Für György Kurtág Festschrift Als PDF herunterladen

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FÜ R GYÖRGY K U RTÁG
… denn inniger ist, achtsamer auch …
FÜ R GYÖRGY K U RTÁG
… denn inniger ist, achtsamer auch …
IMPRE S S U M
F E S T S C H R I F T Für György Kurtág
U M S C H L A G Tuschezeichnung, György Kurtág,
Sammlung György Kurtág, Paul Sacher Stiftung Basel
H E R A U S G E B E R Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin,
der Rektor, Prof. Robert Ehrlich
A U F L A G E 2.000
K Ü N S T L E R I S C H E KO N Z E P T I O N Prof. Jonathan Aner,
D R U C K DBM Druckhaus Berlin-Mitte GmbH
Prof. Eberhard Feltz, Wayne Foster-Smith
R E D A K T I O N S S C H L U S S 25. September 2015
R E D A K T I O N Alexander Piefke, Marit Magister, Hanne Ermann
KO N TA K T [email protected]
S C H U T Z G E B Ü H R € 5.-
F O T O S Judit Kurtág
W W W. H F M - B E R L I N . D E
G R U S S W O R T D E S R E K T O RS
P RO F. RO B ER T EH R L I C H
WEGE ZU DEN TÖNEN HIN —
E I N V E RS U C H Ü B E R GYÖ RGY K U R TÁG S G L Ü C K L I C H E H A N D
RO L A N D M O S ER
8
10
G E S P R ÄC H I N B A S E L
H EL EN A W I N K EL M A N
22
A — DIE KUNST DES STIMMENS
J O N AT H A N A N ER
28
U N I V E RS U M „K U R TÁG“
JULIANE BANSE
29
F Ü R M Á R TA U N D GY U R I
H EI N Z H O L L I G ER
30
I N N E R E F R E I H E I T U N D V O L L KO M M E N E R T O N
TA B E A Z I M M ER M A N N
32
EWIGKEITS-GESTUS
R A P H A ËL M ER L I N
33
W I E E I N A LT E R M Ö N C H
K U R T W I D M ER
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DER SCHÖNE KL ANG
A D R I EN N E C S EN G ERY
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LEBENS-IDOL
O L I V ER W I L L E
39
EIN LEBEN IN JEDEN BOGENSTRICH
H I RO M I K I K U C H I / K EN H A K I I
42
MIT AUF- UND ABSTRICH
JULIAN ARP
43
BRIEF AN DEN MEISTER
EB ER H A R D FELT Z
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WIDMUNG FÜR DÉNES
D ÉN E S VÁ R J O N
46
I N S P I R AT I O N
S T EP H A N FO RC K
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GRUSSWORT
Berlin, vor gut 20 Jahren. In einem übervollen Unterrichtsraum der Hochschule der Künste
spielen György Kurtág und seine Frau Márta aus Játékok und seinen Bach-Transkriptionen. Nur
selten haben mich Klavierklänge so gefesselt wie zu Beginn der Sonatina aus BWV 106. Die kleinen, aber doch großartigen Játékok wirken in der Verschmelzung urmusikalischer Intelligenz und
ansteckender Spielfreude wie ein Manifest gegen eine routinierte, „virtuose“ Musikerzeugung.
Die Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin würdigt mit dieser Festschrift und zwei Konzerttagen den großen ungarischen Komponisten György Kurtág. Aus allen nachfolgenden Beiträgen
geht eine tiefe Dankbarkeit für die intensiven Begegnungen mit dem genialen Kammermusiklehrer, dem großen Komponisten, dem hinreißenden Interpreten Kurtág hervor.
Verbunden mit meinem verbindlichsten Dank an alle an der Konzeption, Planung und Durchführung Beteiligten, wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre und inspirierende Konzertbesuche.
Berlin, im Oktober 2015.
Prof. Robert Ehrlich Rektor der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin
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KO N Z E R T E 11 12 & 12 12 2015
EINTRIT T FREI
FR
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11 12
GKS I
19 H
N E U E R M A R S TA L L
FR
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11 12
€ 8 .- E R M 5 .-
20 H
GE SP R ÄCH
Begrüßung Prof. Robert Ehrlich Rektor
Prof. Roland Moser, Basel, beantwortet zur Musik Kurtágs
Fragen von Prof. Eberhard Feltz
KON Z ERT I
030.20309 2101
Pass für alle vier Konzerte
Streichquartett op. 1 — Vogler Quartett
€ 24.- ERM 15.- nur im
VVK bis 10.12.
8 Klavierstücke op. 3 — Olga Gavryliuk Klavier
KKS
N E U E R M A R S TA L L
Die kleine Klemme op. 15b (1978) — Min-Hyung Kang Piccoloflöte,
Marten Bötjer Posaune, Hendrik Schacht Gitarre
Signs, Games and Messages für Viola
Tabea Zimmermann Viola
Hölderlin-Gesänge op. 35a — Martin Bruns Bariton,
Olaf Ott Posaune, Sebastian Wagemann Tuba
Hommage à R. Sch. op. 15d — Shirley Brill Klarinette,
Tabea Zimmermann Viola, Jonathan Aner Klavier
8
Deutschlandradio Kultur überträgt dieses Konzert am 13.12.2015
um 20.03 h sowie weitere Konzertmitschnitte im Februar 2016.
SA
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12 12
14 H
€ 8 .- E R M 5 .-
KON Z ERT II
030.20309 2101
Pass für alle vier Konzerte
Bläserquintett op. 2 — Xylinos Quintett
€ 24.- ERM 15.- nur im
VVK bis 10.12.
KKS
Signs, Games and Messages für Violine — Maia Cabeza,
Mayumi Kanagawa Violine
N E U E R M A R S TA L L
Játékok III-VI für Klavier solo — Ron Maxim Huang,
Väinö Jalkanen, Seoyoung Jang, Jeongwhan Kim,
Junwen Wang Klavier
Signs, Games and Messages für Streichtrio
Lluís Castán Cochs Violine, Miquel Jordà Saún Viola,
Jesús Miralles Roger Violoncello
Bagatellen op. 14d — Sojeong Son Flöte,
Anna Promnitz Kontrabass, Väinö Jalkanen Klavier
6 Moments Musicaux für Streichquartett op. 44
Klee Quartett
Signs, Games and Messages für Violoncello
Nicolas Altstaedt Violoncello
SA
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12 12
17 H
€ 8 .- E R M 5 .-
KON Z ERT III
030.20309 2101
Pass für alle vier Konzerte
Verbeugung — Prof. Eberhard Feltz
€ 24.- ERM 15.- nur im
VVK bis 10.12.
KKS
Hommage à Mihály András — 12 Mikroludien für
Streichquartett op. 13 — Quartet Berlin Tokyo
N E U E R M A R S TA L L
Kafka-Fragmente für Sopran und Violine op. 24
Marie-Lou Jacquard, Alena Karmanova, Soo Yeon Lim Sopran,
Suyeon Kang, Mariya Krasnyuk, Johannes Strake Violine
SA
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12 12
21 H
€ 8 .- E R M 5 .-
KON Z ERT IV
030.20309 2101
Pass für alle vier Konzerte
Szálkák op. 6c — Enikö Ginzery Cimbalom
€ 24.- ERM 15.- nur im
VVK bis 10.12.
KKS
Officium Breve in Memoriam Andreae Szervánszky op. 28
Kuss Quartett
N E U E R M A R S TA L L
Die Botschaften des verstorbenen Fräuleins
R. V. Troussova op. 17 für Sopran und Kammerensemble
nach Texten von Rimma Dalos — Anna Korondi Sopran,
Echo Ensemble, Manuel Nawri Leitung
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RO L A N D M O S ER
WEGE ZU DEN TÖNEN HIN — EIN VERSUCH ÜBER GYÖRGY KURTÁGS GLÜCKLICHE HAND
Vielleicht müsste man Pianist sein, um ein solches Thema anzugehen. Oder vielleicht auch nicht,
denn Selbstverständliches will nicht so gern hinterfragt werden. Wege vom inneren Ohr über
Hände zum Instrument und zurück gehören täglich geübt; aber wer versucht, sich ein Bild zu
machen von Anfänglichem, Auslösendem zu einer Komposition, mag vielleicht nach einer Skizze
suchen, einer ersten Schrift. Aber was war davor? Ein Stift, eine Hand — und davor?
Die Idee — oder gar ein Spiel?
„I have always found it more beneficial to experiment with fountain pens than with
musical ideas“ (Morton Feldman).
Oder wäre es denn besser, statt mit supponierten Anfängen sich mit Rezeptionen zu befassen,
mit irgendwie dokumentierbaren Wirkungen am Ende der Kette, wo die Musik ankommt, mit
unzählbaren kontextuellen Bezügen?
In diesem Versuch soll es darum nicht gehen, sondern zunächst einfach um Spiele, die zwischen
zwei, drei oder vier Händen und achtundachtzig Klaviertasten sich bewegen. Bild zweier Hände,
ruhend auf einer Tastatur, fast symmetrisch anzusehen. Spiegelbildlich ließe sich auch eine Tastatur anschauen, wenn wir von der Achse d1 ausgingen.
Aber Kurtág setzt, wie Bach, seine Anfänge auf c. Für Bach gibt es fünf, für Kurtág acht Tasten mit
dem Kurznamen c. Mit c beginnt eine weiße Leiter, diatonisch, Dur. Mit fis, schwarz, eine pentatonische, weniger eindeutig. Man könnte auch ges schreiben oder auf es beginnen, schwankend
zwischen Dur- und Moll-Ähnlichkeiten. Ganz zu schweigen von modalen Möglichkeiten.
Wenn wir Kurtágs Tasten-Topographie begreifen oder ergreifen wollen, lohnt sich ein Blick (oder
mehr als einer!) auf die neun mit römischen Ziffern gezählten Doppelseiten am Anfang des ersten Bandes von Játékok (Spiele). Diese als Grundelemente und Übungen bezeichneten Seiten
enthalten zwar noch keine offiziellen Vorspiel-Stücke. Aber sie dienen auch nicht bloß als Fingerübungen für Unerfahrene. Gerade Erfahrene täten gut daran, sie bisweilen durchzuspielen und
dabei immer wieder Anfänglichem aus den folgenden Stücken zu begegnen. Schon hier ist des
Komponisten Atem immer wieder spürbar.
Vom Atem zurück zu den Händen. Auf der ersten arabisch gezählten Doppelseite gleich ein objet
trouvé: Perpetuum mobile. (Vivace, ma sempre tranquillo).
Selten geht Kurtág vom Podium, ohne es gespielt zu haben, ein Herz-Stück — dabei schaut es
äußerlich aus wie eine der vorangegangenen Glissando-Übungen: weiß, rechts hinauf, links hinab,
alles im Pedal klingen lassend, in Wellen wachsend bis zum maximalen Ambitus, dann unversehens schwarz, mit b fallend, mit # steigend (was nur vom Auge bemerkt wird, eine gedachte
Kadenz?); nach dem rapiden Rückzug in die Mitte kleinster Ambitus mit heftigem cresc.-dim.
und zurück zum Anfang. Alles ohne eine vorgeschriebene Note, bloß mit einer gestrichelten
Mittellinie, wie auf einer langen geraden Straße. Perfektionisten finden auf der letzten Seite des
Hefts eine Fassung mit Notenlinien und Schlüsseln.
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Beispiel 1: Játékok I, S 1, Perpetuum mobile
Ein zweites Herz-Stück findet sich schon nach zweimaligem Umblättern: Virág az ember ...
(Blumen die Menschen, nur Blumen ...).
Beispiel 2: Játékok I S. 3, Virág az ember, Blumen die Menschen, nur Blumen
Im Gespräch hat Kurtág mehrmals gesagt, es sei sein Wichtigstes. Er hat es immer wieder komponiert — wer zählt diese Blumen? Eine frühe in den Bornemisza Péter Mondásai (Sprüche des
Péter Bornemisza) op. 7 zeigt uns, woher die Worte sind. In den Kompositionen sind es immer
wieder andere Töne, die dafür gewählt werden. Diastematische Sinnsucher dürften zu keinem
Ende kommen. Hier zunächst bloß eine nüchterne Bestandes-Aufnahme:
schwarze (kürzere) Noten: g2 - f1 - E — d4 (1C) verschränkt mit einer langsamer
werdenden Folge
(g2) a - h1 - — - 1C.
