend.
Eine geführte Reisegruppe finden wir
leider nicht, aber mehrere Touristen
geben uns gerne Auskunft. Die wenigsten scheinen sich darüber zu wundern,
dass sich zwei Einheimische für ihr
Ferienprogramm interessieren und dass
eine davon sogar Chinesisch spricht.
Wir erfahren, dass sie bis elf Uhr «frei»
haben. Zwei Stunden Zeit, um selber
die Stadt zu erkunden – oder am Schwanenplatz ihre Souvenirs einzukaufen.
Am Mittag gehe es gleich weiter nach
Venedig. Gestern Paris. Das Übliche.
Was sie bei ihrem Besuch über Luzern
erfahren? Vermutlich nicht allzu viel,
wie ein Besuch beim Löwendenkmal
zeigt. Dort sind bereits die Selfiesticks
lang gezogen, und aus verschiedenen
Winkeln wird fleissig drauflosgeklickt.
(Die Chinesen sagen dazu «zipaigan»,
was «selber fotografieren stick» bedeutet.) Während des Fotoshootings wartet
ein chinesischer Tourguide geduldig mit
seinem Fähnchen; erklärt seiner Gruppe aber nicht, was es mit dem steinernen Löwen auf sich hat. Die in Englisch
verfasste Informationstafel über den
Heldentod der Schweizergardisten wird
nicht beachtet.
Viel Schokolade – wenig Zeit
Zumindest nicht in guter Erinnerung
wird einem jungen Paar im Uhrenladen
die heimische Küche bleiben: «Käse
geht gar nicht», sind sie sich einig. Das
Essen hier sei sowieso zu schwer, die
Portionen zu gross. Und Käse eklig. Eine
Uhr und Schokolade seien als Souvenir
aber ein Muss. Wir danken, und sie
wenden sich wieder der Vitrine zu. Ein
paar Meter weiter scheint ein Familienvater erleichtert über die Ablenkung
seiner zwei Kinder zu sein. Der Knabe
und das Mädchen erzählen, dass sie
Glace mögen – die schweizerische mehr
als die italienische.
Ein kleiner Einblick in die chinesischen Erfahrungen. Immerhin. Im
Läderach treffen wir dann eine Familie
aus Taiwan. Die Ehefrau fragt Nietlispach, welche Geschmacksrichtung die
Schokolade in ihrer Hand hat. Dunkle
Schokolade mit Truffesfüllung. Die Familie bleibt ganze elf Tage in der
Schweiz – eigenständig und ohne Touristenführer. Sie repräsentieren einen
neuen Typ Tourist aus Asien, wie Sibylle
Gerardi, Sprecherin von Luzern Tourismus, erklärt. «Individualreisen werden
immer populärer. In Taiwan, aber auch
bei Gästen aus China.» Gruppenreisen
seien aber nach wie vor sehr beliebt in
Asien. Für die meisten geht es um elf
Uhr also zurück in die klimatisierten
Cars – die Schokolade soll schliesslich
nicht schmelzen – und weiter nach
Italien.
Im Rollstuhl auf den Berg – aber nicht unter die Dusche
PILATUS Trotz Renovation sind die Gipfelhotels
nicht vollumfänglich rollstuhlgängig – weil
dies beim Umbau noch keine Vorschrift war.
Der Ärger von Hans Banholzer (73)
ist gross. Der auf den Rollstuhl angewiesene Rothenburger reist gerne auf den
Pilatus, kann aber weder im Hotel Pilatus Kulm noch im Hotel Bellevue übernachten und duschen. Dabei verweist
Banholzer auf die Baunorm SIA 500 für
hindernisfreie Bauten. Die Norm schreibt
unter anderem vor, dass bei Unterkünften mindestens 3 Prozent der Gästezimmer rollstuhlgerecht sein müssen. Bei
Hotelum- und -neubauten gilt: Mindestens ein Zimmer muss vollumfänglich
rollstuhlgängig sein.
