Die Rolle des Aufsichtsrats im Verhältnis zum Vorstand Dr. Clemens

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Die Rolle des Aufsichtsrats im Verhältnis zum Vorstand Dr. Clemens
Die Rolle des Aufsichtsrats
im Verhältnis zum Vorstand
Dr. Clemens Börsig
Deutsche Corporate Governance Konferenz
Berlin, 22. Juni 2006
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Lieber Herr Dr. Cromme,
sehr geehrte Damen und Herren,
herzlichen Dank für die Einladung. Ich freue mich, heute hier zu sein. Sie haben mich
gebeten, über die Rolle des Aufsichtsrats im Verhältnis zum Vorstand zu sprechen. Noch vor
wenigen Wochen war für mich die umgekehrte Perspektive deutlich wichtiger, also das
Verhältnis als Vorstand zum Aufsichtsrat. Doch manchmal nehmen Entwicklungen einen
sehr schnellen Verlauf, und jetzt stehe ich als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank
auf der anderen Seite, was auch seine Vorteile hat; z.B. sind die Leute viel höflicher zu
einem.
Der Aufsichtsrat wird als tragende Säule der Corporate Governance deutscher Unternehmen
gesehen. Dies gilt heute umso mehr, hat sich sein Rollenverständnis in den letzten Jahren
doch spürbar verändert. Ich werde dies gleich genauer darlegen und Konsequenzen aus
diesem veränderten Rollenverständnis aufzeigen. Erlauben Sie mir zunächst aber einige
Vorbemerkungen genereller Natur zum Thema Corporate Governance.
Die Diskussion um eine wirkungsvolle Corporate Governance, aber auch die Corporate
Governance Praxis, sind sehr stark von Regeln und Formalien bestimmt.
Dabei gerät häufig ins Hintertreffen, worum es eigentlich geht, und dies sollten wir uns immer
wieder klarmachen:
Es geht um die auf Wertschaffung ausgerichtete Unternehmensführung im Interesse der
Investoren.
Auch wenn die Versuchung groß ist, die „faux amis“ der Corporate Governance zu benennen
und aufzuzählen, um was es bei Corporate Governance nicht geht, möchte ich dies hier
schon allein aus Zeitgründen nicht tun.
Also
noch
einmal
positiv:
Es
geht
um
eine
auf
Wertschaffung
ausgerichtete
Unternehmensführung.
Gemessen an dem richtigen Verständnis von Corporate Governance meine ich - von
Ausnahmen abgesehen -, dass die Vorstände und Aufsichtsräte in deutschen Unternehmen
eine sehr gute Arbeit leisten. Einen Beleg dafür liefern z.B. Untersuchungen zur
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internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Darin nehmen deutsche Unternehmen im Gegensatz
zur deutschen Volkswirtschaft die vorderen Plätze ein, so zum Beispiel beim Business
Competitive Index des World Economic Forums Rang 3 und beim „company operations and
strategy ranking“ sogar Rang 2 hinter den USA. Eine solch hervorragende Bewertung käme
wohl kaum zustande, wenn deutsche Unternehmen nicht gut geführt und kontrolliert würden.
Leider wird in der Öffentlichkeit – zum Teil an Einzelfällen hochgezogen, die auch noch
verzerrt dargestellt werden – häufig ein anderes Bild gezeichnet.
Dabei hat sich im Aufsichtsrat in den letzten Jahren vieles geändert und auch verbessert.
Hier hat neben dem Gesetzgeber mit einer Reihe von Maßnahmen die so genannte
„Cromme Kommission“ mit dem Corporate Governance Kodex einen entscheidenden Beitrag
geleistet. Die deutschen Unternehmen sind daher der Kommission zu Dank verpflichtet.
Dies gilt insbesondere für Sie, lieber Herr Dr. Cromme. Sie haben es immer wieder
geschafft, das breite Spektrum der Kommission und die manchmal divergierenden
Meinungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Allerdings könnte die Kommission
noch wirkungsvoller sein, wenn ihre eigene Governance so weiterentwickelt würde, dass nur
ihr Vorsitzender zu Corporate Governance-Themen in der Öffentlichkeit Stellung nimmt.