Ein fächerartiger Hoquetus wird bei d4 für eine Art weiträumiger Klausel aufgegeben. Ob sich
die zwei Folgen fürs innere Ohr in melodische Skalen fügen?
Räumlich: Wie viele Tasten weit geht es von Note zu Note? 13 5 3 18 34 43 (einengend —
öffnend). Wie weit rechts? 5 16 Wie weit links? 5 15 9 (zuerst fast symmetrisch). Vom
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Komponisten gibt es keine Fingersätze. Sie ließen sich auch komponieren. Gleichsam analog:
zum Beispiel rechts 5 1 3, links 5 1 3 3, in größter Entfernung sich im Mittelfinger findend. Oder
mit der Cimbalom-Technik, die ich oft bei Kurtág beobachtet habe: 1 Finger pro Hand. (So spielte er uns, unvergesslich, Teile der Urfassung von What is the Word.)
Es ist wohl absurd, einer so zauberhaften Blume mit Distanzen und Fingersätzen zu Leibe zu rücken. Aber man darf auch diesmal wieder die letzte Seite aufschlagen und die ff / ppp–Version
spielen. Hier diktieren uns instrumentale Resonanzen einen zeitlichen Verlauf.
Beispiel 3: Játékok I S. 25 ... und noch einmal: Blumen die Menschen
Eine späte dreihändige Fassung erweitert — ohne etwas an den Tönen zu ändern — die Wege der
Hände bis an die Grenze der Spielbarkeit. Vielleicht braucht es solche „Hindernisse“, um dem
Einfachsten nahe zu kommen. Freilich kommen sich auch die Arme dabei immer näher ...
Beispiel 4: Játékok VIII, S. 1, Virág az ember ... (ölelkezö hangok)
Sieben Töne waren ausreichend, um den Weg in größte Weite zu gehen. Im Gegenstück Verés
wird Enge ausgereizt: (3x3 - 3 Töne, 3 Rhythmen).
Zentrum und Schluss ist hier fis, umgeben von f und g. Zum c1 von Perpetuum mobile und 1C von
Virág az ember ist dieser Ton fis in Bartóks Sinn Gegenpol auf gleicher Achse. Auch dieses Stück
finden wir mehrfach in Kurtágs Œuvre: Im 4. Satz der Pilinszky-Lieder op. 11 (aus gleichem zeitlichen Umfeld wie Játékok I), und im 4. Heft in einer Fassung für zwei Klaviere mit Erweiterung
des Tonraums auf fünf Oktaven.
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Beispiel 5: Játékok I, S. 20, Verés (Schläge)
Im 8. Heft gibt es noch eine ziemlich verrückte vierhändige Fassung von 1988, ohne Erweiterungen des ursprünglichen Textes, aber mit programmatischem Zusatz: veszekedés (Zank). Notiert
auf vier Systemen für nur drei Tasten: f g fis. Man muss sich das vorstellen: Und am Ende spielen
vier Hände übereinander die selbe Taste: fis, sff! Von besonderem Interesse ist in dieser Fassung
eine Anmerkung: dass die Zäsuren zwischen den drei-, zwei- und eintönigen Motiven nicht nur
ad lib., also frei sein, sondern auch unregelmäßig bis ins sechsfache gedehnt werden können.
Das eröffnet dem Zank allerdings ungeahnte weitere Möglichkeiten ...
Bevor wir Játékok I — auch als Ganzes ein Schlüsselwerk Kurtágs — weglegen, streifen wir noch
kurz Doppelseite 4. Sie enthält links unter anderem ein zweites Objet trouvé, drei weiße Glissandi über den ganzen Tonraum, kombiniert mit einer Art von Kanon auf einer einzigen Taste (fis1):
links beginnend, rechts folgend. Eine Analyse ist jetzt überflüssig.
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Auf der gegenüber liegenden Seite ein mittlerweile berühmtes Stück: zunächst eine weiße Skala von
c4 abwärts, auf zweieinhalb Oktaven verteilt bis d2 in einem zwar nicht metrisierten, aber doch
gleichbleibenden quasi punktierten Rhythmus. Folgende Geschichte ist nicht verbürgt (wie vieles in
diesem Versuch), aber es könnte ja sein, dass auf dem punktierten Gang über eine Leiter beim siebten Ton ein Verdacht auftauchte: Man befinde sich hier auf fremdem Gelände. Zum Glück im Garten
eines verehrten Freundes, und — vielleicht — ergab sich dabei ein Titel, und auch eine einigermaßen
konsequente Fortsetzung: Hommage à Verdi (sopra: Caro nome che il mio cor).
Beispiel 6: Játékok I, S. 4, Hommage à Verdi
Von den Händen eines Secondo darf — ad lib. — noch ein Schatten darunter gelegt werden, nur
auf schwarzen Tasten, pppp con Ped., aus Grabestiefe an Virág az ember erinnernd.
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Wir kehren zurück zum Anblick der zwei ruhenden Hände, dem Bild der Symmetrie.
Davor sei etwas Biographisches kurz berührt.
1957 reiste György Kurtág für ein Jahr nach Paris, ein schwieriges, aber auch entscheidendes
Jahr. Er hat Bálint Andras Varga in einem Interview ausführlich darüber erzählt. Es war ein Jahr
der Krise, komponieren konnte er zunächst nicht mehr. Aber er begann trotzdem zu spielen:
von Hand mit Streichhölzern eckige Figuren formend. Als Staubflocken überhand zu nehmen
begannen, versuchte er vor dem Wegräumen seine Streichholzkompositionen zu zeichnen, was
aber misslang. Schmutz und Reinheit wurden zentrale Themen. Gleichzeitig studierte er Webern,
schrieb dessen Partituren ab, weil er sie nicht kaufen konnte. (Abschreiben von Hand ist im Kopierzeitalter nicht mehr üblich. Was abschreibende Hände die Schreibenden lehren könnten, ist
heute am Verschwinden.)
Eine einzige kompositorische Arbeit aus dieser Zeit erwähnt Kurtág ab und zu. (Publizieren will
er sie nicht: „zu monströs“). Es ist ein langes Klavierstück. Mit seiner Erlaubnis seien hier zwei
Takte abgebildet:
Beispiel 7: Klavierstück 1957 Takte 8–9
Über weite Strecken läuft die Musik als zweistimmiger Satz, spiegelbildlich mit Umkehrung, Note
auf Note oder als Hoquetus oder in rhythmisch mehr oder weniger freien Imitationen, kann sich
dann freilich bis zu acht Stimmen — auf acht Systemen notiert — erweitern. Im Beispiel (Takte
8-9, also kurz nach Beginn) treffen zwei Satzarten zusammen: eine rhythmisch scharf artikulierte, Ton auf Ton in weitem Ambitus, kristallin mit doppelter zentraler Quarte dis-gis, unmittelbar
gefolgt von einer weichen mit zwei zueinander gehenden Fünftonfiguren in perfekter Symmetrie,
beide Hände abwechselnd mit weißen und schwarzen Tasten, calando zur Ruhe kommend. Nur
es-gis grüßen zur vorangegangenen Quarte zurück, ein falsches Echo. Das fühlt sich an, als ob
beide Hände sich anziehen würden, singende Zwillinge. In den sechsten Satz des Bläserquintetts op. 2 (T.8-10) hat Kurtág diese Stelle übernommen. Anlässlich einer Probe sprach er dazu
von Prosperos Zaubermantel. Durch eine heterophone Instrumentierung — mit je zwei Instrumenten — wirken im Quintett die beiden Melodien harmonisch aufeinander bezogen. Dieser
Wohlklang bliebe sogar erhalten, wenn sie, zu einem Akkord gebündelt, angeschlagen würden. In
einem späteren Interview mit Varga sagt Kurtág: Harmonien sind für mich eine gepresste Melodie. Und jetzt fällt mir zugleich mein Herbarium ein, das sehr unordentlich war, mit dem ich mich
aber eine Zeitlang — im Alter von elf und zwölf Jahren — sehr gerne beschäftigte.
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Sechsunddreißig Jahre nach jenem Klavierstück schreibt Kurtág Mihaly András emlékére, ein in
memoriam, beginnend mit einem zehnstimmigen Akkord, der sich aber beim Spielen nicht so
bequem anfühlt, vielmehr gespannt ist über je eine None. Er ist ganz weiß bis auf cis2 im rechten Mittelfinger. In jeder Hand ein Terzenturm mit allen Dreikängen: links vermindert-moll-dur,
rechts übermäßig-dur-vermindert. Die Töne f und a bilden mit ihren Oktavierungen und c eine
sehr konsonante Mitte. Für Dissonanzspannung sorgt vor allem das cis2. Anspannung und Ruhe
entsprechen dem Spielgefühl des Interpreten.
Beispiel 8: Játékok VI, S. 50, Mihaly András emlékére
Viermal erklingen diese Terzentürme (Tempo 30 – 20). Sie tragen alle einen Staccatopunkt, sollen
also zur Entspannung sofort losgelassen werden, gehalten einzig vom 1/2bis1/4-Pedal und gefolgt von einer entsprechenden Pause. Ob sie auch eine gepresste Melodie enthalten?
Jedenfalls wiederholt sich alles wie eine Phrase und statt einer Pause erklingt ein neuer, den
Raum öffnender und, obschon bloß achtstimmig, noch vollerer Akkord. Er enthält keine Oktaven
mehr, gleicht aber mit seinen tiefen Klängen einem diffusen Tamtam. Dem stellt sich, nun offen
melodisch, der Diskant mit dem hellen Quartsprung zum c3 entgegen.
Wer sich in Kurtágs Œuvre etwas auskennt, wird bemerkt haben, dass wir den Anfang des 3. Satzes der STELE vor uns haben, des zu Recht sehr berühmten Werks für großes Orchester, 1994 im
Auftrag von Claudio Abbado für die Berliner Philharmoniker geschrieben.
Dazu denken müssten wir auch eine geniale Instrumentation — mit sechs Flöten und sechs Klarinetten inmitten einer Fülle hier nicht aufzählbarer Instrumente, und mit der unheimlich ins Leere
nachzitternden Quintole, in die jeder Akkord ausmündet.
16
Intermezzo
Kunst ist nicht wird gefunden
und
dann gemacht
mit Stimme, Hand,
mit Arbeit.
Ein Instrument ist darf nackt gezeigt werden,
wird gespielt,
bearbeitet.
Dann bedacht verglichen,
weiter - gegeben
Erinnerung an eine Unterrichtsstunde im Neuen Saal der Basler Hochschule für Musik. György
und Márta Kurtág sitzen in der ersten Reihe, ich etwas links hinter ihnen. Studierende spielen
mehr als respektabel den ersten Satz des a-Moll-Streichquartetts von Brahms. Kurtág verlangt
gleich da capo und bricht nach wenigen Takten ab. Die Triolenviertel der Bratsche sind ihm zu
gleichgültig. Er möchte die Spielerin dazu bringen, deren Weg mitzugehen. Ein Akademiker hätte
möglicherweise auf die Bedeutung dieser Stimme hingewiesen mit dem Argument, die zweite
bis vierte Note bringe schon den Krebs des führenden, berühmten f-a-e-Motivs der ersten Geige; oder, schon etwas weitsichtiger, sie bereite mit ihrer Mittelstimme den Seitensatz vor. Kein
Wort von solchen Dingen bei Kurtág. Er singt, und, als das nicht genügt, eilt er an den Flügel.
Sein Spiel klingt aber nicht nach Klavier, sondern riecht geradezu nach gestrichenen Saiten. Mit
flacher Hand streicht er über die Tasten, wir hören nicht Klavierauszug, sondern Streichquartett. Seine Intensität überträgt sich, und eine Melodie e-f-dis-e-cis-d beginnt zwischen den
hemiolisch pendelnden Oktaven zu leben. So geht es weiter im Quartett, nicht sehr weit, weil
die Stunde bald zu Ende ist. Immer wird nach anfänglicher Frische gesucht.
Pädagogen monieren gern, derartige Suggestion führe bloß zu Nachahmung. Aber gerade Nachahmung würde hier nicht funktionieren, weil sie ohne Frische wäre. Wie es aber manchmal wirklich
funktioniert, ist kaum auszumachen, meistens doch nicht im Moment, sondern viel später.
