zweiten Indochina

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zweiten Indochina
In der Eroberung Kambodschas durch die Vietnamesen, in den Kämpfen zwischen China und Vietnam
sind auch noch die Trümmer
einer Utopie zermalmt worden, jener Utopie, eines Völkerfrühlings in Asien, die deutschen Studenten den Kampfruf »Ho, Ho Tschi Minh«
in den Mund legte oder sie
die kleine rote Mao-Bibel
schwenken ließ.
Was hat sich wirklich ereignet in Indochina, seit die
Franzosen 1945 dorthin zurückkehrten, um eine Ordnung wiederherzustellen, die
nur noch zu liquidieren war? Peter Scholl-Latour kennt jenen
Vorsprung der von China beherrschten Landmasse nach Süden
wie kaum ein anderer, er ist mit allen Ländern zwischen dem
Golf von Bengalen und dem Golf von Tonking vertraut: Vietnam, Kambodscha, Laos, Thailand bis hinauf nach Burma und
hinab nach Singapur, und kennt dazu China, den mächtigen
Nachbarn, dessen Ausstrahlung aufgenommen und abgewehrt
worden ist in diesem Schnittpunkt indischer und chinesischer
Kultur. Seit Scholl-Latour 1945 an Bord eines französischen
Truppentransporters zum erstenmal dorthin reiste, hat er
die Stationen einer nicht endenden Tragödie miterlebt, einer
Tragödie, in der die Illusionen der Freiheit zerbrachen, weil
jede Macht, jede Gruppe, weil Franzosen, Amerikaner, Vietnamesen und Rote Khmer ihre eigene Freiheit den anderen aufzuzwingen suchten.
Peter
Scholl-Latour
Der Tod
im Reisfeld
Dreißig Jahre
Krieg
in Indochina
Lizenzausgabe mit Genehmigung der
Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart
für die Bertelsmann Club GmbH, Gütersloh
die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH,
Stuttgart
die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien
und die Buch- und Schallplattenfreunde GmbH, Zug/Schweiz
Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft
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Gesamtherstellung Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
Printed in Germany • Buch-Nr. 00909 2
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Vorbemerkung
Dieses Buch ist aus der Erinnerung geschrieben und gibt
ein persönliches Erlebnis wieder. In dreißig Jahren Indochina
habe ich die Erfahrung gemacht, daß die subjektive Berichterstattung oft die ehrlichste Methode ist, der Wirklichkeit oder –
wenn man vor dem großen Wort nicht scheut – der Wahrheit
näherzukommen.
P. S.-L.
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An Stelle eines Vorworts
Trauer über Saigon
Ho Tschi Minh-Stadt, August 1976
Der Monsunregen fiel ohne Unterlaß seit dem frühen Morgen.
Der Blick auf den Saigon-Fluß war durch die modrige Feuchtigkeit verschleiert. Nur wenige und schlecht gepflegte Frachter geringer Tonnage lagen am Quai, wo während des Krieges
das Rot-Kreuz-Schiff »Helgoland« auf diskrete Weise die deutsche Flagge gezeigt und eine Solidarität mit den Amerikanern
bekundet hatte, die im Laufe des allgemeinen Stimmungsumschwungs immer zurückhaltender wurde. Die ersten spärlichen
Lichter gingen an und spiegelten sich im nassen Pflaster der
Rue Catinat. So hatte die elegante Geschäftsstraße von Saigon
unter den Franzosen geheißen, ehe sie unter dem Namen
»Tu-Do«, »Straße der Unabhängigkeit«, zum Bar- und Bordellviertel der Amerikaner wurde. Jetzt war sie von den roten Siegern aus dem Norden in »Straße der Freiheit«, in »Dong-Khoi«
umgetauft worden, und die Südvietnamesen fragten sich, um
welche Volkserhebung es sich wohl gehandelt habe.
Wir waren als westliche Besucher von den neuen kommunistischen Behörden in das Hotel »Majestic« eingewiesen
worden. Im »Continental«, das in den langen Jahren des ersten
und des zweiten Indochina-Krieges den Korrespondenten aus
aller Welt als Heerlager gedient hatte, waren nunmehr die
Parteifunktionäre und -bonzen aus Hanoi einquartiert. Die Terrasse des »Continental«, einst Treffpunkt, Nachrichtenbörse
und Liebesmarkt einer lärmenden Journaille, war neuerdings
durch Eisengitter gegen die Öffentlichkeit abgeschirmt, hinter
denen die Apparatschiks des neuen Regimes ihre schmalen
Privilegien genossen. Von meinem Hotelfenster im »Majestic«
schweifte der Blick über die endlosen Mangroven-Sümpfe,
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durch die der Saigon-Fluß sich wie eine fette, gelbe Schlange
wand.
Ein Truppentransporter, bis zum Rand gefüllt mit Soldaten
der vietnamesischen Volksarmee, löste sich vom Ufer und
dampfte in Richtung Vung Tau ab. Es dauerte eine Weile, bis die
grünen Uniformen und die Tropenhelme, die die Revolutionäre
Vietnams als altmodisches Relikt der Kolonisation beibehalten
hatten, um die nächste Flußbiegung verschwanden. An jenem
Abend wußte ich noch nicht, daß das Ziel dieser Verstärkungen
die umstrittene Grenze mit Kambodscha war.
Die Nacht fiel mit tropischer Eile. Flußaufwärts hatte sich
der Himmel zu einem letzten Abendrot geteilt. Es sah aus,
als sei dort eine Feuersbrunst ausgebrochen, wie in jenen gar
nicht so fernen Tagen, als die Armee des Nordens die letzten
Verteidiger von Saigon, tapfere katholische Fallschirmjäger,
in Xuan Loc eingekreist hatte und sich anschickte, zum
Todesstoß gegen die Hauptstadt des Südens anzusetzen. Gegen
den violetten Himmel zeichnete sich das Beton-Denkmal des
Heerführers und Nationalhelden Trang Hung Dao ab. Die
Kommunisten hatten diese überdimensionale Statue, die den
Hafen von Saigon beherrscht, nicht abgerissen. Auch sie verehrten in der legendären Figur Trang Hung Daos, der die
chinesischen Armeen des Mongolen-Kaisers Kublai Khan am
Bach-Dang-Fluß in Tonking vernichtet hatte, das Symbol der
vietnamesischen Selbstbehauptung gegen das Reich der Mitte.
Ein sehr aktueller Nationalheld war dieser Marschall Dao in
dieser Stunde, wo man in Hanoi und Ho Tschi Minh-Stadt
hinter vorgehaltener Hand von der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit Peking zu sprechen begann. »Wenn die Gefahr
aus dem Süden gebannt ist, droht doppelte Gefahr aus dem
Norden«, hatte unsere Dolmetscherin aus Hanoi eine alte vietnamesische Weisheit zitiert und dann hinzugefügt: »Die Chinesen haben graue Bäuche«, was wohl eine ganz fürchterliche
Bedeutung haben mußte.
Mit den Kollegen des Kamerateams schlenderten wir durch
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die »Straße der Volkserhebung«. Noch waren die Mopeds
und Hondas, die unter dem früheren proamerikanischen
Regime zu den Merkmalen einer artifiziellen Konsumgesellschaft gehörten, nicht aus dem Verkehr verschwunden. Weiß
der Himmel, wo ihre Besitzer Benzin auftrieben. Aber die
Bars und Lasterhöhlen waren samt und sonders geschlossen.
Die Geschäftsleute bereiteten sich resigniert auf die Verstaatlichung auch des Kleinhandels vor. Wie eh und je standen Fahrrad-Rikschas längs der Trottoirs, doch sie warteten vergeblich
auf Kunden. Auf der Straße konnten wir wieder frei über unser
Programm des kommenden Tages und unsere Eindrücke sprechen. In den Hotelzimmern mußten wir mit Abhöranlagen
rechnen. Seit unserer Ankunft in Saigon hatte sich die »Spionitis« wie eine physische Beklemmung auf uns gelegt. Wir
wußten, daß jeder Schritt, jede Geste, jedes Wort überwacht
wurden und daß man vielleicht bei den Sicherheitsorganen
nur auf einen faux-pas wartete, um gegen uns einzuschreiten,
wobei der Entzug der Drehgenehmigung das geringste Übel
gewesen wäre. In dreißig Jahren gewinnt man einen Instinkt
für Krisensituationen dieser Art, und unsere offiziellen Begleiter aus Hanoi, mit denen wir uns inzwischen angefreundet
hatten, erstarrten ihrerseits in Mißtrauen und Abwehr.
Man sah fast nur ernste, bittere, ängstliche Gesichter in den
Straßen von Saigon. Die neue Bezeichnung Ho Tschi MinhStadt wollte uns nicht über die Lippen kommen, und selbst
die roten Parteifunktionäre schienen davor zurückzuscheuen,
den Namen ihres großen revolutionären Vorbildes mit einer
Stadt zu verquicken, deren Bevölkerung so offensichtlich den
Annehmlichkeiten und den Lastern der Vergangenheit nachtrauerte. Noch war der Schwarzmarkt lebendig im Sommer
1976. Der Diebesmarkt bot weiterhin – zum Staunen der
kargen Bauernkrieger aus dem Norden – amerikanische
Ausschußware aus dem PX an, die den Soldaten unter dem
Roten Stern wie Güter aus einer Traumwelt erschienen. Der
Schneider am Blumenmarkt schlug uns für einen lächerlichen
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Betrag – zahlbar in grünen US-Dollars – ein komplettes Kleidungssortiment vor. Jeder dieser Händler und Trödler war
sich bewußt, daß er nur eine Gnadenfrist genoß. Jeden
Morgen mußte er damit rechnen, ohne Umstände mit einem
Minimum an Hausgerät und Habe auf einen Lastwagen verfrachtet zu werden, um im Ödland und Dschungel der sogenannten »Neuen Wirtschaftszonen« am Aufbau der sozialistischen Zukunft mitzuwirken.
Ich versuchte in jenen Tagen nicht, alte Bekannte wiederzutreffen. Ich hätte sie nur kompromittiert und gefährdet. Als
ich unseren ehemaligen Kamera-Assistenten Cuc zufällig traf,
einen breitgewachsenen Halbkambodschaner, der für seine
unverwüstliche Laune bekannt war, umarmte er mich trotzdem in aller Öffentlichkeit und flüsterte mir zu: »Wäre ich
nur damals geflohen, als es noch möglich war.« Angeblich
steuerte er jetzt eine jener riesigen amerikanischen Limousinen, die – knallrot angestrichen – in besseren Zeiten für
Hochzeitsumzüge benutzt worden waren. Diese bunten Monstren standen jetzt fremd wie Saurier einer anderen Epoche im
abendlichen Dunst der Regenzeit.
Die Besitzerin des letzten Friseursalons winkte mir hinter
ihrem beschlagenen Schaufenster zu. Sie demonstrierte Mut
und Charakter auf ihre Weise, indem sie ihr Make-up pflegte
und sich weiterhin elegant trug, während die übrige Weiblichkeit von Ho Tschi Minh-Stadt sich wohl oder übel der Prüderie
der neuen Kommissare beugen mußte. Die Ao Dai-Tracht,
jenes bunte Schmetterlingskleid der Vietnamesinnen, die
züchtig und verführerisch zugleich, jeden Besucher Indochinas
entzückt hatte, war aus dem Straßenbild verschwunden. Hohe
Absätze waren verpönt, und ein rotes Minikleid, das man im
Vorüberfahren entdeckte, wirkte wie eine konterrevolutionäre
Provokation. Doch im Friseursalon der Rue Catinat wachte
die Chefin darüber, daß ihre Mädchen in den kurzen weißen
Kitteln adrett blieben wie in früheren Zeiten, und scheinbar
ebenso sorglos wurde dort geplappert und gekichert. Dabei
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wußte jeder, daß es bis zur Schließung höchstens noch ein
paar Wochen dauern konnte, und die Besitzerin – plötzlich
ernst werdend – sprach von Verwandten in Paris und den
Bemühungen ihrer Familie, nach Frankreich auszuwandern.
»Sie wissen gar nicht, wie bestechlich diese Tugendbolde,
diese angeblichen Puritaner aus dem Norden sind. Gold
muß man besitzen, um die Ausreisegenehmigung zu bekommen.« Vermutlich stand jeden Morgen, sobald bei Tagesanbruch die Sperrstunde zu Ende ging, ein Familienangehöriger
der Friseuse in jener endlosen Schlange vor den Toren des
französischen Generalkonsulats und hoffte auf die Erteilung
eines Kollektiv-Visums. Es gehörte Trotz und Verzweiflung
dazu, denn jeder Antragsteller wurde von den Sicherheitsorganen und Spitzeln registriert.
Im Friseursalon hatte ich am Tage zuvor einen ungewöhnlichen Typ entdeckt, der mich erheblich beeindruckte, obwohl
ich unter anderen Umständen allenfalls mit einem Achselzucken an ihm vorbeigegangen wäre. Es war ein etwa
fünfundzwanzigjähriger Vietnamese, den man zu Zeiten des
General Thieu mit einem leicht antiamerikanischen Unterton
als »Cowboy« bezeichnet hätte. Er trug die engsten Jeans
von Saigon, Texas-Stiefel, ein knallbuntes Hemd, das bis zum
Gürtel geöffnet war und auf der Brust verschiedene Ketten
und goldene Anhänger entblößte. Vor allem aber war sein
Haarwuchs aufsehenerregend. Die schwarzen Strähnen fielen
wohlgeordnet bis auf die Schultern, und jetzt ließ er sich – in
einen. Friseursessel geräkelt – die Hände maniküren. Dabei
plauderte er wie in alten Zeiten. Würde dieser letzte Cowboy,
der wie eine Karikatur eines vietnamesischen Zuhälters aufgeputzt war, schon am nächsten Tag in einem Umerziehungslager verschwinden? Wurde er von der roten Geheimpolizei als
»agent provocateur« benutzt? Oder demonstrierte er lediglich
auf seine Weise Courage vor dem Untergang? Ich erinnerte
mich an jenen ehemaligen französischen KZ-Häftling, der mir
einmal gesagt hatte: »In den Lagern gab es zwei Gruppen
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von Gefangenen, die an Mut nicht zu überbieten waren, eine
gewisse Kategorie von Adligen und die Zuhälter.«
Unsere offiziellen Begleiter vom Informationsdienst hatten
uns gewarnt. Nach Einbruch der Dunkelheit mußten wir auf
den Straßen mit Taschendieben, ja mit Raubüberfällen rechnen. Das waren keine leeren Redensarten. Ein DDR-Diplomat
war sogar am hellen Tag ausgeplündert worden. Wir gingen
deshalb mitten auf der Fahrbahn. Der kümmerliche Autoverkehr war längst zum Erliegen gekommen. An allen Kreuzungen
standen Soldaten oder Polizisten mit schußbereiten Schnellfeuergewehren vom Typ AK 47. Ursprünglich hatten wir auf
einem Flußboot zu Abend essen wollen, im »My Cat«-Restaurant, das während des Krieges einmal von Kampfschwimmern
des Vietkong gesprengt worden war. Es hatte damals viele Tote
und Verletzte unter den amerikanischen Gästen und ihren vietnamesischen Mädchen gegeben. Aber das »My Cat«, früher ein
überwiegend chinesischer Betrieb, war am gleichen Tage verstaatlicht worden. So suchten wir das letzte private, das letzte
französische Speiselokal von Ho Tschi Minh-Stadt auf. Es hieß
»Valenco«, und sein Besitzer, ein etwa fünfzigjähriger Korse
namens Dominique, war für jeden Kriegskorrespondenten ein
Begriff gewesen. Ob er ein Überlebender jener korsischen
Mafia war, die zur französischen Zeit die diversen Gewerbe
von Saigon vordergründig beherrscht hatte, konnte niemand
beweisen. In Wirklichkeit waren die Korsen, die sich am Piaster-Handel bereicherten, kleine Fische gewesen neben den
Spekulanten und Finanzmagnaten, die in der chinesischen
Zwillingsstadt von Saigon, in Cholon, die Fäden zogen.
Ich trat in die Kneipe Dominiques ein und fühlte mich um
dreißig Jahre zurückversetzt. An den Tischen saßen Gruppen
von jungen Franzosen mit militärisch kurzem Haarschnitt,
sonnenverbrannt wie Soldaten, die aus dem Reisfeld kamen.
Es waren Angestellte einer großen französischen Firma, die
im Bereich des Mekong-Stroms und im cochinchinesischen
Küstengebiet von dem zuständigen Ministerium in Hanoi mit
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Erdöl-Prospektionen beauftragt worden war. Bei Dominique
suchten diese jungen Franzosen ein Stück Heimat. Sie waren
laut und unbekümmert.
Dominique, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Filmschauspieler Michel Piccoli besaß, stand schwermütig hinter
der Theke. Sein Gesicht hellte sich auf, als er mich erkannte.
Die Ankunft eines westlichen Außenseiters und eines Ancien
d’Indochine war für ihn ein gewisser Trost. Am Morgen waren
die Behörden bei ihm gewesen, und nun sollte er eine gewaltige Summe an Steuerrückständen bezahlen, ehe man ihm die
Heimreise nach Frankreich erlaubte. Denn ausreisen wollte
Dominique, koste es, was es wolle. Er hatte sich verspekuliert.
Er hatte gedacht, daß für seinen Betrieb vielleicht doch
noch ein Platz sein würde im neuen sozialistischen Vietnam.
Diese Illusion hatte er längst verloren. Er erging sich in bitteren politischen Betrachtungen und übertrug seine indochinesischen Erfahrungen auf das französische Mutterland:
»... und ich Idiot«, rief Dominique, »habe bei den letzten
Präsidentschaftswahlen für Mitterrand und die Linke gestimmt.
Aber glaube mir, wenn ich daheim in Korsika bin, werde ich
eine Kampagne führen gegen diese rote Pest...«. Zwischen den
Cognac- und Aperitifflaschen, die immer spärlicher wurden,
stand eine Büste Napoleons, und neben dem Barspiegel hing
der Spruch: »Suis Corse, en suis fier – Korse bin ich und stolz
darauf.«
Wir sprachen von alten Bekannten und Freunden aus zwei
Indochina-Kriegen. Die einen hatten Karriere gemacht. Die
anderen waren in den Mühlen der Entkolonisierung verkommen und untergegangen. Es war ein nostalgisches Gespräch,
und ich kam mir neben den munteren Petroleumsuchern
unendlich erfahren und verbraucht vor.
Hinter der Kasse saß Violette, eine niedliche Eurasierin.
Ich hatte eine Botschaft für sie aus Hanoi. Ein Angehöriger
der französischen Vertretung dort hatte ihr eine Gefälligkeitsbescheinigung zukommen lassen, damit sie nach Frankreich
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ausreisen könne. Das würde wohl nicht ausreichen, sagte
Violette, die bei allem Unglück die Koketterie nicht vergaß.
Sie setzte sich zu uns an den Tisch. Zur offiziellen Ausreise
fehlte es ihr an Geld. Die Boote seien selten und schwer
erreichbar geworden, seit selbst die Fischer kaum noch Brennstoff für ihre Kutter erhielten. Man spreche neuerdings von
Fluchtmöglichkeiten über das Hochland von Annam und Laos.
Dort befände sich ein Teil der Gebirgsstämme der »Moi« oder
»Montagnards« im Aufstand. Aber das sei unendlich beschwerlich, und die meisten seien auf diesem Weg umgekommen. Sie
werde wohl eines Tages in eine jener trostlosen Neusiedlungen auf dem flachen Land verschickt werden, wenn sie nicht
sogar in ein Umerziehungslager eingewiesen würde. Dominique, mit dem sie zusammengelebt hatte, würde sie nicht mehr
lange schützen können.
Es gab noch ein zweites Mädchen im »Valenco«. Sie hatte
mit den jungen Franzosen geschäkert. Man spürte, daß sie
den einen oder anderen sehr intim kannte. Vanh, »Wolke«, so
nannte sie sich, und hatte ein Stirnband um den Kopf gewunden, was ihr das verwegene Aussehen eines Piraten gab. Sie
hatte ein schönes, sehr asiatisches, breitknochiges Gesicht und
bewegte sich mit der animalischen Sicherheit, die nur ein perfekter Körper verleiht. Angezogen war sie mit T-Shirt und
Jeans. »Wie ein Voyou, wie ein Straßenjunge laufe ich herum«,
sagte sie lachend, als sie zu uns an den Tisch kam. »Früher trug
ich die schönsten Kleider von Saigon, als mein Vater noch Polizei-Kommandant von Can Tho war. Heute ist mein Vater
gefangen oder tot, und ich muß mich durchschlagen ... mit
allen Mitteln.« Es gehörte wenig Scharfsinn dazu, um zu
erraten, warum ausgerechnet die Tochter eines hohen Polizeioffiziers des früheren Regimes in der letzten westlichen
Bar als Animierdame auftreten durfte. Sicherlich mußte Vanh
jeden Morgen bei einem jener griesgrämigen und unerbittlichen Sicherheitskommissare der Revolutionsbehörden Bericht
erstatten über das, was die Franzosen bei Tisch und auf dem
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Kopfkissen erzählt hatten. Nun, sie konnte dann wiedergeben,
daß diese Petroleumexperten – wie viele junge Franzosen ihres
Alters und ihres Standes – als Parteigänger der französischen
Links-Union, als Sozialisten oder sogar als Kommunisten nach
dem wiedervereinigten Vietnam gekommen waren und daß
sie sich in wenigen Wochen Aufenthalt in der Demokratischen
Republik Vietnam zu rabiaten Antikommunisten gewandelt
hatten. Auch uns erzählten sie von den überfüllten Gefangenenlagern, die sie im Mekong-Delta gesehen hatten, von der
Unterdrückung der Bevölkerung, von der Willkür und der
Korruption der roten Partei-Kaders. Sie hatten die Inkompetenz und Schwerfälligkeit der staatlichen Wirtschaftsorgane
am eigenen Leibe erlebt und festgestellt, daß im Gebiet der
buddhistischen Hoa-Hao-Sekte bewaffneter Widerstand geleistet wurde. Sie hatten sogar Artilleriefeuer gehört, als sie im
Flußbett des Mekong bei Vinh Long nach Erdölspuren suchten, aber nicht geahnt, daß der dritte Indochina-Krieg, die
blutige Konfrontation zwischen Vietnam und Kambodscha,
bereits angebrochen war und daß sie dessen erste unfreiwillige
Zeugen wurden.
Die Tür öffnete sich, und mit Schwaden Feuchtigkeit kam
ein alter, zerbrechlicher Mann in abgewetzter Kleidung herein.
Er trug eine Gitarre, begrüßte Dominique, setzte sich auf
einen Stuhl und begann mit heiserer, kläglicher Stimme auf
französisch zu singen. Es begann mit einem Lied, das in den
dreißiger Jahren auch in Deutschland beliebt gewesen war:
»Es war einmal ein Musikus, der spielte im Café ... Il était un
musicien ...« Dann kam eine französische Weise, deren Text
sich mir einprägte: »Adieu, le temps des amours, adieu, le
temps des aventures...« Von diesem Greis gesungen, der damit
um ein paar Piaster bettelte, war es ein unendlich trauriges
Lied. Ich vereinbarte mit dem Sänger, er solle am nächsten
Tage wiederkommen, damit wir ihn für unsere Dokumentation
filmen könnten. Er sagte zu, aber er kam dann nicht zur Verabredung. Wir haben ihn nicht mehr gesehen.
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Drei neue Gäste waren an die Bar getreten, Vietnamesen.
Es konnte sich nur um Spitzel oder Polizisten in Zivil handeln. Ein gewöhnlicher Einwohner Saigons hätte es niemals
gewagt, diesen Treffpunkt westlicher Ausländer aufzusuchen.
Die Blicke der Franzosen wurden feindselig. Dominique ließ vor
Nervosität ein Glas fallen. Die Gesichter der beiden Mädchen
waren erstarrt. Die Reaktion war stets die gleiche, wenn die
Repräsentanten des nordvietnamesischen Sicherheits- und
Unterdrückungsapparats auftauchten. Die Bevölkerung setzte,
sobald es zu Zwischenfällen, Verhaftungen oder auch nur Kontrollen kam, eine Maske auf, hinter der sich Furcht, Verachtung und Haß verbargen. »Voilà les Bo-Doi«, flüsterte Vanh.
Bo-Doi, das war einmal ein Ruhmestitel gewesen, und die
Presse hatte dieses vietnamesische Wort sogar im Westen heimisch gemacht. Bo-Doi, so hieß es irrtümlich in französischen
Gazetten, bedeute in der Übersetzung »barfüßiger Soldat«. In
Wirklichkeit sind damit Krieger gemeint, die sich auf dem
flachen Land und im Dschungel bewegen, kurzum Partisanen. Wie gesagt, der Begriff Bo-Doi war ursprünglich mit
Respekt und Prestige umgeben. Aber seit dem Sieg des Nordens war Bo-Doi zum Schimpfwort und zum Fluch bei den
Saigonesen geworden. Bo-Doi, das hieß Bauerntölpel und
brutaler Unterdrücker. Bo-Doi, das waren die Barbaren, die
aus dem rückständigen Norden kamen, die alle erdenklichen
Konsumgüter davonkamen, die alle Schlüsselstellungen besetzten. Für die Barmädchen kam ein zusätzlicher Makel dazu.
Die Bo-Doi waren jene Soldaten und Funktionäre, die so lange
Jahre des Krieges in ihrer asketischen Männergemeinschaft
verbracht hatten, daß viele von ihnen homosexuell geworden
waren und dem Liebreiz der koketten Frauen von Saigon mit
empörter Hilflosigkeit begegneten.
Auf dem Rückweg zum »Majestic« standen tatsächlich ein
paar Prostituierte am Eingang der »Straße der Volkserhebung«. Die eine näherte sich und grüßte mit »Sdrawstwujte«
auf russisch. Sie hatte uns wohl für Repräsentanten der Sowje-
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tunion gehalten. Wir warfen noch einen Blick in den Speisesaal des Hotel Majestic. Die alten Kellner dort, wie auch die
übrigen Einwohner von Saigon, behandelten uns mit ausgesuchter, wenn auch mit melancholischer Freundlichkeit, sobald
sie uns als westliche Ausländer erkannten. Es mischte sich in
diese offen zur Schau getragene Sympathie wohl auch die leise
Hoffnung, daß die Tür noch nicht endgültig zugeschlagen sei,
daß sich vielleicht doch eines Tages ein Spalt zu einem besseren, freieren Dasein wieder öffnen würde.
Nur ein Tisch im Restaurant war noch besetzt. Dort saßen
Russen mit den obligaten vietnamesischen Begleitern. Es
mußte sich um eine Gruppe sowjetischer Techniker handeln.
Sie waren unelegant gekleidet und hatten grobe Gesichter,
die sich von den feinen Zügen der Asiaten besonders unvorteilhaft abhoben. Ihre Bewegungen waren schwerfällig, aber
die Stimmen stets gedämpft. Sie wirkten gar nicht unsympathisch, diese Werktätigen aus der Sowjetunion, aber ihre
Mienen waren wie von einem steten Kummer gekennzeichnet. Es wurde weder gescherzt noch gelacht. »Wie sollte
man an Lenin glauben, wenn seine Erlösten so unfroh und
gedrückt wirken«, hatte mir in Umdeutung des Nietzsche-Wortes ein schwedischer Diplomat in Hanoi gesagt. Die vietnamesischen Dolmetscher am Russentisch verhielten sich wie
Musterschüler.
Etwas von der Angst, von der Wut, vor allem von der Trauer,
die über Saigon lastete, hatte sich auf mich übertragen, als ich
vom Zimmerfenster in die Dunkelheit blickte. Unten hallten die
Schritte einer schwerbewaffneten Streife von Bo-Doi. Wie oft
hatte ich von der Höhe dieses Hotels auf das gegenüberliegende
Ufer des Saigon-Flusses geblickt, auf jene Sumpflandschaft,
die Rungsat genannt wurde.
Beide Kriege hindurch, im französischen und im amerikanischen, hatten sich Vietminh und Vietkong in diesen
Mangrovenwäldern festgesetzt. Gelegentlich hatten sie vom
Rungsat aus ihre Raketen auf das Zentrum der Stadt gerich-
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tet. Damals war diese finstere Ebene durch Leuchtraketen
wie durch ein pünktliches Feuerwerk erhellt worden. Aber in
dieser Nacht flackerte nur an dem Vorsprung, den man einst
La pointe des blagueurs – die Plauderecke nannte, eine Ölfunzel
und warf einen gelben, zittrigen Streifen auf die düsteren
Wasser des Saigon-Flusses. Im Winter 45/46 hatte ich dort zum
erstenmal den Boden Indochinas betreten.
