Adliswiler Predigt vom 15.06.2014

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Adliswiler Predigt vom 15.06.2014
ADLISWILER PREDIGT
Reformierte Kirche Adliswil, Gottesdienst, 15. Juni 2014
Konfirmationen
Text:
Titel:
Predigt:
Jesaja 40, 27-31
«Ausbruch – Aufbruch!»
Pfr. Ralph Miller
Ihr Leute von Israël, ihr Nachkommen Jakobs, warum klagt ihr:
„Der HERR kümmert sich nicht um uns; unser Gott lässt es zu,
dass uns Unrecht geschieht?“ Habt ihr denn nicht gehört? Habt
ihr nichts begriffen? Der HERR ist Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, seine Macht reicht über die ganze Erde; er hat sie geschaffen! Er wird nicht müde, seine Kraft lässt nicht nach; seine
Weisheit ist tief und unerschöpflich. Gott gibt den Müden Kraft,
und die Schwachen macht er stark. Selbst junge Leute werden
kraftlos, die Stärksten erlahmen. Aber alle, die auf den HERRN
vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde,
sie laufen und brechen nicht zusammen.
(„Gute Nachricht in heutigem Deutsch“)
Liebe Festgemeinde
Am heutigen Sonntag stehen 24 junge Erwachsene im Mittelpunkt unseres Gottesdienstes. Sie stehen vor uns – und vor Gott – mit einem Traum. Es ist der
Traum von Freiheit. Diese herangewachsenen Kinder wollen ausbrechen aus dem
Bisherigen und aufbrechen zu neuen Horizonten. Ja, heute ist es endlich so weit,
dass diese Jugendlichen das Recht bekommen sollten, ein gewisses Mass an
Freiheit anzunehmen und selbst zu verantworten. Gerne sind wir als festlich gekleidete Kirchgemeinde zusammengekommen, um ihnen im Namen Gottes alles
Gute zu wünschen.
Ausbruch – Aufbruch! So lautet das Thema der heutigen Konfirmation. Die Sehnsucht nach Freiheit gehört zum Fundament des Menschseins schlechthin. Jede
Frau, jeder Mann, jedes Kind möchte frei sein – und zwar so frei wie möglich. Allerdings sieht diese Freiheit je nach Lebensphase immer ein wenig anders aus.
Fragen Sie sich selbst, liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer, wovon Sie
heute Morgen befreit werden möchten: Frei von Schmerzen? Frei von irgendwelchen gesetzlichen Bestimmungen? Frei von Geldsorgen? Frei von Schuldgefühlen, die Sie schon seit langem mit sich tragen? Frei von alltäglichen Verpflichtungen, an denen Sie sich überhaupt nicht mehr richtig freuen können?
Jugendliche fassen den Begriff „Freiheit“ jedoch anders auf als eine erwachsene
Person. In dieser Hinsicht möchte ich mir vorstellen, dass die Konfirmanden das
Thema „Ausbruch – Aufbruch“ aus einem ganz anderen Grund gewählt haben. Sie
sehnen sich nämlich nach der Freiheit eines mündig gewordenen Kindes. Sie
glauben ja selbst, dass es heute so weit ist. Deshalb wollen sie frei sein – frei von
möglichst vielen gesellschaftlichen Zwängen: Familienverpflichtungen, Schulalltag,
möglicherweise auch von der Kirche. Als Konfirmierte wollen sie vom heutigen
Tag an richtig ausbrechen und wagen, die Welt für sich neu zu entdecken. Dies
ist auch richtig so.
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Liebe Konfirmandinnen, liebe Konfirmanden, es mag für Euch wohl schwierig sein,
euch überhaupt vorstellen zu können, dass wir älteren Erwachsenen – vor vielen,
vielen Jahren – auch einmal an jenem Platz gesessen haben, wo ihr heute sitzt.
Natürlich hat sich seither vieles auf der Welt verändert; gewisse Dinge ändern sich
aber nie. Wie damals, so auch heute begehren junge Leute ihre Freiheit – meistens jedoch ohne ganz genau zu wissen, wie anstrengend es tatsächlich werden
kann, mit dieser Freiheit umzugehen.
Diesbezüglich waren wir Ältergewordene hier in der Kirche nicht wesentlich anders als ihr es heute seid. Auf unserem damaligen Weg haben auch wir in jüngeren Jahren von Freiheit sehnsüchtigst geträumt. Dennoch mussten wir in der eigenen Biographie erfahren und im Nachhinein feststellen, dass der Ausbruch
selbst – eigentlich – erstaunlich einfach war. Der Aufbruch hingegen war wesentlich komplizierter. Damals haben auch wir das neu entdeckte Freisein in vollen
Zügen genossen, aber auch hie und da missverstanden, manchmal sogar missbraucht. Bei der heutigen Konfirmationsfeier hoffen wir Ältergewordenen, dass ihr
eben nicht die gleichen Fehler begehen werdet wie wir – wohl wissend, dass auch
ihr von Zeit zu Zeit auf Umwege und Irrwege geleitet werden könntet. Und trotzdem solltet ihr frei sein.