Kurtágs Beziehung zu den Streichinstrumenten ist ebenso innig wie die zu seinem Klavier
oder Pianino. Dazu eine Beschreibung des Spielvorgangs in den einleitenden zwei Sätzen des
Streichquartetts Officium breve, in memoriam Andreae Szervánsky op. 28. Es werden wieder
viele Wörter sein für wenige Töne (... musst es eben leiden — schrieb Goethe ...).
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Beispiel 9: Officium breve, in memoriam Andreae Szervánszky op. 28 I bis III
Kürzester erster Satz, für Cello allein, bloß drei Takte senza misura.
d1-G, ein „ungarischer Trochäus“, kurz lang, aber schwer leicht. Für den ersten Ton sanfte Berührung der zweiten Saite in ihrer Mitte (Oktav-Flageolett). G klingt danach ohne linke Hand, leer
(„open string“ auf englisch). Im zweiten Takt Berührung der ersten und zweiten Saite am selben
Ort, gleichzeitig klingt d1/a1 — bis der Bogen am Ende ist. Zum dritten Takt gibt’s einen kurzen Auftakt mit dem gleichen Klang, etwa 12 cm tiefer gegriffen als natürliches Quint-Flageolett
zum tiefen C hin, dem Grundton des ganzen Werks; nicht zu lang: Es geht zurück über die drei
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höheren Saiten und bleibt, eine Quinte weiter oben, hängen auf a1/e2. Das ist schon fast alles.
Aber: Im letzten Moment eine Vorausnahme: akzentuiertes as1, Alteration von a1. Links jetzt fest
zupackend mit dem Daumen und darüber mit dem Ringfinger sanft berührend ein künstliches
Quint-Flageolett as1.
Zum Più andante des zweiten Satzes setzen die beiden Geigen ein mit zwei — wie as — ebenfalls
schwarzen Noten b/ges1, tritonus-polar zu C, wie ein Ansatz zu einer choralartigen Melodie? —
Sie wird sofort konterkariert durch eine daktylisch rhythmisierte schnelle Figur in Terzenparallelen,
bis f2, weiß bis auf ein cis, mit dem c vermieden wird. — Und plötzlich:
C-dur-Akkorde des wiederkehrenden Cellos, Pizzicato arpeggiando in periodischer Bewegung,
wie Lautenklänge eines Barden, leise grundiert von der c1/g1-Quinte der Bratsche. Eine andere Welt? Erneuter Ansatz der Geige, jetzt allein, zu einer Melodie in schwarzen Noten in bisher höchster Lage: b2 - - des3, perdendosi nach dem zweiten Ton verlöschend. Derweil sind
die Dreiklänge des Cellos unentwegt langsam pulsierend in Parallelen abgesunken über die
verminderte siebente Stufe zum a-moll-Akkord, endend mit gis1 als Einzelton, enharmonisch
verwechseltem as1 des Satzanfangs, diesmal auf der C-Saite als künstliches Quart-Flageolett.
Großformal endet hier eine Art von lockerer Introduktion, den harmonischen C-Raum Szervánszkys
auslegend und mit Ansätzen zu zwei- bis dreitönigen Melodie-Fetzen.
Mit dem dritten Satz ist bereits eine in sich ausbalancierte Form auskomponiert, der wir schon
früher im dritten Heft von Játékok als Klavierstück begegnet sind unter dem Titel Hommage à
Szervánszky, einer Art von Zwiegespräch von links und rechts oder, in der Fassung gleich nebenan als Stück für vier Hände oder gar zwei Personen? (Darüber später).
Auslösend zur Komposition des Officium breve, Kurtágs drittem Streichquartett, soll ein überraschender Todesfall gewesen sein, ganz privatim, ohne weitere allgemein sichtbare Spuren außer
dem ersten Wort des Titels, das auch Requiem bedeuten kann.
Die Worte in memoriam Andreae Szervánszky dagegen sind nicht privat, sondern ganz öffentlich,
politisch gar für Menschen, die vertraut sind mit der ungarischen Geschichte nach 1947, als Kulturschaffende gegen übernommene Schdanow-Diktate aus der Sowjetunion mit Subtexten zu
schreiben und auch zu komponieren hatten.
Dass Kurtág sein Officium breve 1988/89, vierzig Jahre später, am Ende dieser langen und
schwierigen Epoche schrieb, ist wohl kein Zufall. Ganz ohne demonstratives Plakat, einfach einer Erinnerung folgend. In jener „Formalismus-Debatte“ war (wahrscheinlich im maßgeblichen
klandestinen, kleinen Kreis) die Möglichkeit diskutiert worden, auch im Rahmen „diatonischer
Volksnähe“ nicht hinter die Errungenschaften etwa eines Webern zurückzufallen. Szervánszkys
Serenade von 1948 wurde offenbar in diesem Sinn verstanden. Der von Kurtág am Schluss seines
Werks ganz original zitierte zwölftaktige Anfang des langsamen Arioso-Satzes geistert durch das
ganze Werk. Daneben stellt er das letzte Stück von Weberns opus ultimum, der zweiten Kantate
von 1943: den als vierstimmigen doppelten Umkehrungskanon mit freien Oktavlagen komponierten Chorsatz Gelockert aus dem Schoße ... Er bildet, von Kurtág bloß um eine große Sekunde
nach oben transponiert, originalgetreu den ganzen zehnten Satz des Streichquartetts, gefolgt von
einem „Trio“ als einfachem Umkehrungskanon, durch Terzen und Sexten zur Vierstimmigkeit erweitert in einen fast Brahmsischen Klang. (Webern selbst kam in seinen letzten Skizzen zu einer
Dritten Kantate auf solche Terzgänge. Auf geht der Vorhang der Nacht - - Das Sonnenlicht spricht:)
In mehreren Sätzen und Sätzchen des Quartetts ist Webern zum Greifen nahe. Im fünften wird
nur mit der Harmonienfolge der Vorlage gespielt, rhythmisch völlig frei von der kontrapunktischen Struktur, eher an Szervánszkys Diktion erinnernd, allerdings nicht im langsamen ¾-Takt,
sondern in einem komplex auskomponierten exzessiven Presto-rubato. Solche Harmonien in
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Weberns Spätwerk hatte der frühe Boulez recht schulmeisterlich kritisiert. Fast scheint es, als
ob Kurtág hier eine Richtigstellung komponieren wollte, eine Kritik der Kritik. Die für Webern in
der Tat ungewohnten Harmoniefolgen (es gibt verminderte und Molldreiklänge und gar einen
Dominantterzquartakkord ...) wirft er als bunte Akkordfolge ins Spiel.
Im schon erwähnten dritten Sätzchen, dem luziden Zwiegespräch in Weberns weiten Intervallen mit Szervánszkys weißer Diatonik (es gibt nur vier schwarze Punkte) wurde bereits eine Art
von Quadratur des Zirkels beschworen. Im Schluss-Stück, den nackten ersten zwölf Takten von
Szervánszkis Arioso, sind unsere Ohren bereits so gut durch all die dazwischen liegenden Spagate trainiert, dass wir im reinen C-dur des Anfangs den Barden des zweiten Sätzchens wieder
zu erkennen glauben und ihm — ohne Nostalgie oder regressive Gefühligkeiten — folgen können,
weil er uns etwas anderes mitteilt als das, was wir ohnehin von ihm erwartet haben.
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Beispiel 10: Endre Szervánszky Arioso T.1-12 aus der Serenade für Streichorchester, 1948
Dieses Officium breve könnte, bei oberflächlicher Betrachtung, als Dokument der Postmoderne
eingereiht werden. Aber das wäre ein Missverständnis. Kurtág liegt jegliche Art von Polystilistik
fern. Allein schon ein Begriff wie Stil vermag für ihn und seine Musik nicht zu greifen. Seine
Herangehensweise zielt nicht auf ein Erscheinungsbild, sondern auf das, was geschieht, bevor
es zu einem Resultat kommt. Dabei gibt es für ihn wahrscheinlich auch keine verschiedenen
Haltungen, wenn er komponiert oder wenn er unterrichtet. Er sucht Wege, über Hindernisse,
unablässig, immer wieder, auch die zu Tönen. Allein oder mit Verbündeten in Vergangenheit und
Gegenwart.
Alle erwähnten Werke György Kurtágs sind bei Editio Musica Budapest erschienen, welche auch
die freundliche Erlaubnis zu den Abbildungen der Notenbeispiele erteilt hat.
Roland Moser wurde in Bern geboren und erhielt seine musikalische Ausbildung in Bern, Freiburg/Br. und Köln;
neben Klavier und Dirigieren Komposition bei Sándor Veress und Wolfgang Fortner. Von 1969 bis 1984 lehrte er
theoretische Fächer und Neue Musik am Konservatorium Winterthur, von 1984 bis 2008 hatte er eine Professur an der Hochschule für Musik der Musik-Akademie Basel mit Klassen für Komposition, Instrumentation und
Musiktheorie inne. Seither ist Roland Moser freier Komponist und Mitglied des „Ensemble Neue Horizonte Bern“.
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H EL EN A W I N K EL M A N
G E S P R ÄC H I N B A S E L
Niemand vermag so viel zum Werk und Weg eines Komponisten zu sagen wie dieser selbst. Alles
was ich von Begegnungen mit Kurtág, die mich als Interpretin und Komponistin geprägt haben,
erzählen könnte — von den Meisterklassen in Prussia Cove über die „Stele“-Proben mit dem
Gustav-Mahler-Jugendorchester in Spanien bis zu den Instrumentations-Übungen an seinen
Játékok-Stücken in Roland Mosers Kompositionsklasse in Basel. All dies träfe die Wahrheit weniger, als was er und seine Frau Márta, die ihn am längsten und besten kennt, im Gespräch vom
10. Juni 2000 in der Musikakademie Basel selbst erzählten.
Helena Winkelman (HW): Sie kommen eben aus einer Probe. Wie viele Stunden waren es?
György Kurtág (GK): Heute von neun bis eins und von vier bis jetzt, neun Uhr.
HW: Neun Stunden! Das ist viel. Was ist Ihnen am wichtigsten, wenn Musiker Ihre Werke aufführen?
GK: Ich habe es schon mit Variationen ein paarmal so formuliert: Ich interessiere mich gar nicht
für Konzerte mit meiner Musik. Vielleicht ist der eigentliche Grund für mein Komponieren der,
meine Ideen von Interpretation zu verbreiten. Ich sagte das einmal genau so einem Journalisten
und las am nächsten Tag in einer Amsterdamer Zeitung: Kurtág sagt: „Mir ist scheißegal, wie man
mich spielt, ich will ein Prophet der Musik sein“. (alle lachen)
HW: Der war verrückt!
GK: Das ist meine Erfahrung mit Journalisten. Immer wieder.
HW: Ist es Ihnen jemals passiert, dass Musiker eines Ihrer Werke besser gespielt haben, als Sie
es sich selbst jemals vorstellten?
GK: Das gab es auch. Bei Hansheinz Schneeberger ist es vorgekommen, dass es ganz anders war,
jedoch so wahr, mit so viel Humor, dass ich nur lachen konnte. Das waren die Duos für Cimbalom
und Geige. Auch die „Szenen aus einem Roman“ waren so.
HW: Denken Sie, dass im Allgemeinen die Musiker und das Publikum Ihre Musik verstehen?
GK: Ich bin immer verwundert, wenn die Leute auch etwas verstanden haben. Eigentlich verschenke ich meine Aufnahmen als ein Objekt, denke am wenigsten daran, dass sie auch angehört
werden. In Budapest an der Akademie war es ganz natürlich, dass die Studenten, welche sehr
gerne mit mir arbeiteten, nie in meine Konzerte kamen.
Márta Kurtág (MK): ... weil er für sie ein Kammermusiklehrer war und kein Komponist.
HW: Verfolgen Sie eine bestimmte Absicht, wenn Sie ein Stück schreiben? Schreiben Sie für
jemanden Bestimmtes? Oder arbeiten Sie nur aus einer inneren Notwendigkeit heraus?