Insgesamt hat die Praxis der Corporate Governance der deutschen Unternehmen ein, auch
im internationalen Vergleich, hohes Niveau erreicht. In meinen Gesprächen mit Analysten
und Investoren war daher Corporate Governance in den letzten Jahren nie ein Thema.
Die öffentliche Diskussion verläuft in Deutschland, wie ich bereits bemerkte, oft anders. Uns
muss aber an einer zutreffenden Einschätzung gelegen sein, an einem objektiven, nicht
verzerrten Bild. Denn Corporate Governance hat Einfluss auf die Reputation von
Unternehmen und auch von Standorten.
Wir dürfen das Thema aber auch nicht überbewerten. So ist der oftmals postulierte
Zusammenhang zwischen einer guten Corporate Governance und der Performance am
Aktienmarkt nicht nachweisbar. Dies zeigt etwa ein Blick auf die aktuelle Over-Performance
der Aktienmärkte in den Emerging Markets gegenüber den westlichen Märkten, obwohl die
Corporate Governance in diesen Ländern nicht an die in den Industrienationen heranreicht.
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Sehr gerne würde ich hier noch einige Anmerkungen zur Überprüfung und Fortentwicklung
der Corporate Governance Regeln anfügen. Leider steht mir hierfür die Zeit nicht zur
Verfügung.
Nur so viel: Aufgrund des erreichten Niveaus besteht heute bei uns kein Zeitdruck. Die Themen können mit Besonnenheit und Umsicht angegangen und bearbeitet werden. Hierzu
gehört auch eine angemessene Zeit der Diskussion von Vorschlägen vor ihrer Festlegung
als Regeln.
An dieser Stelle habe ich in mein Manuskript geschrieben:
Kein Handlungsbedarf besteht bei der Dauer der Bestellung von Vorständen. Der
Aufsichtsrat braucht hier den vom Gesetz vorgegebenen Rahmen.
Wenn es da geschrieben steht, dann sage ich es auch.
Meine Damen und Herren,
soweit meine Vorbemerkungen. Ich komme nun zu meinem eigentlichen Thema, das ich
entlang von sechs Thesen behandeln möchte.
These 1:
Die Aufgaben, die Verantwortung und die Haftungsrisiken des Aufsichtsrats haben
sich deutlich erweitert.
Gesetzgeber, Regulatoren und Corporate Governance Kommissionen haben in den vergangenen Jahren den Aufsichtsräten eine Fülle von neuen, zusätzlichen Aufgaben und
Verantwortlichkeiten zugewiesen. Die hierfür maßgeblichen Gründe kennen Sie.
Während früher der Aufsichtsrat eine eher distanzierte Kontrolle des Vorstands ausübte, ist
heute erheblich mehr gefordert. Als Aufgaben kamen u.a. hinzu:
−
Zustimmung zur Unternehmensplanung, d.h. zu Strategie, Programmen und Budgets
−
laufende, tiefgehende Überwachung u.a. der Geschäftsentwicklung, der Rechnungslegung, des Risikoprofils, der Kontrollsysteme und entsprechende Einflussnahme bei
Defiziten und Fehlentwicklungen
−
Einbindung in geschäftspolitische Entscheidungen sowie in die Nachfolgeplanung.
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Gefragt ist also nicht nur der Kontrolleur, sondern gleichzeitig auch der kritische Begleiter
und kompetente Sparringspartner.
Mit der Ausweitung von Aufgaben und Verantwortung einher geht auch eine entsprechende
Zunahme der Haftungsrisiken für die Aufsichtsratsmitglieder. In einem Workshop des
letztjährigen World Economic Forums in Davos antwortete ein Teilnehmer auf die Frage
welche Anforderungen an einen „External Director“ eines „Boards“ zu stellen seien: „He must
be a low networth individual.“ Er müsse also ein geringes Haftungsvermögen haben.