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DER ERSTE INDOCHINA-KRIEG
Die Franzosen
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Ihr fahrt in die falsche Richtung
An Bord der »Andus«, Ende 1945
Der Truppentransporter »Andus«, 26 000 BRT, war von der
Royal Navy ausgeliehen. Es lief so manches auf Pump bei den
französischen Streitkräften in jenen Tagen. Die Nation hatte
sich von der Niederlage des Jahres 1940 weder moralisch noch
materiell erholt. Die britischen Seeleute der »Andus« blickten
mit einiger Verwunderung auf die Angehörigen dieser Kolonialarmee, die sie nach Fernost geleiten und die dort offenbar
das französische Versagen im Mutterland wettmachen sollten.
Der Krieg gegen Japan, in den de Gaulle sich noch in aller
Eile hatte drängen wollen, war zu Ende gegangen, ohne
daß eine einzige französische Einheit daran teilgenommen
hätte. In Sichtweite der »Andus« folgte ein anderes Truppenschiff ähnlicher Tonnage. Neben dem Union Jack führte
es die niederländische Fahne. Holländische Kolonial-Truppen
waren nach Batavia unterwegs. Im Roten Meer begegnete die
»Andus« ganzen Konvois, die in entgegengesetzter Richtung
nach Europa steuerten und an deren Masten Siegeswimpel
flatterten. An Deck standen britische Veteranen des BurmaFeldzugs, die auf ihre heimischen Inseln, in den Frieden und
den Alltag zurückkehrten. Durch den Feldstecher konnte man
ihre von der Tropensonne geröteten Gesichter erkennen, auf
denen sich die hemmungslose Freude spiegelte, den Gefahren
des Dschungels und eines unerbittlichen Gegners entronnen
zu sein. Die Engländer winkten den französischen Soldaten
der »Andus« sowie den Holländern ausgelassen zu. Durch ein
Megaphon war eine englische Stimme mit spöttischem Unterton zu hören: »You are going the wrong way ... Ihr fahrt in die
falsche Richtung!« – »Was wollen diese Briten schon wieder?«
fragte ein beleibter französischer Schreibstuben-Major mit
tiefer Mißbilligung in der Stimme.
Es war eine absurde Situation. In London, wo seit kurzem
die Labour Party regierte, hatte man sich kurzerhand ent-
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schlossen, den Empire-Träumen – Kipling hin, Kipling her
– den Rücken zu kehren und den indischen Subkontinent
in die Unabhängigkeit zu entlassen. In Burma hatte die britische Armee nach anfänglichen Rückschlägen eine letzte große
Schau abgezogen. Mit der geschwellten Brust des Siegers
konnte sie nun von der Szene abgehen, und Admiral Mountbatten würde dem Abschied von Delhi Statur und Allüre verleihen. Doch die Unterlegenen der ersten Runde, die Zufallssieger der letzten Stunde, Franzosen und Holländer, die klammerten sich an die Fata morgana ihrer einstigen überseeischen
Herrlichkeit, an Indochina und an Indonesien.
Die jungen französischen Offiziere litten unter der
Enttäuschung, zu spät zu kommen und nunmehr einem zweitrangigen Unternehmen entgegenzusehen. Manche hatten unter
de Gaulle bei den »Freien Franzosen« gedient – von der VichyRegierung als Landesverräter deklariert – oder hatten sich
in Nordafrika unter amerikanischem Oberbefehl der Armee
angeschlossen; die meisten jedoch hatten die Demütigung der
deutschen Besatzung auskosten müssen. Diese Schmach der
Niederlage und der Unterwerfung suchten sie nun im Wasser
des Mekong-Stroms und des Roten Flusses abzuwaschen. Insgeheim bangten sie davor, in ein befriedetes, in Treue zu Frankreich verharrendes Indochina zurückzukehren. Es dürstete sie
nach exotischem Abenteuer, nach den émotions fortes – dem
starken Erlebnis. Vermutlich hatten die wenigsten dieser Leutnants Jean-Paul Sartre gelesen, aber sie waren auf ihre Art
Existentialisten in Uniform. Sie suchten die Wege der Freiheit,
les Chemins de la Liberté in einem tropisch-kriegerischen SaintGermain-des-Prés ihrer Phantasie. »Endlich ein Stück Erde
finden ohne Asphalt...« schrieb einer von ihnen in sein Tagebuch.
An Bord der »Andus« befanden sich zwei Kompanien
Fremdenlegionäre. Zu zwei Dritteln waren sie Deutsche. Die
meisten von ihnen kamen aus französischer Kriegsgefangenschaft, wo sie halb verhungert waren. Sie hatten sich nach
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Indochina gemeldet, weil sie die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihren im Osten vermißten Angehörigen ohnehin aufgegeben hatten oder weil sie sich ganz einfach sattessen wollten. Einige hatten bei der SS gedient und wollten die Entnazifizierungsverfahren in der Heimat meiden. Die deutschen
Legionäre sangen abends ihre alten Wehrmachtslieder, wo von
Erika und Heide, von Lore und Försterwald die Rede war. Sie
ahnten nicht, daß die Gegner von gestern, die des Refrains
von der Madeion überdrüssig geworden waren, diese martialischen Weisen Germaniens übernehmen und daß zwanzig
Jahre später französische Rekruten zum Takt der Blauen Dragoner marschieren würden.
Die interessantesten Fälle waren die belgischen Legionäre.
In Wirklichkeit handelte es sich um Franzosen, die, um
in dieser Ausländertruppe dienen zu können, eine falsche
Staatsangehörigkeit angegeben hatten. Es waren keine schweren Jungens oder gewöhnliche Kriminelle, wie sie vor 1939
häufig in der Legion untergetaucht waren. Die falschen Belgier
waren französische Kollaborateure, die im Krieg auf deutscher
Seite in der »Legion gegen den Bolschewismus« und später
in der SS-Brigade »Karl der Große« gedient hatten. Soweit
sie nicht durch Einsätze gegen die eigene Resistance im Mutterland belastet waren, hatte de Gaulle ihnen die Chance der
Rehabilitierung geboten. Fünf Jahre Dienst in der Fremdenlegion in Indochina, und mit weißer Weste könnten sie wieder in
die Heimat zurückkehren. Neben den Deutschen, unter denen
Prahler und Mythomane das große Wort führten und wo es von
angeblichen U-Boot-Kapitänen und Ritterkreuzträgern wimmelte, machten die »belgischen Franzosen« einen ernsten und
nachdenklichen Eindruck. Die Trümmer der Brigade »Charlemagne« hatten in Pommern Nachhutgefechte gegen die
vorrückenden Russen geführt und waren dort weitgehend aufgerieben worden, ehe die Überlebenden den Führerbunker in
der Reichskanzlei verteidigen durften.
Im Gegensatz zu den regulären Freiwilligen für Fernost, die
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die japanische Kapitulation in ihren Einschiffungs-Lagern bei
Marseille mit Enttäuschung quittiert hatten, betrachteten die
ehemaligen französischen Ostfrontkämpfer die kriegerische
Kursänderung mit heimlicher Genugtuung. »Unser wirkliches
Ziel ist nicht Saigon oder Hanoi«, so flüsterte ein blutjunger
Legionär, der unter der Anonymität des weißen Képi den
Namen eines berühmten französischen Geschlechts verbarg,
»Indochina ist nur eine Durchgangsstation. Das wirkliche Ziel
unseres Einsatzes wird schon in naher Zukunft Wladiwostok
und die sowjetische Fernost-Provinz heißen.« Der Ost-WestKonflikt, der Kalte Krieg hatte begonnen. Das hatte sich sogar
auf der »Andus« herumgesprochen, während sie durch die
phosphoreszierenden Fluten des Indischen Ozeans auf die
Straße von Malakka zusteuerte.
Die Kajüten waren überbelegt und stickig. Nachts standen
die Soldaten, solange sie konnten, auf Deck, schnappten Luft,
spielten Belote und spähten in die immer wärmer und feuchter werdende Dunkelheit. Auch die Angehörigen des weiblichen Hilfspersonals, die sogenannten AFAT, trieben sich um
diese Zeit in der Nähe der Rettungsboote herum und warteten
auf die galante Gesellschaft eines Offiziers. Dann genügte es,
die Plane beiseite zu schieben, um zwischen Ruderbänken und
Steuer ein Liebesnest zu finden. Die meisten dieser ArmeeMädchen bewegten sich unter so vielen Männern völlig ungeniert. Sie waren stark geschminkt und so burschikos, daß sehr
bald die Vermutung aufkam, sie hätten gute Gründe, das Mutterland zu meiden, die einen, weil sie einen deutschen Besatzungssoldaten geliebt, die anderen, weil sie ihr uraltes Gewerbe
in einem Wehrmachts-Bordell ausgeübt hätten. Es gab eben
viele Neider und viel Samenkoller an Bord der »Andus«.
Ein schmalbrüstiger Kavallerieleutnant, der mit seinem
blonden Schnurrbart und blassem Teint besser in einen ProustRoman gepaßt hätte, zitierte ein Gedicht von Hérédia. »Wie ein
Falkenflug ... Müde ihr hochmütiges Elend zu ertragen ... Trunken von einem kriegerischen und brutalen Traum ...«, so klan-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
23
gen die schwülstigen Verse der »Conquistadors«, die jedem
französischen Gymnasiasten vertraut waren. »... über den Bug
ihrer weißen Caravellen geneigt, entdeckten sie bei Nacht jene
neuen Gestirne, die aus der Tiefe des Meeres in ein unbekanntes Firmament stiegen.«
Buddha auf dem Tiger
Cochinchina, Anfang 1946
Sobald die Wagenkolonne Saigon verlassen hatte und die
Gummibaum-Plantagen der nordwestlichen Nachbarprovinz
erreichte, wurden die Spuren des Partisanenkrieges sichtbar.
Die Asphaltstraße war durch tiefe Gräben zerwühlt, die die
Bauern unter Anleitung der roten Kommissare bei Nacht
immer wieder ausheben mußten. Die Ausschachtungen waren
so regelmäßig, daß sie von den Franzosen »Klaviertasten«
genannt wurden. Der Morgenhimmel färbte sich im Osten
grüngelb. Wir fuhren in Richtung Tay Ninh, und bald entdeckten wir jenseits der Palmwedel und der endlosen Reisfelder
einen finsteren Gebirgskegel, der sich bedrohlich aus der platten Ebene erhob. Der Felsen hieß »schwarze Jungfrau« und
signalisierte die kambodschanische Grenze. Wer ahnte damals
schon, daß eines Tages die amerikanischen GI’s zu dieser
»Black Virgin« wie zu einer Rachegöttin aufblicken würden.
Wir ließen die Fahrzeuge und die Straße hinter uns. Horden
von Affen huschten durch das Bambusdickicht. Viel zu schnell
stieg die Sonne zum Zenit. Das Vogelgezwitscher erstarb
mit der aufkommenden Hitze. Das Grün der Pflanzen wurde
schwarz. Die Luft flimmerte. Für das Commando handelte es
sich um ein Routine-Unternehmen. Die Soldaten gingen so
lange als klar erkennbare Silhouetten über die Dämme, die
die nackten Reisfelder unterteilten, bis von irgendwo auf sie
gefeuert wurde. Die Gefahr war gering, die vietnamesischen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
24
Freischärler der ersten Stunde waren kümmerlich bewaffnet
und noch schlechter ausgebildet. Verluste bei den Franzosen
gab es nur, wenn Angehörige der »Kempetai«, der japanischen
Feldgendarmerie, die in Saigon als Kriegsverbrecher gesucht
wurden, die Aufständischen verstärkten und anleiteten. Stunden dauerte nun schon der Marsch, der sich in einem halben
Bogen um die »Schwarze Jungfrau« zur kambodschanischen
Grenze bewegte. Die Reisfelder waren von der Sonne zu steinhartem Ziegel gebrannt worden. Wie in einer Fiebervision
blickten die Männer des Commandos auf die Risse im lehmigen
Boden und das unregelmäßige Muster der verdorrten Pflanzenstummel. Der Schweiß lief brennend in die Augen. Aus
einem Gehöft, das im Bambus verborgen lag, fielen ein paar
Schüsse. Die Franzosen orteten die Richtung, pflanzten das
Bajonett auf ihre speziell für den Nahkampf getrimmten StenMaschinenpistolen und stürmten aus der Hüfte schießend auf
das Dickicht zu. Ein paar Schatten huschten über das Reisfeld, gerieten in die Garbe des leichten Maschinengewehrs, das
bereits in Stellung gegangen war, und kippten um.
Wir näherten uns den Toten. Es war ein jämmerlicher
Anblick: kleine gelbe Puppen mit verrenkten Gliedern. Ihre altmodischen Lebel-Gewehre lagen wie Spielzeuge neben ihnen.
Die dürren sehnigen Beine steckten in kurzen Hosen. Von Uniformierung war nicht die Rede, aber auf ihre schwarzen Kittel
hatten sie den roten Stoffetzen mit dem gelben Stern genäht,
das Wahrzeichen der indochinesischen Revolution. Die Gefallenen waren also keine Angehörigen jener seltsamen Cao DaiSekte, die in Tay Ninh ihr bombastisches Heiligtum besaß
und ebenfalls gegen die Franzosen kämpfte, sondern es handelte sich um Partisanen des Vietminh, jener kommunistischen
Befreiungsfront Vietnams, die von nun an unter wechselnden
Bezeichnungen die Weltöffentlichkeit dreißig Jahre lang in
Atem halten sollte.
Die Dörfer im Umkreis waren beim Nahen der fremden
Soldaten von ihren Einwohnern fluchtartig verlassen worden.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
25
Es waren bescheidene rechteckige Hütten. Die Möblierung
beschränkte sich auf eine breite Holzpritsche und ein paar
Matten. Aber nirgendwo fehlte der Ahnenaltar. In diesen Katen
herrschte peinliche Ordnung und Sauberkeit. Sie wären für
einen Europäer durchaus bewohnbar gewesen. Die Soldaten
füllten ihre Feldflaschen in den dickbauchigen Tonkrügen,
die vor jedem Haus standen. Das Wasser war schlammig und
lauwarm. Kein Wunder, daß die Ausfälle durch Amöbenruhr
immer zahlreicher wurden. Vor dem Weitermarsch wurde
Feuer gelegt. Ein Streichholz genügte, und schon brannten die
Strohdächer lichterloh. Die Wasserbüffel, die die Reisbauern
bei ihrer Flucht zurückgelassen hatten, wurden abgeknallt.
Auch ein kleiner Cao Dai-Tempel ging in Flammen auf. Es
gelang mir, durch den Qualm noch einen letzten Blick auf den
schmucklosen Tisch zu werfen, wo die Heiligen dieser konfusen synkretistischen Religion aufgereiht waren. Ein kleiner
dickbauchiger Buddha aus Ton fiel mir auf, der mit einem
spitzbübischen Lächeln die Patschhändchen hob und dabei
auf einem Tiger ritt.
Beim nächsten Überfall büßte das Commando einen Toten
und zwei Verwundete ein. Dafür trieben die Leichen von
zehn roten Partisanen im fauligen Wasser des nahen Irrigationsgrabens. In einem größeren Gehöft fand die Lagebesprechung statt. Oberst Ponchardier, von seinen Soldaten »Pascha«
genannt, war mißmutig. Das war kein Krieg nach seinem
Geschmack. Der gedrungene, wie ein Catcher gebaute Mann,
der ein wenig aussah wie der Schauspieler Lino Ventura, hatte
seine Sondertruppe einmal darauf getrimmt, gemeinsam mit
dem britischen Special Air Service über Singapur abzuspringen. Die Partisanenbekämpfung in Cochinchina war dafür kein
Ersatz. Ponchardier war von seinen Männern nicht zu unterscheiden, wie er mit nacktem Oberkörper auf dem grünen
Dschungelhut saß und die Maschinenpistole stets in Reichweite hielt. Am Koppel trug er eine altertümliche Autohupe,
die er im Einsatz gelegentlich quäken ließ, wie andere zum
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
26
Sammeln blasen. Der »Pascha« war mit seiner kleinen Einheit von 150 Mann dem französischen Oberbefehlshaber in
Indochina unmittelbar unterstellt. Seine Soldaten grüßten nur
die eigenen Offiziere und blickten mit einiger Herablassung
auf die übrigen Regimenter des Expeditionskorps herab, die
ihnen nach Saigon gefolgt waren.
Als junger Offizier war Ponchardier schon 1940 zu den
»Freien Franzosen« de Gaulles gestoßen und hatte im französischen Untergrund der Besatzungszeit mit seinem Bruder
Dominique, der ihm verblüffend ähnlich sah, die Widerstandsorganisation »Sosias« gegründet. Mit Hilfe eines gezielten
Bombardements der Royal Air Force hatte er die inhaftierten
Résistance-Kämpfer aus dem Gestapogefängnis von Amiens
befreit. Bruder Dominique hatte die halb heldischen, halb pikaresken Taten dieses seltsamen Paares in seinem Buch »Pflastersteine der Hölle« festgehalten und das eigenartige Gefühl
beschrieben, das einen Untergrundchef überkommt, wenn er
das erste Mal mit nackter Hand einen Verräter in den eigenen
Reihen erwürgen muß. Pierre Ponchardier ist einige Jahre
nach dem Ende des Algerienfeldzuges als Admiral – denn er
kam aus der Marinefliegerei – über Senegal tödlich abgestürzt.
Dominique hingegen brachte es zum Botschafter in Bolivien
und Hochkommissar in Dschibuti. Aber als seinen größten
Erfolg betrachtete er die Massenauflage der Spionage-Serie,
die den Abenteuern des »Gorilla« gewidmet war. Der »Gorilla«,
so meinte de Gaulle einmal, als er seinen Botschafter empfing,
sei wohl Dominique selbst.
Das Commando Ponchardier galt als rauhe Truppe von
Abenteurern und Schlägern. Aber auch brave Söhne aus sogenannten guten Familien waren dabei, die der Enge ihrer bürgerlichen Umgebung entfliehen wollten. An Originalen fehlte
es nicht: Ein China-Experte mit einem riesigen Adler auf der
tätowierten Brust, der die ergötzlichsten Anekdoten über die
Söhne des Himmels zu erzählen wußte; zwei Pariser Titis,
die dem Zuhältermilieu entsprungen schienen und denen man
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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zutraute, daß sie von dem Plünderungsrecht, das dem Commando angeblich im Kampfgebiet zugestanden war, Gebrauch
machten; ein paar junge Einzelkämpfer des Nachrichtendienstes DGER, sie waren nach der japanischen Kapitulation
im Gebirge von Tonking abgesprungen und hatten dort die
demoralisierten Trümmer der alten französischen IndochinaArmee vorgefunden, die sich während des Krieges zu Pétain
bekannt hatte und im März 1945, als sie sich in letzter Stunde
anschickte, gemeinsame Sache mit den Alliierten zu machen,
von den Soldaten des Tenno mühelos zerschlagen worden war.
Die Außenprovinzen und ethnischen Minderheiten der Grande
Nation waren stark vertreten: Elsässer und Korsen, Bretonen
und Basken. Man konnte sich schlecht vorstellen, wie diese
Männer nach der Entmobilisierung wieder in ein normales
Zivilleben zurückfinden würden. Dem »Pascha« waren sie teilweise selbst nicht ganz geheuer. »Wenn ich das nächste Mal
eine Truppe aufstelle«, so brummte er einmal, »werde ich mir
artige und solide Jungens aussuchen. Auf die Dauer sind die
tapferer und ausdauernder als die Ganoven, denen sehr schnell
der Schwung abgeht.«
Die Offiziere des Commandos sollten sehr unterschiedlichen
Schicksalen entgegengehen. Den Hauptmann Quilici, der wie
ein korsischer Bandit d’honneur wirkte, traf ich zwanzig
Jahre später als Oberst der Fallschirmjäger der Marineinfanterie im Tschad wieder, wo er die nördlichen Oasen in der Tibesti- und Enedi-Wüste inspizierte. Oberleutnant Augustin, der
schon damals den mönchischen Typus verkörperte, wie er im
französischen Offizierskorps häufig ist – Säbel und Ziborium
blicken hier auf uralte Verbindungen zurück –, kehrte nach
dem Algerien-Fiasko der Armee den Rücken und entsagte
als Laienbruder in einem Dominikanerkloster dem Glanz der
Waffen. Die erstaunlichste Karriere durchlief Capitaine Trinquier, der in der französischen Konzession von Schanghai bei
der Kolonialinfanterie gedient hatte, ehe er zu der Truppe Ponchardiers stieß. Der »Pascha« empfand wenig Sympathie für
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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diesen mediterran-schönen, allzu eleganten Mann, der selbst
im indochinesischen Busch mit einem Seidenhalstuch herumlief und sich durch gewählte Redensarten hervortat. Niemand
hätte Trinquier damals zugetraut, daß er in der letzten Phase
des französischen Fernost-Krieges hinter den Linien des Vietminh die Widerstandsnester des profranzösischen Gebirgsvolkes der Meo organisieren oder daß er im Nordafrika-Feldzug
mit der unerbittlichen Ausmerzung des Terrorismus in der
Kasbah von Algier beauftragt würde. Am Ende war er nach
dem Generalputsch gegen de Gaulle und seinem Ausscheiden
aus der Armee kurzfristig als Oberbefehlshaber der KatangaGendarmerie in die Dienste des Präsidenten Moise Tschombe
getreten.
Auf dem Weitermarsch stießen wir überraschend auf eine
Gruppe kambodschanischer Bauern. Sie näherten sich im
Gänsemarsch. Als Khmer waren sie an der dunklen Haut,
an den gekräuselten Haaren und am Sarong zu erkennen,
den sie um die Hüfte gewickelt hatten. Beim Anblick der
französischen Soldaten knieten sie nieder und falteten die
Hände in einer uralten Geste der Unterwerfung. Wir hatten
kambodschanisches Siedlungsgebiet erreicht. Die Häuser längs
der Wasserläufe standen auf Pfählen. Sogar die Landschaft
veränderte sich. Die Reisfelder wurden hier durch einsam
stehende, zerzauste Zuckerpalmen beherrscht. Im nächsten
Dorf wurden kräftige Kambodschaner als Träger rekrutiert.
Sie stellten sich gern den Franzosen zur Verfügung, wenn es
galt, ihre Erbfeinde, die Vietnamesen, zu töten. Im Gefecht
überwanden sie schnell ihre erste Panik und brachen bei jeder
Schießerei in kindliche Heiterkeit aus.
Das alte französische Fort von Tay Ninh mit seinen
Schießscharten, Zinnen und Türmen lag – aus der Ferne gesehen – wie ein Spielzeug in der Abendsonne. Es stammte aus
der frühen Zeit der Kolonisation, als die ersten französischen
Eroberer in Cochinchina noch gegen Flußpiraten kämpften.
Über den Klappbetten wurden Moskitonetze aufgespannt. Die
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
29
Dunkelheit kam plötzlich, und die Nacht war klebrig schwül.
Die Soldaten aßen ihre Rationen. Irgendwo war Rotwein
beschafft worden. Es ging laut zu in den Kasematten der
altertümlichen Festung. Im Laufe des Nachmittags war ein
Trupp der politischen Sonderpolizei aus Saigon eingetroffen,
überwiegend Eurasier. Sie hatten Gefangene verhört. Dabei
war gefoltert worden, wie wir bei unserer Ankunft im Fort
erfuhren. Den Verdächtigen waren die Köpfe so lange in
Wasserkübel getaucht worden, bis sie geständig wurden. Man
nannte das la baignoire – die Badewanne. La gégène, die elektrische Tortur mit Hilfe eines kleinen Generators, war damals
in Indochina noch nicht gebräuchlich. Aber die Asiaten, so hieß
es, verfügten über raffinierte und schreckliche Methoden, um
die Widerspenstigen zum Sprechen zu bringen. Wehe übrigens
dem Europäer, der den Partisanen lebend in die Hände
fiel! Wir hatten mehrfach die Leichen von Franzosen in den
Gewässern Cochinchinas treiben sehen, denen die Hoden in
den Mund gestopft und die mit einem Bambusrohr gepfählt
worden waren. Während die Truppe lärmte und nach kambodschanischen Mädchen verlangte, standen die vorgeschobenen Außenposten zu zweit und dritt am Rande des Dschungels. In dieser gefährlichen Einsamkeit schien die Wildnis von
den Geräuschen der Tierwelt zu dröhnen. Je kleiner ein Insekt
war, desto mehr Lärm veranstaltete es. Dazwischen huschte
und raschelte es. In der nächtlichen Natur fand ein gnadenloses Jagen und Morden statt. Nur die Angst vor der Blamage
hinderte die Posten daran, wahllos in diese trappelnde, surrende und quietschende Umwelt zu schießen, in deren Schutz
die Späher des Feindes heranschleichen konnten, ohne gehört
zu werden.
Die Offiziere verwerteten in einem Turmzimmer die Informationen, die ihnen ein Nachrichtenagent aus Saigon unterbreitete. Der Spezialist vom Zweiten Büro war ein Halbchinese mit einem lauernden Vogelgesicht. Er hatte maßgeblich
an den Folterungen teilgenommen. Die Franzosen hatten die
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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meisten Illusionen verloren, mit denen sie ursprünglich nach
Indochina zurückgekehrt waren. Damals waren die Sonderbeauftragten de Gaulles – teilweise schon vor der japanischen
Kapitulation – über den Aufstandszonen der Eingeborenen
mit Fallschirmen abgesprungen, weil man in Paris glaubte,
die antijapanischen Guerilleros würden sie als Freunde und
Befreier begrüßen. Die meisten dieser Wagemutigen waren
sehr schnell unter schrecklichen Qualen umgebracht worden.
Die Überlebenden – so der spätere Premierminister Pierre
Messmer – mußten froh sein, wenn die roten Partisanen sie in
Bambuskäfige sperrten, wo sie der Bespeiung der Bevölkerung
ausgesetzt und mit faulen Eiern beworfen wurden.
Der Mann vom Zweiten Büro wies auf eine Veränderung
in der politischen Lage im Raum Tay Ninh hin. Ursprünglich
hatte das Expeditionskorps den Hauptfeind in Indochina bei
jenen Sekten und Gruppen gesucht, die mit den Japanern paktiert und sich die Unabhängigkeit von Tennos Gnaden erhofft
hatten. Das war in den Provinzen rings um Tay Ninh vor allem
die Mischreligion des Cao Dai mit anderthalb Millionen Menschen. Im eigentlichen Mekong-Delta, am Rande der Schilfebene, war es die kriegerische Buddhistenbewegung der Hoa
Hao, die rund 600 000 Gefolgsleute zählte. Doch neuerdings
sahen sich diese wirren religiösen Eiferer, die über kampftaugliche Milizen verfügten, ihrerseits durch das Hochkommen der
roten Revolutionsfront des Vietminh bedroht. Sie reagierten
mit instinktiver Feindseligkeit gegen die materialistische Ideologie der kommunistischen Kommissare, der »Can Bo«, die mit
apostolischer Hingabe die Reisbauern aufwiegelten, und suchten bereits nach einem Auskommen mit der früheren Kolonialmacht unter der Voraussetzung, daß die Franzosen die Autonomie von Cao Dai und Hoa Hao respektieren würden. Von
nun an war klar, daß die Sekten wertvolle Verbündete sein
könnten, denn sie allein schienen über die unentbehrliche geistige Motivierung zu verfügen, um der ideologischen Sturmwelle des Kommunismus standzuhalten.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Der antikommunistische Flügel des vietnamesischen Nationalismus hatte noch das klägliche Schauspiel des Kaisers
von Annam, Bao Dai, zu deutsch »Bewahrer der Größe«, vor
Augen, der im April 1945 von den Japanern zum Staatsoberhaupt eines unabhängigen vietnamesischen Reiches proklamiert worden war und sich dabei auf die Nippon-freundliche
Dai Viet-Partei und die Mandarine von Hue stützte. Bao Dai,
der 1925 als Zwölfjähriger Kaiser geworden war, hatte sich
nur ein paar Wochen behaupten können gegenüber jenem
ziegenbärtigen Partisanenführer aus dem nördlichen Tonking,
der unter dem Namen Ho Tschi Minh in Hanoi die »Demokratische Republik Vietnam« ausgerufen hatte. Ho Tschi Minh
war für die französischen Nachrichtendienste kein Unbekannter. Als junger Photolaborant war er nach Frankreich gekommen und bereits 1920 bei der Gründung der Kommunistischen
Partei Frankreichs in Tours als fernöstlicher Genosse zugegen
gewesen. Später war er durch die Schule des Komintern gegangen, ehe er im Zweiten Weltkrieg von der südchinesischen
Grenze aus mit einem Häuflein Getreuer den Kampf gegen die
Japaner aufnahm. Zu jener Zeit genoß Ho Tschi Minh paradoxerweise die Unterstützung des amerikanischen Geheimdienstes OSS, der in der chinesischen Provinzstadt Kunming
basiert war und den Vietminh, die nationale Sammelbewegung der vietnamesischen Kommunisten, mit Waffen und Geld
unterstützte.