GK: Ich weiß nicht. Dass ich die „Poppea“ für mich entdeckt habe, bevor sie Allgemeingut wurde, ist schön. Ich habe eine ganz schwache Hoffnung, dass solcherart jemand kommt und auch
meine Musik ihm persönlich etwas sagt. Es muss nicht unbedingt eine Aufführung geben. Jetzt
gerade arbeite ich an einer Menge griechischer Sätze: Herákleitos, Epikuros, Sappho, Platon ...
HW: Sind das Lieder?
GK: Ja und nein, Lieder mit nichts. Ohne Begleitung. Vielleicht nur Prosodie-Übungen. So waren anfangs auch meine Hölderlin-Lieder gemeint. Jetzt schätze ich sie vielleicht am meisten.
Hölderlin und Beckett habe ich parallel angefangen zu vertonen. Das erste Beckett-Lied schrieb
ich als Hommage an Roland Moser. Als ich die Aufnahme seines Stückes „Lebenslauf“ zum ersten
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Mal hörte, lernte ich auch den Sänger kennen, der dieses Werk so fantastisch sang: Kurt Widmer.
MK: Roland Moser war einer der ersten, der György für sich entdeckte. Er besuchte uns damals
in Budapest. György war noch ganz unbekannt, und wir waren sehr arm ... Das ist sehr lange
her ...
GK: Was uns alle verbindet, ist, dass Moser ein Veress-Schüler gewesen ist wie Heinz Holliger
und — obwohl nur für kurze Zeit, weil Veress Ungarn verließ — auch ich.
HW: Können Sie sagen, in welcher Weise sich der Serialismus bei Nono von dem von Boulez
unterscheidet?
GK: Ich glaube, das sind zwei ganz verschiedene Sachen. Im „Canto sospeso“ von Nono fühle ich,
dass seine Musik ziemlich expressionistisch ist. Das war bei Boulez nie der Fall.
HW: Gibt es nicht eine Verbindung zwischen Ihnen, Abbado und Boulez?
GK: Eigentlich nicht in dieser Form ... Abbado habe ich von Nono geerbt. Mit Nono hatte ich
eine ganz plötzliche Freundschaft, die am stärksten war bei unserem ersten Gespräch, das eine
halbe Stunde dauerte. Damals, nach der Aufführung meiner Mikroludien, sagte er zu mir, ich solle etwas für Chor schreiben. Meine erste Chorkomposition wurde automatisch eine Hommage
an Nono. Aber eigentlich, ohne mit seiner Musik in Verbindung zu sein. Vorher wirklich dieser
plötzliche wunderbare Gedankenaustausch, der nie mehr, nie mehr danach in dieser Art zustande kam…! Aber danach wurden alle seine Freunde meine Freunde (er lacht).
HW: Ist die Suche nach neuen Wegen in der Komposition etwas, womit Sie sich als Komponist
alleine fühlen? Oder gibt es noch Gruppen von Komponisten, mit denen Sie einen Austausch
pflegen? Denen Sie sich verbunden fühlen?
GK: Meine Verbundenheit zu Ligeti ist absolut. Aber ich kann ihn nicht nachmachen, weil ich zu
dumm bin dazu (alle lachen).
HW: Das kann ich nicht glauben.
GK: Doch, doch.
HW: Ich habe kürzlich die Aufnahme eines Satzes aus Ihrem frühen Konzert für Bratsche
und Orchester gehört. Ich war immer sehr erstaunt darüber, dass ein Komponist seine stilistische Ausdrucksweise derart vollkommen ändern kann. Es ist ja auch der Fall bei Webern und
Schönberg. Ich möchte nun fragen, was der wirkliche Hintergrund für so eine Veränderung sein
kann. Oft wird erklärt: „Er hörte einen Kollegen, wurde von ihm beeinflusst.“ Ich glaube nicht,
dass es nur daran liegen kann…
GK: Nein. Was allerdings stimmt ist, dass Ligeti starken Einfluss auf mich hatte, als er meinte —
und das ist dokumentiert — dass in der traditionellen Richtung der tonalen Musik nichts mehr zu
suchen ist. Dazu kam die Revolution in Ungarn. Eine ganze Welt, an die ich geglaubt hatte, von
der ich dachte, sie sei richtig, fiel damals auseinander. Ich realisierte, wie meine eigenen politischen und soziologischen Meinungen innerhalb von zwei Wochen vollkommen unsicher wurden.
Ich brauchte einen Neuanfang. Daraus folgte meine Beschäftigung mit Webern.
HW: Welche soziologischen Ansichten waren das, wie veränderten sie sich in dieser Zeit?
GK: Nein, sie veränderten sich nicht. Da ich, noch aus der Kriegszeit, überzeugt vom Sozialismus kam, nun plötzlich alles fraglich wurde, wollte ich gar keine politischen Überzeugungen
mehr haben.
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HW: Fühlen Sie sich noch als ungarischer Komponist, oder spielt das nicht mehr eine Rolle?
GK: Doch! Ich möchte immer wieder ungarische Texte vertonen. Mein musikalisches Denken
bleibt an den Rhythmus der ungarischen, oder wenigstens der ost-europäischen, Prosodie gebunden. Ich denke ungarisch.
HW: Aber es ist bei Ihnen nicht so wie bei Bartók, mit ganz direktem Bezug auf z. B. Volksmelodien?
GK: Nicht direkt, aber manchmal doch! In einer meiner letzten Kompositionen vor allem. Eine
Hommage an Peter Eötvös. Ich hörte ein Stück von ihm, der Gebrauch der Quinten stand mir
sehr nahe. Daraufhin schrieb ich ein eigenes Quintenstück, das ihm gewidmet ist.
Zur gleichen Zeit hörte ich eine Aufführung von Bartók’s Concerto, und so spielte dieses auch
mit bei meinem Komponieren. Ich nahm aus Bartóks IV. Satz die transdanubianische Pentatonik
mit c-d-fis-g statt c-d-f-g. Ligeti benutzte diese in frühen Kompositionen sehr oft.
Zusätzlich erscheint am Ende meiner Komposition wörtlich zitiert das populäre Lied „Schön bist
du, Ungarn“ in der Form, wie Bartók es ebenfalls in seinem vierten Satz verwendet. Da gab ich
dem Stück urplötzlich einen Untertitel: Heimweh. Ich habe erfahren, dass ich auch Heimweh
habe. So geht das.
MK: Ich gebe meine Assoziation dazu. Eine Psychologin sagte mir einmal: Du sollst aufmerksam
sein bei dem, was du machst, denn daraus kannst du schließen, was du möchtest (alle lachen).
HW: Hat sich Ihre Einstellung zur Musik und zum Komponieren während Ihres Lebens sehr verändert?
GK: Ich glaube, sie hat sich ständig verändert. Ich habe mich zum Beispiel ganz ernst mit Webern
beschäftigt. Bartók war immer gegenwärtig. Vielleicht auch Strawinsky. Schönberg und Berg
sind mir eigentlich fremd geblieben. Wurzeln fand ich zusätzlich in den Schütz-Passionen, bei
Monteverdi und Mussorgsky. Wichtig wurde ebenfalls der neue Einfluss der amerikanischen
Schule in Ungarn. Das kam durch meinen Sohn zu mir.
HW: Wer waren für Sie die Repräsentanten dieser amerikanischen Schule?
GK: Cage und Christian Wolff, die Komponisten des „Studios für neue Musik“. Mein Sohn war
dort Mitglied. Sie haben — zumindest anfangs — eine Art kollektiver Improvisation mit langen Pausen und ganz einfachen Grundelementen gemacht. Einerseits verdanke ich ihnen die
Grundidee für meine Klavierstücke Játékok, andererseits verdanke ich sie Lukas Ligeti. Noch als
Kind erfand er die Enzyklopädie eines fiktiven Planeten mit eigener Geografie, Literatur, Geschichte — komponierte auch die Musikgeschichte seines Planeten selbst.
HW: Er wollte ganz frei sein?
GK: Nun ja, ich selbst habe daraufhin auf alle Systeme verzichtet, habe angefangen mit einem c
in der Mitte des Klaviers. Es war eine große Freiheit für mich. Schließlich auch nicht befriedigend.
Was entstand, war einfach zu primitiv.
HW: Nach Picasso gibt es keine künstlerische Freiheit ohne die Möglichkeit, sich gegen ein existierendes System oder einen allgemeinen ästhetischen Konsens auflehnen zu können. Heute gibt
es ein solches System, einen solchen Konsens nicht mehr. Wie gehen Sie damit um?
GK: Man muss sich irgendwie begrenzen.
HW: Welche Gesetze geben Sie sich selbst?
GK: Es sind Gesetze der Organik.
GK: Was kann nach einer Reihe von Skalen kommen? Ich habe darauf ganz verschiedene Antworten gefunden. Die Richtungen des musikalischen Verlaufs sind mir sehr wichtig, auch in alter Musik.
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MK: Er nennt es Geografie.
HW: Spielen Sie darum kaum jemals etwas, ohne mitzusummen? Um es besser zu spüren?
GK: Ja. Wenn ich zum Beispiel viele absteigende Skalen habe, muss etwas kommen, was das
Gleichgewicht wieder herstellt.
HW: Es ist wie die Statik eines Hauses ...
GK: Ja. Wieder etwas, das auch Palestrina schon sehr bewusst war (lacht). Nichts Neues.
MK: Und auch noch die Gesten ...
GK: Ja. Die waren immer gegenwärtig. Auch schon in meinem op. 1.
HW: Erinnern Sie sich noch an die Uraufführung Ihres ersten Stückes?
GK (nachdenklich): Was war das?
MK: Ich spielte deine kleinen Klavierstücke.
HW: Ihr habt Euch damals schon gekannt?
GK: Sie war schon meine Frau.
HW: Das muss lange her sein ...
GK: Ja, etwa 1948.
MK: Wir sind 54 Jahre verheiratet.
HW: Die Welt hat sich sehr verändert in den letzten 54 Jahren. Z. B. war das Pferd am Anfang des
Jahrhunderts noch ein ganz wichtiges Fortbewegungsmittel. Rasche, physisch nachvollziehbare
Wechsel zwischen 2er-, 3er- und 4er-Rhythmen waren allen verständlich. Heute steigt man ins
Auto: es gibt kein Metrum, nichts. Für viele Hörer ist es heutzutage das größte Problem in zeitgenössischer Musik, wenn das Metrum entweder völlig fehlt oder die Rhythmen und Melodien keine
Verbindung mehr miteinander eingehen. Das trifft auf Ihre Musik nicht zu. Wie gelingt Ihnen das?
GK: Es gelingt mir nicht, ich kann nicht anders (alle lachen).
HW: Das ist eine einfache Antwort.
GK: Ich bin einfach. Ich höre Musik mit alten Ohren.
HW: Ihre Art zu hören, verändert sich nicht?
GK: Nein… Ich weiß nicht… Ich suche immer traditionellere Mittel, um meinen Platz zu finden.
Immer mehr Skalen, nur Skalen, Alberti-Bässe….
MK: Das ist doch übertrieben.
GK (zitiert einen Alberti-Bass mit kurzen Zwischenpausen): Doch ...
MK (zu ihm): Es ist eine Seite der Wahrheit, was du sagst.
GK: Und die andere ist?
MK: Den alten Formeln neue Bedeutung und neuen Glanz zu geben … Leider ist mein Deutsch
nicht so fabelhaft ...
HW: Einen neuen Kontext?
MK: Man muss ihnen immer wieder eine neue Gültigkeit geben.
GK: Man muss sie sich neu erobern.
HW: Spielt ihr noch viel im Duo zusammen?
GK: Viel nicht — aber es ist das Einzige, wo ich noch als Pianist mitspiele ...
MK: Er spielt noch ständig. Beethoven-Quartette und alles.
GK: Ja, aber ...!
MK (zu GK): Du spielst nicht weniger Klavier, wenn du deinen Studenten ein Rasumowsky-Quartett
zeigst. Das ist viel schwieriger als die gängige Klavierliteratur.
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(zu HW): In dieser Hinsicht ist er ganz einmalig. Ich kenne sonst niemanden, der ein Streichquartett
auf dem Klavier vorspielen kann, und es ist eine Interpretation — nicht Töne. Das ist schwer zu
glauben, wenn man es nicht gehört hat.
HW: Oft frage ich mich, warum heutzutage dieser große idealistische Anteil in der Musik fehlt.