Ich möchte hier auf ein zusätzliches Problem hinweisen:
Aus unterschiedlichen Gründen können nicht alle Aufsichtsratsmitglieder den erweiterten
Aufgaben und Verantwortlichkeiten gleichermaßen gerecht werden.
Der Aufsichtsratsvorsitzende muss ihnen gerecht werden.
Ebenso die Ausschussvorsitzenden für ihre Bereiche.
Ferner: Wichtige Aufgaben werden in Ausschüsse verlagert; denken Sie an den
Prüfungsausschuss.
Welche Auswirkung hat dies auf die Haftung des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds? Diesen
Punkt wollte ich heute nur ansprechen, aber nicht näher hinterfragen.
These 2:
Die Aufsichtsratsarbeit ist erheblich intensiver geworden.
Die Erweiterung des Aufgabenumfangs hat zu einer erheblichen Intensivierung und man
kann auch sagen Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit geführt. Zunächst wurden die
Zuständigkeiten des Aufsichtsrats im Hinblick auf zustimmungspflichtige bzw. berichtspflichtige Vorgänge erweitert - zum Teil zum Missvergnügen der Vorstände. Zumindest zu
meinem damaligen Missvergnügen.
Verstärkt werden Ausschüsse mit umfangreichem Mandat eingesetzt. Die Geschäftsordnungen des Aufsichtsrats und der Ausschüsse wurden entsprechend angepasst und
erweitert.
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Vor allem der Prüfungsausschuss hat sich, neben dem Präsidialausschuss - zumindest bei
großen deutschen Unternehmen - als Standard etabliert. Durch die Ausschüsse wird die
Effektivität der Aufsichtsratsarbeit deutlich gesteigert, da diese im Vergleich zum Plenum
erheblich kleiner sind. Sie sind zudem ein praktikabler Weg, um vertrauliche Vorgänge
vorzubereiten, insbesondere hinsichtlich der kritischen Felder Personalplanung bzw.
Nachfolgeregelungen
und
Vergütungsfragen,
sowie
bei
Akquisitionen
und
Umstrukturierungen.
Die Sitzungsfrequenz hat sich erhöht, vor allem wenn man die Ausschuss-Sitzungen mit
einrechnet. Zudem sind die Aufsichtsräte aufgrund der erweiterten Berichtspflichten besser
informiert. Der Aufsichtsrat lässt sich vom Vorstand regelmäßig und umfassend über die
geschäftliche und strategische Entwicklung des Unternehmens, die Risikolage sowie über
aktuelle Ereignisse und wichtige Geschäfte ins Bild setzen. Die Berichterstattung wird durch
Vorträge
von
Mitarbeitern
der
zweiten
Ebene
über
die
Entwicklung
ihres
Verantwortungsbereichs in den Sitzungen ergänzt. Dieser erweiterte Informationsumfang
muss auch verarbeitet werden.
Der Aufsichtsrat ist außerdem in Entscheidungen, die von grundlegender Bedeutung für das
Unternehmen
sind,
unmittelbar
eingebunden.
Dies
gilt
insbesondere
auch
für
Personalentscheidungen. Gemeinsam mit dem Vorstand soll der Aufsichtsrat für eine
langfristige Nachfolgeplanung sorgen.
Schließlich soll der Aufsichtsrat regelmäßig seine eigene Effizienz überprüfen. Auch dies ist
Ausdruck einer zunehmenden Professionalisierung. Denn man verschafft sich Klarheit
darüber, wie die Arbeit im Aufsichtsrat weiter verbessert werden kann und ergreift
gegebenenfalls Maßnahmen.
Und damit bin ich bei meiner dritten These.
These 3:
Es ist eine internationale Konvergenz der Corporate Governance festzustellen.
Deutschland hat sich in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Corporate Governance in
beachtlichem Umfang an internationale Standards angepasst. Dies gilt insbesondere für die
Rolle des Aufsichtsrats und hier nicht nur durch die Erweiterung von Aufgaben und
Verantwortung, sondern auch in struktureller Hinsicht z.B. durch die Einrichtung von
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Prüfungsausschüssen, die ebenso arbeiten wie die Audit Committees im angelsächsischen
Bereich.