Der »Pascha« hoffte in jenen Tagen noch, daß sein Commando zu großen Taten berufen sein könnte. In der südlichen
Hälfte Indochinas hatte das französische Expeditionskorps
in einem Feldzug von Englands Gnaden wieder Fuß fassen
können. Aber nördlich des 16. Breitengrades, so war im Potsdamer Abkommen verfügt worden, – in Tonking, in Annam und
in Nord-Laos – waren die chinesischen Soldaten Tschiang Kaischeks, die Divisionen des Kuomintang, mit der Entwaffnung
der Japaner beauftragt worden. Sie hatten sich als neue Besatzungsmacht etabliert und dachten offenbar gar nicht daran,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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diese unerhoffte Eroberung an die ehemaligen französischen
Kolonialherren zurückzugeben. Wenn es nach Roosevelt gegangen wäre, der ein dezidierter und romantischer Anti-Kolonialist war, hätte kein französischer Soldat mehr nach Indochina
zurück gedurft. Aber Roosevelt war tot, als der Tenno kapitulierte, und die Briten sahen es wohl ganz gern, daß Franzosen und Holländer sich in ihren ehemaligen Besitzungen, die
die Japaner in Aufruhr und Chaos hinterlassen hatten, festkrallten. Vielleicht sollten sie dort den Ansturm des asiatischen
Nationalismus auf eine Pufferzone in Indochina und Indonesien ablenken, in deren Schutz Großbritannien – in den Augen
der Franzosen immer noch das »perfide Albion« – seine weitsichtige und liberale Commonwealth-Politik auf dem indischen
Subkontinent einleiten würde.
In jener Nacht von Tay Ninh waren sich die französischen
Para-Offiziere bereits im klaren, daß das Schicksal Vietnams
nicht im Schlamm des Mekong-Deltas und im südlichen
Cochinchina entschieden würde, sondern in jenem rauhen und
feindseligen Norden – damals noch Tonking genannt –, wo die
Soldaten der Nationalarmee Tschiang Kai-scheks und die Kommunisten Ho Tschi Minhs sich in feindseliger und mißtrauischer
Koexistenz gegenüberstanden. Dem »Pascha« war eine geheime
Mitteilung des General Leclerc, des französischen Oberbefehlshabers, zugekommen, derzufolge sich das Commando auf
die Möglichkeit eines Fallschirmabsprungs über Hanoi vorzubereiten habe. Das Unternehmen würde allerdings erst in die
operative Phase treten, wenn eine ausreichende französische
Landungsflotte am Cap Saint-Jacques zusammengestellt und
zum Auslaufen nach Tonking bereit wäre. Die Offiziere nahmen
die Ankündigung des Einsatzes mit gemischten Gefühlen auf.
Bei den letzten Übungssprüngen über dem Feldflugplatz Bien
Hoa hatte sich herausgestellt, daß die Fallschirme unter dem
Klima und der unzureichenden Wartung gelitten hatten. Es
war zu schweren Unfällen gekommen, denn zusätzliche Bauchfallschirme gab es nicht. Im übrigen schien man in Paris den
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fanatischen Kampfgeist der Vietnamesen sowie das Massenaufgebot der Chinesen erheblich zu unterschätzen.
Am frühen Morgen war ein unerwarteter Regenguß niedergegangen. Die Feuchtigkeit war von der Sonne schon aufgesogen, als ich auf das Heiligtum der Cao Daisten, ein riesiges
gelbes Gebäude im Stil einer französischen Kathedrale, zuging.
Der Dschungel auf den steilen Hängen der »Schwarzen Jungfrau« glänzte zu dieser Stunde in sattem Grün. Die Normalisierung war wohl schon weiter gediehen, als wir ursprünglich
angenommen hatten, denn die Kathedrale war beim morgendlichen Gottesdienst mehr als zur Hälfte gefüllt. Der Papst
der Cao Dai-Sekte war nach Thailand geflüchtet, doch der
größte Teil seines Klerus – es gehörten ein Kardinalskollegium und mehrere Bischöfe dazu – war an Ort und Stelle
geblieben, wurde von den Franzosen nicht behelligt und ging in
dem gewaltigen, halligen Kirchenschiff seinen seltsamen Riten
nach. Dort wo sich in einem katholischen Gotteshaus der Hochaltar befunden hätte, blickte aus einem strahlenumgebenen
Dreieck ein riesiges Auge auf die Gemeinde. Die Geistlichen
waren je nach Rang in blaue, rote und gelbe Seidengewänder
gehüllt, die in einer spitzen Ku-Klux-Klan-Kapuze endeten. Die
gewöhnlichen Gläubigen kleideten sich in Weiß. Das Gebetsgemurmel erinnerte an das Rezitieren christlicher Litaneien
und buddhistischer Sutren. Immer wieder verbeugte sich die
Gemeinde und die Gongs dröhnten ohne Unterlaß. Weihrauchschwaden stiegen zu dem mystischen Auge auf. Diese kuriose
Mischreligion des Cao Dai war nicht älter als das 20. Jahrhundert. Zu ihren Heiligen die besondere Verehrung genossen, zählten Buddha, Konfuzius, Jesus Christus und ... der
französische Dichter Victor Hugo. Am Eingang der Kathedrale
waren diese Propheten des Cao Dai in naiven bunten StuckSkulpturen abgebildet. Die französischen Besucher belustigten
sich vor allem über die Darstellung Victor Hugos, der offenbar
wegen seiner humanistischen Botschaft als Autor der »Miserables« in dieses Pantheon aufgenommen worden war. Victor
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Hugo blickte in der grünen Gala-Uniform eines Mitgliedes der
Académie Française auf den Palmenhain vor dem Gotteshaus.
Mich berührte der Umstand, daß der bärtige Kopf unter dem
Dreispitz des Académicien dem überlieferten Porträt des Karl
Marx in frappierender Weise ähnelte. Im Grunde bestand hier
kein Anlaß zum Spott. Religionsgründungen sind wohl stets
mit Seltsamkeiten verbunden. Der Cao Dai würde mit Sicherheit kein dauerhaftes Phänomen sein. Aber in seiner fanatischen Hingabe, seiner Suche nach fremden Modellen, seinem
nationalen Engagement war er in mancher Beziehung mit
jener ideologisch verbissenen Untergrundreligion der vietnamesischen Kommunisten verwandt, die in Hanoi einen Teil
der Macht bereits an sich gerissen hatte und deren Jünger im
Mekong-Delta immer zahlreicher wurden.
Die Franzosen glaubten, ihre Annamiten zu kennen. In
Cochinchina war eine ganze eingeborene Bourgeoisie entstanden, die französische Sprache und Lebensart angenommen, ja sogar die französische Staatsangehörigkeit erworben
hatte, Ärzte, Anwälte, Plantagenbesitzer. Doch unterhalb dieser
Elite lebte ein Volk, das allenfalls den Ethnologen der École
d’Extrême-Orient und manchen Missionaren vertraut war.
Diese Nhaques, diese Reisbauern, wie sie verächtlich genannt
wurden, waren im Ersten Weltkrieg wegen ihrer angeblichen
militärischen Untauglichkeit nur als Train-Soldaten verwendet worden. Die sogenannten Indochina-Experten, die old
hands, wie diese unbelehrbaren Dummköpfe des Kolonialismus mit einem respektablen angelsächsischen Wort bezeichnet wurden, hatten den ankommenden Soldaten des Expeditionskorps erzählt, daß die Annamiten niemals in der Dunkelheit kämpften, aus Angst vor den Geistern, den »Ba Cui«
und den Tigern. Sehr bald stellte sich heraus, daß in Vietnam
die härteste Kriegerrasse Asiens lebte und daß die Nacht ihr
eigentliches Element war.
Unter der sektiererischen Skurrilität verbarg sich oft ein
todernster politischer Kern. So sollten wir später an einem
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Arm des Mekong der absonderlichen Gemeinde des »Heiligen
von der Kokospalme« begegnen. Einem buckligen annamitischen Geschäftsmann war plötzlich die göttliche Eingebung
gekommen, eine neue Religion zu gründen. Er pflegte auf einer
Kokospalme zu meditieren. Der Bucklige hatte sehr schnell
eine Gemeinde um sich gesammelt, die sich seltsamen Kulthandlungen unterzog, asketische Regeln befolgte und sich in
braune Kutten kleidete. Ihrem Propheten zuliebe, der auf
Grund seiner Körperbehinderung nicht auf dem Rücken schlafen konnte, ruhten seine Jünger stets auf der Flanke. Ihr zentrales Heiligtum befand sich auf dieser Pfahlsiedlung im Strom,
aber die verschnörkelten Kirchen der braunen Mönche reichten bald bis in die Vororte von Saigon.
Mir war ein riesiger Globus aufgefallen, den sie auf einer
breiten Plattform mitten im Fluß aufgestellt hatten. Auf dieser
Erdkugel war das heutige Vietnam in überdimensionaler Verzerrung dargestellt und reichte am Rande des Pazifischen
Ozeans von Kamtschatka bis Australien. Was diese Darstellung ihrer Heimat denn bedeute, hatte ich einen frommen
Greis gefragt, der mit seinen sieben Barthaaren einem taoistischen Heiligen glich. Der Mönch hatte in erstaunlich reinem
Französisch geantwortet: »Wenn Vietnam einmal wiedervereinigt und frei ist – Cochinchina, Annam, Tonking in einem
Staat –, dann werden wir so groß und mächtig sein, wie dieser
Globus es dartut.« Daß die religiöse Gärung in diesem zerrissenen Land das Aufkommen einer neuen Epoche, eines
neuen vietnamesischen Menschen ankündigte, das hatte kein
französischer Administrator oder Kolonialoffizier rechtzeitig
begriffen. Aber welcher römische Prokonsul oder Zenturio in
der syrischen Provinz hatte wohl um die Zeitwende geahnt,
daß die mystischen Vorgänge im Volk der Juden das Ende
seines Imperiums und eine totale Bewußtseinsveränderung
der antiken Welt einleiten würden.
Bevor das Commando seine ständige Unterkunft in einem
weitläufigen chinesischen Sippenhaus am Boulevard Galiéni
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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auf halbem Weg nach Cholon erreichte, wurde der Konvoi
durch einen ungewöhnlichen Auflauf blockiert. In Dreierreihen, aber ohne Waffen, marschierte ein langer Zug Soldaten
aller Waffengattungen – Offiziere an der Spitze – durch die
Straßen der Saigoner Innenstadt. Wir fragten die Zuschauer,
was sich hier abspiele. Ein Grüppchen französischer Kriegsgegner und linker Anti-Kolonialisten, so hieß es, hätte ein Pamphlet verteilt, das den Abzug Frankreichs aus Indochina forderte und dem Expeditionskorps vorwarf, es habe statt honneur et patrie Ehre und Vaterland, honneur et profit auf seine
Fahnen geschrieben. Die kleine Druckerei dieser »DefaitistenGruppe« war von den militärischen Demonstranten bereits
zertrümmert worden. Jetzt hallten die Sprechchöre durch die
Rue Catinat: »De Gaulle au pouvoir« – De Gaulle an die Macht!
General de Gaulle war im Januar 1946 von seinem Amt als
Chef der provisorischen Regierung Frankreichs überraschend
zurückgetreten. Er hatte damit gegen das Wiederaufkommen
des Parteienhaders, gegen den inneren Zerfall Frankreichs
protestieren wollen und sich zornig in sein Landhaus von
Colombey-les-Deux-Églises zurückgezogen. Die Armee von
Indochina, in der das gaullistische Element stark war, sah
sich plötzlich verwaist, zumal die Parteien der französischen
Linken gegen den Feldzug in Fernost zu agitieren begannen.
Nicht nur die Sympathien der französischen Kommunisten
waren eindeutig auf seiten der vietnamesischen Nationalisten.
»De Gaulle an die Macht!« tönte es noch ein paarmal. Dann
gelang es einer Streife der Militärpolizei, die Manifestanten
mühelos in ihre Kasernen zurückzuschicken. Es sollte zwölf
Jahre dauern, ehe der gleiche Ruf – auf dem Forum von Algier
von einer gewaltigen Menschenmenge aufgegriffen – den Sturz
der Vierten Republik einleitete.
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Onkel Ho’s Pakt mit dem französischen General
Haiphong, im Frühjahr 1946
Die Bucht von Halong bot ein gespenstisches Bild. Aus dem
dunkelgrünen, regungslosen Meer tauchte ein Heer von bizarren Kalkfelsen auf, sobald die Nebeldecke sich ein wenig
lüftete. Ein dünner, kalter Regen, crachin genannt, ging unaufhaltsam nieder. Die Soldaten der französischen Landungsflotte standen fröstelnd an der Reling und sehnten sich schon
nach der Hitze Saigons. Aus dem Dunst tauchten immer mehr
Dschunken auf. In den primitiven Wohnkajüten der flachen
Boote hausten ganze Sippen. Mit ihren dunkelbraunen Segeln
huschten die Dschunken wie Fledermäuse über das Wasser. Die
vietnamesischen Bootsleute suchten den Kontakt mit der fremden Invasionsarmee. Sie waren in Fetzen gekleidet und boten
ein paar Fische und Krabben zum Verkauf an. Sie mußten
unter schrecklichem Mangel leiden, denn sie stürzten sich auf
die Speisereste, die aus den Luken fielen, fischten sogar die
leeren Konservenbüchsen auf und sammelten sie wie Kostbarkeiten. Auf den ersten Blick waren diese Fischer aus Halong ein
recht freundliches Völkchen. Sie schnatterten ohne Unterlaß.
Als die Soldaten mit den Mädchen schäkern wollten, und diese
zurücklächelten, stellten die Franzosen mit Entsetzen fest, daß
ihre Zähne schwarz lackiert waren.
Drei Tage lang lag nun schon die Flotte vor der nordvietnamesischen Hafenstadt Haiphong. General Leclerc war
an Land gegangen, um mit den nationalchinesischen Kommandeuren zu verhandeln. Im Prinzip hatte die Regierung
Tschiang Kai-scheks schon Ende Februar der Ablösung ihrer
Truppen nördlich des 16. Breitengrads durch die Franzosen
zugestimmt. Aber die Autorität des Generalissimo über seine
War-Lords der Provinz Jünan, die mit ihren plündernden
Haufen in Tonking eingefallen waren, schien begrenzt zu
sein. Die nationalchinesische Soldateska war wie eine Heuschreckenplage über Nordvietnam hereingebrochen. Sie hatte
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
38
geplündert, vergewaltigt und sich wie in einem eroberten Land
aufgeführt. Der Abzug kam ihr höchst ungelegen.
Am vierten Tag hallte Artilleriefeuer durch die phantastische Felsenlandschaft der Halong-Bucht. Dem französischen
Oberkommandierenden war die Geduld gerissen. Ein Sturmkommando war an der Küste gelandet, und der Kreuzer »Le
Triomphant« war die Mündung des Roten Flusses in Richtung auf die Hafenkais von Haiphong hochgesteuert. Der Kreuzer wurde von Küstenbatterien beschossen, aber mit ein paar
Salven brachte er den Widerstand zum Schweigen. Über den
chinesischen Stellungen ging die weiße Fahne hoch, und die
landenden Franzosen stellten zu ihrer Verwunderung fest, daß
die feindlichen Geschütze, mit denen die Soldaten aus Jünan
nichts anfangen konnten, von japanischen Kriegsgefangenen
bedient worden waren.
Ich wurde nicht müde, die nationalchinesischen Soldaten
zu beobachten. An den Vietnamesen gemessen, waren sie relativ hoch gewachsen. Sie trugen eine himmelblaue Uniform mit
dicken Wickelgamaschen. Beim Marsch warfen sie ihre Schuhe
am liebsten über die Schulter und liefen barfuß. Im Gegensatz
zu den Tonkinesen, die sich neugierig um die Neuankömmlinge
drängten und sie ausfragten, stand zwischen Franzosen und
Chinesen eine psychologische Scheidewand, die nie durchbrochen wurde. Die Söhne des Himmels verfügten zwar über
fabrikneue Lastwagen von General Motors und führten jeden
Morgen in den Parks von Haiphong unter furchterregendem
Gebrüll Leibesübungen vor, aber sie wirkten wie ein mittelalterlicher Kriegshaufen. Die wohlhabenden chinesischen
Kaufleute von Haiphong, die von ihren Landsleuten aus dem
Norden nicht weniger ausgeplündert wurden als die einheimischen Vietnamesen, blickten mit Abscheu auf diese Horden
und gaben ihrer konfuzianischen Geringschätzung für alles
Soldatische freien Lauf.
Von einem ganz anderen Schlag waren die kriegsgefangenen Japaner. Die Disziplin dieser Armee war immer noch
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
39
intakt, und die Offiziere liefen wichtigtuerisch zwischen ihren
Untergebenen herum wie gestiefelte Kater. Die Japaner stauten sich später zu Tausenden an den Quais und kehrten nach
der ersten Niederlage ihrer mehrtausendjährigen Geschichte
an Bord amerikanischer Frachter ins Land der Aufgehenden
Sonne zurück.
Zum ersten Mal ahnten die französischen Administratoren
und Ostasien-Experten, die nach Tonking zurückkehrten, daß
sie einer völlig veränderten Welt und gewaltigen, unkontrollierbaren Kräften gegenüberstanden. Am schnellsten begriff
General Leclerc de Haute-cloque die neue Situation. Er war
sehr zu Unrecht in einem Roman Hemingways als arroganter
Junker skizziert worden. Leclerc hatte ab 1940 in Zentralafrika
die ersten versprengten Trüppchen Freier Franzosen gesammelt und war mit ihnen im Lauf der drei folgenden Jahre quer
durch die Wüste des Tschad und Libyens bis an die Gestade
des Mittelmeers gezogen. Mit seiner Zweiten Panzerdivision
war er im Sommer 1944 in der Normandie gelandet, und General Eisenhower war galant genug, diese französische Einheit
als erste alliierte Truppe in Paris einrücken zu lassen. Leclerc
hat ihm das schlecht gedankt, denn gegen den ausdrücklichen
Befehl des Alliierten Oberbefehlshabers war er im Winter
1944/45 über die Vogesen in die Rheinebene nach Straßburg
vorgestoßen und hatte dort, einem romantischen Eid gemäß,
den er unter den Palmen der Oase Kufra geleistet hatte, die
Tricolore auf dem Münster gehißt. Dieser schlanke eigenwillige Mann, der sich nie von seinem Spazierstock trennte, war
in Nordvietnam auf einen ungleichen Komplizen gestoßen, auf
den Revolutionär Ho Tschi Minh.
Die wenigsten Franzosen, die sich damals in Indochina
befanden, haben den tieferen Sinn der geheimen Kontakte
zwischen Leclerc und »Onkel Ho«, wie er in jenen Tagen bei
seinen Gefolgsleuten hieß, erfaßt, schon gar nicht jener Admiral Thierry d’Argenlieu, der im Auftrag de Gaulles, mit allen
administrativen Vollmachten ausgestattet, als Hochkommissar
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
40
Frankreichs nach Fernost gekommen war. D’Argenlieu, ebenfalls ein Gaullist der ersten Stunde, war vor dem Krieg Abt
eines Karmeliter-Klosters gewesen. In Indochina führte er sich
wie ein verspäteter Kreuzritter auf, sperrte sich gegen jeden
Kompromiß mit den Feinden Frankreichs und wurde in der
Pariser Linkspresse als »blutiger Mönch« bezeichnet.
Der Nationalist Ho Tschi Minh hatte instinktiv begriffen,
daß ein Verbleiben der Chinesen in Tonking für die Unabhängigkeit Vietnams weit verhängnisvoller sein würde als ein
vorübergehendes Paktieren mit den Franzosen. Schließlich
hatte die französische Kolonialherrschaft nur knapp hundert
Jahre gedauert, aber seit zwei Jahrtausenden wehrte sich
das vietnamesische Volk gegen die Vasallisierung und die
totale Assimilation durch das Reich der Mitte. Hinzu traten
aktuelle politische Überlegungen. Die Kuomintang-Chinesen,
die eine marxistische Regierung unter Führung der Nationalen Sammlungsfront Vietminh vorgefunden hatten, mißtrauten
dem Volkstribun Ho Tschi Minh, der im gleichen ideologischen
Lager stand wie ihr Todfeind Mao Tse-tung. Auch in Indochina
hatte es bürgerliche Nationalisten gegeben, auf das chinesische
Beispiel Tschiang Kai-scheks ausgerichtet. Sie hatten bereits
1931 einen Aufstand gegen die Franzosen ausgelöst, der von
den Kolonialbehörden im Blut erstickt worden war. Zu jener
Zeit hatte die Kommunistische Partei Indochinas es ebenfalls
mit Hilfe französischer Marxisten zu ein paar Zellenbildungen
gebracht. Die Stunde Ho’s schlug erst, als die Wechselfälle des
Zweiten Weltkriegs seinen überlegen organisierten Partisanentrupps die große Chance zuspielten. Im Troß des Kuomintang
waren die bürgerlichen Nationalisten der Bewegung »Viet Nam
Quoc Dan Dang« oder VNQDD nach Hanoi zurückgekehrt,
und die Chinesen hatten Ho Tschi Minh gezwungen, diese
Klassenfeinde, die er zutiefst haßte, in seine Regierung aufzunehmen. Zwischen Vietminh und VNQDD kam es im Winter
1945/46 zu immer heftigeren Auseinandersetzungen, so daß
für Ho Tschi Minh die baldige Ablösung der Chinesen durch
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
41
die Franzosen zu einer Frage des Überlebens wurde. General
Leclerc seinerseits sah in dem Marxisten Ho Tschi Minh
einen potentiellen Verbündeten. Das französische Kolonialreich gehörte seit der Niederlage von 1940 ohnehin der
Vergangenheit an und sollte durch neue, liberale Verflechtungen zwischen dem Mutterland und seinen Überseegebieten
abgelöst werden. Ho Tschi Minh hatte den Verbleib der
Republik Vietnam in einem gemeinsamen Staatenverbund
mit Frankreich vorgeschlagen. Wesentliche vietnamesische
Souveränitätsrechte auf dem Gebiet der Diplomatie, der Verteidigung und der Währungspolitik wollte er bis auf weiteres
an Paris delegieren. Eine seltsame Absprache kam damals
zustande: die Landung der Franzosen nördlich des 16. Breitengrades rettete die Kommunisten Tonkings vor der Umklammerung durch die verbündeten Kräfte des Kuomintang und des
VNQDD; innenpolitisch würde die Vierte Französische Republik, die eben durch Referendum bestätigt worden war, dem
Vietminh in Nordvietnam freie Hand lassen. Die Franzosen handelten sich dafür den Abzug der Soldaten Tschiang Kai-scheks
und den Verbleib Indochinas in jenem französischen ÜberseeVerbund ein, der im neuen Verfassungstext den Namen Union
Française trug.
Beide Parteien ahnten wohl, daß sie einen Pakt mit dem
Teufel geschlossen hatten. In der französischen Armee bestand
kein echter Wille zur Entkolonisation, und den meisten konservativen Offizieren waren diese roten Vietminh-Kommissare
ein Greuel. Nachdem die beutebeladenen Chinesen schließlich
über die Grenze nach Kwang Si und Jünan in das Reich der
Mitte zurückmarschiert waren, räumten die Revolutionskomitees des Vietminh zunächst einmal unter ihren bürgerlichen
Rivalen auf und massakrierten die führenden Mitglieder des
VNQDD im Städtchen Yen Bai. Die Franzosen sahen tatenlos
zu, wie diese antikommunistischen Gegenkräfte, die ihnen
in den späteren Jahren so bitter fehlen würden, liquidiert
wurden. Insgeheim brannten die Obersten des Expeditions-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
42
korps darauf, nach Abzug der lästigen Chinesen und dem
Gemetzel von Yen Bai sobald wie möglich auch den Vietminh
an der Gurgel zu packen und die pax franca mit Waffengewalt
in Fernost wiederherzustellen.
Die Vietnamesen ihrerseits machten aus ihren tatsächlichen
Absichten kein Hehl. Auf jeder Mauer, auf dem Asphalt jeder
Straße war das magische Wort »Doc Lap« in riesigen Lettern
mit roter Farbe gepinselt. »Doc Lap« hieß »Unabhängigkeit«
und nur ein Narr konnte davon ausgehen, daß diese fanatischen Nationalisten marxistischen Glaubens auf die volle
Souveränität endgültig verzichten, daß sie jemals eine wie auch
immer geartete Unterordnung unter Paris akzeptieren würden.
Andere Wandaufschriften forderten mit gleicher Eindringlichkeit die Einheit der »Drei Ky«, der drei Landesteile Vietnams:
Cochinchina, Annam und Tonking. Die Revolutionäre des Vietminh hatten erfahren, daß die maßgeblichen französischen
Finanzkreise im Umkreis der Banque de l’Indochine notfalls
bereit waren, das übervölkerte Delta des Roten Flusses mit den
darbenden Massen des Nordens seinem Schicksal zu überlassen
sowie die unwirtlichen Gebirge Zentral-Annams abzuschreiben. Sie wußten aber auch, daß diese Einflußgruppen auf
ihren Besitz in Cochinchina, auf die Reisebene am Mekong, die
einträglichen Gummiplantagen des Südens, nicht verzichten
und aus diesem Landesteil eine separate Republik von Frankreichs Gnaden machen wollten.
Haiphong bot in jenen Wochen ein seltsames Bild. Neben
der Tricolore wehte die nunmehr offizialisierte rote Fahne des
Vietminh mit dem gelben Stern. Die junge Republik Vietnam
verfügte über eine eigene Armee, die in rostbraune Uniformen gekleidet war. Die Soldaten trugen dazu grüne Tropenhelme. Ihre Waffen stammten meist aus japanischen Arsenalen.
Gemeinsam mit französischen Kolonialinfanteristen wurden
diese kleinen Männer des Onkel Ho zu gemischten Patrouillen
ausgeschickt. In Wirklichkeit standen sich diese Zufallspartner wie Hund und Katze gegenüber. Die französischen Stäbe
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
43
betrachteten es als eine Demütigung, daß sie von gleich zu
gleich mit diesen Heckenschützen verhandeln mußten, deren
militärischer Anführer, ein gewisser Vo Nguyen Giap, seine
strategischen Kenntnisse als Geschichtslehrer erworben hatte.
Die Tatsache, daß Giap ein Bewunderer des Feldherrn Bonaparte war, brachte ihm nur mitleidiges Lächeln ein.
Die kalte Regenzeit war abrupt zu Ende gegangen. Innerhalb
einer Woche verwandelte sich Tonking in einen Glutofen. Die
zerklüfteten Vorgebirge waren jetzt zum Greifen nahe. Jedermann spürte, daß Nordvietnam ein beschwerlicher Kriegsschauplatz sein würde. Haiphong war – mit Ausnahme von
zwei Plätzen, die einem französischen Provinzstädtchen Ehre
gemacht hätten – eine unansehnliche Ortschaft. Doch in diesem
Frühlingsmonat erblühten die Flamboyants und Jacarandas in
feuerroter und violetter Pracht.
Ich war damals neben einem Kanal untergebracht, in einer
ziemlich trostlosen Gegend, wo die häßlichen Außenbezirke von
Haiphong in die monotone Weite der Reisfelder übergingen.
