Rezension „Der Dunkle Fluss“ – Chigozie Obioma Obiomas (*1986

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Rezension „Der Dunkle Fluss“ – Chigozie Obioma Obiomas (*1986
Rezension „Der Dunkle Fluss“ – Chigozie Obioma
Obiomas (*1986) Debütroman richtet sich an Erwachsene mit einem Interesse am
Leben und Erleben Nigerias. Verlegt von aufbau im Jahr 2015 umfasst er 313 Seiten
und liegt bei einem Preis von 19,95 Euro.
Der Roman handelt von den Brüdern Ikenna, Boja, Obembe und Benjamin und ihren
Eltern. Der Zusammenhalt der Großfamilie, die in einer kleinen Stadt in Nigeria lebt,
wird durch die berufliche Versetzung des Vaters in eine andere Stadt geschwächt.
Während der Abwesenheit des Vaters kaufen sich die vier Jugendlichen heimlich
Angeln und fischen heimlich am „Omi-Ala“. An diesem Fluss wurden schon viele
Leichen gefunden und ihm wird Schlechtes nachgesagt. Dabei treffen sie auf dem
Rückweg auf Abulu, der als Verrückter gilt und der Ikenna, dem Ältesten, prophezeit,
dass ein Fischer ihn töten wird. Dieser schließt daraus, dass einer seiner drei Brüder
gemeint ist und versucht von nun an mit aller Gewalt Abstand zu diesen zu halten.
Nach einigen Wochen voller Streit zettelt Ikenna eine Prügelei an, in der ihm Boja ein
Messer in den Bauch sticht, wodurch sich die Vorhersage bewahrheitet. Daraufhin
nimmt auch Boja sich das Leben. Obembe ist davon überzeugt, dass allein Abulu die
Schuld an dem Tod seiner Brüder trägt und fasst zusammen mit Ben den Entschluss,
ihre Brüder zu rächen, wobei die Angelhaken eine Rolle spielen. So viel sei noch
verraten: Die Konsequenzen dieses Mordes und die daraus resultierende
Schuldfrage führen zum endgültigen Zusammenbruch der Großfamilie.
Benjamin, der jüngste Sohn der Familie, schildert als rückblickender Ich-Erzähler den
Weg von seiner Kindheit und Jugend bis hin zu seiner aktuellen Situation im
Gefängnis. Kleine Anekdoten aus seinem vorherigen Leben, die verdeutlichen sollen,
wie es zu den Gewaltausbrüchen und den zahlreichen Verlusten kommen konnte,
unterbrechen die Chronologie. Er verhält sich emotional neutral und beschreibt meist
die bloßen Handlungen ohne Einfluss der persönlichen Gedanken oder Gefühle. Die
Sprache des Romans ist sehr einfach gehalten und gut lesbar, trotz der Einschübe
von Ibo-Worten und –sätzen, die Benjamins Mutter beispielsweise in gelegentlichen
Wutausbrüchen verwendet. Trotzdem kann man besonders die Sprache einiger
Szenen nicht als kindgerecht beschreiben, da diese häufig brutal und ungeschönt
dargestellt sind. Auch die schonungslose und gewaltsame Rache an Abulu kann sich
der Leser übertrieben bildlich vorstellen.
Viele Kapitel beginnen mit einem Vergleich, teilweise in Zusammenhang mit einem
Zitat oder Sprichwort, die die Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen
Hauptcharakteren und Tieren aus der beschriebenen Region darstellen sollen. Ein
Beispiel dazu ist das Kapitel „Mutter war eine Falknerin“ (S. 106). Sie hat die
Aufgabe, ihre Kinder, die Falken, zu beschützen und zu bändigen, die dem Symbol
des Greifvogels entsprechend nach Freiheit und Macht streben. Diese Vergleiche
sollen die Grundzüge der Charaktere beschreiben und verknüpfen diese mit dem Bild
der Natur und Kultur Afrikas, die durch die Sagen, wie beispielsweise die um den
„dunklen Fluss“ Omi-Ala und den Hellseher Abulu, geheimnisvoll und tiefgründiger
erscheinen. Durch diese Einschübe wird der Lesefluss unterbrochen und der Leser
bekommt einen Einblick in das nigerianische Lebensgefühl.
Der Klappentext verspricht „einen großen Roman über die Schönheit und Abgründe
Afrikas“, doch die besagte Schönheit lässt sich kaum finden. Die Heimat der
Protagonisten ist geprägt von den zentralen Motiven der Kriminalität und Gewalt. In
der von Männern dominierten Gesellschaft fällt es der Mutter der Heranwachsenden
schwer, den für die Erziehung nötigen Respekt zu erlangen. Dadurch wagen die
Geschwister Dinge, die sie sich unter der strengen Kontrolle ihres Vaters nicht
trauten. Durch die Abwesenheit des Familienoberhauptes verlieren diese das Maß
für Gut und Böse, Richtig und Falsch und überschreiten durch das Austesten ihrer
Möglichkeiten einige moralische und gesellschaftliche Grenzen. Dabei stellt sich die
Frage, ob das Leben der Familie anders verlaufen wäre, wenn der Vater die Familie
nicht verlassen hätte. Im Roman wird schnell klar, dass eine strenge Erziehung in
Abwesenheit der väterlichen Autorität nicht möglich ist, weshalb dieser wochenends
zu Besuch kommt, um seine Kinder in ihre Grenzen zurückzuweisen. Ein wichtiger
Aspekt scheint auch das zur Erziehung nötige Maß an Freiheit zu sein. Die
neugewonnene Freiheit der Brüder führt also zu dem fatalen Glauben an eine
Grenzenlosigkeit und dem Verlangen nach mehr Macht. Während der Erzähler das
Familienverhältnis anfangs noch als fest und eingespielt beschreibt, wird gegen Ende
des Romans die Zerrüttung der Familie deutlich.
Trotz der authentischen Beschreibung der Situation fällt es dem Leser aufgrund der
fehlenden Empathie des Erzählers besonders schwer, sich in einen der vier Brüder
hineinzuversetzen, wohingegen die verzweifelte und hilflose Position der Mutter sehr
deutlich wird. Zudem fehlt es an Spannung.
Der Roman ist wirklich nur dem Leser zu empfehlen, der genug Geduld aufweist, um
sich mit den psychologischen Hintergründen für das Scheitern von Erziehung und
Familienzusammenhalt an diesem bestimmten Beispiel in einer exotischen Gegend
der Erde auseinanderzusetzen.
Katrin Brandt, MSS 13

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