Umgekehrt beobachten wir in den Ländern mit einstufigem System eine stärkere Trennung
von Führung und Überwachung/Kontrolle.
So hat sich der Anteil der „Non-Executive Directors“, denen die Kontrollaufgabe zukommt,
deutlich erhöht und beträgt beispielsweise in den „Boards“ US-amerikanischer Unternehmen
inzwischen rund drei Viertel. Zudem haben sich regelmäßige Sitzungen der „NonExecutives“ ohne die geschäftsführenden Direktoren etabliert, so genannte „Non-Executive
Sessions“. Ferner wurden die Rolle, die Unabhängigkeit und die Kompetenzen der mit
Kontrollaufgaben betrauten Ausschüsse deutlich gestärkt.
Hinzu kommt die Forderung nach einer personellen Trennung von CEO und Chairman. In
Großbritannien haben die meisten Unternehmen diese Trennung bereits vollzogen, in der
Schweiz war sie immer gegeben. In US-amerikanischen Unternehmen ist die Personalunion
von CEO und Chairman dagegen nach wie vor weit verbreitet. Im Fall der Trennung beider
Funktionen werden Effizienzverluste befürchtet.
Aber auch andere, nahe liegende Überlegungen dürften hier eine Rolle spielen.
Quasi als Ersatz haben viele dieser Unternehmen einen „Lead Director“ geschaffen, der die
Funktion eines Sprechers der „Non-Executive Directors“ hat und der in bestimmten Fällen
z.B. bei der Ablösung des CEO eine zentrale Rolle spielt. Die Funktionsweise der „Boards“
nähert sich damit der des Aufsichtsrats an, wenn man vom Thema Mitbestimmung einmal
absieht.
Ein
weiterer
Schritt
der
Konvergenz
wird
dadurch
vollzogen,
dass
der
Aufsichtsratsvorsitzende in Deutschland seine Aufgabe hauptberuflich wahrnimmt und damit
die Position eines „Non-Executive Chairman“ einnimmt. Ich gehe hierauf in meiner nächsten
These ein.
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These 4:
Meine vierte These lautet, dass sich die Anforderungen an die Mitglieder des
Aufsichtsrats deutlich erhöht haben.
Die erhöhten Anforderungen betreffen sowohl die Qualifikation als auch vor allem den
zeitlichen Aufwand.
Zusammen
mit
den
gestiegenen
Haftungsrisiken
hat
dies
die
Attraktivität
der
Aufsichtsratstätigkeit nicht gerade erhöht. Die Zeiten als die Mitgliedschaft in einem
Aufsichtsrat als prestigeträchtiges Ehrenamt, als Networking-Gelegenheit oder Alterssitz
angesehen wurde, gehören der Vergangenheit an. Entsprechend schwierig ist es, geeignete
Kandidaten zu finden. Gerade Persönlichkeiten aus dem Ausland, die wir aufgrund unseres
internationalen Geschäftes in deutschen Aufsichtsräten dringend benötigen, finden oft eine
solche Tätigkeit wenig attraktiv.
Nach einer von der Personalberatung „Korn/Ferry International“ in 2005 durchgeführten
Studie zur Besetzung des „Board of Directors“ fällt es 54 % der Befragten in Europa sehr
schwer, qualifizierte „Directors“ zu gewinnen. Speziell in Deutschland gaben 79 % an, dass
es überaus schwierig ist, geeignete „Directors“ mit internationaler Erfahrung zu finden. Wir
schöpfen hier also wirklich nicht aus dem Vollen.
Derzeit dreht sich die Diskussion um die Eignung von Aufsichtsratskandidaten nahezu ausschließlich um die Frage der Unabhängigkeit, wobei Unabhängigkeit anhand struktureller
Merkmale definiert wird. Dies greift zu kurz. Die Kriterien Kompetenz und Erfahrung im
Hinblick auf das Geschäft des Unternehmens, die Branche und das Geschäftsumfeld bleiben
weitgehend unberücksichtigt.