Jede Nacht klangen aus den nahen Dörfern revolutionäre
Kampflieder. Mit dem Fernglas beobachteten wir das Exerzieren der Vietminh-Miliz, die in Ermangelung von Gewehren oft
mit Bambusstöcken hantierte. Als eines Morgens im Kanal die
verstümmelten Leichen von drei französischen Pionieren dem
Meer zutrieben, wußten wir, daß die Tage des trügerischen
Stillhaltens, des Modus vivendi, gezählt waren. Eine Woche
später wurde ich wieder nach Saigon abgeordnet und schiffte
mich in der Halong-Bay auf dem Kreuzer »Tourville« ein. In
der roten Abendsonne bot sich mir ein Schauspiel von atemberaubender Herrlichkeit. Aus den stillen Fluten der Bucht,
die im späten Licht wie pures Gold glänzte, erhoben sich die
schwarzen Kalkfelsen wie barbarische Grabsteine. Die Dschunken zogen weite Kurven und bewegten sich vor dem untergehenden Gestirn wie Insekten, die um eine Flamme kreisen.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Das neue Gesicht des Krieges
Saigon, Anfang 1951
Vier Jahre später saß ich im Flugzeug Paris – Saigon, in einer
DC 4-Maschine, die drei Tage und zwei Übernachtungen in
Kairo und Karatschi brauchte, um am Ziel zu sein. Die meisten Passagiere waren kräftige Männer im wehrfähigen Alter.
Sie trugen militärischen Borstenhaarschnitt, waren aber alle
in Zivil, denn die indischen Behörden, die widerwillig genug
die Zwischenlandung dieser Air France-Maschine in Kalkutta
duldeten, wollten keine französischen Uniformen sehen. Die
Pariser Presse hatte die Hiobsbotschaft aus Fernost in großen
Schlagzeilen gebracht. Zuerst waren die Verteidigungspläne
für das Delta des Roten Flusses durch Verrat in die Hände des
Gegners gefallen. Dann hatte der damalige französische Generalstabschef, der den ominösen Namen »Revers«, das heißt
Rückschlag oder Niederlage, trug, die verspätete Räumung
jener Grenzgarnisonen beschlossen, die Tonking gegen die chinesischen Nachbarprovinzen abschirmen sollten.
Diese Außenposten befanden sich in tödlicher Gefahr seit die
siegreichen Armeen Mao Tse-tungs bis in die Südregion von
Kwangsi und Jünan vorgedrungen waren. Die Volksrepublik
China hatte offen für Ho Tschi Minh Partei ergriffen, lieferte
Material an die roten Verbündeten und bildete in Nanning die
vietnamesische Revolutionsarmee nach den bewährten Methoden des Volksbefreiungskrieges aus. Auf dem Rückzug aus
dem Grenzstädtchen Cao Bang war eine französische Kolonne
von dreitausend Mann auf den Haarnadelkurven der gebirgigen Dschungelpiste in einen Hinterhalt geraten und praktisch aufgerieben worden. Die Garnison von Lang Son rettete
sich nur durch überstürzte Flucht unter Zurücklassung des
gesamten Materials. Mit dem Sieg der maoistischen Revolution
waren die französischen Sperriegel in Nord-Indochina unhaltbar geworden. Die Pariser Gazetten bereiteten die französische
Öffentlichkeit, die sich ohnehin vom Fernost-Feldzug distan-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
45
zierte, wenn sie ihn nicht wütend bekämpfte, auf die entscheidende Niederlage des Expeditionskorps im Dreieck des Roten
Flusses vor. Der schmutzige Krieg – la sale guerre, hieß der
Indochina-Krieg in den Pamphleten der KPF, und in Marseille,
wo die Docker häufig die nach Saigon auslaufenden Schiffe
bestreikten, gingen die Verstärkungen im Schutz der Dunkelheit an Bord. Sogar die Särge der Gefallenen wurden heimlich
ausgeladen.
Ich war dieses Mal als Journalist nach Saigon gekommen. Ich
brauchte nicht lange zu suchen, um den »Pascha« zu finden.
Er saß schwitzend in einem Appartement der Rue Catinat und
bastelte so liebevoll an einem komplizierten Sendegerät, als sei
es eine Höllenmaschine. Es war ihm nicht anzumerken, daß er
inzwischen die ersten zwei Admiralssterne erhalten hatte. Der
»Pascha« war dabei, ein neues Commando aus Marinefüsilieren
aufzustellen. »Bleiben Sie nicht in Cochinchina«, riet er mir.
»Hier gibt es nur noch Routine und Schlamperei. Gehen Sie
in den Norden, dort spielen wir im Moment unsere letzten
Karten.« Zwei Tage zuvor war ein Großangriff des Vietminh,
der in dichten Sturmwellen von vierzig Bataillonen gegen die
Festung Vinh Yen vorgetragen wurde, im französischen Feuer
zusammengebrochen. Die Revolutionsarmee, die bei Vinh Yen
die Hälfte ihrer gesamten Streitmacht eingesetzt hatte und die
nach der Überrennung des Stützpunktes Vietri schon den Sieg
zu halten glaubte, hatte in fünftägiger Schlacht 8000 Mann verloren. Der vietnamesische Stabschef Giap, der ein umsichtiger
Partisanenführer war, hatte sich gegen dieses Wagnis der offenen Feldschlacht gesträubt, doch er war im Politbüro der »Lao
Dong«-Partei, der kommunistischen »Partei der Arbeit«, die
den harten Kern des Vietminh bildete, überstimmt worden.
Die roten Vietnamesen hatten Pech gehabt. Sie sahen sich
unvermittelt einem neuen französischen Oberbefehlshaber,
dem General de Lattre de Tassigny, gegenüber, der selbst in die
vorderste Linie ging, um den Soldaten Mut zu spenden, und
der die verfügbaren französischen Divisionen in beweglichen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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combat teams neu gegliedert hatte. Entscheidend war vor allem
die Intervention der Luftwaffe, die durch amerikanische Lieferungen in aller Hast verstärkt worden war. Auf den Abwurf von
Napalm waren die Strategen des Vietminh nicht vorbereitet
gewesen. Die roten Freischärler verfügten seit dem endgültigen
Sieg Mao Tse-tungs über ein gewaltiges, unverletzbares Hinterland. Aber die Franzosen, deren verspätetes Kolonialabenteuer der Diplomatie Washingtons noch unlängst ein Dorn im
Auge gewesen war, konnten nunmehr auf amerikanische Hilfe
und Solidarität zählen, seit die USA bis über die Schultern in
den Korea-Konflikt verwickelt waren.
Das Stadtbild von Saigon hatte sich in den vergangenen
vier Jahren gründlich gewandelt. Die letzten Spuren der Verwahrlosung und Verschmutzung, Folgen der kurzen Machtergreifung der vietnamesischen Revolutionäre im Jahr 1945,
waren längst aufgeräumt. Saigon glich jetzt mehr denn je einer
schläfrigen französischen Préfecture unter den Tropen. In den
Boutiquen der Rue Catinat war das Angebot luxuriös. Die
korsische Mafia und andere Spekulanten bereicherten sich
am trafic de la Piastre. Die Währung Indochinas, der Piaster,
wurde von den Schiebern zu lächerlichen Schwarzmarktpreisen aufgekauft und um ein Mehrfaches zum offiziellen Kurs ins
Mutterland überwiesen. Unterdessen verbluteten im Reisfeld
die jungen Offiziersjahrgänge der Kriegsschule von Saint-Cyr.
Die ausgemergelten, malariagezeichneten Urlauber ärgerten
sich am meisten über jene dickleibigen Stabsoffiziere der
Etappe, die mit gerötetem Kopf ihre Nachmittage auf der
Terrasse des Hotels »Continental« verbrachten, dem CognacSoda zusprachen und am Abend die hübschesten vietnamesischen Nutten abschleppten. Die kämpfende Truppe mußte
sich inzwischen mit dem Parc aux buffles zufriedengeben, der
am Eingang des Boulevard Galiéni ein riesiges Areal bedeckte.
Der Büffelpark war das große Armee-Bordell, wo etwa tausend
annamitische und kambodschanische Prostituierte lärmend
und kichernd ihrem Gewerbe nachgingen. Sie waren grell
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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geschminkt, kaum bekleidet und in der Mehrzahl erstaunlich
hübsch. Den Soldaten, die an den Eingangsposten vorbei in
den Innenhof des Büffelparks traten und die ihren Augen
kaum trauten, wurden buchstäblich die Hosen von den Beinen
gerissen.
Ganz hatte der Krieg die zugleich spießige und schamlose
Stadt Saigon dennoch nicht verschont. Jede Bar und jedes
Restaurant war auch tagsüber durch engmaschige Gitter
geschützt, seit die Attentäter des Vietminh immer wieder
Handgranaten auf die Uniformierten schleuderten. Bei Nacht
flackerten die Leuchtraketen über den Rungsat-Sümpfen jenseits des Saigon-Flusses. Dann war es nicht ungefährlich, mit
der Fahrrad-Rikscha in die Chinesenstadt Cholon zu fahren,
wo eine geschlossene chinesische Gemeinschaft von einer Million Menschen, die mehr am Krieg verdiente als alle Franzosen zusammen, sich so gebärdete, als ginge sie das Schießen
und Morden gar nichts an. In den Spielhöllen des »Grand
Monde« waren die geflochtenen Mahjong-Körbe nur noch für
die armen Schlucker da, während die wohlhabenden Söhne
des Himmels an hochmodernen elektrischen Glücksspiel-Einrichtungen aus den USA mit steinernem Gesicht Riesensummen einsetzten. In unmittelbarer Nachbarschaft des »Grand
Monde« und seiner Laster duckten sich armselige Bretterbuden am stinkenden Flußufer, das von Ratten wimmelte. Hunderte von Wohndschunken waren hier ineinander verschachtelt, und die Kommissare des Vietminh bewegten sich in diesem
Elendsviertel wie der vielzitierte Fisch im Wasser.
Am frühen Morgen verließ ich Saigon in südlicher Richtung.
Auch in Cochinchina hatte sich der Krieg ein neues Gesicht
zugelegt. Die Asphaltstraße nach My Tho und Can Tho war von
hölzernen Wachtürmen gesäumt, ein Anblick, der an römische
Heerlager erinnerte.
Diese Türme, die sich in Sichtweite ablösten, um miteinander signalisieren zu können, gingen angeblich auf eine Erfindung des General Galiéni zurück, der im 19. Jahrhundert mit
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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seiner »Ölfleck«-Strategie die Insel Madagaskar befriedet hatte.
Die Stellungen rings um diese unzeitgemäßen Befestigungen
waren durch messerscharfe Bambusverhaue abgeschirmt. Da
diese Art von Sicherung zu viele Truppen immobilisierte, war
das französische Oberkommando dazu übergegangen, die eigenen Soldaten durch vietnamesische »Hilfswillige«, durch antikommunistische Freiwillige, zu ersetzen. Sehr vertrauenerweckend wirkten diese neuen Verbündeten Frankreichs nicht.
Sie trugen die schwarze Tracht der Reisbauern. Bei Nacht
vor allem wurden die Nerven der französischen Gefreiten
und Unteroffiziere, die diese Beute-Partisanen befehligten,
auf harte Proben gestellt. Dann begann es nämlich in den
Reisfeldern zu rascheln, zu kriechen und zu ballern. Lautsprecher brüllten plötzlich kommunistische und nationalistische Kampflieder oder Parolen aus der Finsternis und
brachten die Ochsenfrösche zum Schweigen. Nur wenige
Wächter in den einsamen Forts verfielen auf psychologische
Gegenmaßnahmen, wie jener bärtige Sergeant aus der Auvergne, der bei Nacht seine verkratzten Schallplatten auflegte und
mit Hilfe eines Verstärkers den Vorkämpfern der Weltrevolution eine Sammlung von Wiener Walzern entgegendröhnen
ließ.
Cochinchina war relativ fest in französischer Hand. Die
kämpferischen Sekten, Cao Dai und Hoa Hao, hatten nämlich
ihren Frieden mit Paris gemacht. In ihren Territorien sorgten
sie dafür, daß die Infiltranten des Vietminh erbarmungslos
gejagt wurden. Sie waren ähnlich motiviert wie die Kommunisten und bewährten sich im Partisanenkampf. Vor allem
die Hoa Hao schreckten vor keiner Grausamkeit zurück. Die
Sekten wurden in der Provinz Bentre durch das Aufgebot eines
katholischen Colonel, eines Eurasiers, der auf den Namen
Leroy hörte, verstärkt. Leroy ließ nicht mit sich spaßen. Im
Umkreis von Saigon-Cholon hatten die Franzosen ein zutiefst
unmoralisches Bündnis mit einer Bande von Flußpiraten, den
Binh Xuyen, geschlossen. Diesen Halsabschneidern wurde
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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nicht nur die Polizeigewalt über Saigon übertragen, sondern
auch die Verfügung über die kolossalen Profite der Spielhöllen
des »Grand Monde« von Cholon. Die Binh Xuyen waren bei der
Bevölkerung gefürchtet und gehaßt. Sie waren von abscheulicher Effizienz, und über ihre Verhörmethoden gingen grauenhafte Gerüchte um. »Wir sind tief gefallen«, lachte der Pascha,
als ich ihn am Flugplatz Tan-Son-Nhut wiedertraf, um mit
seiner Sondermaschine nach Hanoi zu fliegen. »Wer hätte seinerzeit in Tay Ninh geglaubt, daß diese Narren des Cao Dai
einmal unsere unentbehrlichen Waffenbrüder würden?«
Der Edelmann und die Hiobsbotschaften
Hanoi, Anfang 1951
Die Rollbahn des Flugplatzes Gialam im Osten Hanois glänzte
im kalten Sprühregen. Die neuen Jagdbomber, die die Amerikaner eben geliefert hatten, waren am Rande aufgereiht. Für
Material- und Truppentransporte bedienten sich die Franzosen immer noch einer Flotte alter Ju 52. Hanoi lag jenseits
des Roten Flusses, der seinen Namen zu Recht trug. Über
die geschwollenen Fluten spannten sich die Eisenbogen und
-streben der Paul-Doumer-Brücke, die unter der Dritten Republik einmal als Wunderwerk der Technik gepriesen worden
war. Für den militärischen Nachschub war diese Brücke
völlig unzureichend. Sie war durch überladene Rikschas oder
Büffelgespanne der Eingeborenen verstopft. Zusätzlich verkehrten hier die Eisenbahnzüge von und nach Haiphong.
Dieser einzige Verbindungsweg über den Roten Fluß wurde
durch ein starkes Aufgebot von schwarzen Kolonialsoldaten
abgesichert, die man pauschal als »Senegalesen« bezeichnete,
obwohl die meisten von ihnen aus Ober-Volta stammten. Die
Neger fröstelten in der Feuchtigkeit. Mit traurigen Augen,
die in den kohlschwarzen Gesichtern tellergroß wirkten, blickten sie auf diese rastlosen Ameisenkolonnen winziger Viet-
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namesen, die den baumlangen Afrikanern nicht zur Schulter
reichten. Die »Senegalesen«, so hatte sich bald herausgestellt,
waren für die asiatische Partisanenbekämpfung völlig untauglich. Sie empfanden Furcht und Heimweh in dieser feindseligen Fremde. Natürlich hatten auch sie ihre vietnamesischen
Kebsweiber, die allerdings bei der einheimischen Bevölkerung
totaler Verachtung anheimfielen, denn die Asiaten sind äußerst
rassebewußt. Aus den schwarzen Einheiten wurden häufig
Messerstechereien gemeldet, und immer ging es um Eifersucht
und Frauen. Die französischen Offiziere hätten die Neger am
liebsten nach Afrika zurückgeschickt. Sie waren allenfalls als
Bewachungstruppen zu brauchen, und das auch nur bei Tage.
Mit Saigon verglichen war Hanoi eine stille und herbe Stadt.
Das Leben pulsierte langsamer. Im Wasser des Kleinen Sees
zwischen Geschäftszentrum und Chinesenviertel bildeten die
bunten Mauern eines kleinen buddhistischen Tempels den
einzigen Farbklecks in der Trostlosigkeit dieses Regentages.
Sogar die armselige Kirmes, die ein paar barfüßige Kinder
anzog, vermochte keine Heiterkeit zu verbreiten. Der Jeep,
der mich am Flugplatz abgeholt hatte, fuhr durch baumbestandene breite Straßen. Die französischen Städteplaner hatten
ihrem Ruf Ehre gemacht, als sie das Verwaltungsviertel mit
den ockergelben Palästen entwarfen, in denen der Generalgouverneur für Französischindochina einst amtiert hatte. Wir
passierten die Festung, die im Stil einer düsteren VaubanKasematte gebaut war und die während des Vietminh-Aufstandes im Dezember 1946 den europäischen Zivilisten als Fluchtburg gedient hatte. Dann bogen wir in einen ansehnlichen
Häuserkomplex ein, gelb getünchte zweistöckige Villen, vor
denen ein lässiger Posten stand. Ich war im Pressecamp angekommen, wurde von einem Unteroffizier in ein geräumiges
Zimmer mit riesigem Bett und Moskitonetz geführt und stellte
mich beim diensthabenden Major vor, der für diese Einrichtung zuständig war. Major Roëllec war ein feister, lebensfroher Bretone. Trotz der Tropensonne war er bleich geblieben,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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und seine Glatze ließ ihn älter erscheinen, als er war. Er war
im Reisfeld durch einen Splitter im Hinterteil verletzt worden,
was unter der Meute der überwiegend französischen Journalisten stets mit den gleichen billigen Witzen kommentiert wurde.
Roëllec war ein standfester Trinker, und er gebärdete sich,
wann immer sich die Gelegenheit bot, als Sexualprotz. Als ich
ihn fünfzehn Jahre später als Obersten der Fallschirmtruppe
in Laos wiedersah, erlitt mein Glauben an die französischen
»Paras« einen harten Schock.
In der Bar des Pressecamps waren große Karten angeschlagen. Es fand gerade ein Briefing statt. Der AFP-Korrespondent Julien, den ich aus Paris kannte, erklärte mir
flüsternd, daß diese Bar nicht speziell für die Journalisten eingerichtet worden sei. Vor dem Krieg sei unser Compound ein
Luxus-Bordell gewesen, und aus dieser Zeit stammten gewisse
Kommoditäten. Der französische Hauptmann an der Landkarte war ein unverbindlicher, etwas arroganter Typ. Vielleicht war er auch nur so abweisend, weil er meist nur Hiobsbotschaften verkünden mußte und weil er gegen die kleine
Truppe angelsächsischer Kriegskorrespondenten, die nach der
Schlacht von Vinh Yen in Hanoi eingetroffen waren, eine
unüberwindliche, sehr französische Abneigung empfand. Die
Amerikaner und auch die Briten beobachteten die verzweifelten Bemühungen der französischen Armee in Tonking
wie strenge Zensoren. Sie waren davon überzeugt, daß sie
diesen Krieg viel effizienter führen, ja daß sie ihn binnen
kurzer Frist gewinnen könnten. Die Amerikaner wären vollends unerträglich gewesen, wenn sie der Verlauf des KoreaFeldzuges, der im vergangenen Sommer begonnen hatte, nicht
verunsichert hätte. Die englischen Korrespondenten waren
meist alte Schlachtrösser aus dem Burma- und Pazifik-Krieg.
Der eine oder andere hatte als Offizier gedient und betrachtete kopfschüttelnd diese gallischen Hähne, die so gar nicht
nach Kiplings Geschmack waren. Unter den Franzosen wurden
Wetten geschlossen, welcher britische Journalist wohl der
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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getarnte Resident des Intelligence Service sei. Das militärische
Briefing war relativ kurz und mager gewesen. Der Capitaine
kündigte an, daß am folgenden Abend der Oberkommandierende des französischen Expeditionskorps in Fernost und
Hochkommissar für Indochina, Armeegeneral Jean de Lattre
de Tassigny, sie mit einem Besuch beehren und mit ihnen
dinieren würde. Diese Ankündigung ließ die Angelsachsen
kalt, löste jedoch unter den französischen Presseleuten aufgeregte Diskussionen aus. De Lattre war kein alltäglicher General. Als junger Offizier war er bereits von der deutschen Abteilung »Fremde Heere West« bemerkt und notiert worden. Nach
dem französischen Zusammenbruch im Sommer 1940 hatte
sich dieser Junker aus der stockkatholischen Vendée dem
»État Français« des Marschall Pétain zur Verfügung gestellt
und seine Unterschrift – horresco referens – stand sogar unter
dem Dokument eines Militärgerichts von Vichy, das den »Colonel« de Gaulle zum Tode verurteilte. De Lattre rehabilitierte
sich, als er 1942 nach einem vergeblichen Widerstandsversuch
gegen die nach Südfrankreich vorrückenden Deutschen unter
abenteuerlichen Umständen nach Nordafrika flüchtete. Dort
stellte er in rastloser Arbeit jene Erste Französische Armee auf,
die im Sommer 1944 in der Provence landete, über Burgund
ins Elsaß vorstieß und dort in verlustreichen Kämpfen etwas
von jener Gloire zurückgewinnen konnte, deren das traumatisierte Frankreich so bitter bedurfte.
Die letzten Kriegswochen führten die Erste Französische
Armee quer durch den Schwarzwald bis zum Bodensee und
nach Vorarlberg. Inzwischen hatte sie sich die pompöse Devise
»Rhein und Donau« zugelegt. De Lattre war bei seinen Offizieren mindestens ebenso gefürchtet wie beim Feind. Er hatte
sich in der Besatzungszone Deutschlands die Allüren eines
Sonnenkönigs zugelegt und wurde allgemein le Roi Jean
genannt. In Sigmaringen hatte er angeblich den HohenzollernKronprinzen, dessen Haltung in der Stunde des deutschen
Untergangs ihm nicht würdig genug erschien, mit verletzen-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
53
den Worten aus dem Schloß gejagt und ihm zum Weggang nur
ein Fahrrad gelassen. Die Franzosen waren für de Lattre nicht
blond, blauäugig und zackig genug. Die Schlamperei, die den
französischen Muskoten so schwer auszutreiben ist, brachte
den König Jean zur Raserei. Seine unvermutete Ankunft in
den Stäben und Kasernen des Schwabenlandes hatte stets
Panik ausgelöst. Die Autorität dieses hochmütigen Mannes
mit der energischen Aristokratennase war ein verblüffendes
Phänomen.
So blieb es auch in Indochina, wo de Lattre in der Stunde
höchster Not eine aussichtslose Situation übernahm. Er wußte
von Anfang an, daß er in Tonking keine Lorbeeren und schon
gar keinen Sieg ernten würde. Es war ein Opfergang, den
dieser eitle und ungestüme Mann antrat. Nur er selbst und
sein Arzt wußten zu jener Stunde, daß er bereits von einer
tödlichen Krankheit gezeichnet war. De Lattre hatte bei seiner
Ankunft in Saigon das gesamte Offizierskorps in Tan-SonNhut antreten lassen. Weiße Tropenuniform hieß die Kleidervorschrift. In diesem schneeweißen Carré entdeckte der General mit scharfem Auge einen unglücklichen dicklichen Oberstleutnant, der aus irgendwelchen Gründen in Khaki erschienen war. »Sie werden mit dem nächsten Flugzeug nach Frankreich zurücktransportiert«, fauchte de Lattre, und dann zu den
Anwesenden: »Ich sehe hier zu viele Obersten und zu wenig
Leutnants.« Wie recht er hatte.
Die Schlacht von Vinh Yen hatte dieser westfranzösische
Edelmann mit seinen Männern in der ersten Linie verbracht.
Seitdem war seine Popularität bei der Truppe gestiegen. Auch
in Hanoi sah man Stabsoffiziere über den Kasernenhof eilen,
um letzte Papierfetzen und Abfall zu entfernen, wenn seine
Inspektion bevorstand. Den einfachen Soldaten konnte das
nur gefallen.
Am liebsten hätte Major Roëllec sogar die Journalisten des
Pressecamps zum Fegen und Putzen eingesetzt, bevor der Roi
Jean sie besuchen kam. Statt dessen jagte er die Truppe der
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
54
Küchenboys wie Kaninchen treppauf und treppab und spornte
die Putzfrauen an. Der Senior der französischen Korrespondenten, Max Olivier vom »Figaro« prüfte immerhin nach, ob
die Fingernägel seiner Kollegen sauber seien. Ohne Proteste
ging das nicht ab. Die französische Presse war in Hanoi vorteilhafter vertreten als in mancher Pariser Redaktion. Da war
der bereits erwähnte Olivier, ein protestantischer Hüne aus
den Cévennen, den nichts aus der Ruhe brachte und der faszinierend aus Indien zu berichten wußte, wo er zur Zeit der
Unabhängigkeitsproklamation Korrespondent gewesen war.
Sein stärkster Eindruck aus jener Zeit war das Begräbnis Gandhis: der überhöhte Scheiterhaufen des ermordeten Mahatma,
um den sich Hunderttausende rasend, brüllend, weinend
drängten; immer wieder schob sich die Masse wie ein Lavastrom auf die Verbrennungsstätte zu; riesige Sikh-Polizisten
schlugen mit ihren Schlagstöcken, den Lathi, auf die Menge
ein und zertrümmerten in den vordersten Reihen Schultern
und Schädel. Olivier sollte wenig später in Seoul beim protestantischen Gottesdienst eine Koreanerin aus gutem Haus
kennenlernen, die er heiratete und glücklich nach Frankreich
heimbrachte.
Der AFP-Mann Julien galt als unkomplizierte Frohnatur.
Seinen wahren Lebenszweck schien er neben der Arbeit in
rastlosen erotischen Eskapaden zu suchen, die man diesem
schmächtigen Lehrertyp gar nicht zutraute. Jeder wußte,
daß er in Saigon eine bildhübsche Eurasierin sitzen hatte,
was ihn in Hanoi aber in keiner Weise bekümmerte. Das
Schicksal ereilte Julien, als er mit der Frau eines französischen
Militärpiloten schlief und dieser zur gleichen Stunde abgeschossen wurde. Diese Koinzidenz hatte Julien, den man solcher Regungen gar nicht fähig hielt, so tief getroffen, daß er
die Fliegerwitwe heiratete und von nun an zum bravsten Ehemann Indochinas wurde. Zu erwähnen war auch Max Motte,
jener »Le Monde«-Korrespondent, der bei den Militärs wegen
der Schärfe seiner kritischen Analysen und seiner pessimisti-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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schen Prognosen im Rufe eines gefährlichen Linksintellektuellen stand. Die wenigsten wußten, daß Motte sein Leben in
Saigon mit Judo- und Karateunterricht gefristet hatte. Niemand hätte prophezeit, daß er in den siebziger Jahren zum
Chefredakteur einer sehr bürgerlichen Pariser Zeitung avancieren und seine Leitartikel vorzugsweise der Bekämpfung
des linken Terrorismus sowie dem Plädoyer für die Todesstrafe widmen würde. Der Eindrucksvollste blieb jedoch Lulu
Bodard, ein phlegmatischer Saurier, ein Überbleibsel aus den
großen und konfusen Zeiten des Reiches der Mitte vor der
Roten Revolution. Er war in Szetschuan, im Herzen Chinas
aufgewachsen, und seine autobiographischen Romane über
diese exotische Kindheit haben ihn später berühmt gemacht.
Bereits in Hanoi trug er seine Erfahrungen mit den Söhnen
des Himmels mit sich herum. Seine Erzählungen kreisten um
das Elend der Massen, die Launen der War-Lords, die Weisheit
der Armen und der Huren, die unbeschreibliche, wimmelnde,
selbstsüchtige, gefräßige Vitalität dieses Riesenvolkes. Seine
Anekdoten steigerten sich zu literarischer Qualität, wenn er
auf den Matten einer zugigen Hütte im Chinesenviertel Hof
hielt und die ersten Opiumkugeln schmelzen ließ.
De Lattre kam in Zivil und überraschte alle. Er befleißigte
sich gegenüber dem Pressehaufen einer ausgezeichneten
Höflichkeit, als befände er sich nur unter Gleichgestellten. Sein
Interesse galt in erster Linie den amerikanischen Journalisten. Sein Englisch war erbärmlich und erinnerte karikatural an den Akzent von Maurice Chevalier. Dennoch wirkte
de Lattre in keiner Weise lächerlich. Den Yankees, die er
überraschend schnell gewonnen hatte, fiel auf, daß dieser
französische Oberbefehlshaber seinem Kollegen Mac Arthur in
Korea auf erstaunliche Weise physisch und psychologisch glich.
De Lattre, daraus machte er kein Hehl, war völlig illusionslos.
Die Selbstbehauptung der französischen Armee in Ostasien
war nur vorstellbar, wenn sie Teil einer großen Machtentfaltung der »Freien Welt«, wie man damals sagte, sein würde. Er
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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spielte die Karte der französisch-amerikanischen Solidarität
im Angesicht der marxistischen Revolution auf dem chinesischen Festland, aber er wußte wohl auch, daß ein solches
Unternehmen zum Scheitern verurteilt war. »Wenn die Chinesen kommen ...«, sagte er und zuckte die Schultern in einer
Geste der Ohnmacht. Der General trug sich mit dem Plan, in
Kürze nach Washington zu fliegen, um in der Öffentlichkeit für
den französischen Einsatz in Indochina zu werben und, was
er als recht demütigend empfinden mußte, um den Kongreß
zu bewegen, zusätzliche Finanzhilfe und Waffenlieferungen für
sein Expeditionskorps zu bewilligen.