In eurer Zukunft wird es aber Tage geben, an denen die komplexen Schwierigkeiten, die es in der Welt der Erwachsenen immer wieder gibt, euch komplett durcheinander bringen werden. Auch ihr werdet erfahren, dass das Schicksal selten
Fragen stellt. Probleme kommen öfters ans Tageslicht unabhängig davon, ob wir
uns die Auseinandersetzung mit ihnen gewünscht haben oder nicht. Wie gesagt,
Ausbruch ist immer einfach; Aufbruch hingegen einiges komplizierter. In diesem
Zusammenhang frage ich euch: Woher wird eure innere Kraft – nach diesem
Festtag – kommen, wenn ihr zu neuen Ufern aufbrecht? Woran werdet ihr euch
festhalten, wenn euch die Stürme des Lebens immer grösser und bedrohlicher
erscheinen? Was wird eurem Leben tagein tagaus einen Sinn, einen tieferen Sinn
ermöglichen – egal wie hoch die Wellen schlagen? Diese Fragen kann ich nicht,
kann eigentlich niemand in dieser Kirche für euch beantworten. Jetzt seid ihr dran.
Auch diese Feststellung gehört zur Freiheit.
Liebe Konfirmandenklasse, liebe Festgemeinde, in der langen Geschichte des biblischen Volkes erlebten auch die alten Israëliten mehrere Kapitel, in denen sie nur
von Freiheit zu träumen vermochten. Schon als Sklaven des ägyptischen Pharaos
wollten sie ausbrechen und aufbrechen. In der heutigen Schriftlesung aus dem
prophetischen Buch Jesaja treffen wir eine ähnliche Situation an. Zu jener Zeit waren die Armeen des assyrischen Reiches unter Führung des mächtigen Königs
Sargon (722-705 v.Chr.) im Vormarsch. Im 8. Jahrhundert vor Geburt Christi hatten sie mehrere Völker und Stämme in der ganzen nahöstlichen Region völlig
problemlos erobert. Jahrzehnte lang versuchten auch die Israëliten, sich gegen
diese bedrohlichen Streitkräfte zu wehren. Mit der Zeit wurden immer mehr Menschen unter ihnen wegen dieses Kampfes müde, schwach und kraftlos. Viele
wollten resigniert aufgeben.
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Genau in diesem Augenblick wagte der Prophet Jesaja, den Israëliten ein ermutigendes Wort zu verkünden: „Alle, die auf den HERRN vertrauen, bekommen
immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen nicht zusammen.“ (Jesaja 40,31)
Heute Morgen, liebe Gemeinde, wollen wir uns fragen, was dieses Wort aus dem
Alten Testament für unsere Konfirmandenklasse – und für uns alle – bedeuten
könnte. Wie ist es möglich, dass wir, wie es in jenem Jesajawort heisst, im Angesicht eines riesigen Problems, das uns auf unserem Lebensweg rücksichtslos begegnet, trotzdem gehen können – und dabei doch nicht müde werden? Ist es
wahr, dass wir ausgerechnet dann laufen können – und doch nicht zusammen
brechen? Kann es wirklich sein, dass wir in unserem Alltag – so wie es im heutigen Psalmgebet geschrieben steht – „Mauern überspringen“ werden (Ps. 18,30),
die uns beim ersten Blick unheimlich gross vorkommen?
Liebe Konfirmandenklasse, bei allen tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit den
Problemen und Schwierigkeiten in der erwachsenen Welt werden sehr viel äussere Kräfte und innere Energien aufgebraucht. Überhaupt können die Lasten des
Alltags unglaublich müde machen, hie und da richtig zermürben. Aber eben: gerade dann, wenn diese oder jene Mauer, der du künftig begegnen wirst, unbesiegbar
erscheint, genau in jenem Augenblick wirst du eingeladen, aufgefordert und ermutigt, dein Vertrauen in einen Grösseren zu setzen. Dank diesem Vertrauen wirst
auch du neue Kraft zu spüren bekommen. Aufgrund solchen Vertrauens wirst
auch du gehen können, ohne zu ermüden. Dann werden auch dir – wie der Prophet Jesaja verheisst – Flügel wachsen wie dem Adler.