Beethovens Wunsch, die Menschen durch Musik zu vereinen, spüre ich bei jungen Komponisten
kaum mehr. Sind wir so zynisch und desillusioniert?
GK: Ich weiß nicht. Die neoklassische Periode von Strawinsky war mir sehr verhasst, da ich ganz
von Werken wie „Histoire du Soldat“ und „Sacre“ her gekommen bin. Sie schien mir wirklich
zynisch. Dann jedoch führte Strawinsky in Budapest seine „Psalmensymphonie“ auf. Es war eine
der bedeutendsten Interpretationen.
MK: Ja, das ist unvergesslich geblieben.
GK: Und Boulez kann sagen, was er will, dass Strawinsky als Dirigent ein Dilettant, die „Psalmensymphonie“ katastrophal, vollkommen auseinander war. Es war eine solche menschliche Größe
darin. Dieses Werk war mir bis dahin das Verpönte von Strawinsky ... Jetzt habe ich die Partitur
zum Lesen mitgenommen nach Amsterdam.
HW: Haben Sie jemals ein Stück als eine Liebeserklärung geschrieben?
GK (und MK lachen): Ja! Mehrere.
HW: Welche waren das.?
GK: „Kedves“, ein Klavierstück; das Chorwerk über „Klàrisok“ von Attila Jószef, zum Geburtstag
Mártas. Die letzten Kompositionen sind fast immer jemandem gewidmet bzw. eine „Hommage an …“
Ohne etwas für diese Menschen zu fühlen, Freude oder Trauer, hätte ich solches nicht geschrieben.
HW: Es sind Beziehungen?
GK: Ja. Und eigentlich sind sie wiederum nur Vorwand. Ich schreibe z. B. ein Stück statt eines
Kondolationsbriefes. Vielleicht ist es nicht zu gewagt zu sagen, dass ich immer meine Autobiografie schreibe.
HW: Machen Sie viele Skizzen?
GK: Nicht immer. In letzter Zeit schreibe ich manchmal rasch ein Stück. Später überarbeite ich
es noch einmal. Dann noch einmal. Es gibt auch Stücke, die sich nach zwei Minuten Komponieren nicht mehr verändern. Sie sind unbedingt. Was sich noch verändern kann, das ist, wie man
es spielt. Ich schrieb ein Stück für Klavier zweihändig „Blumen die Menschen“ und gestaltete es
dann für unsere Aufführung so um, dass in dieser vierhändigen Version sowohl Márta als auch
ich jeweils das Unbequemste spielen müssen. Manchmal wähle ich die unbequemste Lage der
Hände, es gibt die größte Spannung. Wenn wir zwei es so spielen, dann heißt es anders: „Sich
umschlingende Töne“ (alle lachen).
Helena Winkelman studierte Violine in Luzern, Mannheim, New York und Basel sowie Komposition in Basel bei
Roland Moser und Georg Friedrich Haas. Sie war Mitglied des Lucerne Festival Orchestra und übernahm 2011
die Künstlerische Leitung der Camerata Variabile Basel. 2013 war sie Composer in Residence beim Musikfestival in Ernen, 2014 in Lockenhaus. Zu den Interpreten ihrer Musik gehören u. a. die Basel Sinfonietta und das
Münchener Kammerorchester. Helena Winkelman ist freischaffend als Komponistin und Violinistin tätig.
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J O N AT H A N A N ER
A — DIE KUNST DES STIMMENS
Beim Young Artists’ Programme des Jerusalem Music Centre hatte ich das große Glück, an den
Meisterklassen vieler herausragender Künstler teilzunehmen und zu spielen — Sir András Schiff,
Murray Perahia, Isaac Stern, Bernhard Greenhouse, Byron Janis, Arnold Steinhardt, Leon Fleischer.
Aber in der Meisterklasse, die womöglich den stärksten Eindruck in meiner Erinnerung hinterließ,
spielte ich keinen einzigen Ton. Beinahe.
Meine erste Begegnung mit György Kurtág fand 1996 während seines Besuches in Jerusalem
statt. Ich hatte mich auf Beethovens Sonate für Klavier und Violoncello A-Dur op. 69 vorbereitet,
zusammen mit Mickey Katz, einem guten Freund und hervorragenden Cellisten.
Nachdem mein Freund auf mein A gestimmt hatte, spielte er den Anfang der Sonate, die ganz
ungewohnt mit einem Cellosolo beginnt. Bevor überhaupt das Klavier einsetzen konnte, unterbrach Kurtág und wollte gleich voller Eifer mit der Arbeit beginnen. Ich war etwas enttäuscht und
nahm an, dass er nun meinem Partner Hinweise für die Gestaltung dieser Phrase geben würde.
Stattdessen wandte er sich an mich und erläuterte im Detail die Bedeutung des Vorgebens des
Kammertons A, vor allem für ein Werk in der Tonart A-Dur. Es sollte das Wesen ausdrücken, darf
weder zu weich noch zu laut sein, weder zu verträumt noch zu handfest, es sollte ein A sein, das
aus dem Nichts entspringt und in die Stille vor dem Celloeinsatz übergeht. Dieses A war der
einzige Ton, den ich während der gesamten Meisterklasse spielte. Ich war bestürzt. Noch nie
hatte ich an die Zeit um die Musik herum gedacht, die Sphären, die ein Kunstwerk umgeben.
Kurtág widmete sich weiterhin beharrlich allen Einzelheiten. Es gab eine Menge Details. Wir
waren überwältigt von dem Ausmaß der Hingabe, des Enthusiasmus und der Bedeutung, die er
jedem Anfang und Ende eines Tons zumaß, ganz zu schweigen von seinem Innenleben. Kurtág
beschwor eine wundersame Alchemie herauf, durch jede Klangkombination, jede Geste, jeden
Bindebogen, jeden Intervall. Alles erhielt seine Bedeutung, alles war lebenswichtig. Der Mikrokosmos, den seine mikroskopische Betrachtung zu Tage förderte, wurde greifbar.
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Details, nicht nach dieser Unterrichtsstunde und sicher
auch nicht jetzt. Wir standen zu dicht an der Mauer, um die Kathedrale zu sehen. Unter pädagogischen Aspekten war er sehr fordernd und vielleicht etwas einengend. Aber es war für mich der
Moment, in dem ich als Teenager verstand, das Musik eine größere Botschaft trägt als nur ein
wunderschönes Klanggebilde zu sein, mehr als nur bloßes Hörvergnügen. Für Kurtág trug die
Musik solch einen starken Inhalt in sich, innig und kompromisslos, als ob er mit seiner Seele dem
Beispiel Fausts folgen wollte, wenn er nur könnte.
Der 1978 in Israel geborene Pianist Jonathan Aner absolvierte seine Ausbildung bei Prof. Arie Vardi, Prof.
Konrad Elser sowie am New England Conservatory in Boston. Er ist Preisträger vieler Wettbewerbe und
konzertierte mit namhaften Orchestern und Musikern im In- und Ausland. Jonathan Aner zählt zu den
Gründungsmitgliedern des Tel Aviv Trio, des Duo Brillaner und sowie des Oberon Trio. Seit 2010 hat er eine
Professur für Klavierkammermusik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin inne.
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JULIANE BANSE
U N I V E RS U M „K U R TÁG“
Meine erste Begegnung mit der Musik Kurtágs liegt nun schon über 15 Jahre zurück, als ich zum
ersten Mal die „Kafka-Fragmente“ einstudierte. Das Zusammentreffen mit dem Meister selber
kam ein paar Jahre später.
Beide Ereignisse waren wie das Betreten einer neuen, komplett unbekannten Welt und wie das
Erlernen einer neuen Sprache, faszinierend, voller Unsicherheiten und auch zwischenzeitlichen
Entmutigungen.
Das „Universum“ Kurtág stellt uns als Künstler und Interpreten auf die Probe. Es fordert alles an
Einsatz und Identifikation.
Abgesehen von den höchsten technischen Anforderungen in allen seinen Stücken ist seine
Kompromisslosigkeit in der Zusammenarbeit schon fast sprichwörtlich. Keiner der lebenden
Komponisten, mit denen ich gearbeitet habe, hat eine so „ausschließliche“ Vorstellung davon,
wie seine Musik aufgeführt werden muss. Das macht es zuweilen schwer, einen Weg zu finden,
den man noch als den „eigenen“ erkennen kann.
Gleichzeitig ist es faszinierend und beeindruckend, in der Arbeit zu beobachten, mit welcher
endlosen Energie, mit welcher Liebe und Verbundenheit mit seinen Werken Kurtág nicht nachlässt zu versuchen, uns als Interpreten in seine Welt hineinzuziehen, sie uns zu erschliessen.
Seine Musik ist so sehr Teil seiner selbst, Teil seiner Existenz, wie ich es sonst nie miterlebt habe.
Dankbar für diese prägenden und intensiven Erlebnisse der Zusammenarbeit gratuliere ich
György Kurtág sehr, sehr herzlich und wünsche ihm Gesundheit, Glück und viel weitere Inspiration!!
Die Sopranistin Juliane Banse nahm zunächst Unterricht bei Paul Steiner, später bei Ruth Rohner am Opernhaus Zürich und vervollständigte ihre Studien bei Brigitte Fassbaender und Daphne Evangelatos in München.
Ihr Bühnendebüt gab sie bereits als Zwanzigjährige in der Rolle der Pamina an der Komischen Oper Berlin. Mit
ihrem breit gefächerten Opern- und Konzertrepertoire ist sie international gefragt. Juliane Banse arbeitete
u. a. mit Dirigenten wie Lorin Maazel, Riccardo Chailly und Zubin Mehta. Zahlreiche CD-Einspielungen der
Künstlerin sind preisgekrönt.
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H EI N Z H O L L I G ER
— für Márta und Gyuri —
gespie(gel)t — gesun<d
g >en
(post-scriptum 21. März 2015)
Meine Lieben,
dass mein Mammern-Spiegelzwiegesängelchen weiter seine Wirkung tue und Euch beide wieder
ganz gesunden lasse, das wünsche ich jeden Tag. Gyuri, bitte schreibe noch lange Deine wunderbare Musik! Ohne Deine Schöpferkraft würde die Musikwelt wüst und leer. Unser so inniger
geistiger Austausch erfüllt mich mit immer neuer Lebensenergie.
Von ganzem Herzen Dank
Euer Heinz
Schon während der Schulzeit studierte Heinz Holliger am Berner Konservatorium bei Émile Cassagnaud Oboe und
bei Sándor Veress Komposition. In Paris setzte er sein Studium bei Yvonne Lefébure (Klavier) und Pierre Pierlot
(Oboe) fort und lernte bei Pierre Boulez in Basel Komposition. Nach ersten Preisen bei internationalen Musikwettbewerben begann er eine internationale Konzerttätigkeit als Oboist. Sein kompositorisches Schaffen umfasst alle
Gattungen, von Bühnenwerken über Orchester-, Solo- und Kammermusikwerke bis hin zu Vokalstücken. Er erhielt
zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. den Rheingau Musikpreis 2008.
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TA B E A Z I M M ER M A N N
I N N E R E F R E I H E I T U N D V O L L KO M M E N E R T O N
György Kurtágs Musik begleitet mich seit einer „Erstinfektion“ in Lockenhaus vor ca. 30 Jahren.
Damals war es insbesondere ein überwältigendes Hörerlebnis bei den Kafka-Fragmenten, aber
auch die persönliche Begegnung bei von Kurtág geleiteten Kammermusikproben. Der starke Eindruck und Einfluss auf meine Musikinterpretation erfüllt mich mit großer Dankbarkeit.
Von Kurtág „angesteckt“ suche und entdecke ich seither die innere Freiheit der Gedanken
und der Sprache der Musik, strebe ich nach einem nie zu erreichenden vollkommenen Ton und
Ausdruck, staune ich vor der Vergänglichkeit des Augenblicks und übe mich in Geduld, um das
Verhältnis von Klang und Zeit stets aufs Neue zu prüfen, zu erfahren und für andere erlebbar zu
machen.