Als de Lattre gegangen war, wandte sich ein Leutnant des
Service de Presse mit einer Anfrage an die anwesenden Angelsachsen: »Wir haben aus Saigon ein Kabel erhalten, dort sei ein
amerikanischer Journalist namens Graham Greene eingetroffen. Ist er jemandem hier bekannt?« Dröhnendes Gelächter
antwortete ihm.
Die vietnamesischen Putzfrauen kamen herein, um die
Tische abzuräumen. Sie trugen weite schwarze Hosen, ein
formloses weißes Mieder, und selbst im Zimmer behielten sie
den flachen Strohhut auf.
Major Roëllec hatte für die Bedienung der Journalisten
offensichtlich die häßlichsten Weiber Tonkings aufgetrieben.
In den ersten Wochen des Pressecamps war diese Aufgabe von
jungen Boys wahrgenommen worden, bis zu dem Tag, an dem
sich ein einsamer Kriegskorrespondent an einem zierlichen
Knaben verging, mit dessen Einwilligung übrigens und nach
Zahlung des einschlägigen Tarifs.
Ihre Gefährtinnen der Nacht suchten Journalisten wie Offiziere im Tanzlokal »Paramount« in der Nähe des Kleinen Sees.
Dort strahlte die rote Leuchtreklame im ersten Stock der vereinsamten Straße, wo nur die Schritte der Patrouillen hallten,
und zog die Fahrrad-Rikschas wie Moskitos an. Im »Paramount« wurde zu den Klängen einer schmalzigen Kapelle »chinesischer Tango« getanzt. Die Taxi-Girls forderten für jeden
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Schwof eine Plastikmünze, die wie ein Spieljeton an der Kasse
gekauft werden mußte. Sie waren in die sittsame Landestracht Ao Dai gekleidet. Die starke Schminke verwandelte
die schönen Gesichter in frivole Masken und verriet, daß es
sich nicht um wohlerzogene Pensionatstöchter handelte. Die
Atmosphäre im trüben Neonlicht des »Paramount«, wo sich
nur drei oder vier Paare drehten, war von tödlicher Langeweile. Die Feuchtigkeit sickerte aus sämtlichen Fensterritzen herein. Die Mädchen saßen mit hochmütigen, abwesenden Mienen auf einer Stuhlreihe nebeneinander wie Hühner
auf einer Stange. Sie erwachten erst zu einem strahlenden
Lächeln, wenn sie aufgefordert wurden und ihre Jetons kassierten. Mit Huren wollten diese Taxi-Girls um keinen Preis
verwechselt werden. Sie gingen nur mit jenen Gästen schlafen,
die ihnen zusagten und die mindestens drei Abende lang um
sie geworben hatten. Sonst verloren sie das Gesicht.
Der streitbare Bischof
Phat Diem, 1951
Die katholischen Kirchen lasteten wie mächtige Burgen über
den Strohdächern der Dörfer. Die Provinz Phat Diem stand
im Zeichen des Kreuzes. Sie war die Hochburg des Katholizismus am Rande des Golfes von Tonking. Die Eskorte von
fünf eingeborenen Milizsoldaten, die unser Flußboot gegen
Überfälle des Vietminh schützen sollte, atmete sichtlich auf, als
wir die Gefahrenzone verließen. Solange über den Ortschaften im Delta des Roten Flusses die neue Fahne des nationalen, antikommunistischen Vietnam und dessen Regierung von
Frankreichs Gnaden wehte – ein gelbes Tuch mit drei horizontalen roten Streifen – mußte man stets auf alles gefaßt sein. Bei
Einbruch der Dunkelheit wurde hier nämlich die Flagge des
Kaisers Bao Dai, den die Franzosen als Staatschef wieder eingesetzt hatten und den sie gegen Ho Tschi Minh aufzubauen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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suchten, eingeholt. Bei Nacht begann die Herrschaft der roten
Kommissare. Jedesmal, wenn auf den flachen Deichen eine
Bewegung entstand, hatten unsere Wachen ihre Flinten entsichert und nervös in den Nebel geschaut. In der Ferne hallte
Artilleriefeuer.
Aber jetzt waren wir in Sicherheit, seit über den wuchtigen
Gotteshäusern die gelbweiße Fahne des Vatikans flatterte.
Bischof Le Huu Tu von Phat Diem, dessen Domäne wir erreichten, war ein streitbarer Mann. Das wußten auch die Kommunisten, seit dieser ehemalige Ratgeber Ho Tschi Minhs sich mit
den gottlosen Marxisten überworfen hatte. Auch gegenüber
den Franzosen war Monseigneur Le Huu Tu, der dem Trappistenorden angehörte, auf Distanz bedacht. Er war ein engagierter vietnamesischer Patriot, der die Repräsentanten der
einstigen Kolonialmacht stets mit tiefem Mißtrauen empfing.
Er hatte die Beamten der Dritten Republik erlebt, und jeder
Franzose stand bei ihm zunächst einmal im Verdacht, ein verkappter Freimaurer zu sein.
Die Kathedrale von Phat Diem war ein ebenso massiver,
himmelstürmender Bau wie die übrigen Kirchen des Deltas.
Aber sie war ganz in Holz gebaut und mit chinesischen
Stilelementen verziert. Der Ratgeber Le Huu Tus, ein belgischer Priester, erwartete uns. »Sie kommen zu einem interessanten Zeitpunkt«, sagte der flämische Pater. »Sie erleben
hier eine Art Investitur-Streit. Der neue Gouverneur von
Tonking, Nguyen Huu Tri, der der konservativen Dai VietPartei angehört, möchte unseren Bischof zwingen, sich auf
seine religiösen Aufgaben zu beschränken und sich aus der
Politik zurückzuziehen.« Vor der Kirche staute sich eine riesige Menge. Von oben sahen diese Menschen mit ihren kreisrunden Strohhüten wie eine Ansammlung von Pilzen aus. Es
hatte seit Tagen geregnet. Die Katholiken von Phat Diem standen bis zum Knöchel im kalten Schlamm. Die Zugänge zum
großen Platz vor der Kathedrale waren durch die Soldaten
des Bischofs abgeschirmt. Le Huu Tu verfügte über seine
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eigene kleine Armee, die er höchstpersönlich befehligte und
die unter der Fahne des Heiligen Stuhles nach dem Reglement des Vietminh exerzierte. Die Vorsichtsmaßnahmen waren
nicht überflüssig, denn bei der letzten Fronleichnamsprozession hatten sich rote Partisanen unter die Gläubigen gemischt
und überraschend eine heillose Schießerei ausgelöst. Um die
Situation zu retten, hatte Le Huu Tu zu seinem größten Bedauern die Unterstützung einer benachbarten französischen Interventionseinheit anfordern müssen. Unterhalb der gelbweißen
Fahne mit den Schlüsseln Petri wehten auf dem Dach der
Kathedrale die Farben National-Vietnams, Frankreichs, der
USA und Großbritanniens. Die Franzosen bemerkten diese
angelsächsische Präsenz mit Mißmut, zumal die knabenhaften
vietnamesischen Seminaristen alle eintreffenden Europäer mit
listigem Lächeln in einem schauderhaften englischen Kauderwelsch begrüßten. Angesichts des Niedergangs Frankreichs,
den Le Huu Tu als unvermeidlich, ja wohl als gottgewollt
empfand, sahen die Katholiken von Tonking in den Vereinigten Staaten von Amerika ihren unbesiegbaren Protektor von
morgen.
Le Huu Tu war in der weißen Kutte seines Ordens auf
die Rampe am Eingang der Kathedrale getreten. Er war ein
hagerer, asketischer Mann, in dessen Augen ein heiliges Feuer
glühte. Im Typus ähnelte er sehr stark dem späteren Regierungschef des kommunistischen Vietnam, Pham Van Dong. Vor
ihm hatten sich Chorknaben aufgestellt, die sein Wappen, Mitra
und Drachen, hochhielten. Der Bischof segnete die Menge,
die im Schlamm niederkniete. Dann schüttelte er den Honoratioren und Gästen die Hand. Als ein französischer Kavallerie-Major, der in Phat Diem als Verbindungsoffizier fungierte,
den Ring des Bischofs küßte, verschluckte sich Julien, der aus
einer sozialistischen und antiklerikalen Familie stammte, vor
Entrüstung. Neben den katholischen Geistlichen, die Le Huu
Tu umgaben, waren auch ein paar buddhistische Bonzen in
grauem Gewand erschienen. Sie fügten sich ganz natürlich in
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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dieses Bild. Der Bischof trat ans Mikrophon. Die Milizsoldaten
auf beiden Seiten der Treppe, die unter breiten Schlapphüten
das Gewehr präsentiert hatten, setzten die Waffe ab. Die Menge
erhob sich und entfaltete Spruchbänder, wie sie es einmal auf
den Kundgebungen des Vietminh gelernt haben mochte.
Der Belgier übersetzte uns, was nun folgte. Monseigneur Le
Huu Tu erklärte seinen Diözesanen die neue politische Situation in Tonking. Er machte aus seiner Geringschätzung für
den als Staatschef wiedereingesetzten Kaiser Bao Dai kein
Geheimnis. Bao Dai hatte sich stets dem Stärkeren gebeugt, ob
es Franzosen, Japaner oder Kommunisten waren. Vor Ho Tschi
Minh war er schließlich nach Hongkong geflüchtet, hatte sich
dort als Geschäftsmann etabliert und wäre wohl am besten
dort geblieben. Der Hirte von Phat Diem hingegen hatte bei
den Seinen ausgeharrt, vorübergehend hatte er aus taktischen
Gründen mit Ho Tschi Minh paktiert, aber die marxistische
Ideologie stets verurteilt. Als 1949 der Vietminh vor dem Herannahen der Franzosen seine Strategie der verbrannten Erde
auch in den katholischen Provinzen von Phat Diem und Bui
Chu durchführen wollte, hatten die Christen unter Führung
ihrer Seelsorger zur Waffe gegriffen und dem roten Spuk ein
Ende gesetzt. Aber nun kamen neue Gefahren auf sie zu.
Die Franzosen hatten endlich ihrem separatistischen Spiel
in Cochinchina ein Ende gesetzt und einen Regierungschef für
ganz Vietnam ernannt. Ihre Wahl war auf den Großgrundbesitzer Trang Van Huu aus Saigon gefallen, der neben der vietnamesischen auch die französische Staatsbürgerschaft besaß
und der als typischer Vertreter der cochinchinesischen Bourgeoisie in Nordvietnam auf schärfste Ablehnung stieß. Bao Dai,
der in Trang Van Huu ein Instrument der Franzosen sah, hatte
deshalb einen Gouverneur von Tonking eingesetzt, der dieser
rauhen Landschaft angemessen schien. Der Dai-Viet-Politiker
Nguyen Huu Tri war der französischen Polizei schon vor dem
Kriege als militanter Nationalist aufgefallen und hatte nach
China flüchten müssen. Er trat neuerdings ganz offen für
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
61
eine totale Loslösung Vietnams von Frankreich ein und setzte
auf die amerikanische Karte. Er hätte der ideale Partner des
Westens im Kampf gegen den asiatischen Kommunismus sein
können, wenn seine Dai-Viet-Partei eine breite Volksbewegung
gewesen wäre. Doch er verfügte nur über eine kleine Gefolgschaft, und die Mandarine, die sich auf die Pfründe der neuen
Verwaltung gestürzt hatten, waren im Volk weitgehend diskreditiert. Der Patriotismus des Gouverneurs Tri stand außer Zweifel. Aber er war zur Verwirklichung seiner Politik der nationalen Unabhängigkeit und der Selbstbehauptung gegenüber
den Kommunisten auf eben jene französische Armee angewiesen, die er am liebsten zum Teufel gewünscht hätte. Nun versuchte er auch noch, das Bistum von Phat Diem seinem schmalen Einflußbereich einzuverleiben und Monseigneur Le Huu
Tu im Namen eines nationalen Zentralismus zu entmachten,
der unter den gegebenen Umständen eine Farce war.
Der Bischof spielte seine Rolle der Unterwerfung wie ein
routinierter Schauspieler. »Ich bin bereit«, so rief er in der
seltsam quäkenden Sprache seines Landes, »den Weisungen
des Gouverneurs von Hanoi zu folgen. Ich bin bereit, die weltliche Verantwortung für meine geliebten Diözesanen niederzulegen und mich lediglich meinen seelsorgerischen Aufgaben zu widmen.« Da erhob sich ein Sturm des Protestes. Die
Menge kniete wieder nieder und schrie in wohlvorbereiteten
Sprechchören: »Wir wollen keine fremden Machthaber. Wir
folgen unserem Bischof und unterwerfen uns in allem seiner
priesterlichen Autorität!« Als Le Huu Tu mit leicht gerötetem
Gesicht die Arme ausbreitete und den Segen erteilte, dröhnten
die Glocken aus allen Kirchen der Reisebene, und die Milizkapelle von Phat Diem spielte einen Marsch, in dem sich
französische Clairons und chinesische Gongs mischten.
Die Rückkehr nach Hanoi war mühselig. Die Straßen
waren durch die berüchtigten »Klaviertasten« fast unbefahrbar gemacht. Die Löcher mußten jeden Morgen durch Bulldozer zugeschaufelt werden. Unter den Sitzen des Jeeps lagen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Sandsäcke, denn der Vietminh hatte mit der systematischen
Verminung aller Verbindungswege begonnen. Ein wirksamer
Schutz war das natürlich nicht. Rund um das Delta und an
sämtlichen Kontrollpunkten wurde eifrig gebaut und Beton
gemischt. General de Lattre hatte die Errichtung einer permanenten Verteidigungslinie angeordnet, um den Überfällen des
roten Gegners einen Riegel vorzuschieben. Diese Befestigungen waren getreulich im Stil der Maginot-Linie ausgeführt,
was ironische Kommentare auslöste. Die Soldaten empörten
sich vor allem über die skandalösen Profite, die gewisse
französische Unternehmer bei diesem Geschäft erzielten. Die
grauen Bunker in den Reisfeldern wirkten von Anfang an
wie Signale des Untergangs. Sie waren durch Stacheldrahtverhaue abgeschirmt. Die Verteidigung der Kasematten wurde
meist schwarzen Kolonialeinheiten übertragen. Da der Verdacht bestand, daß die »Senegalneger« aus Furcht vor der
Dunkelheit und den Partisanen bei Nacht die Flucht ergriffen,
wurden sie abends in ihren Bunkern eingeschlossen. Erst beim
Morgengrauen ließ man sie wieder heraus.
In der Nachbarschaft von Ha Duong begegneten wir einem
Bataillon der neugegründeten vietnamesischen Nationalarmee. Die Franzosen hielten nicht viel von dieser Truppe und
ließen das die gelben Verbündeten spüren. Das hatte wiederum zur Folge, daß diese asiatischen Soldaten an sich selbst
zweifeln mußten und wenig Kampfeifer an den Tag legten.
»Schauen Sie sich das an«, tadelte der Capitaine, der mich
begleitete, »statt das Reisfeld zu durchkämmen, sich leichtfüßig
im Schlamm zu bewegen wie ihre Landsleute vom Vietminh,
gehen diese Nationalsoldaten stets auf den Straßen spazieren
und packen sich mit Material und Waffen so voll, daß sie völlig
unbeweglich werden. Barfuß sollten sie gehen, statt unsere
Marschstiefel anzuziehen.«
Zum Abendessen war ich bei de Lattre de Tassigny eingeladen. Seine Frau war nach Hanoi gekommen, was als Symptom für die Fortschritte seiner Krankheit gewertet wurde.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Sein Sohn Bernard, ein blutjunger Leutnant, war ebenfalls zu
Gast. Bernard sollte wenige Tage darauf in der felsigen Zukkerhutlandschaft von Hoa Binh fallen. Es war auch ein amerikanischer Oberst zugegen, der polternden Optimismus verbreitete und Madame de Lattre plumpe Komplimente machte,
was dem General sichtlich auf die Nerven ging. De Lattre war
schlecht gelaunt. Das Experiment mit Gouverneur Tri hatte
sich als unrentabel erwiesen. Einen Feind Frankreichs zum
Statthalter in Tonking zu machen, ging eventuell noch an, aber
wenn dieser Mann sich dann unfähig erwies, eine nennenswerte Anhängerschaft gegen die Kommunisten aufzubieten,
dann hatte man aufs falsche Pferd gesetzt. Am Nachmittag des
gleichen Tages hatte Nguyen Huu Tri im unvermeidlichen Nieselregen dieser Jahreszeit eine Großkundgebung vor der Oper
einberufen. Das war eine klägliche Veranstaltung gewesen.
Der grauhaarige Mandarin, dessen Gesicht irgendeinen indischen Einschlag verriet, war beim Hochkommissar endgültig
in Ungnade gefallen.
Zwei Tage zuvor war de Lattre mit Staatschef Bao Dai auf
dessen Yacht im Golf von Tonking zusammengetroffen. Es war
dabei sehr heftig zugegangen. Der dickliche Ex-Kaiser galt als
hochintelligent und total charakterlos. Er war ein Nachkomme
jenes großen Gia Long, der die ersten Franzosen nach Hue
geholt hatte, um seine Abhängigkeit vom Reich der Mitte zu
verringern. De Lattre hatte von Bao Dai vergeblich gefordert,
daß er sich mit vollem persönlichem Einsatz um das Wohl
seines Vaterlandes bemühe. Doch er war auf einen phlegmatischen Playboy gestoßen, der auf alle Vorschläge wie eine beleidigte Diva reagierte. Am Ende hatte er, einem französischen
Augenzeugen zufolge, ein Gesicht aufgesetzt wie ein RikschaKuli, der mit einer zu hohen Banknote bezahlt wurde und der
sich weigert, das Kleingeld herauszurücken.
Der General hatte die Speisen nicht angerührt und nur ein
Glas Wasser getrunken. »Neulich«, so begann er, »habe ich die
Studenten von Saigon um mich versammelt. Ich habe ihnen
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gesagt, daß wir den Vietnamesen die volle Verfügung über
ihre Heimat überlassen wollen, aber daß ich von der Jugend
dieses Landes, vor allem von der intellektuellen Elite Vietnams, ein patriotisches Engagement erwarte. Diese privilegierten Sprößlinge der hiesigen Bourgeoisie können doch nicht
ewig darauf zählen, daß unsere französischen Bauern- und
Arbeitersöhne ihre Haut zum Markte tragen, um den Sieg
des asiatischen Kommunismus zu verhindern. Ich habe ihnen
zugerufen: Messieurs, ich verachte Sie, wenn Sie weiterhin
Ihrer Muße und Ihren Vergnügungen nachgehen, während Ihr
Volk leidet und stirbt. Da hätte ich wesentlich mehr Respekt
vor Ihnen, wenn Sie auf die andere Seite gingen und mit den
Vietminh gegen uns kämpften.«
Eine letzte Vision des Krieges in jenen Tagen: Auf Anraten
de Lattres war ich in die Küstenprovinz Thai Binh gefahren.
Dort war das Unternehmen »Quecksilber« im Gange. Zwei
Regimenter der 320. Division des Vietminh seien eingekreist
worden, so hieß es in den Stäben von Hanoi.
Die Wolken hingen schwer vom bleigrauen Himmel. Von
Norden ging ein beißend kalter Wind. Die kleinen Jungen,
die wie Mowgli rittlings auf den Wasserbüffeln saßen, hatten
blaugefrorene Beine. Die Armee der »Französischen Union«
war ein bunter Heerhaufen. Die Marokkaner trugen braungestreifte Dschellabas aus dicker Schafswolle. Die Algerier waren
an ihren Turbanen zu erkennen. Wer ahnte damals schon, daß
in diesen Reisfeldern der Keim auch zur algerischen Revolution gelegt würde. In Indochina holten sich die Maghrebiner
den Virus des Nationalismus. Wenn ein Lastwagen mit dem
rotgrünen Wappen der Fremdenlegion markiert war, wehten
deutsche Wortfetzen zu uns herüber. Gewisse Einheiten der
französischen Kolonialinfanterie setzten sich bereits zu einem
Drittel aus Vietnamesen zusammen. Das nannte man le jaunissement – die Gelbfärbung des Expeditionskorps. Die Mutterlands-Franzosen waren in diesem Sammelsurium eine Minderheit.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Am vorderen Befehlsstand der 10. Groupe Mobile hörte
die Straße endgültig auf. Nebenan feuerte eine Batterie
in unregelmäßigen Abständen. Der Poste de Commandement
befand sich in einem Ahnentempel. Trotz des dichten Zigarettenqualms hing immer noch Weihrauchgeruch in der Luft.
Draußen rückten zwei Züge Fallschirmjäger auf die letzte
Dorflinie vor dem Meer zu. In weitem Abstand wateten sie
durch das Wasser und versanken oft knietief zwischen den
hellgrünen Reishalmen. Vom Dorfrand schlug ihnen nur schwaches Feuer entgegen, das gänzlich verstummte, als sie die
ersten Lehmhütten erreichten. Die Paras zeigten uns die
Löcher eines unterirdischen Fuchsbaus, in dem sich der
Vietminh eingegraben hatte und in den sich bestenfalls ein
dreizehnjähriger Europäer hineinzwängen könnte. »Wenn wir
die Dörfer durchkämmen, ziehen sie sich Gras-Schollen oder
Gestrüpp über den Kopf, und wir können stundenlang an
ihnen vorbeilaufen«, meinten die Soldaten.
Auf dem schmalen, glitschigen Lehmwall kamen uns ein
paar Leichtverletzte entgegen. Sie waren über und über
mit Schlamm verschmiert. An einer Wegkreuzung kontrollierten Paras mit vorgehaltener Maschinenpistole eine endlose
Kolonne von Flüchtlingen, die so plötzlich aufgetaucht war, als
sei sie aus dem Lehm gestampft worden. Aus allen Himmelsrichtungen strömte jetzt die Zivilbevölkerung heran. Der Vietminh hatte sie in einem letzten Quadrat des Kessels längs des
Strandes zusammengetrieben, um notfalls in ihrer Masse verschwinden und sich durch die französischen Linien schmuggeln zu können. Die Partisanen der 320. Vietminh-Division
hatten ohnehin die schwarze Tracht der Bauern angelegt, ehe
sie ins Delta einsickerten.
Die Franzosen siebten die jungen Männer aus. Bald fanden
sie die ersten Dokumente: Militärausweise, Regimentsbefehle,
ideologische Kampflieder, Flugblätter, Ho Tschi Minh-Photos,
sogar ein Bild mit Marschall Stalin. Die Waffen lagen jedoch
irgendwo im Reisfeld begraben. Durch puren Zufall war ein
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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politischer Regimentskommissar aufgespürt worden. Er wurde
in seinem Erdloch entdeckt, weil das Minensuchgerät auf seine
Armbanduhr reagierte. Der Mann sah düster vor sich hin und
verweigerte jede Aussage.
Nieselregen fiel auf die endlose Reihe der Flüchtlinge. Das
Gebiet von Thai Binh ist eines der übervölkertsten der ganzen
Erde. Es bot sich ein Bild des Elends. Am meisten litten die
Frauen mit ihren Kindern, die seit Tagen nichts gegessen
hatten. Zwischen den gebückten Bäuerinnen in braunen Kitteln gingen feierliche Dorfmandarine mit schütterem Ziegenbart und dem schwarzen Turban ihres Standes, kahlgeschorene buddhistische Mönche und von Zeit zu Zeit auch ein
katholischer Priester mit Tropenhelm und Soutane, der seine
Pfarrgemeinde wie eine disziplinierte Kompanie anführte.
Daneben stampften die mächtigen Büffel.
Gegen Abend durchbrach die Sonne die Wolken und spiegelte sich in den Reisfeldern. Zwischen der leuchtenden
Wasserfläche und der nassen Luft, die nur ein Element zu
bilden schienen, sah es von ferne aus, als hinge die schwarze
Kette der Flüchtlinge, die sich vor einer Eselsbrücke stauten,
wie ein düsterer Flug von Zugvögeln in einer unwirklichen chinesischen Malerei.
An der Grenze Chinas
Lai Tschau, 1951
Der Pilot der Ju 52 war ein kaffeebrauner Antillen-Franzose
von Martinique. Er strömte Heiterkeit und Selbstbewußtsein
aus. Die Maschine, die einmal in Görings Luftwaffe Dienst
getan hatte, tastete sich behutsam durch tief hängende Wolkenfetzen. Zwischen den grauen Schleiern waren die Felsschluchten und Dschungelufer des Schwarzen Flusses zu erkennen.
Wir flogen über Vietminh-Gebiet in Richtung Lai Tschau, einem
Gebirgsnest in jenem Hochland von West-Tonking, das an die
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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chinesische Provinz Jünan und das Königreich Laos grenzte.
Lai Tschau war zur Hauptstadt einer »Thai-Föderation« deklariert worden. Der Gebirgsstamm der Thai hatte sich seit Jahrhunderten gegen die aus der Ebene vordringenden Vietnamesen zur Wehr gesetzt. In diesem abgelegenen Gebirgsland,
das mit Hanoi lediglich durch eine Luftbrücke verbunden
war, hatten die Franzosen bei den rassischen Minderheiten
spontane Alliierte gefunden. An der Hintertür der Ju 52
hielt sich ein deutscher Fremdenlegionär auf und schnürte
Ballen mit Proviant und Munition zusammen. Die versprengten französischen Stützpunkte in der Thai-Region wurden
durch Fallschirmabwürfe versorgt.
Auf einer großen Wiese war das Flugzeug zum Stehen
gekommen. Ein paar Thai-Soldaten, mit Filzhüten und blauen
Pyjamas angetan, standen wie Statisten in einem asiatischen
Räuberfilm am Rande des Rollfeldes. Sie hielten lässig eine
neugierige Menge Eingeborener zurück, die sich durch die
bunte Vielfalt ihrer Trachten und ganz schmale Sehschlitze
auszeichneten. In Lai Tschau begann ein Bilderbuch-Asien
von aufregender Fremdheit.
Colonel Coste, ein blonder, ruhiger Nordfranzose, plante
eine Inspektionsreise von etwa vierzehn Tagen, die ihn zu
den französischen Garnisonen längs der chinesischen Grenze
führen sollte. Die Thai-Föderation war das letzte Territorium
Indochinas, wo die französische Armee noch unmittelbaren
Kontakt mit dem Reich der Mitte hatte, wenn man von dem
Städtchen Mong Cai am Golf von Tonking absah, dessen
Nung-Bevölkerung bereits kantonesisch sprach. Mong Cai
hatte ich ein paar Tage zuvor besucht und über einen schmalen Grenzfluß auf die erste chinesische Ortschaft im Norden
geblickt. Jenseits der gesperrten Brücke war mir vor allem
eine riesige Propagandamalerei auf einer Pagodenmauer aufgefallen. Siegreiche Soldaten der Volksbefreiungsarmee, die
roten Fahnen wie Staffetten haltend, schienen auf dem Plakat
einen Wettlauf gegen eine Mannschaft blaugekleideter Arbei-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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ter auszutragen. Als Ziel winkten ihnen die verklärten Symbole der kommunistischen Revolution, und ein väterlicher Mao
spielte Schiedsrichter.
Der französische Administrator von Lai Tschau, der den
Thai-Fürsten Deo Van Long zu beraten hatte, empfing uns in
seiner Residenz, die wiederum im Stil einer weißen Spielzeugburg angelegt war. Er lebte mit einer sehr eigenwilligen Chinesin zusammen. Während Coste und ich uns zur Siesta niederlegten, wurden wir durch die dünnen Wände unfreiwillige
Zeugen einer Eheszene. Die Chinesin hatte eine französische
Militärmaschine benutzen wollen, um in Hanoi Proviant
und neue Kleider einzukaufen. Sie war abgewiesen worden
und tobte nun in schrillen Tönen gegen diese Mißachtung
ihrer Person. Der Administrator versuchte vergeblich, sie zu
beschwichtigen. »Was bildet ihr euch eigentlich ein?« schrie
die energische Dame, deren Ausdrucksweise vom Soldatenjargon geprägt war. »Ihr nennt uns gelbe Affen und betrachtet
euch als Weiße. In Wirklichkeit seid ihr rothäutige Barbaren.