Im übrigen: Unabhängigkeit ist ein innerer Befund, der neben strukturellen Merkmalen von
der Persönlichkeit des Einzelnen abhängt.
Das Thema erhöhter Anforderungen stellt sich in besonderem Maße beim Aufsichtsratsvorsitzenden. Neben einer hohen fachlichen und persönlichen Qualifikation muss er ausreichend zeitlich verfügbar sein.
Der Aufsichtsratsvorsitz ist heute in vielen Fällen keine Nebentätigkeit, wie vielfach noch
unterstellt wird, sondern eine hauptberufliche Tätigkeit, wie die des Chairmans in einem
angelsächsischen Unternehmen oder des Präsidenten des Verwaltungsrates in einem
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Schweizer Unternehmen. Wir bei der Deutschen Bank haben heute dieses Verständnis vom
Aufsichtsratsvorsitzenden.
Wenn der Aufsichtsratsvorsitz nicht Personen vorbehalten sein soll, die sich bereits im
Ruhestand befinden, dann müssen wir ihn als attraktiven Schritt in einer aktiven Karriere,
z.B. für Vorstandsmitglieder mit genügender Erfahrung, definieren.
Dies bringt mich zu meiner fünften These, der Vergütungsfrage. Ich möchte mich bewusst
heute nicht vor diesem Thema drücken.
These 5:
Die Vergütung des Aufsichtsrats entspricht nicht den gestiegenen Anforderungen.
Die Vergütung des Aufsichtsrats ist zwar in den letzten Jahren überwiegend gestiegen, aber
vielfach nicht in dem Umfang wie Aufgaben, Verantwortung und Haftungsrisiken
zugenommen haben. Es ergibt sich also eine wachsende Lücke zwischen Anforderungen
und Vergütung. Dies gilt insbesondere auch für Ausschussmitglieder und deren Vorsitzende.
Wir müssen die Vergütung anpassen, wenn wir auch in Zukunft die Aufsichtsräte qualifiziert
besetzen wollen. Und - wie bemerkt - wir schöpfen hier nicht aus dem Vollen und müssen
daher entsprechend finanzielle Anreize bieten.
Interessanterweise konzentriert sich die Corporate Governance Diskussion auf zusätzliche
Aufgaben, Verantwortung und Haftung, blendet aber – wenn ich es recht sehe – das
Problem der damit verbundenen Vergütung aus.
Besonders prononciert ist das Thema beim Aufsichtsratsvorsitzenden. Wenn wir den
Aufsichtsratsvorsitz als hauptberufliche Tätigkeit anerkennen – und wir sollten dies wie
bemerkt tun – dann müssen wir die Tätigkeit auch entsprechend vergüten, wie dies bei den
„Non-Executive Chairmen“, denen er gleich gesetzt werden kann, der Fall ist.
Hier ist auch zu berücksichtigen, dass der Aufsichtsratsvorsitzende neben dem Zeitaufwand
aus Wettbewerbsgründen und Gründen des Reputationsrisikos in seinen sonstigen
beruflichen Aktivitäten erheblich eingeschränkt ist bzw. eingeschränkt sein sollte.
Ich komme nun zu meiner sechsten und letzten These.
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These 6:
Aufsichtsrat und Vorstand bilden im Hinblick auf Corporate Governance eine
Interessengemeinschaft
Walter Cipa beschrieb als Vorstandsvorsitzender der AEG einst das Verhältnis zu seinem
Aufsichtsrat mit dem Satz: „Aufsicht habe ich nicht gespürt, Rat habe ich keinen erhalten“.
Diese Beschreibung - zwar kennzeichnend - aber auch damals nicht der „best practice“ in
Deutschland entsprechend - gilt so nicht mehr. Es hat sich seither - wie dargelegt – vieles
verändert. Früher lag die Initiative was im Aufsichtsrat behandelt wurde beim Vorstand.
Heute fordert der Aufsichtsrat vom Vorstand und zwar in beachtlichem Umfang.