Jesaja wusste, wovon er sprach. Bekanntlich bauen die Adler ihre Nester immer
auf hohen Gipfeln, weit oben in den Bergen, meistens an der Felswand. Erreichen
ihre Jungen das Alter, in dem sie selbstständig werden sollen, ja, in dem sie endlich frei fliegen dürfen, so werden sie von den Eltern – wortwörtlich – aus dem
Nest gestossen. Die herangewachsenen Kinder haben in diesem lebenswichtigen
Augenblick nur zwei Möglichkeiten: Entweder fliegen sie oder sie stürzen in den
Tod. Auf dem Weg hinunter beginnen die Jungen sofort und instinktiv, ihre kleinen
Flügel so schnell wie möglich zu bewegen. Sind ihre Adlerflügel stark genug, was
meistens der Fall ist, so entdecken sie plötzlich, dass sie eben nicht fürs Nest,
sondern fürs Fliegen geschaffen sind. Trotzdem betrachten die Eltern besorgt den
Sturz ihrer Kinder in die Tiefe. Sie merken eindeutig, wenn das eine oder andere
Kind in Lebensgefahr gerät. Stellen die Eltern in diesem Bruchteil einer Sekunde
fest, dass ihr Kind es eben nicht schaffen wird, so stösst die Mutter oder der Vater
möglichst rasch herab, um das Kind auf ihren grossen Flügeln aufzufangen und es
vor dem sicheren Tod zu retten. Ja, mit der Hilfe eines Grösseren wird das Kind
wieder hinauf ins Nest getragen, wo gewartet wird, bis die Zeit wieder reif erscheint, einen zweiten Anlauf zu riskieren. Irgendwann wird das gross gewordene
Kind doch noch lernen müssen, wofür es künftig leben soll. Es soll nämlich frei
sein!
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Liebe Konfirmandenklasse, liebe Gemeinde, sehr ähnlich ist es mit Gottvertrauen.
Gott bietet uns Menschen die Möglichkeit an, ihm zu vertrauen, genau wie beim
Adlerjungen seinen Eltern gegenüber. Wenn wir merken, wie wertvoll und wirksam
Gottvertrauen sein kann, dann wachsen auch uns Flügel wie dem Adler. Dann
werden wir selbstständig. Dann werden wir wirklich frei. Den Begriff Vertrauen dürfen wir ja nicht verwechseln mit diesem oder jenem traditionellen Lehrsatz irgendeiner Religion. Die Hauptsache diesbezüglich hat nicht in erster Linie mit diesem
oder jenem Dogma zu tun, sondern es geht primär darum, dass Vertrauen an einen Grösseren überhaupt geschenkt wird. Dank diesem Glauben können die
Menschen eine noch nie dagewesene Perspektive erleben, einen noch nicht
wahrgenommenen Horizont entdecken, einen komplett neuen Sinn in ihrem Alltag
nachvollziehen.
Darum, liebe Konfirmandenklasse, wünsche ich euch am Tag eurer Konfirmation
den Mut, an Gott zu glauben. In Zukunft wird nicht alles so einfach und bequem
sein wie bis jetzt, wo ihr euer Leben in einem mehr oder weniger wohl behüteten
Nest ausleben konntet. In letzter Zeit habt ihr euch zwar hie und da eingeengt gefühlt, weshalb eure Hände heute Morgen mit einer Schnur symbolischerweise verbunden wurden. Davon werdet ihr bald befreit. Schon während dieses Gottesdienstes dürft ihr ausbrechen und das Nest verlassen, um nach neuen Gefilden
aufzubrechen. Verlasst dieses Nest aber bitte nicht mit selbstherrlichen Gefühlen
oder mit besserwisserischen Einstellungen, sondern mit der demütigen Feststellung, dass ihr fortan anfangen wollt, gewisse Dinge in eurem Leben selbst zu verantworten. Wir alle, die nach wie vor sozusagen im Nest bleiben werden, wünschen euch gutes Gelingen und gleichzeitig bieten wir euch gerne weiterhin unsere Unterstützung an.
In diesem Sinne möchte ich jede und jeden von Euch beim anschliessenden Konfirmationsritus einladen, eine zeichenhafte Geste zu machen. Bereits gestern wurde hier vorne beim Taufstein dieses grosse Nest aufgebaut. Wenn ich deinen
Namen aufrufe, also bevor du deinen Konfirmandenspruch bekommst, bitte ich
dich, zusammen mit mir in dieses Nest für kurze Zeit einzusteigen. Und wenn du
das Nest nachher verlassen wirst, dann will auch dir bewusst werden, dass du am
heutigen Tag einen wichtigen Schritt wagst: Ja, dann darfst du ausbrechen und
aufbrechen. Dann bist du frei! Nimm diese Freiheit im Geist der Verantwortung an
und suche weiter nach der tieferen Wahrheit des Lebens, die Gott in seiner Liebe
dir und euch und uns allen offenbaren kann – und auch will.
So möge es sein – und auch werden.
Amen.
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