Tabea Zimmermann erhielt ihren ersten Violaunterricht im Alter von drei Jahren und absolvierte ihr Studium
bei Prof. Ulrich Koch und Prof. Sándor Végh. Sie erzielte zahlreiche Wettbewerbserfolge und brachte viele
Werke zur Uraufführung. Als Solistin arbeitet Tabea Zimmermann regelmäßig mit weltweit bedeutenden
Orchestern. Mit Antje Weithaas, Daniel Sepec und Jean-Guihen Queyras gründete sie 2002 das Arcanto Quartett. Seit Oktober 2002 ist sie Professorin für Viola an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.
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R A P H A ËL M ER L I N
EWIGKEITS-GESTUS
Die vier ersten Töne cis, d, e, dis von Bartóks drittem Streichquartett, am Klavier einzigartig zart
und singend gespielt, sind uns die knappen ersten „Worte“ Kurtágs an diesem Herbsttag 2003.
Wir treffen ihn zum allerersten Mal in einem Unterrichtsraum des Pariser Konservatoriums. Dass
aus diesen wenigen Tönen der ganze Plan für das viersätzige Werk entsteht, wissen wir. Aber
diese Intervalle gleichzeitig so ausdrucksvoll zu spielen und zu singen, es macht uns vollends
deutlich: Heute erhalten wir künstlerische Botschaft von einer der besondersten Musikpersönlichkeiten unserer Zeit. Für Kurtág ist die Musik selbst eine voll wirkende Sprache. Mit Wörtern
verständlich machen, es ist relativ untergeordnet, wenn nicht gar störend auf dem Weg zur Kunst.
2004 gibt es in Budapest eine ganze Woche ausdauernder Arbeit für Beethovens op. 127. Wir
beginnen zu verstehen, wie ein subdominant-betonter Satz organisch introvert und intim klingt:
Beethovens «teneramente» (erstes Allegro) in umfassender Deutung. Wir fühlen, dass höchstes
Kammermusikspiel ein interaktiver Prozess ist. Die Themen in den Hauptstimmen müssen in Imagination auch von den Begleitern mitgesungen sein. Obwohl wir nun oft noch leiser spielen, wird unser
Klang dichter, tragfähiger. Aber voll stärkster Emotion ist dann der letzte Budapester Tag, der Abschied von György und Márta: Beethovens Musik hat unsere Beziehung richtig versiegelt! „Meine
Muttersprache wäre Bartóks Musik, meine großmütterliche Sprache die Beethovens“, sagt Kurtág.
Die Arbeit in Cordes-sur-Ciel 2005, an seinen Mikroludien op. 13, ist vielleicht der wichtigste
Unterricht gewesen, auch wenn Kurtág anfangs sehr unzufrieden war. Wie eine einfache G-DurTonleiter zu inkarnieren ist, vermag der Komponist nicht zu notieren. Der Anspruch des Meisters,
mit unserer gesamten Individualität, eigener innerer wie äußerer Bewegung und Gebärde, selbst
gewichtig in die Musik integriert zu sein, wurde immer größer. Unentbehrlich für die Wirkung von
Musik ist, wir kamen ihrem Geheimnis nahe: Vom Geist des Komponisten gerichtete Affekte
werden bei voller affektiver Subjektivität des Spielers (wie des Hörers!) im hörenden Bewusstsein Musik.
Seither ist fast täglich, ob Probe oder Konzert, eine Geschichte oder Idee von Kurtág bei uns:
„Schuberts Streichquintett ist ein einziger Ewigkeits-Gestus“; „piena voce kann auch mezzofortissimo gespielt sein“.
Ebenso die Erinnerung an 2010 mit zufälligem Begegnen im Pariser Supermarkt. Herr Kurtág
selbst sammelt die Zutaten für die Gemüsesuppe. Überraschung und kurzes Gespräch: „Márta
bleibt oben, sie ist müde. Alles gut bei euch Vieren?“ Der Maestro hat noch schöne Erinnerung
an unser op. 127. Schon ist wieder Abschied zu nehmen.
18. 6. 15
Der 1982 geborene Cellist Raphaël Merlin begann seine musikalische Ausbildung in Clermont-Ferrand/Frankreich und studierte ab 1997 Violoncello, Kammermusik und Orchesterleitung am Konservatorium in BoulogneBillancourt. Anschließend lernte er bei Philippe Muller am Pariser Konservatorium. 2002 trat er in das Quatuor
Ebène ein, mit dem er zahlreiche Preise gewann und weltweit konzertiert. Raphaël Merlin tritt zudem als Solist
auf und leitete bereits mehrere Orchester. Seit 2014 unterrichtet er am Konservatorium Boulogne-Billancourt.
Seit der Saison 2013-2014 gibt das Ebène Quartett Meisterklassen für Kammermusik am Pariser Konservatorium.
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K U R T W I D M ER
W I E E I N A LT E R M Ö N C H
György Kurtág hatte mich in einem Konzert in Basel gehört. Darauf ließ er mich durch Roland Moser
fragen, ob ich Lust hätte, die Hölderlin-Gesänge von ihm zu singen. G.K. schickte mir diese nach
Basel und kam von Berlin, um mit mir seine Gesänge zu proben. Wir trafen uns in der Musikakademie. G.K. setzte sich an den Flügel und sagte: „Wir beginnen mit ‚An ...‘“. Er hatte mir alle
Gesänge geschickt, aber ausgerechnet diesen hatte er vergessen, mir zu senden. Er suchte in
seiner Mappe nach dem fehlenden Lied. Also versuchte ich diesen Gesang vom Blatt zu singen.
„Nein, nein nicht so“, brach er gleich meinen ersten Versuch ab. „Du musst singen wie ein alter
Mönch.“ Er sang mir das erste Melisma vor und ich machte ihn getreulich nach. Doch er sprang
entsetzt auf und sagte: „Du musst sie wie ein alter Mönch, aber schön singen!“
Dieser ersten Begegnung folgten viele anstrengende, aber durchaus glückliche Proben in Amsterdam und Berlin. Einmal, als wir beinahe den ganzen Tag geprobt hatten, fragte ich Kurtág:
„Gefällt es Dir eigentlich nicht, wie ich singe, dass wir so viel probieren?“ „Doch, doch sicher!
Aber weißt, ich probe halt so gerne.“
Nach einer intensiven Probenphase in Amsterdam gab Kurtág mir einen Stoß Noten mit auf den
Heimweg. „Schaue Dir die Sache mal an; ich glaube, man kann sie nicht singen.“ (Es handelte sich
um „Pas à Pas“, vorerst noch für Bariton solo.) Dieser Satz stachelte meinen Ehrgeiz an. Schon
während des Fluges nach Basel schaute ich mir die Noten an.
Bei unserer nächsten Begegnung fragte er schüchtern nach einer Probe, ob ich mir seine
Beckett-Gesänge angeschaut hätte. Ich sang ihm „le Nain“ und „Rentrer à la nuit“ vor. Er war
entzückt und völlig überrascht und wollte wissen, wie ich diese studiert hatte.
Ich gehe beim Üben immer von dem aus: Innere Bewegung wird sichtbare und hörbare Bewegung, das Gestalten und Modulieren als Ebenbildlichkeit zum Entstandenen. Alles entsteht aus
einer Mitte, die Kleinstes und Größtes differenziert umfasst.
Ich ließ mir von Kurtág ein größeres Blatt Packpapier geben. Mit Farbkreiden zeichnete ich
Kreise, Kurven, expressive größere Bögen und sang dazu „le Nain“. Kurtág sah und hörte mir
staunend zu und sagte: „Du komponierst ja!“
Die Proben waren oft auch darum schwierig, weil Kurtág sich schwer tat, mit treffenden Worten
seine innere Vorstellung kund zu tun, bis ich bei einer Aufnahme sah, wie er vom Regieraum aus
mit Gesten dirigierte. Seine Gestik war derart beschwörend, phantastisch und von einer unübertrefflichen Feinheit, dass ich fortan beim Proben nur seinen Gesten zu folgen brauchte.
Die Arbeit zusammen mit Kurtág gehört zu den beglückendsten Stunden meines Lebens. Für
meine Person habe ich György Kurtág schon zu Lebzeiten zum Heiligen erhoben.
Heinz Holliger meinte einmal vor einem Konzert in Tübingen: Eigentlich nützen die Proben mit
Kurtág nichts, aber komischerweise, man spielt im Konzert einfach besser.
Seit 1967 tritt der Schweizer Bariton und Gesangspädagoge Kurt Widmer als Konzert- und Oratoriensänger in
Europa, Israel, den USA, Kanada, Russland und Japan auf. Er arbeitete mit Dirigenten wie Wolfgang Sawallisch
oder Jesús López Cobos. Regelmäßig singt er bei Festivals, u. a. in Luzern, Montreux, Donaueschingen, London, Turin, Salzburg und Wien. Er wirkte in über 100 Uraufführungen mit. Kurt Widmer erhielt verschiedene
Schallplattenpreise sowie den Solistenpreis des Schweizerischen Tonkünstlervereins. Neben seiner Tätigkeit
als Lehrer einer Ausbildungs- und Konzertklasse an der Musikakdemie Basel ist er Leiter zahlreicher Meisterkurse und -klassen, u. a. in Stuttgart, Moskau, Vaduz, Bozen, Salzburg und Tokio.
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ZEICHNUNG VON KURT WIDMER
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A D R I EN N E C S EN G ERY
DER SCHÖNE KL ANG
Eines der größten Geschenke meines Lebens ist es, dass ich in derselben Zeit und Stadt wie
György Kurtág leben und seine Werke kennenlernen und in ihnen mitwirken konnte. Als Komponist war er mir schon bekannt und von mir verehrt, als er mich eines Tages anrief. Ich konnte
mir nicht vorstellen, was er vorhatte. Dann erzählte er kurz, dass er auf Ersuchen von Boulez für
das Pariser Ensemble intercontemporain ein Stück zu einem russischen Text, zu den Gedichten
von Rimma Dalos, geschrieben hatte. Die Premiere sollte im Juni stattfinden — das war im Jahr
1980 — sie fand aber leider nicht statt, da das Ensemble mit einigen wenigen Proben das Stück
nicht lernen konnte, und die Sängerin den Auftritt nicht übernahm. Er suchte verzweifelt jemanden, um sein Stück erklingen zu lassen, da der Zeitpunkt der neuen Premiere schon auf Januar
festgesetzt war, und Boulez versprach, dass die Vorbereitung diesmal viel ernster sein werde. Da
er keine entsprechende Sängerin fand, wandte er sich an den Dirigenten András Mihály, der mich
empfahl, ich hatte nämlich damals in der Oper schon Alban Bergs Lulu gesungen.
Ich fühlte mich also von Kurtágs Anruf sehr geehrt, aber vor allem wollte ich die Noten sehen,
um zu wissen, ob ich überhaupt imstande wäre, das Stück zu singen. Ich besuchte ihn zu Hause,
wo er mir auf der Bettkante sitzend, mit der Partitur für vierzehn Instrumente — einen Klavierauszug gibt es dazu bis heute nicht — die „Botschaften des verstorbenen Fräulein Troussova“
vorsang. Zwischendrin übersetzte er den Text, weil meine russischen Sprachkenntnisse nicht
ausreichten, um ihn beim erstmaligen Hören zu verstehen. Während wir an den Liedern arbeiteten, wurde ich mir dessen immer sicherer, dass ich die vielleicht größte Musik nach Bartók
hörte, die ich, sollte ich auch daran sterben, unbedingt lernen und singen musste. Ich gab ihm
meine Stimme wie ein halbfertiges Instrument in die Hand, um sie für sich aufzubauen. Er ließ
mich mit einer sehr strengen Folgerichtigkeit hart arbeiten, das machte mich unglaublich glücklich, weil ich Tag für Tag fühlte, wie durch meine Stimme das von ihm Vorgestellte, was er hören
wollte, geboren wurde. Manchmal musste ich einen Ton sogar fünfzigmal singen, und wenn er das
Gefühl hatte, dass ich ihm nicht folgen konnte, sollte ich ihm die Zauberflöte geben, und er
sagte: „Nun singen Sie ‚Tamino mein‘“, und ich sang mit Freude. Dann sagte er: „Na sehen
Sie, hier handelt es sich um dasselbe.“ Ich verstand in diesem Moment, dass es für ihn, in einer
Singstimme denkend, das Wichtigste war, immer etwas Schönes zu hören. Später, als wir schon
viel zusammen gearbeitet hatten, sagte er oft, dass — so wichtig der Ausdruck auch sei — der
extremste Ausdruck nicht auf Kosten des schönen Klangs, des schönen Singens gehen darf. Wenn
der Hörer beim Vortrag eines Liedes nur erfährt, wie schwer dieses Lied ist, dann hat der Sänger
schlecht gesungen. Ich wollte jedoch gut und schön singen, denn ich war der Meinung, wenn
Kurtág ein Kunstwerk geschrieben hat, ist es meine Aufgabe, dieses nach meinem besten Wissen
und Talent ertönen zu lassen.