Häßliche rote Krebse seid ihr, und ich werde wie Vieh behandelt.«
Am Abend empfing sie uns elegant und gesittet zu einem
vorzüglichen chinesischen Menü. Das teure Abendkleid war
hochgeschlossen. Durch die Seitenschlitze, die fast zur Hüfte
reichten, waren schlanke, lange Beine zu erkennen. Sie hatte
einen edlen, elfenbeinernen Teint, neben dem das sonnenverbrannte Gesicht des Administrators tatsächlich wie eine rote
Rübe wirkte. Halb als Bedienung, halb als Gesellschafterin war
auch ein bildschönes Yao-Mädchen in der Tracht ihres Volkes
erschienen. Der riesige schwarze Turban, die Silberketten und
die schweren Silbergehänge an den Füßen, der kurze schwarze
Faltenrock, der den Ansatz der kräftigen Schenkel freigab, und
sogar die schwarzen Wickelgamaschen hätten einen jener Pariser Modeschöpfer inspirieren können, die stets auf der Suche
nach exotischen Einfällen sind. Das Yao-Mädchen war sich
seiner Schönheit bewußt, posierte mit Mannequin-Routine für
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
69
ein obligates Photo und war kein bißchen prüde.
Als die Frauen sich zurückgezogen hatten, legte der Administrator mit vieldeutigem Schmunzeln seine Schallplatten auf.
Es war eine einzige Sammlung von zotigen Trinkliedern. Aus
dem Bücherregal holte er wie erlesene Kostbarkeiten eine pornographische Kollektion heraus, wie sie in jenen Zeiten noch
recht ungewöhnlich war. Vielleicht tröstete er sich auf diese
Weise über die frigide Mißachtung durch seine chinesische
Bettgefährtin hinweg, meinte Oberst Coste später. In diesen
verlorenen Außenposten wunderte man sich nicht über Sonderlinge jeder Veranlagung.
Unser kleiner Trupp bewegte sich schon seit acht Stunden
über die Gebirgspisten, die nach Norden führten. Stellenweise
war der Pfad wie eine Treppe ins Gestein gehauen. Dann knieten die kleinen, robusten Gebirgspferde mit den Vorderbeinen
auf die erhöhte Stufe, federten mit der Kruppe nach oben
und überwanden das Hindernis. Ein hagerer französischer
Hauptmann aus der Gascogne war hinzugekommen. Er sprach
mit einem rauhen Pyrenäenakzent und war stets zum Scherzen aufgelegt. Seine riesige Nase, die die Asiaten mit einem
Gemisch aus Entsetzen und Spott musterten, hatte ihm den
Spitznamen »Cyrano« eingebracht. Als Begleitschutz waren
uns drei Thai-Partisanen mitgegeben worden, eigenwillige und
verschlossene Männer, die früher vielleicht einmal Wegelagerer gewesen waren. Dann gab es noch Monsieur Ko, einen stillen, lächelnden Chinesen in Zivil. Monsieur Ko war Agent des
Zweiten Büros. Er hatte im Verhör wohl schon so viel Vietminh-Gefangene gefoltert, daß wir uns auf seine Loyalität verlassen konnten. Er besaß jedenfalls eine phänomenale Kenntnis der Landschaft und ihrer Stämme.
Vor dem endgültigen Verlassen der Senke von Lai Tschau
hatte Coste mich auf einen Pfad verwiesen, der in südwestlicher
Richtung verlief. »Dieses ist unsere einzige Landverbindung
mit der Außenwelt, die nicht von den Viets beherrscht ist«,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
70
sagte er. »Die Piste führt nach Laos und ist nur in der Trockenzeit benutzbar. Ungefähr auf halber Strecke bis zur Königsstadt
Luang Prabang am Mekong liegt in einer fruchtbaren Talmulde ein Thai-Dorf namens Dien Bien Phu, wo wir eine kleine
Garnison stationiert haben.«
Gegen Abend hatte sich der Himmel geklärt. Wir ritten auf
ein Pfahldorf im Tal zu. Die Hütten standen sauber und gastlich am Fluß. Mit hochgezogenen Beinen trieben wir die Pferde
in die tiefe und reißende Furt, schaukelten wie Affen auf den
Sätteln und waren froh, als wir das andere Ufer erreichten. Die
Dorfältesten erwarteten uns. Das Dorf hatte ein festliches Empfangskomitee gebildet. Während die Partisanen die Pferde versorgten und die Saumtiere entluden, die zwei leichte Maschinengewehre, einen Granatwerfer und Munition transportierten, wurden wir bereits zum Essen geführt. Wir hockten auf
den Holzdielen des Gemeinschaftshauses, aßen klebrigen Reis,
wie er im Hochland wächst, und gehacktes Büffelfleisch. Dazu
wurde unentwegt ein abscheulicher und hochalkoholischer
Zuckerrohrschnaps, »Schum« genannt, serviert. Ein ThaiMädchen hatte sich hinter jeden Europäer gekniet. Sobald
wir die Eßstäbchen sinken ließen, setzten sie mit erstaunlich
kräftigem Arm die Schale mit Schum an unsere Lippen und
zwangen uns, die trübe Flüssigkeit in einem Zug zu leeren.
»Kampei« schrie dazu die ganze Tafelgesellschaft.
Der Vollmond war aufgegangen, und wir merkten, daß
unsere Ankunft mit einer religiösen Feier zusammenfiel. Einer
der alten runzligen Männer forderte die Mädchen auf, an den
Fluß zu gehen. Er war wohl der Schamane des Dorfes. Diese
Gebirgs-Thai haben den gleichen rassischen Ursprung wie
die Thai-Bevölkerung von Siam. Sie sprechen auch eine
eng verwandte Sprache, die man in Bangkok sehr wohl verstehen würde. Aus Jünan und den Gebirgen Südchinas waren
die Thai erst im späten Mittelalter unter dem Druck des
Mongolenkaisers Kublai Khan in einer großen erobernden
Völkerwanderung bis zur Menam-Ebene des heutigen Thailand
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
71
vorgedrungen. Sie hatten sich dort mit den dunkelhäutigen
Mon- und Khmer-Rassen vermischt und waren zum Buddhismus übergetreten. Die Gebirgs-Thai in der Haute Region von
Indochina hingegen waren meist Animisten geblieben und
hatten sich allenfalls ein paar elementare Sittenregeln des
Konfuzianismus angeeignet.
Die Mädchen hatten dem Vollmond gegenüber einen Halbkreis gebildet. Sie trugen das weiße enge Mieder, das sie
als sogenannte »weiße« Thai auswies; es gab auch rote und
schwarze Thai. Der schwarze Rock fiel lang und eng bis auf
die bloßen Füße. Um die Hüfte trugen sie eine grüne Schärpe,
und ihre Haarpracht war zu schweren Knoten geflochten. Aus
dem Gemeinschaftshaus dröhnte ein Gong, und die anmutigen Jungfrauen begannen sich tänzerisch zu bewegen. Sie
führten eine Art Samba-Rhythmus im Zeitlupentempo aus.
Dabei waren sie stets der makellosen Scheibe des Mondes
zugewandt, dem offenbar die einladenden Bewegungen ihres
Schoßes galten. »Das ist ein Fruchtbarkeitstanz«, flüsterte
Cyrano.
Zwei Tage später machten wir bei den Yao Rast. Ihr Dorf
klebte an einem steilen Hang. Im wesentlichen lebten sie
von Trockenreis und Tauschhandel. Die Yao-Frauen hier oben
waren nicht so elegant und schon gar nicht so kokett wie
ihre frivole Stammesschwester von Lai Tschau. Aber auch sie
trugen kunstvolle Stickereien und über die Schultern hatten
sie zwei reich verzierte Riemen geworfen, die angeblich Hundetatzen darstellen. Die Yao, auch Man genannt, betrachten
sich als Nachkommen jenes legendären Hundes, der sich eines
Tages am Hofe des Kaisers von China eingestellt hatte, um
dessen Tochter zu freien. Das Reich der Mitte war damals
von einem schrecklichen Ungeheuer heimgesucht. Keiner der
Recken, die der Herrscher ausgeschickt hatte, war diesem
Monstrum gewachsen. Schließlich hatte der Kaiser seine Tochter und die Hälfte des Reiches demjenigen versprochen, wer
immer er auch sei, der China von dieser Plage befreien würde.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
72
Der sagenhafte Hund, der Urvater der Yao, vollbrachte die Tat
und tötete das Ungeheuer. Der Kaiser überließ ihm getreu der
Absprache seine eigene Tochter, aber als es zur Teilung des
Reiches kam, da wußte er listige Ausflucht. Gewiß, die Hälfte
Chinas werde der Hund erhalten, aber niemand habe gesagt,
ob die Teilung senkrecht oder waagerecht stattfinden sollte.
Somit erhielten der Hund und seine Nachfahren die obere, die
gebirgige Hälfte Chinas zugesprochen, während die fruchtbaren Täler und Reisebenen den eigentlichen Söhnen des Himmels vom Volke der Han vorbehalten blieben.
Durch dichten Dschungel ging es nach Phong To, dem
Sitz eines hochgeachteten Thai-Fürsten. Im feuchten Dickicht
wurden wir von Blutegeln geplagt, die sich auf uns fallen
ließen. Man mußte der ersten Ekelreaktion widerstehen und
diese fetten Schmarotzer um keinen Preis abreißen, weil sonst
eitrige Wunden entstanden. Wenn man ihnen jedoch mit einer
brennenden Zigarette zusetzte, fielen sie von selbst ab. In
Phong To blieben wir drei Tage. Es war eine Folge von Festen,
von Tänzen und Spielen. Die Thai-Mädchen waren hier noch
lieblicher und heiterer. Der greise Fürst, den der Oberst mit
Exzellenz anredete, besaß die Weisheit und die Allüren einer
asiatischen Märchenfigur. Abends wurde Opium geraucht, ehe
die Ehrenjungfrauen ihren Reigen vorführten. Ganze Berge
von Blumen waren um unsere Ruhematten geschichtet, wenn
wir vom Bad unter dem Wasserfall zurückkamen. Uns war, als
hätten wir endlich das Traumland Schangri-La entdeckt.
Doch der Krieg war nicht fern. Cyrano saß lange Stunden am
Morsegerät und verständigte sich mit den paar französischen
Offizieren und Unteroffizieren, die – ganz auf sich gestellt – mit
ihren Partisanen das Hochland durchstreiften. Auch der Vietminh hatte seine Kommissare auf die Thai-Föderation angesetzt und bei einzelnen Stämmen gewisse Erfolge erzielt. Je
höher wir jetzt kamen, desto kahler und unwirtlicher wurde die
Landschaft. Das Gras wurde um diese Jahreszeit im Zuge der
sogenannten »Rai«-Methode angezündet. Durch diese Rodung
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
73
entstanden riesige Steppenbrände, denen wir nur im Galopp
entkamen. Dabei verließen wir uns ganz auf den Instinkt unserer Pferde, die sich wie Gebirgsziegen am Rande der Abgründe
bewegten. Bei Nacht wickelten wir uns in die Fallschirme, mit
denen die vorgeschobenen Posten versorgt worden waren, und
schnatterten trotzdem vor Kälte.
In dieser Höhe lebte ein wilder und harter Menschenschlag,
die Meo. Damals waren die Meo, in China auch Miao genannt,
eine nur den Ethnologen bekannte Rasse. Seit dem amerikanischen Krieg in Laos sind sie für jeden Zeitungsleser ein Begriff
geworden. Die Meo von Nord-Tonking siedelten auf jenen trostlosen Gipfeln, die die längste Zeit des Jahres in Nebel und
Sprühregen verschwinden. Die Tracht der Frauen war ähnlich
wie die der Yao, aber sehr viel bunter und schmutziger. Wir
begegneten immer häufiger den kräftigen Meo-Weibern mit
den schweren Kiepen auf dem Rücken und der Tonpfeife
im betelgeröteten Mund. Sie hatten mächtige Waden, denn
sie liefen trotz ihrer Last die steilsten Hänge im Laufschritt
hinauf. Ihre roten Schürzen, ihre Silberschnallen waren
völkerkundliche Kostbarkeiten. Die Männer trugen durchweg
schwarze Pyjamas und eine schwarze Kalotte auf dem
Kopf. Sie hantierten mit vorsintflutlichen Vorderladern oder
Steinschloßgewehren. Mit diesen abenteuerlichen Kriegern
war nicht gut Kirschen essen, denn in jenen Tagen pflegten sie
noch die Leber ihrer erschlagenen Feinde zu verzehren.
Die Meo, die, wie ihr Name besagt, die Katze als eine Art
Totem betrachten, seien tibetischen Ursprungs, so hatte der
Hauptmann aus der Gascogne gemeint. Aber er irrte wohl. Die
Legenden dieses Volkes wissen von seiner endlosen Wanderung und von einem Ursprungsland zu berichten, wo die Nacht
ein halbes Jahr dauert und das Wasser zu Stein erstarrte. Die
Meo mußten aus Sibirien nach Südostasien gekommen sein.
Bei den Meo ging es nicht so heiter und gesittet zu wie
bei den Thai. Vor dem Dorf Yao-San erwarteten uns drei vor
Schmutz starrende Krieger und führten uns zum Gemein-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
74
schaftshaus. Hinter einer Wegbiegung bot sich uns ein herrlicher Anblick: Im Dunst des Abends leuchtete in allen
Farben des Regenbogens ein riesiges Feld von Mohnblumen.
Die Meo sind bis auf den heutigen Tag die großen Opiumproduzenten Südostasiens. Ihre Frauen standen mitten
im Mohn. Sie schnitten mit einem winzigen Messer die
dickbäuchigen Blütenansätze an, aus denen zähflüssiger,
weißer Saft träufelte.
Auch die Meo hatten sich in ihrer Mehrzahl auf die Seite
der Franzosen geschlagen. Colonel Coste holte dicke Bündel
Piasterscheine aus seiner Satteltasche und verteilte den Sold
an diese letzte Partisanentruppe vor den Toren Chinas. Das
Essen der Meo rührten wir vorsichtshalber nicht an, aber
ihren Opium durften wir nicht abweisen. In der Hütte verbreitete die Ölfunzel ein rötliches Halbdunkel. Ein alter Mann,
der Schamane von Yao-San, nahm einen Dudelsack hoch. Er
spielte eine wahre Katzenmusik. Der Schamane begann sich
zu drehen, der Rhythmus des Dudelsacks beschleunigte sich.
Nach und nach geriet der Mann in Trance, setzte das Instrument jäh ab, stammelte ein paar Worte und brach vor dem
Hausaltar zusammen. Die übrigen Meo sahen gebannt und mit
glasigen Augen zu. Auch wir fühlten uns eigenartig entrückt,
denn wir hatten einige Pfeifen zu viel geraucht.
Endlich erreichten wir die Grenze. Das Opium des Vorabends
machte uns während der letzten Etappe schwer zu schaffen,
zumal wir die Hänge zu Fuß erklimmen mußten. Das Grenzfort
Ban Nam Kum lag tief im Tal und wäre im Ernstfall überhaupt
nicht zu verteidigen. Ein einsamer, malariagelber französischer
Unteroffizier lebte hier mit einem Dutzend Thai-Partisanen.
Der Mann war in dieser trostlosen, feindseligen Umgebung
verschroben geworden. Sein einziges Interesse galt seiner Erbsen-Plantage. Er war schlecht rasiert, und die Disziplin in
seinem Haufen ließ zu wünschen übrig. Von der Gegenseite,
aus der chinesischen Provinz Jünan, waren schwer bewaff-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
75
nete Besucher gekommen. Den Befehl über diese buntgescheckte Truppe, die alles andere als vertrauenerweckend
wirkte, führte ein chinesischer Feudalherr der Nachbarschaft,
der seine Pächter bewaffnet hatte, um den Vorhuten Mao Tsetungs, die aus der Distrikthauptstadt Mong Tzeu heranrückten,
Widerstand zu leisten. Das Aufgebot dieses feisten Mannes, der
ohne ersichtlichen Grund ständig kicherte, war wohl durch ein
paar professionelle Wegelagerer verstärkt worden. Ihre politische Motivierung als angebliche Parteigänger des Kuomintang klang nicht überzeugend. Der reiche Chinese führte ein
vertrauliches Gespräch mit Coste. Die Saumtiere wurden entladen. Den letzten nationalchinesischen Grenzkriegern von
Jünan wurden die beiden Maschinengewehre und der Mörser
ausgehändigt. »Wir haben euch Milchkonserven mitgebracht«,
hieß das Code-Wort, und der Colonel mußte wohl selbst über
seinen Optimismus lächeln, wenn er den versprengten chinesischen Haufen von Ban Nam Kum als eine Art Luftmatratze im
strategischen Vorfeld von Französisch-Indochina bezeichnete.
Ob ich nicht dem Hauptquartier der Truppen Tschiang Kaischeks im südlichen Jünan einen Besuch abstatten möchte,
fragte mich der chinesische Bandenführer, während wir zum
Frühstück eine Nudelsuppe schlürften. Der Ort Muong La sei
nur 20 Kilometer jenseits des Nam Kum-Flusses entfernt. Er
werde mir einen Vertrauensmann zuteilen. Coste, dem ich den
Vorschlag unterbreitete, stimmte zu, gab mir aber den dringenden Rat, noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein.
Einen Thai-Partisanen würde er mir als Dolmetscher mitgeben.
Wir trieben unsere Pferde durch die Nam Kum, deren
dunkelgrüne Wasser weiße Schaumkronen trugen. Die Grenze
zwischen Tonking und China war rein theoretisch. Drüben in
Jünan waren die Berge ebenso kahl und die Reisfelder ebenso
trocken um diese Jahreszeit. Auch die Bambushäuschen waren
die gleichen wie auf indochinesischer Seite. Wir trieben die
Pferde im Galopp über einen engen Dschungelpfad, dessen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
76
Schlingpflanzen den bleigrauen Himmel nur selten freigaben.
Im Dickicht leuchteten faustgroße weiße Blumen. In den Reisfeldern arbeiteten Bauern unter topfähnlichen Strohhüten. Sie
erstarrten vor Staunen, als sie einen Weißen sahen. Ich prägte
mir den Weg ein. Man wußte nie, unter welchen Umständen
wir zurückmußten, und die Vorhuten der Volksbefreiungsarmee Mao Tse-tungs sollten nur 40 Kilometer entfernt sein.
Plötzlich wurden wir an einer Wegbiegung durch zwei waffenstarrende Gestalten aufgehalten. Sie waren in dunkelblaues
Tuch gekleidet und trugen die Patronengurte kreuzweise über
der Brust. Trotz der Beteuerungen unseres Begleiters geleiteten sie uns mit argwöhnischen Blicken bis zu den Hütten von
Muong La. Rund um das Hauptquartier, das in einem etwas
stattlicheren Lehmhaus untergebracht war, lagerte verwildertes Kriegsvolk. Auch sie trugen die landesübliche dunkelblaue
Tracht, dazu Filzhüte, Turbane oder schwarze Kalotten. Als
Soldaten waren sie lediglich an einer Art Erkennungsmarke
auf der Brust auszumachen, die die Bezeichnung ihrer Einheit
und den Namen ihres Kommandeurs, eines gewissen Oberst
Liung, trug. Die pockennarbigen Gesichter wirkten mürrisch
und beinahe feindselig. Aus den Hütten strömten auch Frauen
und Kinder. Nur die Opiumraucher waren auf ihren Matten
liegengeblieben. Es war ein wenig wie bei Ali Baba und den
vierzig Räubern.
Endlich kam ein ausgemergelter Mann mit feinen Gesichtszügen auf uns zu. Er legte die Hand zum Gruß an den Schlapphut und stellte sich in gebrochenem Englisch als Major der
Nationalarmee vor. Er entschuldigte sich, uns nicht gastlicher
empfangen zu können. Er berichtete von den Kommunisten,
die aus Mong Tzeu immer näherrückten und das Dorf Muong
La schon einmal mit Granatwerfern beschossen hätten. Der
Major suchte sich offensichtlich von seinen unheimlichen
Gefährten zu distanzieren. Sein Vorgesetzter, Oberst Liung,
sei leider zu einem anderen Stützpunkt geritten. Er ließ seine
Truppe recht und schlecht antreten und führte mir die Bewaff-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
77
nung dieser knapp hundert Mann starken Kompanie vor. Als
Gewehre hatten sie meist amerikanische Winchester 1917, aber
auch ein paar Mauser-Karabiner, die sich wohl noch zur Zeit
der deutschen Militärmission bei Tschiang Kai-schek nach
China verirrt hatten. Voller Stolz zeigten die Männer auf zwei
Granatwerfer, von denen aber nur einer einsatzfähig war. Der
Major schien der einzige Berufssoldat zu sein. Die anderen
waren Banditen, wie sie in Jünan stets heimisch und recht
angesehen waren. Dazu kamen die Privatmilizen einiger Feudalherren, die sich gegen die von Peking verordnete Kollektivierung der Landwirtschaft zur Wehr setzten. Der Spuk konnte
nicht mehr lange dauern.
Der Major wirkte inmitten dieser Versammlung von Räubern
und Knechten doppelt sympathisch und einsam. Er bat mich,
ein paar ermutigende Worte an seine Soldaten zu richten.
Ich konnte nicht umhin, drei törichte Sätze über das gemeinsame Schicksal der freien Welt und vom weltweiten Feldzug
gegen den Kommunismus zu sagen, die mein Thai-Dolmetscher übersetzte. Dabei kam ich mir grotesk vor. Wir tranken
in Eile eine Tasse Tee. Die Dämmerung fiel bereits. Wir stiegen auf unsere Pferde und stellten mit Erleichterung fest,
daß niemand uns gewaltsam zurückhielt. Die Posten winkten
uns sogar nach. Wir trieben unsere Tiere in schnellem Trab
zurück. Bevor wir den Grenzfluß erreichten, stießen wir auf
eine Gruppe chinesischer Thai-Mädchen, die im Wald Blumen
pflückten und in großen Körben sammelten. Als sie uns
kommen sahen, verstellten sie uns lachend den Weg. Ich blieb
ruhig auf dem Pferd sitzen, während zwei von ihnen mich vom
Gürtel bis zur Schulter mit weißen Blüten schmückten und
mir einen Strauß für den Weiterritt reichten. Sogar dem Gaul
steckten sie ein paar Blumen zwischen die Ohren.
Für die Rückkehr nach Lai Tschau wählten wir die Flußverbindung. Die schmalen Einbäume mußten immer wieder über
die Stromschnellen getragen werden. Zum Abschied von unserem Schangri-La in Phong To bespritzten uns die fröhlichen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
78
Thai-Mädchen mit Kübeln von Wasser. Die weißen Mieder
leuchteten lang aus dem Grün, wie Rilkes »Cornet« gesagt
haben würde.
Zwei Wochen später in Hanoi vernahm ich das Ende
der Geschichte. Genau drei Tage, nachdem wir den Grenzstreifen verlassen hatten, drang ein rotchinesisches Bataillon in
Muong La ein und zersprengte die Nationalpartisanen. Die Soldaten Mao Tse-tungs überschritten nun ihrerseits die Grenze,
überrannten das Fort Ban Nam Kum, ohne einen Schuß zu
feuern, und verschleppten den einsamen französischen Unteroffizier nach China. Sogar bis Phong To drangen sie vor und
kassierten im Umkreis der Meo-Dörfer die Opiumernte des
Jahres. Dann zogen sie sich sang- und klanglos nach Jünan
zurück.
Die marokkanischen Tabors, die ihnen in aller Eile entgegengeschickt wurden, kamen nicht einmal mehr zur Feindberührung. Über diesen Vorstoß der Volksbefreiungsarmee
nach Tonking ist später viel gerätselt worden. Ich habe mich
nie des Verdachts erwehren können, daß hier eine gewisse Vergeltung geübt wurde für meinen Ritt nach Muong La, von dem
die Chinesen bestimmt erfahren hatten und dem sie sicherlich
ganz andere Motive unterstellten als die Neugier eines Journalisten.
Nach der Niederlage von Dien Bien Phu
Hanoi, im Sommer 1954
Die Festung Dien Bien Phu war gefallen. Die französische Niederlage in Indochina war besiegelt. Oberbefehlshaber Navarre
hatte gespielt und verloren. 60 000 Soldaten seiner Armee hatte
er in diesem gottverlassenen Talkessel im Siedlungsgebiet der
schwarzen Thai zusammengezogen. Das Dorf Dien Bien Phu,
bis dahin nur als kümmerliche Durchgangsstation zwischen
dem Hochland von Tonking und der laotischen Mekong-Ebene
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
79
bekannt, war nun weltweit berühmt. Die Franzosen hatten sich
dort mit der Absicht eingeigelt, den frontalen Angriff der Vietminh-Armee auf sich zu ziehen. Jahrelang hatten die Stäbe
in Hanoi davon geträumt, dem Feind endlich in offener Feldschlacht zu begegnen und ihn zu vernichten. Das Expeditionskorps war den zermürbenden Partisanenkrieg so leid,
daß es das immense Risiko der Isolierung in dieser entlegenen Talmulde auf sich nahm. General Navarre hatte den
kleinen Geschichtslehrer Vo Nguyen Giap, der das Heer des
Vietminh befehligte, und den Ameisenfleiß seiner Gegner
sträflich unterschätzt. Alle Experten hätten geschworen, daß es
unmöglich sein würde, Artillerie auf dem Landweg durch den
Gebirgsdschungel nach Dien Bien Phu zu transportieren. Der
Vietminh hatte es unter unvorstellbaren Strapazen geschafft,
und schon unter den ersten Salven der Belagerer brachen die
Verteidigungsanlagen der Franzosen, die allenfalls auf Granatwerferfeuer eingerichtet waren, zusammen. Die französische
Generalität in Indochina schien nachträglich den Satz Clémenceaus bestätigen zu wollen, wonach der Krieg eine zu ernste
Sache sei, als daß man ihn den Militärs überlassen dürfe.
Die bürgerliche Regierungskoalition in Paris trug mindestens ebenso schwere Verantwortung. Die Christlichen Volksrepublikaner, die früher einmal den fortschrittlichen Kräften
Frankreichs zugerechnet worden waren, klammerten sich in
seltsamer Verblendung an die Chimäre des kolonialen Erbes.
In letzter Minute hatte Außenminister Georges Bidault sogar
versucht, die Amerikaner zum Abwurf von taktischen Atombomben über den kommunistischen Stellungen rund um Dien
Bien Phu zu bewegen. Doch Washington hatte erst vor einem
Jahr schweren Herzens dem Waffenstillstand in Korea zugestimmt. Zum ersten Mal hatten die Vereinigten Staaten einen
Krieg nicht gewonnen, sondern mit Unentschieden auf der
Basis des Status quo ante beendet. Selbst von John Foster
Dulles war kein nukleares Eingreifen in Indochina mehr zu
erwarten. Als die rote Fahne mit dem gelben Stern schließlich
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
80
auf dem letzten französischen Bunker gehißt wurde, reagierte
die westliche Presse, sogar die französische Öffentlichkeit mit
einem schnöden Gefühl der Erleichterung. Die tödliche Eskalation des »schmutzigen Krieges« war verhindert worden. Noch
hielt die französische Armee das Delta des Roten Flusses,
aber auch hier war ihre totale Niederlage nur eine Frage von
Wochen. General Giap massierte seine Truppen zur Generaloffensive auf Hanoi.
Journalisten aus aller Welt waren in Hanoi zusammengeströmt. Der Indochina-Krieg war – im Gegensatz zum KoreaFeldzug – von der internationalen Publizistik bisher recht
stiefmütterlich behandelt worden. Sogar ein Teil der Pariser
Presse schämte sich dieses verspäteten Kolonialunternehmens.
Aber jetzt nahte die letzte Stunde, und die Geier sammelten
sich. Die Hitze war unerträglich in diesen Sommerwochen.