«Es ist schon erstaunlich, dass im
renommierten Hotel auf dem Pilatus
nach einer millionenschweren Gesamt-
erneuerung die Einrichtung behindertengerechter Zimmer schlicht vergessen
wurde», echauffiert sich Banholzer. Die
erwähnte Gesamterneuerung umfasste
die beiden Hotels und die Panoramagalerie, wurde im Sommer 2011 fertig
und kostete 30 Millionen Franken.
Norm seit 2009 gültig
Allerdings war die Baunorm noch gar
nicht in Kraft, als die Pilatus-Bahnen
ihr Baugesuch eingereicht haben: Als
die Vorschrift am 1. Januar 2009 gültig
wurde, schwirrten schon die Helikopter
auf den Berg. Die Hotels wurden im
Juli 2010 respektive im Februar 2011
fertiggestellt. Das bestätigt Josef Lussi.
Er führt die Beratungsstelle «Hindernisfrei Bauen Nidwalden/Obwalden», welche die Pilatus-Bahnen bei den Umbauten beraten hat. «Die Norm ist dann
verpflichtend, wenn ein Baugesuch
eingereicht wird.» Zudem gelte das
Prinzip der Verhältnismässigkeit: Vereinfacht gesagt, müssen behindertengerechte Massnahmen nur dann umgesetzt werden, wenn sich der finanzielle Zusatzaufwand in Grenzen hält.
«Mittelfristig keine Möglichkeit»
Trotzdem hat die Frage nach behindertengerechten Zimmern bei der Planung eine Rolle gespielt, wie Tobias
Thut, Leiter Marketing und Verkauf bei
den Pilatus-Bahnen, auf Anfrage erklärt.
«Aus Kostengründen und weil noch
keine Pflicht bestand, haben wir aber
darauf verzichtet.»
«Es muss doch möglich sein, im Nachhinein ein Zimmer umzurüsten», sagt
Hans Banholzer. Möglich wäre es, aber
aufwendig, kontert Tobias Thut. «Die
Zimmerwände wurden in Leichtbauweise erstellt, für die Montage von Haltegriffen müssten Wände ersetzt werden.»
Und um die Duschwannen ebenerdig zu
gestalten, müssten Leitungen versetzt
werden. «Mittelfristig sehen wir keine
Möglichkeit, ein Zimmer umzurüsten.»
Tobias Thut weist darauf hin, dass
Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, durchaus auf dem Pilatus übernachten – wenn auch mit Unterstützung einer Begleitperson. Auch die
Fahrt auf den Berg und alle anderen
Räume seien rollstuhlgängig.
Lob und Tadel der Experten
Das hat auch das Zentrum für hindernisfreies Bauen der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung festgehalten. In der
Zeitschrift «Paracontact» schrieb das
Zentrum 2012: «Die Investitionen auf
dem Pilatus haben auch für Menschen
mit Behinderung einen grossen Mehrwert ergeben.» Allerdings kritisierten
die Experten auch: «Insbesondere im
Hotel Pilatus-Kulm ist es unverständlich, dass die planenden Architekten
im Zusammenhang mit dem Gesamtumbau der Innenräume keine schwellenlose, rollstuhlgängig zugängliche
Duschen planten.»
Auf Nachfrage erklärt Marcel Strasser
vom Zentrum für hindernisfreies Bauen,
dass es für Hans Banholzer oder Behindertenorganisationen schwierig werden
dürfte, nachträglich einen Umbau zu
verlangen. «Hier kommt es auf den Goodwill der Pilatus-Bahnen an.» Seit Inkrafttreten der Norm gebe es immer wieder
Fälle, in denen sich gehbehinderte Menschen über Bauten ärgern, die relativ neu,
aber nicht rollstuhlgängig sind.
ALEXANDER VON DÄNIKEN
[email protected]