Kurtág ist ein wunderbarer Meister, der mich führt und mehr Vertrauen in mich hat, als ich
selbst habe. Er hält mich für fähiger, als ich bis dahin von mir dachte. Er hört in meiner Stimme
eine Schönheit, die ich mir auch in meinen besten Träumen nicht vorgestellt habe. Bei Kurtágs
Methode ist nicht das Ergebnis, sondern der richtige Weg zur Lösung wichtig.
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Nach „Troussova“ hat er eine Menge Liederzyklen geschrieben und seine früheren Lieder mit mir
auf Platte aufgenommen. Jetzt schreibt er die erste Oper seines Lebens — obwohl meiner Meinung nach alle seine Werke, auch seine Orchester- und Klavierstücke, Opern sind. Seine Musik ist
immer dramatisch, immer rhetorisch.
Gott gebe ihm noch für hundert Jahre genug Zeit und Kraft, zur Freude von uns allen.
Die international ausgezeichnete Sopranistin Adrienne Csengery studierte an der Franz-Liszt-Musikakademie
in Budapest bei Éva Kutrucz. 1969 debütierte sie an der Ungarischen Staatsoper und wurde ein Jahr später
als Solistin in das Ensemble aufgenommen. Von 1974-1977 war sie an der Bayerischen Staatsoper engagiert.
Adrienne Csengery war zu Gast bei Festivals in Wien, London, New York, u. a. und arbeitete mit Dirigenten wie
Pierre Boulez, Claudio Abbado und Péter Eötvös. Sie sang zahlreiche ungarische Kompositionen in der Uraufführung, wobei die Interpretationen der Werke György Kurtágs viel Beachtung fanden. Sie lehrt an den Musikfakultäten der Universität Szeged und der Universität Debrecen.
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FA K S I M I L E G YÖ R G Y K U R TÁ G : H O M M A G E À A N D R É B E R N O L D, P E R FA X
O L I V ER W I L L E
LEBENS-IDOL
Über György Kurtág zu schreiben ist vielleicht genauso unmöglich, wie seine Musik, seine Person,
seine Arbeit, sein Wesen in Worten zu fassen. Womöglich kann man floskelhaft einige Begegnungen — die zu den wichtigsten in meinem Werdegang gehören — skizzieren:
Kuss Quartett, alle Mitglieder sind 15 Jahre alt, werden von ihrem unermüdlichen und neugierigen Professor Feltz angehalten, „12 Mikroludien“ zu lernen. Für uns rein zufällig, von Feltz
wahrscheinlich bewusst, nehmen wir am Meisterkurs an der Eisler-Hochschule teil. Und welch
Offenbarung: Wir treffen einen energiegeladenen, beinahe niemals zufriedenzustellenden
Komponisten, der unser Bewusstsein für jede Geste — schon vor dem ersten Klang — jede Tonbeziehung, jedes gemeinsame Berühren von Klängen schärft. Die Begegnung schlägt ein wie ein
Erdbeben ... Wirklich? Ist jedes Molekül wichtig? Auch bei Beethoven? Für uns in der Arbeit ist
das nicht fremd, aber hier wird es explosiv spürbar, nachdrücklich gefordert. Und es wird in so
frühen Lebensjahren zum Leitbild, zumindest das Streben danach.
Natürlich erarbeiten wir im Meisterkurs nur die ersten Minuten dieses elementaren, wundervollen Werkes. Im „Haus Ungarn“ geht es ein paar Tage später weiter ... Die Teenager sind nach fünf
Stunden erschöpft, nicht so Kurtág. Er wird zum Lebens-Idol.
Weitere unvergessene Begegnungen — nicht immer angenehm, aber immer wieder zurückholend zu den so wichtigen, ja wichtigsten und wesentlichen Kriterien unserer Kunst — sind das
gemeinsame Lernen der zweiten Bartók Violin-Sonate, Beethoven op. 95 und Bartóks Streichquartett Nr. 6, letzteres in Prussia Cove. Und es bleibt mir unvergessen, Kurtág am Klavier
sitzend, den Anfang der „Burletta“ immer wieder anders spielend, unterbricht er: „Entschuldigung, ich mache das zuerst für mich.“ Was bedeutet das in unserer heutigen, schnell-lebigen
Zeit? Letztendlich lehren uns die ganz einfachen Dinge ALLES, wenn wir es zulassen, erspüren
und erkennen, wenn wir uns die Zeit nehmen, wenn wir neugierig, also jung bleiben, wenn wir zu
geben bereit sind. In Worte kann ich das nicht bringen, nur soviel: Danke György und Márta Kurtág
und allen, die mich zu ihm führten!
Der Violinist Oliver Wille wurde u. a. an den Musikhochschulen Berlin und Köln, der Indiana University Bloomington sowie dem New England Conservatory Boston ausgebildet. Mit 14 Jahren gehörte er zu den
Gründungsmitgliedern des international erfolgreichen Kuss Quartetts. Seit 2011 unterrichtet Oliver Wille als
Professor für Kammermusik an der Musikhochschule in Hannover. Zudem hat er eine Gastprofessur als International Chair in Violin sowie als Leiter einer neuen Quartett Akademie am Birmingham Conservatory inne.
Neben weiteren Projekten gibt Oliver Wille Meisterkurse, moderierte die „Explica“-Reihe des Kuss Quartetts
in der Hamburger Musikhalle und wird ab 2016 Künstlerischer Leiter der Sommerlichen Musiktage Hitzacker.
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H I RO M I K I K U C H I / K EN H A K I I
EIN LEBEN IN JEDEN BOGENSTRICH
„Es ist lebensgefährlich, meine Musikstücke zu spielen“.
Das war das erste Wort unserer Zusammenarbeit.
Und bald verstand ich, was er damit meinte.
Auch wenn ich mit aller Anspannung meine ganze Energie einsetzte, reichte es nicht ...
„Lege dein ganzes Leben in jeden Bogenstrich!!“
Das war seine Sprache — Kurtagisch —, und wir bemühten uns verzweifelt, sie zu verstehen. Er
gab nie auf, mit wirklich großer Ausdauer, bis ich es verstehen und spielen konnte. Nach einigen
Minuten kam dann ein „einen Moment bitte“ ... eine kurze Stille, er begann langsam auf dem
Klavier zu spielen — dann notierte er einige Notenzeilen — und ich kann mich daran erinnern, wie
mein Körper zitterte, weil ich erlebte, wie vor meinen Augen ein neues Musikstück geboren
wurde. Er wandte sich zu mir und sagte: „Wenn eine Passage zu schwierig zu spielen ist, sag es
mir“, und ich antwortete: „Vielleicht hier.“ Er sagte: „Ich verstehe“, drehte sich zum Klavier zurück, pausierte kurz, lächelte, änderte einige Noten ein wenig, und als er sie mir zurückgab,
waren sie schwieriger als vorher. Ich verstand in dem Moment, dass ich noch wirklich jetzt diese
Dinge zu lernen hatte.
In seinem Haus in Saint André de Cubzac mit vier Personen, einschließlich Márta, hatten wir viel
Gelegenheit, über seine Musik und unser Spiel zu sprechen. Mártas Anwesenheit stellte für uns
eine große Hilfe dar, seine Musikstücke zu spielen; psychologisch ebenso wie musikalisch. Gemeinsam zu essen und Videos sehen, das war ein Erlebnis, das so warm und liebevoll war, dass
es fast wie in einem Traum war.
Woher kommt die Großartigkeit seiner Musik? Jeder weiß die unglaubliche Qualität der Musik,
und darüber hinaus, denken wir, das kommt von seiner Ehrlichkeit, seiner Bescheidenheit, seiner Offenheit.
Gyuri, Márta, wir sind gesegnet, dass wir in der gleichen Zeit wie ihr leben dürfen.
Eure wunderbare Persönlichkeit zu erleben und von euch lernen zu dürfen — das ist ein großes
Geschenk, für das wir uns aus tiefstem Herzen bedanken.
Unendlichen Dank
Hiromi Kikuchi (Geige) Ken Hakii (Bratsche)
Die Violinistin Hiromi Kikuchi wurde in Tokio geboren und gewann im Alter von zehn Jahren die National Competition of Japan. Es folgten zahlreiche weitere internationale Auszeichnungen und Auftritte. So konzertierte
sie mit ihrem Mann, dem Bratschisten Ken Hakii, u. a. bei Festivals in Salzburg, Luzern, Wien, Paris und Venedig.
Gemeinsam führten sie auch György Kurtágs „…concertante…“ auf, u. a. mit dem BBC Symphony Orchestra in
London und dem Konzerthausorchester in Berlin.
Ken Hakii wuchs in Tokio auf und studierte dort Viola. Seine Studien setzte er bei Rainer Moog in Köln und im
Unterricht bei Milton Thomas und William Primrose fort. Seit 1985 spielt er im Concertgebouworkest Amsterdam — seit 1992 als Solo-Bratischst. Er wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, so mit einem Edison Klassiek für
die Aufnahme von György Kurtágs „Signs, Games and Messages“, gemeinsam mit Hiromi Kikuchi, Kurt Widmer,
Stefan Metz und Mircea Ardeleanu.
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JULIAN ARP
MIT AUF- UND ABSTRICH
„Jompam! Jotiatii! Di pa!“
Diese Silben hörte ich zum ersten Mal im Jahre 2004 aus György Kurtágs Mund beim International Musicians Seminar in Prussia Cove an der Küste Cornwalls. Sie klingen noch immer in meinem
inneren Ohr und ich erinnere mich gut, wie die „schwebenden Hemiolen, zuckenden Triolen und
tanzenden Quarten“ durch Vorsprechen bildhaft und verständlich wurden. Es war wie ein hörbar
gemachtes Gedicht.
Und während das Meer rauschte und in der Sonne glitzerte, machte Kurtág die Schönheit und
die Abgründe der Musik erlebbar. Das Singen und Vorsprechen war dabei neben dem Spielen ein
wichtiges Mittel. Mich begeisterte schon damals seine meisterhafte, fast unmerkliche Mikroagogik und die Gabe, jedes musikalische Zeichen wie z. B. sforzati nicht nur physisch umzusetzen,
sondern psychologisch und emotional zu deuten.
„Nicht die Lautstärke ist wichtig, sondern die Aussage!“
Ein paar Jahre später in Budapest sagte Kurtág: „Musik ist wie ein Abenteuer! Schon der Anfangsakkord muss eine Geschichte erzählen ...“
Faszinierend ist seine unendliche Begeisterung für die Musik, das Ringen nach Ausdruck und eine
Sprache für die Töne zu finden, auch wenn es manchmal in einem „Stammeln“, wie Kurtág sagt,
seiner Muttersprache endet.
Manchmal wurde er so leidenschaftlich, dass manche Studenten in Tränen ausbrachen. Dann
beschwichtigte seine Ehefrau Márta ihn, und er entschuldigte sich mit den Worten: „Ich kämpfe
nicht gegen Sie, sondern für Sie!“
Die tiefe Menschlichkeit, die diesem Musiker und Menschen sowie seiner hohen Kunst innewohnt, hat mich für immer geprägt. Welcher seiner Sätze hat noch mein Denken verändert?
„Wir können die ganze Welt und noch viel mehr mit Auf- und Abstrich darstellen.“
Möge es uns gelingen!
Julian Arp, 1981 geboren, studierte Violoncello in der Meisterklasse von Prof. Boris Pergamenschikow sowie
später bei Prof. David Geringas und in der Kammermusikklasse von Prof. Eberhard Feltz an der Hochschule
für Musik Hanns Eisler Berlin. Seit seinem Solistendebüt 1997 konzertiert er weltweit und ist Gast bei vielen Festivals. Julian Arp erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. gemeinsam mit dem Pianisten
Caspar Frantz im Duo Arp/Frantz beim Deutschen Musikwettbewerb. Er gibt Meisterkurse im In- und Ausland
und ist einer der künstlerischen Leiter des ZEITKUNST Festivals. Julian Arp ist Professor an der Universität für
Musik und darstellende Kunst Graz.