Die Reisfelder in der Ebene des Roten Flusses standen unter
Wasser. Die Verdunstung dieses uferlosen Sees verwandelte
Tonking in eine Waschküche. Die Laune im Presse-Camp
war gereizt. Der rundliche Major Roëllec war von einem
drahtigen Kommandant mit schwarzem Borstenhaarschnitt,
namens Gardes, abgelöst worden, der sich allgemeiner Hochachtung erfreute. Niemand hätte damals vermutet, daß dieser
Offizier sieben Jahre später in Algerien zu den führenden
Verschwörern der OAS zählen, gegen de Gaulle putschen und
dem General sogar nach dem Leben trachten würde. Der Lagebericht, das tägliche Briefing, verlief stürmisch. Die amerikanischen Korrespondenten hatten die Räumung des südlichen
Deltas mit der Stadt Nam Dinh noch nicht verwunden, die Gouverneur Tri zum Rücktritt veranlaßt hatte. »Nach einer Frontbegradigung bei Phuly haben unsere Truppen neue Stellungen bei Hadong bezogen«, sagte der Sprecher. – »Wie«, fragte
ein dicker Amerikaner, »Sie haben auch Hadong preisgegeben?« Die französischen Militärs protestierten: »Von einem
Rückzug aus Hadong kann nicht die Rede sein.« – »So wird
es übermorgen geräumt«, sagte der dicke Amerikaner unbe-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
81
irrt und bissig. Die meisten Fragen kreisten um das Schicksal
der französischen Gefangenen von Dien Bien Phu, die in
mörderischen Marschetappen durch Dschungel und Gebirge
über Hunderte von Kilometern in die Internierungslager
des Vietminh eskortiert wurden. Die US-Journalisten hatten
in ihren Meldungen von einem death march (Todesmarsch)
berichtet, was von der Militärzensur in exhausting march
(erschöpfender Marsch) umgewandelt worden war. Die Franzosen wollten den Feind zum kritischen Zeitpunkt der Genfer
Verhandlungen nicht verärgern. Die Amerikaner tobten über
diese Verniedlichung ihrer Berichterstattung. »Was heißt das
schon ›exhausting march‹? Für einen Amerikaner ist ein Spaziergang um drei Häuserblocks ein erschöpfender Marsch.«
Ich sollte mich an diese Szene erinnern, als die US-Army
mit zehnjähriger Verspätung die Nachfolge der Franzosen in
Indochina antrat.
Hanoi ist zum befestigten Heerlager geworden. Die offiziellen
Gebäude haben sich in den Stacheldrahtverhau wie in einen
Kokon eingesponnen. Über den breiten, baumbestandenen
Alleen und den gepflegten Villen liegt Abschiedsstimmung. Die
französischen Zivilisten packen ihre Koffer. Sie diskutieren die
letzten Meldungen aus Genf. Dort sitzt der neue französische
Ministerpräsident Pierre Mendès-France am Verhandlungstisch mit dem Chinesen Tschou En-lai und dem VietminhBevollmächtigten Pham Van Dong, dem späteren Regierungschef des wiedervereinigten Vietnam. Die konservative
französische Rechte hat dem linksliberalen, progressistischen
Mendès-France den Weg freigegeben, als es galt, den bitteren
Kelch der Niederlage zu leeren. PMF, wie er in der Abkürzung
genannt wird, ist alles andere als ein Kapitulant. Er streitet
mit Zähnen und Klauen um jede Klausel des Waffenstillstandsabkommens, um jeden Fußbreit indochinesischen Bodens. Er
hat sogar ein Ultimatum für den Termin der Feuereinstellung
gestellt, sonst – so drohte er – werde er das Expeditionskorps
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
82
massiv durch Wehrpflichtige verstärken. Sogar den alten Kolonialisten von Hanoi nötigt Mendès-France Respekt ab, denn
sie wissen, wie verzweifelt er pokert. Die französische TonkingArmee steht vor dem Zusammenbruch.
Nachts röhren die Artilleriesalven am Rande der Stadt. Von
der Terrasse aus kann man die Mündungsfeuer am Horizont
flackern sehen. Aus den Bars nebenan, aus dem »Regina« oder
dem »Phénix«, klingen die zerhackten Noten eines chinesischen Tangos. Zum Lärm von Tanzmusik und Kanonen bereitet sich das französische Hanoi auf den Untergang vor.
Bei den letzten Außenposten
Son Tay, im Sommer 1954
Seit zehn Tagen ist Son Tay eine tote Stadt. Von dem Augenblick an, als die europäischen Truppen die äußerste Ortschaft
im westlichen Verteidigungssystem von Tonking der nationalvietnamesischen Armee überließen, wußte die eingeborene
Bevölkerung, was die Glocke geschlagen hatte. »Heute die
Nationalvietnamesen, morgen die Vietminh«, sagten die chinesischen Händler, packten ihre Waren auf vorsintflutliche Lastwagen und verschwanden in Richtung Hanoi. An geschlossenen
Läden vorbei verlassen wir Son Tay in Richtung auf die Linien
des Vietminh. Schon nach ein paar Kilometern haben wir die
Reisebene des Deltas gegen ein welliges Steppengelände vertauscht, an dessen Ende die grün überwucherten, phantastischen Felskegel des tonkinesischen Hochlandes drohen. Das
Terrain ist geradezu ideal für Überfälle und Handstreiche, die
Straße von zahlreichen Minenexplosionen aufgerissen. Hier
stehen die letzten französischen Außenposten, und hier sickert
jede Nacht der Vietminh oft in Bataillonsstärke ein.
Der äußerste Stützpunkt von Hoa Lao liegt auf einem flachen Kegel. Die Unterstände gehen tief in die gelbe Erde,
sind aber nach oben ungenügend abgedeckt. Hier haust ganz
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
83
allein ein französischer Sergeant mit fünfzig eingeborenen
Milizsoldaten. Vor fünf Tagen hatte er noch hundert Mann
unter seinem Befehl. Die anderen fünfzig sind inzwischen
zum Feind übergewechselt. »Manchmal verschwinden sie bei
Nacht«, brummt der Sergeant. »Neuerdings kommen sie ganz
offen zu mir und verlangen, daß ich sie entlasse. Ich halte sie
dann auch nicht zurück, sie würden mir höchstens im Schlaf
den Hals abschneiden. Im übrigen kann ich ihnen ihre Desertion gar nicht verübeln. Sie denken eben an die Zukunft, und
wir sind höchstens noch ein paar Tage hier. Dann sind wir entweder abgezogen oder ausgeräuchert.«
Der Sergeant zeigte keine Spur von Nervosität. Nervös ist
man vielleicht in den Stäben der Zitadelle von Hanoi. Aber hier
hat die Natur eine wüstenähnliche Strenge, und die Gefahr, die
Unsicherheit ist so greifbar, daß man ihr durch die Maske des
Schreckens hindurch ins völlig gleichgültige Antlitz blickt.
Stellung im Reisfeld
Auf der Nationalstraße Zehn, im Sommer 1954
Pünktlich um elf Uhr nachts, wie es mir der Oberleutnant vorausgesagt hatte, begann die Knallerei. Zunächst ging in etwa
500 Meter Entfernung ein einzelner Schuß aus dem Reisfeld
los. Dann kam von dem unteren Damm ein Feuerstoß aus
einem leichten Maschinengewehr. Die rote Leuchtspur verhuschte in dem kleinen Dickicht. Plötzlich knallte es aus allen
Ecken, und noch immer war nichts zu erkennen. Die algerische Kompanie, mit der ich auf dem Deich im Reisfeld lag, war
schon lange genug in Tonking um ihre Ruhe zu bewahren.
Die Veranstalter dieses ziemlich sinnlosen nächtlichen Feuerwerks waren die Nationaltruppen Bao Dais, die das nächste
Dorf hielten, und die eingeborenen Dorfmilizen. Der Vietminh
seinerseits, den man nirgends sah, aber überall spürte, schoß
nur, wenn es sich lohnte. Offenbar lohnte es sich im nahen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
84
Stützpunkt Ngoc Tao, aus dem jetzt hohe Flammen schlugen.
Die Vietnamesen hatten Sperrfeuer angefordert. Wenige
hundert Meter vor uns schlugen die Artilleriegeschosse aus
Son Tay in den Schlamm, so daß die schmutzigen Fontänen
sich vom tropisch klaren Sternenhimmel abzeichneten. Dann
– so plötzlich wie es gekommen war – verstummte das Feuer.
Ein nervöser Bao Dai-Soldat schickte eine Leuchtrakete in den
Himmel, und die Nacht kam wieder zu ihrem Recht. Trotzdem war es nicht still. In den zahllosen Dörfern, die mit ihren
Bambushecken wie dunkle Inseln aus der glitzernden Fläche
der überfluteten Reisfelder herausragten, kläfften die Hunde
ohne Pause und Unterlaß. Die Grillen und Insekten zirpten mit
metallischer Lautstärke, und die Ochsenfrösche unkten sich
zu.
Der Oberleutnant begab sich auf einen Rundgang. Die
Algerier hockten in kleinen Gruppen am Rande des Dorfes
und unterhielten sich flüsternd in ihrer kehligen Sprache.
»Das ist jetzt die dritte Nacht, die wir hier draußen verbringen«, schimpfte der Leutnant. »Seit sich in diesem Sektor die
Überfälle gehäuft haben und gestern sogar unser Bataillonskommandeur am hellen Tage aus seinem Jeep herausgeschossen wurde, kommen wir nicht mehr zur Ruhe. Von Süden sind
neuerdings starke Vietminh-Verbände gemeldet, die an dieser
Stelle versuchen wollen, die Straße Son Tay – Hanoi abzuschneiden. Wenn nur dieser verdammte Krieg schon zu Ende
wäre.«
Beim improvisierten Befehlsstand kauerte der Dorfälteste
unter der Wache eines bärtigen Nordafrikaners. Der Oberleutnant behielt ihn als Geisel in seiner Nähe. Das Dorf war von
den Männern im waffenfähigen Alter beinahe ganz verlassen.
Die Frauen hatten sich alle in der Dorfschule versammelt, denn
sie fürchteten sich vor den Algeriern. Im ganzen gesehen seien
die Algerier eine recht ordentliche Truppe, sagte der Leutnant.
Man müsse nur mit ihnen umgehen können. Die Nordafrikaner waren von einem ganzen Schwarm Kulis begleitet, mit
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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denen sie sich äußerst intim standen. Die Kulis, ursprünglich
zu Schanzarbeiten verurteilte Strafgefangene der vietnamesischen Armee oder Deserteure, wurden nicht bewacht. »Warum
sollten sie schon fliehen«, meinte der Leutnant, »so gut wie
hier würden sie es drüben nicht haben, und Kulis blieben
sie auf jeden Fall.« Es kam vor, daß die Nordafrikaner auf
Posten einschliefen und daß ein Vietnamese an ihrer Stelle am
Maschinengewehr die Wache hielt.
Als ich aufwachte, färbte die frühe Sonne das Wasser der
Reisfelder blutrot. Die Berge rings um das Delta waren in
violette Nebel gehüllt. Das satte Grün der Bananenstauden
wirkte beinahe schwarz. Der Sergeant Kalifa zeigte mir durch
das Fernglas ein paar dunkle Punkte am anderen Ende des
Dammes. Der Vietminh beobachtete uns offenbar genauso
interessiert wie wir ihn. Eine Patrouille wurde zusammengestellt, um die Verbindung mit dem vietnamesischen Bataillon
im westlichen Nachbarabschnitt aufzunehmen. Wir vermieden
sorgfältig die frisch aufgebrochenen Stellen im Asphalt, unter
denen Minen liegen konnten. Aus der anderen Straßenrichtung
kam eine dünne Kolonne auf uns zu. Es gab eine Minute
höchster Spannung, dann hatten die Nordafrikaner die Nationalvietnamesen identifiziert, die mit vorzüglicher Bewaffnung,
aber sehr salopper Haltung näherrückten. »Ich danke dem
Herrgott, daß ich denen nicht zugeteilt bin«, sagte der Oberleutnant. »Da bin ich schon lieber bei meinen Algeriern,
obwohl sie unter heftiger Propaganda-Einwirkung von Seiten
des Feindes stehen. Vorgestern habe ich erst Flugblätter entdeckt, die sie zum Überlaufen auffordern. Die Kommunisten
sprechen von der Solidarität der unterdrückten Kolonialvölker
und rufen zum gemeinsamen Kampf auf. Ich weiß, daß meine
Tirailleurs untereinander darüber diskutieren, auch wenn sie
verstummen, sobald ich dazukomme. Zum Glück sind viele
dieser Flugblätter, die offenbar in Moskau gedruckt wurden, in
arabischer Sprache und Schrift verfaßt. Das können die allerwenigsten lesen.« Kurz zuvor hatte ich auf der Mauer einer
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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verlassenen Kirche eine Inschrift in deutscher Sprache entdeckt: »Legionäre, gebt diesen sinnlosen und verbrecherischen
Kampf auf, kommt auf unsere Seite, auf die Seite des vietnamesischen Volkes, und wir garantieren Euch, daß Ihr nach
Hause zu Euren Familien zurückkehren dürft.« Tatsächlich
sollen ein paar Überläufer der Legion über Peking und Moskau
in die DDR heimgeführt worden sein.
Das letzte Gefecht
Hung Yen, im Juli 1954
Gegen Mitternacht hatte jemand »Alerte« geschrien. Die Panzerspähwagen und Halftracks, die zu einer Wagenburg um
unsere Stellung formiert waren, feuerten, was die Rohre hielten. Leuchtraketen erhellten die Nacht. Ein Dutzend Granaten
des Vietminh schlug in der Nähe des französischen Gefechtsstandes ein. Verwundete riefen nach dem Sanitäter. Ich duckte
mich in das rechteckige Erdloch, in dessen Schutz mein
Feldbett unter dem Moskitonetz wie ein Katafalk aufgestellt
war. Die Schießerei endete abrupt. Die Kolonialinfanteristen
längs der Straße von Hung Yen hatten das letzte Gefecht des
französischen Indochina-Krieges erlebt. Zur gleichen Stunde
waren in Genf die Unterschriften unter das Waffenstillstandsabkommen gesetzt worden.
Als die Sonne aufging und die toten Vietminh-Soldaten
vom Regiment 42 im Stacheldraht gezählt waren, versammelten sich die Offiziere um den Radioapparat. Ein dicker
Oberst mit rollendem südfranzösischem Akzent saß mit nacktem Oberkörper wie ein bissiger Tempelhund vor dem Zelt.
Eine gepflegte Frauenstimme von Radio Hanoi verlas ohne
spürbare Anteilnahme die Bedingungen der französischen
Kapitulation in Tonking. Der 17. Breitengrad würde zur
neuen Demarkationslinie zwischen dem roten Vietnam im
Norden und der nationalistischen Gegenrepublik im Süden.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
87
Der französische Rückzug aus Tonking würde in Etappen
erfolgen, die sich über mehrere Monate erstreckten. Damit
wäre den antikommunistischen Bevölkerungselementen des
Nordens die Möglichkeit geboten, sich ohne Überstürzung
nach Saigon abzusetzen. Zwei Jahre nach dem Waffenstillstand sollte in freien und kontrollierten Wahlen in beiden
Landeshälften über die endgültige Zukunft und die eventuelle
Wiedervereinigung Vietnams entschieden werden.
Es fiel kein einziges Wort beim Anhören der Nachrichten.
Die Gesichter waren regungslos. Frankreich hatte mit der
Fixierung der Demarkationslinie am 17. Breitengrad, womit
die alte Kaiserstadt Hue dem kommunistischen Zugriff entzogen war, über Erwarten gut abgeschnitten. Das war auf
die Hartnäckigkeit von Mendès-France, aber auch auf das
Einwirken des chinesischen Chefdelegierten Tschou En-lai
zurückzuführen. Tschou hatte auf die Vietminh-Delegation
Druck ausgeübt und sie zur Konzilianz angehalten. Wollte er
damit die Amerikaner von Indochina fernhalten oder schon
damals dem Aufkommen eines allzu selbstbewußten vietnamesischen Nachbarstaates vorbeugen? Die französischen Offiziere an der Straße von Hung Yen ahnten nichts von diesen
Kulissenkämpfen der Genfer Konferenz. Dem antikommunistischen Teilstaat von Saigon gaben sie keine dauerhafte Chance.
Die Truppe hatte die Nachricht von der Feuereinstellung ohne
Begeisterung, aber auch ohne Protest aufgenommen. Resignation war das vorherrschende Gefühl. Die Kolonialinfanteristen
ahnten, daß sie ein Stück ihrer selbst in diesem exotischen
und feindlichen Land lassen würden, an dem sie insgeheim
mit einer unerwiderten Liebe hingen. Sie blickten über die
flache Reislandschaft, wo schon wieder die Bauern hinter
den Büffeln im fruchtbaren Schlamm ihre Furchen zogen, als
sei das Ahnengrab nebenan nicht ein paar Stunden zuvor
durch Artilleriefeuer verwüstet worden. Am Rande des braunen Tümpels, wo schöne Kinder lachten und badeten, blühte
ein hellblauer Busch. Es war, als wollten die Soldaten diese
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Bilder tief in sich aufnehmen, ehe sie in die neblige Eintönigkeit
ihrer heimischen Industrievororte zurückkehrten.
Uns bangte vor der Rückfahrt nach Hanoi. Die zahllosen
Minen auf den Straßen waren noch nicht weggeräumt. In
regelmäßigen Abständen stiegen Rauchsäulen auf, wenn ein
Fahrzeug explodierte. Seit Eintreten der Waffenruhe war die
stoische Gelassenheit, die bisher zur Schau gestellt worden
war, am Ende. »Nur nicht der letzte Tote dieses verlorenen
Krieges sein«, hieß es jetzt.
Der dicke Oberst war wie aus einem schweren Traum
erwacht. Er hatte kein Wort gesagt, nicht einmal geflucht. Er
gab uns zum Abschied die Hand und fand die Sprache wieder:
»Ich sage Ihnen nicht Adieu. Ich sage Auf Wiedersehen, denn
es geht ja weiter. In Bälde werden wir uns wohl in Nordafrika
wiedertreffen.« Wie recht er behalten sollte.
Gefangenenaustausch
Hai Thon, im Sommer 1954
Unmittelbar nach Unterzeichnung des Genfer Abkommens
begann der Gefangenenaustausch. Der Vietminh hatte einen
Teil der Garnison von Dien Bien Phu in langen Märschen auf
seine Hochburg in der Küstenprovinz Thanh Hoa dirigiert,
wo die Franzosen in zehn Jahren Krieg nie hatten Fuß fassen
können. Die französische Kriegsmarine hatte ihrerseits ein
Landungsboot vom Typ LSM zur Verfügung gestellt, um eine
Hundertschaft gefangener Vietminh zum Treffpunkt im Feindgebiet zu transportieren.
Die gefangenen Vietminh-Soldaten machten einen disziplinierten Eindruck. Mit Mißbilligung bemerkten die
französischen Krankenschwestern, die an Bord des flachen
Schiffes am meisten unter dem Seegang litten, daß unter den
Vietnamesen in den langen Jahren hinter Stacheldraht sehr
innige Männerfreundschaften geschlossen worden waren. Den
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Befehl führte ein einarmiger Leutnant der Division 320. Bei
diesem ersten Transport handelte es sich im wesentlichen um
Kranke und Verwundete. Offizieller Wortführer der Gruppe war
ein magerer junger Mann, der von seinen schweren NapalmVerbrennungen erstaunlich gut genesen war. Er behauptete,
einfacher Soldat zu sein. In Wirklichkeit war er wohl Politischer Kommissar. Er sprach in stockendem Französisch von
seiner Gewißheit, daß die Herrschaft der Neokolonialisten und
Monopolisten demnächst auch in Südvietnam zusammenbrechen werde. Präsident Ho Tschi Minh werde seinem Volk Frieden und Gerechtigkeit bringen. Jeder Gefangene sei auch in
Zukunft zu den höchsten Opfern bereit. Durch Originalität
zeichnete sich der Vortrag des ehemaligen Studenten mit dem
fanatischen Blick nicht aus. Tragischer war der Fall eines beinamputierten Soldaten katholischen Glaubens aus der Provinz
Phat Diem. Mit dem Kommunismus wollte er nichts zu tun
haben. Doch Onkel Ho habe eine breite patriotische Front
gebildet, in der neben den Marxisten auch die Christen ihren
Platz hätten. Insgesamt herrschte unter den Gefangenen auf
dem Landungsboot eine eher sorgenvolle als begeisterte Stimmung. Sie fragten sich wohl, wie der Empfang durch die roten
Behörden am folgenden Tage aussehen würde.
Im Morgengrauen erreichten wir die Mündung des Son MaFlusses und liefen dreimal auf Sandbänke. Endlich näherte
sich eine große Dschunke, von deren Mast die weiße Fahne
mit dem Roten Kreuz wehte. Drei Offiziere des Vietminh in
grasgrüner Uniform hockten am Bordrand. Der Absprache
zufolge sollten sie unbewaffnet sein, aber unter einer verrutschten Zeltplane waren ein paar Gewehre zu erkennen.
»Ihre Vertrauensseligkeit ist geradezu rührend«, lachte der
lange Korvettenkapitän, der auf französischer Seite den Gefangenenaustausch kommandierte. Dann sprang er in einen Kahn
und ruderte mit dem Stabsarzt an Land, während ein einheimischer Lotse unser Schiff bis zur flachen Ufernähe steuerte.
Hinter dem Gestrüpp der Böschung duckte sich das armselige
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Fischerdorf Hai Thon. Am Horizont flimmerte die blaue Masse
des Thanh Hoa-Gebirges. Während die breite Bugöffnung des
Landungsbootes schwerfällig auseinanderklappte, formierten
sich die Gefangenen. Wir sprangen auf die Bambusflöße, die
uns entgegengekommen waren, und wateten das letzte Stück
bis zum Strand. Etwa dreißig Vietminh-Soldaten und -Offiziere erwarteten uns. Sie trugen weder Rangabzeichen noch
Orden. In einigem Abstand drängte sich die Zivilbevölkerung
in braunschwarzer Bauerntracht.
In der Empfangshütte aus Bambus stand ein gelb gedeckter
Verhandlungstisch. An seinem Ende wie auf einem Ahnenaltar
thronte das Bildnis Ho Tschi Minhs unter der roten Flagge
mit dem gelben Stern. Die Delegierten der Gegenseite stellten
sich vor. Ihr Sprecher war ein asketischer Major. Der Ton der
Verhandlung war kühl und korrekt. Man einigte sich darauf,
daß zunächst die Vietminh-Gefangenen an Land gehen sollten
und daß die Freilassung von hundert Franzosen anschließend
erfolge. Als erster Heimkehrer ging der Leutnant der 320.
Division auf den Major zu und meldete. Der Major umarmte
ihn heftig und so linkisch, daß der Leutnant strauchelte. Das
Empfangskomitee des Vietminh war sichtlich gerührt, als die
Gefangenen auf den Flößen nahten und auf ein Kommando
ihres Politischen Kommissars wohleinstudierte Hochrufe auf
Ho Tschi Minh, die Revolution und den Sieg ausbrachten.
Jedes Vivat wurde von der Fischerbevölkerung mit Klatschen
belohnt. Die gefangenen Vietminh stellten sich jetzt sehr viel
erschöpfter und kranker, als sie tatsächlich waren. Die Bauernfrauen schlossen sie in ihre Arme, stützten sie, fächelten ihnen
mit den breiten Hüten frische Luft zu und streichelten ihnen
das Gesicht. Im Nu rissen die Heimkehrer ihr französisches
Drillichzeug vom Leib und tauschten es gegen Uniformen des
Vietminh ein.
Wir konnten uns frei bewegen und plauderten ziemlich
ungezwungen mit den Repräsentanten der Gegenseite. Sie
waren an den Vorgängen in Europa interessiert und erstaun-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
91
lich gut informiert. Das Gespräch endete jäh, als die Franzosen ihrer eigenen Gefangenen ansichtig wurden. Sie waren
durch die Schlacht von Dien Bien Phu, durch den endlosen
Marsch bis Thanh Hoa und die Tropenkrankheiten schrecklich gezeichnet. Viele lagen unter einem großen Schilfdach
auf improvisierten Bahren. Die wenigsten waren gehfähig. Sie
begrüßten die ankommenden Landsleute mit dankbaren, fiebrigen Augen. Nein, sie seien nicht mißhandelt worden. Aber
der Fußmarsch durch den Dschungel sei mörderisch gewesen,
und sehr viele seien gestorben. Sie hätten die gleiche Verpflegung wie die Soldaten des Vietminh erhalten, aber für einen
Europäer sei das eben völlig unzureichend. Fast alle litten an
Amöbenruhr und Malaria. Die französischen Krankenschwestern, die sich sofort um die ausgemergelte Truppe bemühten,
blickten nun mit Feindschaft und Haß auf das vietnamesische
Pflegepersonal. Der Transport zum Ufer begann in gedrückter
Stimmung. Bevor sie an Bord des Landungsbootes gingen,
wollten die französischen Heimkehrer, wie sie es ihren Feinden
wohl abgesehen hatten, auf ihre Art Patriotismus und Zuversicht bekunden. Aber sie hatten nie Sprechchöre einstudiert.
»Hipp Hipp Hurra!« schrie eine Gruppe wie im Fußballstadion,
und ein humpelnder Beinverletzter rief »Vive la France!«, als
sei er de Gaulle.
Die Heimfahrt nach Haiphong war mühselig. Ein kräftiger
Wind war über dem Golf von Tonking aufgekommen, und
das flache Landungsboot wurde von den Wellen gebeutelt.
Die Überlebenden von Dien Bien Phu erzählten von der
Schlacht, vom Versagen der Führung, von der schrecklichen
Überraschung, als plötzlich Artilleriefeuer auf ihre unzureichenden Stellungen trommelte. Ein Thai-Bataillon war
sofort übergelaufen. Die übrigen farbigen Truppen der Union
Française hatten sich passiv verhalten und Deckung gesucht.
Wirklich gekämpft bis zum letzten Erdloch und bis aufs Messer
hatten lediglich die französischen Fallschirmjäger und die
Fremdenlegionäre. Die Paras sprachen voll Verachtung von den
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Offizieren anderer Einheiten, die sich nicht um ihre Männer
gekümmert hatten. Die Fremdenlegionäre jedoch, zu achtzig
Prozent Deutsche, seien zum Sterben angetreten wie in einer
mythischen Gotenschlacnt.
Zwei erschöpfte Leutnants hielten sich abseits. Sie waren
bereits Ende 1950 bei der Räumung von Cao Bang in VietminhGefangenschaft geraten. Jahrelang hatten ihnen die kommunistischen Kommissare zugesetzt – kein Tag verging ohne
mehrstündige politische Schulung und Umerziehung. Um zu
überleben, aber auch aus einer gewissen intellektuellen Neugier heraus, hatten die Insassen des französischen Offizierslagers – im Gegensatz zu den rauhen Unteroffizieren, die sich
gegen die roten Propagandisten taub stellten – das Spiel mitgemacht und teilweise sogar ihre Bekehrung zum Marxismus und
Antikolonialismus vorgetäuscht. Die Lebensbedingungen in
diesen Gefangenen-Camps des Hochlandes waren fürchterlich
genug, aber am unerträglichsten sei auf die Dauer die pedantische Rechthaberei, die ideologische Arroganz, die schulmeisterliche Besserwisserei dieser gelben Prediger der Weltrevolution gewesen. »Wir fühlten uns nach einem Jahr wie Meerschweinchen, mit denen man ideologische Mutationsversuche
anstellt. Das war schlimmer und erniedrigender als Hunger
und Krankheit«, sagte der eine Leutnant. »Aber eines haben
wir gelernt«, meinte sein Gefährte, »nämlich daß wir einen
törichten, völlig unzeitgemäßen Feldzug geführt haben. Hier
in Asien und morgen wohl in Afrika werden wir mit dem
›revolutionären Krieg‹ konfrontiert, und nur, wenn wir den
Farbigen mit den gleichen Propagandamethoden, mit einer
ähnlich brutalen Indoktrination begegnen, wie sie uns der Vietminh beigebracht hat, können wir uns in Übersee behaupten.
Wer weiß, ob wir die Franzosen im Mutterland nicht ähnlich
umerziehen müssen, damit sie wieder lernen, was Vaterlandsliebe, Loyalität und Sinn für Disziplin heißt. Die Politiker und
die Parteien der Vierten Republik haben uns schändlich verraten und im Stich gelassen, aber wir werden ihnen notfalls bei-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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bringen, was revolutionäre Erneuerung ist.« Der zweite Leutnant hatte heiser und fast flüsternd gesprochen. Jetzt wurde
er von einem Hustenanfall geschüttelt, und das frische Tuch,
das ihm die Krankenschwester reichte, färbte sich mit Blut.
Der Seegang war so heftig geworden, daß es den Insassen des
Bootes – mit Ausnahme der Matrosen – übel wurde. Bald klammerten wir uns alle an die Reling, ließen uns den schwülen
Sturm ins Gesicht blasen und erbrachen uns in die tintenschwarze Nacht.