Als kennzeichnend für diese Veränderung möchte ich nennen:
−
Erhöhte Anforderungen an Quantität und Qualität der Berichterstattung
−
Erweiterter Katalog zustimmungspflichtiger Rechtsgeschäfte.
−
Geänderter Diskussionsverlauf in den Sitzungen
−
Durchführung von Sitzungen ohne Vorstand, sog. „Non-Executive Sessions“
−
Auswirkungen der Effektivitätsprüfungen
−
Die Arbeit in den Ausschüssen und die entsprechenden Vorbereitungen
Ein weiterer Punkt ist hier anzusprechen:
Die zum Teil sehr technischen (um den Begriff bürokratisch zu vermeiden) Corporate
Governance Regeln in Verbindung mit der erheblich erweiterten Haftung des Aufsichtsrats
haben ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf das hier diskutierte Verhältnis. Dies führt sehr
leicht zu einer Situation, in der „form over substance“ gilt.
Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Aufsichtsrat und Vorstand ist noch nicht
abgeschlossen. Wir befinden uns mitten in einem Lernprozess.
Nach meiner Überzeugung sollte für das Verhältnis gelten:
−
Klare Trennung zwischen Aufsichtsrat und Vorstand von Aufgaben und Verantwortung
und deren beiderseitig uneingeschränkte Respektierung.
−
Vor diesem Hintergrund an der Sache orientierte, vertrauensvolle Zusammenarbeit, zu
der auch eine kritisch konstruktive Diskussionskultur gehört.
−
Gegenseitige Achtung, die in diesem Zusammenhang nur auf der Grundlage der nötigen
fachlichen und menschlichen Qualifikation auf beiden Seiten möglich ist.
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Die Stärkung der Stellung des Aufsichtsrats geht nicht notwendigerweise zu Lasten des
Vorstands. Wir haben hier kein Null-Summen Spiel vor uns. Qualifizierte Aufsichtsräte und
Vorstände haben ein gemeinsames Interesse an einer wirksamen Corporate Governance,
d.h. an einem starken Vorstand bzw. einem starken Aufsichtsrat. Sie bilden insofern eine
Interessensgemeinschaft, die eine gute Grundlage für ein konstruktives Verhältnis darstellt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss zum Thema Corporate Governance
noch einmal grundsätzlich werden. Ich möchte dabei das Beispiel Bosch heranziehen.
Robert Bosch d.Ä. hat in seinem Testament Richtlinien und Grundsätze aufgestellt – heute
würden wir sagen: Corporate Governance Regeln, die - in einigen Stellen - in an die Zeit
angepasster Form noch heute gültig sind. Diese so genannten „Anweisungen“, die ich 1990
vor meinem Eintritt in die Geschäftsleitung der Robert Bosch GmbH von Herrn Merkle
ausgehändigt bekam, haben mich außerordentlich beeindruckt. Sie sind das Beste, was ich
je über Corporate Governance gelesen habe und begleiten mich bis heute.
An den Anfang eines Abschnittes über die „Anpassung der Richtlinien an veränderte
Verhältnisse“ hat Robert Bosch folgenden Satz gesetzt: „Der Buchstabe tötet, der Geist
macht lebendig“.
Es geht also nicht um die Befolgung starrer Regeln und Wortklauberei, sondern um den
Geist einer auf langfristige Wertschaffung im Interesse aller Stakeholder ausgerichteten
Unternehmensführung – also „substance over form“. Und wir wissen nur zu gut, wann
diesem Geist entsprochen wird und wann nicht.
Zu diesem Primat des Geistes gehört übrigens auch der Mut von Richtlinien abzuweichen,
wenn eine andere Vorgehensweise sachgerechter ist. Wir müssen also auch eine gewisse
„Abweichungs-Kultur“ entwickeln.
Und es ist der Geist einer wirkungsvollen Corporate Governance, der das Verhältnis von
Aufsichtsrat und Vorstand im Grundsätzlichen wie im Alltag bestimmen soll.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.