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EB ER H A R D FELT Z
BRIEF AN DEN MEISTER
Wir bereiten für das Konzertexamen des Duos Julian Arp/Caspar Frantz seit Monaten op. 27 Nr. 2
von Kurtág vor. Unvergessen bleiben die Telefonate, z. T. zweistündig mitten in der Nacht. Zuletzt
wir drei im Raum 161 der EISLER in Konferenzschaltung: Mit Ausdauer und Geduld berät der
Komponist Klang, Artikulation, Ausdruck, Tempi. Dann ist es so weit. Rektor Jörg-Peter Weigle
leitet das Hochschul-Doppelorchester mit zusätzlichen Blockflöten, Cimbalom, mannigfaltigem
Schlagzeug (2 x 3 Gran Cassa!). Mein Brief berichtet über die Aufführung im Konzerthaus Berlin.
Berlin, den 27. 11. 2010
Lieber György,
die Aufführung Deines „DOUBLE CONCERTO“ am 22.11. ist mitgeschnitten worden. Julian kümmert sich um die Aufnahme, dass wir sie zuschicken können.
Es ist kaum möglich, trotzdem versuche ich, den Eindruck auf die Hörer zusammenzufassen: Im
Bewusstsein des Herzens waren sie in stärkster Bewegtheit, geradezu überwältigt. Das gilt für
alle mitwirkenden Studenten im Doppelorchester. Seit Beginn der Gesamtproben gab es nur
achtsames Erfassen, Staunen, Verantwortung. Gar kein Problem mit Disziplin. Jeder fühlte sich
als Teil eines großen Ereignisses.
Es betrifft die Zuhörenden im Saal. Die letzten Schläge der Gran Cassa sind erfolgt, aber es ist/
gibt kein Ende. Bewegungsloses Lauschen, jetzt dem nun innersten Eigenen: noch nie so gewusst,
noch nie so an- und aufgerissenen. Gewaltig ergriffen haben Deine Szenen. Was für packende
dramaturgische Stringenz, Deine Großform!
Ein unvergesslicher Moment, etwas ganz Besonderes und Einzigartiges erlebt zu haben: in Klangbeziehungen das aus der Wurzel heraus kraftvoll und sensibel Wahrhaftige. Du kennst unser
Leben 20 000 mal besser als wir anderen Musiker alle zusammen. Da sind circa fünf Dutzend
Menschen, die sich mir gegenüber in ähnlicher Art äußern. Aus jener Intuition heraus, die Herz
und Intelligenz ist. Welche große Schar! „Im Geiste“ ist M i t e i n a n d e r möglich.
Zweifellos gab es auch: „Konnte ich denn das verstehen? … Doch wie stark …!“
Mir fiel Mandelstam ein:
Das Volk braucht Verse, unverständlich und vertraut,
Um sich vom Schlaf für immer aufzuwecken (...)
Julian und Caspar sind gewachsen und gewachsen, bei den Anstrengungen immer mehr froh
dank Deiner Aufgaben und Hilfen. Sie haben schließlich ansteckende hohe Identifikation und
Begeisterung ausgestrahlt.
Wir hatten Schwierigkeiten mit der Aufstellung. Unten im Saal war das Pf.solo mitunter wenig
zu hören. So bekam der Flügel (ohne Deckel) von hinten Schrägen aus durchsichtigem Plexiglas
(40 cm hoch, nicht störend). Für den Rang wurde es ein gutes Klangbild.
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Jörg-Peter Weigles Dirigat verdeutlichte (…) die Abtrennung von elementarer GroßenergieArtikulation Takte 34, 35 durch das Blech wie japanisches Kiré; das Blech mit Blockflöten: Du
lehrst Botticellis singende Engel brandneuen Gesang eigener Bedrängnis und Standhaftigkeit ...
Ich vermag nichts mit Worten! Deine Musik stellt das Menschsein auf. Sie ergreift mit der Gewalt
des Künstlerischen, wie wir es bei (…) Rembrandt kennen. Du schaffst die Verdichtung aller Zustände in Eins. Von Neuer Musik erlebte ich so starke Wirkung auf Hörer nur einmal, 1960 bei der
Uraufführung des VIII. Streichquartetts von Schostakowitsch. Jeder empfand: „Nirgendwo sonst
erfahre ich ...“
Du wirst die (…) Aufnahme unserer unzureichenden Aufführung bekommen … Sei bitte radikal
mit Deiner Kritik! Ist etwas vom Ungeist des „Hauptsache zusammen“ drin geblieben? War der
Anfang sensibel und „zeitlos“? Die Tonhöhen der drei Gran Cassa für Presto agitato habe ich nur
einmal geprobt, leider. Blieb die Luft bei „circum dederunt...“ wirklich stehen?
Ich danke Dir für diesen Weg mit Deinem Werk über Monate. Wie stark hast Du in den Telefonaten beigestanden! Mir ist klar, dass ich vor dieser Partitur ein Blinder geblieben bin, doch — wie
immer — gibst Du mir auch die Zuversicht zum Versuch, mir selbst Blindenführer zu sein. Es ist
der nicht zu planende Weg. Aber die Welt ist wieder anders neu.
Zum Schluss (…): Du führst auch Menschen zusammen. Es gab Treffen an nächsten Abenden,
zu diesem Ereignis. Da kam auf mich Helena Winkelman zu. Sie hatte vor 19 Jahren in Lyon im
Quartett mit mir gearbeitet! Ein Euch nahestehender Mensch. Wir waren nach wenigen Minuten
vertraut in den wichtigen Themen unserer Arbeit und Existenz.
Alles Liebe wünscht Dir/Euch mit vielen Grüßen
dankbar
Dein Eberhard
Eberhard Feltz studierte in Berlin und St. Petersburg. Er unterrichtet seit 1963 an der Hochschule für Musik
Hanns Eisler Berlin, bis 2002 als Professor für Violine und Kammermusik, seitdem im Lehrauftrag. Eberhard
Feltz ist auf Meisterkursen international gefragter Gastdozent, langjähriger Mentor bekannter Solisten und
Kammermusik-Ensembles, u. a. des Vogler, des Kuss, des Atrium, des Ebène Quartetts.
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D ÉN E S VÁ R J O N
WIDMUNG FÜR DÉNES
Als Student an der Budapester Liszt Akademie von 1984 bis 1994 spielte ich regelmäßig für
György Kurtág. Mein Leben als Musiker und Mensch würde ganz anders verlaufen sein ohne diese zehn Jahre. Es ist geradezu unmöglich zu beschreiben, was es bedeutete, ihn an den großen
Meisterwerken arbeiten zu sehen, wie er auf jedem erdenklichen Wege versuchte, mit seiner
enormen Fantasie die Klangsprache, die Gesten und die Gefühlswelt eines Komponisten und
seines Werks zu erhellen, das wir gerade spielten.
Als ich zum ersten Mal seine wundervolle Hommage à Robert Schumann für Klarinette, Viola und
Klavier einstudierte, fragte ich ihn nach einer Widmung. Er schrieb auf das Deckblatt der Partitur
so etwas wie: Für Dénes, gib Dich nie zufrieden, es reicht nicht was erklingt, Du musst Dir immer
etwas vorstellen und Deine Vorstellung ist unabdingbar. Diese Botschaft begleitet mich jeden Tag,
jedes Mal, wenn ich an meinem Klavier sitze.
Sein Klavierspiel hat etwas Unbeschreibliches. Während der Konzerte, die er zusammen mit seiner Frau Márta gab, hatte ich oft das Gefühl, das ist kein Klavier mehr, dieser Klang kommt von
einer anderen Welt, aus einer anderen Sphäre. Während seines Unterrichts war das Gefühl immer präsent, dass obwohl etwas schwierig oder fast unmöglich ist, du trotz alledem extrem
glücklich dabei bist. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass meine Kammermusikpartner und ich
oft nach den Stunden fast aus dem Raum „flogen“. Weil wir etwas absolut Neues erfahren hatten,
eine musikalische Phrase in solch einem tiefgreifenden Sinn verstanden hatten, den wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Ich werde immer dankbar sein für das Leben jener Jahre während
meines Studiums an der Liszt Akademie, als er noch in Ungarn lebte, die ganze Woche über an
seinen Kompositionen saß und uns an Samstagen und Sonntagen Unterricht gab. Ich betrachte
es als ein wahres Geschenk des Lebens, dass ich bei ihm studieren und so viele Jahre in seiner
Nähe verbringen durfte.
Dénes Várjon studierte an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest Klavier bei Sándor Falvai und Kammermusik bei György Kurtág und Ferenc Rados. Er ist u. a. erster Preisträger der Leó Weiner Chamber Music
Competition. Bei Festivals wie den Salzburger Festspielen ist Dénes Várjon regelmäßig zu Gast und konzertiert
mit Orchestern wie dem Wiener Kammerorchester oder dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg. Zudem widmet er sich der Kammermusik mit Partnern wie András Schiff, Steven Isserlis u. a. Dénes Várjon ist
Professor an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest sowie Gastprofessor am Bard College.
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S T EP H A N FO RC K
I N S P I R AT I O N
Im Jahr 1992 wurden wir zum Festival nach Kuhmo (Finnland) eingeladen. Dort war auch
György Kurtág zu Gast. Seinen Namen kannte ich von meiner Frau, die als Studentin häufig nach
Szombathely zu Kursen gefahren ist, bei denen Sándor Végh, Ferenc Rados, Peter Eötvös und
eben auch Kurtág unterrichteten. Sie war begeistert von ihm als Musiker und Lehrer.
Also fragte ich György Kurtág am Anfang des Festivals, ob er Zeit hätte, uns anzuhören. Er erkundigte sich erst nach unserem Repertoire, dann versuchten wir, einen Termin zu finden. Es fand
sich nur einer früh am Morgen. Um 9 Uhr. Er wollte Schuberts großes G-Dur Quartett hören. Wir
spielten uns vorher warm und waren voller Erwartung. Als er kam, ließ er uns den ganzen ersten
Satz durchspielen, sagte dann „weiter“ und wir spielten den zweiten, schließlich das ganze Werk.
Immerhin 50 Minuten. Er sagte, es sei das erste Mal gewesen, dass er dieses Quartett „live“ gehört hat. Überraschenderweise kannte er es aber wie seine Westentasche. Die verbleibene Zeit
des Unterrichts gehört zu den spannendsten Erlebnissen unseres Quartetts. Er analysierte,
immer wieder zum Klavier eilend, das Werk des „Kollegen“ Schubert aus der Perspektive des
Komponisten Kurtág, entlockte dem ziemlich verstimmten Klavier zauberhafte Klänge und
brachte uns das Stück unendlich viel näher. Von da an haben wir ihm häufig vorspielen dürfen.
Besonders oft während seiner Zeit als Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Seine intensive
und sinnliche Art, Musik zu erleben, ist für uns immer noch eine starke Quelle der Inspiration.
Der Cellist Stephan Forck studierte bei Prof. Josef Schwab und Prof. Eberhard Feltz, beim LaSalle Quartett
und bei Prof. Bernard Greenhouse. Seit 1986 geht er einer weltweiten Konzerttätigkeit nach, u. a. mit dem
von ihm 1985 mitbegründeten Vogler Quartett. Stephan Forck ist seit 1999 Professor für Violoncello an der
Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, von 2007 bis 2012 war er zudem Professor für Kammermusik an der
Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart.
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DA N KS AG U N G
Für die freundliche Unterstützung danken wir
AL L EN BE T EIL IGT EN UND MI T WIRKENDEN
GESEL LS CHAF T DER FREUNDE UND FÖRDERER DER
HO CHS CHUL E F ÜR MUSIK HANNS EISL ER BERL IN E. V .
EDI T IO MUSICA BUDAP E S T
PAUL S ACHER S T IF T UNG
JERUS AL E M MUSIC CEN T RE
B AL A S SI INS T I T U T | C OL L EGIUM HUNG ARIC UM BERL IN
UNSERE M MEDIENPART NER DEU TS CHL ANDR ADIO KULT UR
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