Flug über die Demarkationslinie
Zwischen Hanoi und Saigon, im Sommer 1954
Über dem Delta des Roten Flusses standen weder die weißen
Rauchfahnen brennender Dörfer noch die schwarzen Qualmwolken der Napalmbomben. Der Krieg war zu Ende. Die Passagiere drängten sich an den Luken der Dakota-Maschine,
die aus Hanoi abflog. Viele Frauen und Kinder waren darunter. Die langgedienten Kolonialbeamten waren an ihrer Pergamenthaut zu erkennen. Sie schauten zum letzten Mal auf das
in der Abendsonne aufglänzende Schachbrett der Reisebene.
Sie hatten dieses Land oft verflucht mit seinem zermürbenden
Klima, den undurchsichtigen Menschen, den Krankheiten und
den schlaflosen Nächten. Jetzt schnürten ihnen der Abschied
und der Gedanke an die Niederlage die Kehle zu. Die Offiziere der vietnamesischen Nationalarmee, die ihrer Heimat
endgültig den Rücken kehrten, um im Süden Dienst zu suchen,
sahen einer Ungewissen Zukunft entgegen. Über den Felsen
der Halong-Bucht breitete sich schon die Dämmerung aus.
Am Vorabend hatten wir in der Chinesenstadt von Hanoi zu
Abend gegessen. Das Schweigen der sonst so lauten Söhne des
Himmels hatte sich auf uns übertragen. Dann saßen wir noch
lange in der Bar »Chez Marianne«, einem Treffpunkt der Journalisten. Die mandeläugige Marianne war einmal bei den Klo-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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sterfrauen von Nam Dinh ins Pensionat gegangen. Das merkte
man ihr heute noch an, wenn sie hinter der Theke Konversation pflegte. Sie tat so, als bliebe sie von der bevorstehenden
Machtübernahme der Kommunisten ungerührt, und suchte
auf einer großen Europakarte nach einer kleinen ruhigen Stadt
in Mittelfrankreich, wo sie ein neues Leben beginnen würde.
Ihre Taxi-Girls kauerten kichernd und scheinbar sorglos wie
eh und je auf ihren Hockern. In wenigen Wochen würden sie
ebenso graziös in den Dancings von Saigon und Cholon nach
Kunden Ausschau halten, aber insgeheim an ihre Angehörigen
im Norden denken, für die es bald keine kostbaren Kleider,
keinen chinesischen Tango, kein Schmetterlingsleben mehr
geben würde, sondern die braune Einheitstracht der Fronarbeit und den Alltag der Ameise. Draußen rasselten französische
Panzerpatrouillen durch die leeren Straßen. Achtlos fuhren
sie an den Spruchbändern vorbei, die die Vortrupps des Vietminh am Morgen ungestört entfaltet hatten, um die Einwohner Hanois zum Bleiben aufzufordern. Die kommunistischen Agenten tauchten plötzlich aus dem Untergrund auf
und waren überall. Sie kamen auf ihren Fahrrädern in die Villenviertel, holten die Notizblöcke heraus und fertigten Listen
jener Häuser und Amtsstuben an, die sich für die Unterbringung der roten Stäbe und Behörden eigneten.
Auf halber Flugstrecke zwischen Hanoi und Saigon meldete sich der Pilot über Lautsprecher. »Bei Tage könnten Sie
jetzt unter Ihnen die künftige Demarkationslinie Vietnams
am 17. Breitengrad und den Fluß Ben Hai erkennen«, teilte
er mit. Die Nacht war mondlos. Nur gelegentlich zuckte ein
Mündungsfeuer auf. Die endgültige Waffenruhe würde in Zentral-Annam mit einigen Wochen Verspätung in Kraft treten,
damit auch die versprengten Einheiten verständigt werden
könnten. Der neue Grenzfluß Ben Hai war bisher nur den
Geographen bekannt gewesen. Noch bewässerten die Reisbauern auf seinen beiden Ufern gemeinsam ihre Felder, aber
in Kürze würden sie sich bestenfalls über den Stacheldraht
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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zuwinken, bis zu dem gar nicht fernen Tag, an dem die friedlichen Bambushütten und Ahnengräber den Betonbunkern
eines Eisernen Vorhangs weichen müßten.
Auftakt einer neuen Tragödie
Saigon, im Sommer 1954
Die französische Tricolore ist über dem Rathaus von Saigon
eingeholt worden. Hingegen ist das weiße Stuckgebäude mit
einer Vielzahl nationalvietnamesischer Fahnen – gelber Grund
drei rote Streifen – geschmückt. Das riesige Porträt des Kaisers
Bao Dai ist vom Giebel verschwunden. Noch hat der Monarch
und Staatschef nicht abgedankt. Aber seine Tage sind gezählt.
Dieser fette, alternde Playboy, der an der Côte d’Azur Wassersport trieb und im Elsaß jagte, während sein Land verblutete,
wird von allen verachtet und abgelehnt. Ein neuer Mann hat
das Schicksal National-Vietnams, bald wird man Süd-Vietnam
sagen, in die Hände genommen, der Mandarin Ngo Dinh Diem
von Hue, den man bereits den »Unbestechlichen« nennt. Ngo
Dinh Diem stellt an diesem Morgen seine neue Regierung der
Saigoner Bevölkerung vor. Zwei Kompanien der Nationalarmee sind in blütenweißer Galauniform angetreten. Doch das
Volk ist nicht gekommen. Unter den dreihundert Zuschauern
dürften die Geheimpolizisten in der Mehrheit sein.
Ngo Dinh Diem ist ein kompromißloser Patriot und deklarierter Feind der französischen Präsenz in Indochina. Nur
unter Druck der Amerikaner hat der letzte französische Hochkommissar, General Ely, dieser Berufung zugestimmt. Diem
stammt aus einer der angesehensten Familien von Annam.
1933 war er vorübergehend Minister am Hof von Hue. Dann
ließ ihn sein Nationalismus in ständiger Opposition verharren,
Opposition gegen die Franzosen, gegen die Japaner, gegen Ho
Tschi Minh, gegen Bao Dai. Selbst für die Amerikaner – so munkelt man heute schon – würde er kein bequemer Verbündeter
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
96
sein. Der neue Regierungschef trägt einen weißen Anzug mit
schwarzer Krawatte. Das Haar liegt glatt und gescheitelt über
dem vollen Gesicht. Er ist ein korpulenter Mann. Am improvisierten Ehrenmal legt er einen Kranz nieder und kommt mit
dem watschelnden Gang der hohen Mandarine auf die Tribüne
zurück. Diem ist zutiefst von der konfuzianischen Tradition
des Hofes von Annam geprägt, und dennoch ist er Katholik,
fanatischer Katholik, wie sich sehr bald herausstellen wird.
Sein Bruder ist Erzbischof von Hue. Ein jüngerer Bruder, Ngo
Dinh Nhu, der zu seinen engsten Beratern zählt, hat sich in das
Studium der modernen katholischen Philosophie vertieft und
gilt als Anhänger des Personalismus. Die meisten Minister des
neuen Kabinetts stammen aus dem Norden. Das ist ein deutliches Indiz für die Entschlossenheit Ngo Dinh Diems, die Teilung seines Vaterlandes nicht zu akzeptieren. Für den Katholiken Diem ist es eine persönliche Tragödie, daß mehr als eine
Million Katholiken Gefahr laufen, unter kommunistische Herrschaft zu geraten. Eine gewaltige Flüchtlingswelle ist in Gang
gekommen, und die französische Flotte wird in den kommenden Monaten voll damit beschäftigt sein, ganze christliche Dorfgemeinschaften nach Süden zu transportieren. Schon jetzt
heißt es in Saigon, daß der Besitz eines katholischen Taufscheins unter dem neuen Regime des Unbestechlichen die
Mandarinats-Prüfungen von einst ersetze.
Die paar französischen Beamten, die mit betonter
Zurückhaltung der Zeremonie beiwohnen, blicken wie gebannt
auf eine strahlend schöne Vietnamesin, die sich wie eine Raubkatze in unmittelbarer Nachbarschaft des Ministerpräsidenten
aufhält. Madame Nhu, die Schwägerin des tugendhaften Junggesellen Diem, soll zu den einflußreichsten Frauen des neuen
Regimes gehören. Sie wurde von katholischen Nonnen erzogen. Man sagt ihr Intelligenz, Ehrgeiz und militanten Feminismus nach. »Sie kennen wohl das chinesische Sprichwort«,
raunte mir ein französischer Administrator zu, »ein gelehrter
Mann erbaut die Stadt, eine gelehrte Frau zerstört sie. Denken
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Sie an diese asiatische Weisheit, wenn Sie in Zukunft über
Madame Nhu berichten.«
Die Stadt Saigon wirkte in jenen Tagen, als der Vietminh
Schritt für Schritt die Verwaltung des Nordens übernahm,
frivoler und leichtsinniger denn je. In den letzten Kriegswochen waren die Regimenter des Vietminh in Eilmärschen nach
Süden bis in das Mekong-Delta gestürmt. Sie marschierten
sogar nachts zum Schein der Fackeln. Aber nun sah das Genfer
Waffenstillstandsabkommen den Abzug dieser kommunistischen Einheiten nach Norden vor, und wider Erwarten schien
Ho Tschi Minh sich an diese Verpflichtung recht gewissenhaft
zu halten. Allenfalls die Politischen Kommissare blieben auf
ihrem Posten. Sie tauchten in den Untergrund, organisierten
ihre geheimen roten Zellen in Erwartung des Signals zum
revolutionären Aufbruch, das über kurz oder lang von Hanoi
ausgegeben würde.
In der Zwillingsstadt Saigon-Cholon lag die Polizeigewalt
weiterhin in den Händen der Binh Xuyen, jener Bande von
Flußpiraten, die sich an Opiumschmuggel, Prostitution und
Erpressung bereichert hatte. Die Sicherheit der großen Metropole des Südens ruhte und faulte auf diesen anrüchigen Pfeilern. Die Franzosen hatten dem Gangsterboß der Binh Xuyen,
dem »General« Le Van Vien, Carte blanche erteilt, und er nutzte
seine Vollmachten skrupellos aus. Seine schwerbewaffneten
Ganoven mit der grünen Baskenmütze waren gefürchteter
als die roten Partisanen, und sie hatten es tatsächlich fertiggebracht, mit List und Grausamkeit den aktiven kommunistischen Widerstand auszuschalten. Für den unbestechlichen
Regierungschef Ngo Dinh Diem, das wußte jedermann, war
dieser Verbrecherhaufen der Binh Xuyen, die hier zu Hütern
der Ordnung berufen worden waren, eine unerträgliche Herausforderung. Diem war Mandarin und hatte vom Hofe von
Annam eine Auffassung der Staatsautorität ererbt, die mit dem
feudal-religiösen Mosaik der französischen Herrschafts- und
Korruptionsmethoden im Mekong-Delta nicht zu vereinbaren
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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war. Die französischen Geheimdienste wußten sehr wohl um
jene vertraulichen Konferenzen mit amerikanischen Verbindungsoffizieren, auf denen der Einsatz der vietnamesischen
Nationalarmee gegen die Binh Xuyen, die Cao-Daisten und die
Hoa Hao verbreitet wurde.
Die ersten amerikanischen Militärs, die zur Beratung der
Nationalarmee nach Saigon gekommen waren, benahmen sich
sehr diskret. Nur die Matrosen der US-Navy in ihren weißen
Pyjamauniformen waren überall auf der Rue Catinat anzutreffen. Schon feilschten die Straßenhändler und Dirnen in Pidgin-Englisch. In den Vorzimmern Ngo Dinh Diems saßen die
Sonderbeauftragten des CIA und bereiteten eine neue Phase
der Indochina-Politik vor. Washington hatte dem Genfer Waffenstillstandsabkommen höchst widerwillig zugestimmt, und
die amerikanische Unterschrift fehlte unter dem Dokument.
Vor allem waren die US-Experten fest entschlossen, die für
1956 anberaumten gesamtvietnamesischen Wahlen zu hintertreiben, nicht wissend, daß auch der marxistischen Regierung von Hanoi an dieser Pflichtübung in Formaldemokratie
gar nicht gelegen war. Zwischen den französischen und den
amerikanischen Geheimdiensten bahnte sich eine unerbittliche Rivalität im Zwielicht an. Washington arbeitete auf den
möglichst schnellen Abzug der letzten französischen Truppen
aus Vietnam hin. Erst dann würde die Regierung Ngo Dinh
Diem nach außen hin ihre nationale Unabhängigkeit demonstrieren können und für die Länder der Dritten Welt ein akzeptabler Partner sein. Die Franzosen klammerten sich an das altvertraute Cochinchina, wiegelten ihre örtlichen Verbündeten
gegen diesen steifen Mandarin aus Hue und seine US-Berater
auf, ja sie spielten sogar die Karte des Neutralismus.
Die sogenannte Dritte Kraft, von der während des amerikanischen Vietnam-Krieges so viel die Rede sein sollte, war
damals bereits in Ansätzen vorhanden. Eine der prominentesten dieser Kompromiß-Figuren in Saigon war »General«
Xuan, ein vermögender Bourgeois, ein gepflegter alter Herr
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mit erlesenen Manieren, ein gelber Franzose, der gar nicht
martialisch wirkte. Er empfing mich in seinem Salon, der mit
chinesischen Perlmutt-Möbeln und Lackgemälden überladen
war. Es gehe darum, trotz der unvermeidlichen Spaltung des
Landes die geistige Einheit des vietnamesischen Volkes zu
retten, meinte Xuan. Eine Art Neutralisierung sei durchaus
nicht utopisch. Er kenne doch die Leute vom Vietminh. So barbarisch seien sie gar nicht, und in erster Linie seien sie Nationalisten. Vom Chinesen, dem Erbfeind im Norden, hätten sie
sich bereits deutlich distanziert. General Xuan hielt offenbar
engen Kontakt zu maßgeblichen Politikern der Vierten Republik in Paris. An der Seine spielten einflußreiche Kreise der
linksliberalen Regierungskoalition ganz offen mit der Hoffnung, eventuell doch noch die rote Republik Vietnam im Verbund der »Französischen Union« halten zu können. Die letzten französischen Zivilisten in Hanoi waren ganz offiziell aufgefordert worden, an Ort und Stelle zu bleiben, denn die
Kooperationsverträge mit Ho Tschi Minh böten der friedlichen
französischen Präsenz eine neue Chance.
In den französischen Stäben von Saigon hoben die Offiziere
ob so viel illusionärem Unverstand die Hände zum Himmel.
Täglich trafen dort die Meldungen von der planmäßigen Evakuierung der eigenen Stützpunkte ein. Der Krieg in Indochina
war alles andere als ruhmreich gewesen, aber jetzt achteten
die französischen Militärs darauf, daß ihr Abgang sich stets in
trotziger Würde vollzog. Sie wußten, daß sie in Fernost ausgespielt hatten. Sie unterschätzten die Energie Ngo Dinh Diems
und hätten ihm wohl nicht zugetraut, daß er sich in Kürze zum
Staatschef proklamieren und mit äußerster Brutalität gegen
die Flußpiraten und die Sekten, gegen die bewährten Partner
Frankreichs zuschlagen würde. Den forschen Amerikanern, die
sich überall in den vietnamesischen Ministerien und Stäben
einnisteten, begegneten die Franzosen wie betrogene Liebhaber. In den folgenden Monaten sollte in Saigon und am Rande
der großen Schilfebene ein absurder und blutiger Machtkampf
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
100
zwischen französischen und amerikanischen Geheimagenten
ausgetragen werden.
Ich war längst wieder in Europa, als Hanoi im Frühjahr 1955
endgültig geräumt wurde. Die Pariser Zeitungen brachten auf
der ersten Seite eines der eindrucksvollsten Bilder dieses Krieges: das letzte französische Détachement zog sich über die Paul
Doumer-Brücke zum Flugplatz Gialam zurück. Unmittelbar
dahinter marschierte in massierter Formation ein Elite-Regiment des Vietminh, dessen Soldaten die Gewehre mit dem
aufgepflanzten Bajonett nach russischem Vorbild wie zum
Angriff gewinkelt trugen. Zwischen den beiden feindlichen
Einheiten ging ein einsamer französischer Hauptmann. Auf
seinen Armen hielt er die gefaltete Tricolore, als trüge er das
heilige Sakrament.
Unterdessen sammelten sich in den Kulissen Süd- und
Nordvietnams die Akteure und die Drahtzieher der kommenden, der neuen Tragödie Indochinas.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
DER ZWEITE INDOCHINA-KRIEG
Die Amerikaner
101
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
102
Le sourire khmer
Kambodscha, im Frühjahr 1965
Der Vollmond stand hoch über den Tempeltürmen von Angkor
Wat. Die unzähligen Skulpturen buddhistischer und hinduistischer Fabelwesen, die diese monumentale Steinkulisse
bevölkern, waren gegen den Sternenhimmel nur in Umrissen
zu erkennen. Die Naga-Schlangen hingegen, die die Brücke
zwischen den beiden Becken bewachen, hoben ihre mächtigen
Köpfe voll ins silbrige Licht. Am Eingang des Tempels waren
Scheinwerfer aufgeflammt. Kambodschanische Tänzerinnen,
lebendige Kopien der erstarrten Vorbilder hinter ihnen, führten
mit langsamen Bewegungen ihrer langen Finger Szenen aus
dem Ramayana vor. Die Mädchen mit dem glitzernden Kopfputz und den starr geschminkten Gesichtern, in denen sich
nur die Augäpfel bewegten, trugen Gewänder aus schwerem
Brokat. Die Haut ihrer Schultern schimmerte wie Bronze. Ich
hatte mich auf dem Bambussessel meiner Bungalowterrasse
in der »Auberge du Temple« installiert und lauschte durch
die Gongschläge des Theaters hindurch den wohlvertrauten
Geräuschen der südostasiatischen Nacht. Die Moskitos waren
lästig. Der Urwald war nahe.
Wiedersehen mit Indochina nach elfjähriger Trennung. In
der verflossenen Dekade hatte mich mein Beruf im wesentlichen in Schwarzafrika und im arabischen Raum festgehalten.
Nun kehrte ich mit einer fast schmerzlichen Lust an diesen
Schnittpunkt indischer und chinesischer Kultur zurück. Meine
letzte Zwischenstation vor der Ankunft in Kambodscha war
Delhi gewesen, wo ich zu den Grabstätten und Palästen der
Mogul-Kaiser gepilgert war. Auch dort, wo das Fünf Stromland der Missionierung durch die islamischen Eroberer erfolgreich widerstanden und am tausendfältigen Pantheon seiner
Urmythen festgehalten hatte, war im Kontakt mit der strengen Wüstenreligion und der Lehre vom alleinigen Gott viel von
der ausschweifenden Sinnlichkeit des Hinduismus verlorenge-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
103
gangen. Ich wäre besser vom südlichen Subkontinent, von der
Malabar-Küste, von Madras oder Madurai nach Kambodscha
aufgebrochen, um jenen engen kultischen Bindungen nachzugehen, die seit tausend Jahren zwischen Indien und dem Land
der Khmer geknüpft worden waren.
Im Zeichen des triumphierenden Brahmanentums war jenes
Großreich der Khmer entstanden, das weit über die Grenzen
des heutigen Kambodscha hinaus Südostasien beherrscht und
im 12. Jahrhundert den Gipfel seiner Pracht und seiner Macht
erreicht hatte. Dann folgte ein unerbittlicher, mysteriöser
Verfall. Die extravaganten, himmelstürmenden Monumente
dieser Kultur – Angkor Wat, Angkor Tom, Bayon und wie sie
alle heißen – wurden unter den Lianen, unter der grünen
Gefräßigkeit des Dschungels begraben. Seit ein paar Jahrzehnten erst waren die monumentalen Tempelanlagen im
Umkreis von Siem Reap von französischen Archäologen freigelegt worden. Die Eingeborenen fürchteten sich wohl vor
diesen zyklopischen Zeugnissen einer überlegenen Ahnenwelt.
Sie hatten sogar die Erinnerung daran verdrängt.
Der Niedergang des Reiches der Khmer war von einer
unerbittlichen Fehde zwischen Hinduismus und Buddhismus
begleitet. Die Denkmäler gaben Kunde von diesem
selbstzerstörerischen Gegensatz. Die Symbole hinduistischer
Sexualbesessenheit und brahmanischer Kastenanmaßung
wurden periodisch abgelöst durch die kontemplative Ekstase
buddhistischer Selbsterlösung. Die von Gautama verheißene
Befreiung vom Alptraum der ewigen Wiedergeburt hatte lange
gebraucht, um den düsteren Zauber Schivas und Khalis zu
überkommen. Bilderstürmerei hatte in beiden Lagern gewütet.
Am Ende hatte die lächelnde Entsagung Buddhas obsiegt. Das
Volk der Khmer erstarrte in friedlicher Resignation und kehrte
den gigantischen Mahnmalen seiner historischen Größe den
Rücken. Die Kambodschaner sammelten sich von nun an im
Schatten ihrer schindelgedeckten hölzernen Pagoden, verneigten sich vor der goldenen Statue des weisen Gautama und
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
104
füllten jeden Morgen die Eßnäpfe der zahllosen Bonzen, die
mit kahlgeschorenem Schädel und safrangelber Toga bettelnd
und hochmütig durch ihre Dörfer zogen.
In mühevoller Arbeit waren die Kultstätten dem Dschungel
entrungen worden. Bildhauer und Steinmetze des alten Kampuchea hatten sich anfangs unter Anleitung ihrer indischen
Lehrmeister streng an die genormte Fabelwelt des Mahrabaratha und des Ramayana in endloser Wiederholung gehalten.
Unzählige »Lingam« konkretisierten die Zwangsvorstellung
hektischer, unentwegter Zeugung. Doch der ästhetischen Vollendung näherten sich die kambodschanischen Künstler, wenn
sie sich von den Schablonen der importierten Vorbilder
lösten. Dann belebte sich der Reigen der Tempeltänzerinnen
mit den leicht geschlitzten Augen in geschmeidiger Anmut
und verströmte einen milden Liebreiz, der ihren indischen
Gefährtinnen abging. Dann erstarrten die riesigen Buddhaköpfe
in fernöstlicher Mystik und Abgeklärtheit, wie sie an den
gequälten Ufern des Ganges und des Brahmaputra nicht gedeihen konnten. Über den versunkenen Kultstätten Kambodschas
strahlte auf steinernen Lippen le sourire khmer, ein entrücktes,
rätselhaftes Lächeln, weitabgewandt und grausam.
Wie die Pharaonen Ägyptens hatten die Herrscher Kampucheas ihre großen kriegerischen Taten durch Heere von Sklaven auf breiten Reliefs verewigen lassen. Fast immer ging es
bei diesen heroischen Darstellungen um den Abwehrkampf
der Khmer gegen die Eroberungsversuche der Cham, die aus
dem Mekong-Delta des heutigen Vietnam auf ihren waffenstarrenden Galeeren bis in die fischreichen Wasser des Binnensees Tonle Sap vorgestoßen waren. Das Reich Champa, ebenfalls zum Hinduismus bekehrt, war zu jener Zeit der Todfeind
der Gott-Könige von Kampuchea. Heute würde man vergebens
auf den ethnologischen Karten Ostasiens nach diesem einst
so gefürchteten Kriegervolk der Cham suchen. Sie wurden
im Laufe der Jahrhunderte systematisch von einer neuen
Erobererrasse aus dem Norden besiegt, unterworfen und
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
105
ausgelöscht. Die Neuankömmlinge stammten aus dem heutigen China, drängten wie ein unwiderstehlicher Ameisenzug
nach Süden und hatten bereits von Tonking und Annam Besitz
ergriffen. Sie waren die Ahnen der Vietnamesen.
Phnom Penh erschien mir als die schönste Stadt Asiens.
Die französische Kolonisation hatte breite Alleen mit gewaltig
ausladenden Mangobäumen hinterlassen. Die einstigen
Verwaltungsgebäude und Villen der Europäer waren ockergelb. Auf einem beherrschenden Hügel ganz nahe am Zentrum, auf dem »Phnom«, der der Hauptstadt Kambodschas den
Namen gab und von einem großen Stupa gekrönt wurde, ließ
eine buddhistische Pagode bunte Wimpel flattern. Am Strom
glänzten die goldenen und grünen Dächer des Königspalastes.
Die Neustadt war großzügig um den geschäftigen Boulevard
Monivong gegliedert. Längs der Straße zum Flugplatz Pochentong bildete der weißgetünchte Universitäts-Campus ein harmonisches Ensemble. Ein eigenartiger Friede ging abends von
dieser Stadt aus, wenn man unter den hohen Baumkronen
bei nachlassender Hitze mit der Rikscha zu den Hafenquais
fuhr, wo sich seit dem Abgang der Kolonialherren nichts
geändert hatte. Die dunkelhäutigen Khmer-Mädchen mit dem
leicht gelockten Haar unterschieden sich von ihren vietnamesischen Schwestern durch ein animalisches Naturell und durch
fröhliche Wildheit.
Das Königreich der Khmer kannte keinen Mangel und
keinen Hunger. Hier befanden sich die fruchtbarsten Reisfelder Asiens, und die Gewässer wimmelten von Fischen. Der
Buddhismus war allgegenwärtig und bestimmte den Lebensrhythmus. Er hatte eine gewisse Indolenz, und, wie es schien,
eine große Gelassenheit in diesem bäuerlichen Volk verankert.
Dem Fremden erschienen die Kambodschaner wie glückliche
Naturkinder, die selbst bei der harten Arbeit im Reisfeld nie
aufhörten zu schnattern und zu lachen. Es gab keine sexuellen Tabus, und die Erbsünde hatte das Land Kampuchea
verschont. Wenn je eine Gegend unserer Welt der Vorstellung
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
106
vom irdischen Paradies nahekam, dann war es das Königreich
Kambodscha unter der Führung des Prinzen Norodom Sihanuk.
Den Prinzen hatte ich zum erstenmal beobachten können,
wie er anläßlich der alljährlichen Fruchtbarkeitsfeste hinter
dem Büffelgespann die erste Furche durch den Schlamm eines
Reisfeldes zog. In dieser Stunde war er der Gott-König hinduistischer Überlieferung, auch wenn er im Gegensatz zum Thron
von Siam die Hof-Brahmanen aus dem Palast von Phnom Penh
längst verbannt hatte. Norodom Sihanuk war ein authentischer Nachkomme jener großen Khmer-Dynastie, die in den
Tempelruinen von Angkor Wat weiterlebte. Er hatte auf die
Krone verzichtet und sich statt dessen zum Staatschef mit
den absoluten Vollmachten eines Despoten proklamiert. Von
den Franzosen wurde er mit Monseigneur angeredet. Für die
Bauern war er immer noch eine Art göttliche Reinkarnation.
Wenn er sich in die Menge stürzte, die bei seinem Nahen niederkniete, verbeugte auch Sihanuk sich mit breitem Lächeln
und den zum traditionellen »Lai« gefalteten Händen. Er wollte
ein aufgeklärter Autokrat sein, und es war ihm gelungen, sein
Land aus den kriegerischen Wirren herauszuhalten, die die
übrigen Länder Indochinas wieder heimsuchten. Fünf Jahre
nach der französischen Niederlage in Tonking war der Vietnam-Krieg neu aufgeflackert.
Die Saigoner Regierung des katholischen Diktators Ngo
Dinh Diem wurde in zunehmendem Maße von roten Partisaneneinheiten bedrängt, die sich unter dem Namen »Nationale Befreiungsfront von Südvietnam« sammelten, im Volksmund jedoch kurz und bündig »Vietkong«, also Kommunisten,
hießen. Aus der Demokratischen Republik Vietnam im Norden
wurde diese Aufstandsbewegung seit sechs Jahren systematisch unterstützt. Schon war in diesem März 1965 der Ho
Tschi Minh-Pfad in aller Munde, jenes Gewirr von Dschungelpisten, das durch die unwirtlichsten Gebirge des Königreichs
Laos führte, das Verteidigungssystem der südvietnamesischen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
107
Armee umging und dem roten Partisanenheer erlaubte, weit im
Süden einzusickern. Vor allem im Grenzgebiet zwischen Kambodscha und Südvietnam, wo Gummiplantagen und Sümpfe
die Tarnung erleichterten, hatte sich der Vietkong eingenistet
und verfügte bald über ein weitverzweigtes Netz unterirdischer
Stollen und Bunker. Gegen diese Infiltration war das Kambodscha Sihanuks ziemlich machtlos, zumal Monseigneur – aus
Gründen wohlverstandener Selbsterhaltung – seine Armee auf
eine sehr bescheidene Rolle zurechtgestutzt hatte und sie vorzugsweise – zum großen Mißvergnügen ihrer französischen
Instrukteure – für Straßenbau- oder Pionierarbeiten einsetzte.
Zwischen Ost und West, zwischen Washington, Moskau, Peking,
Paris und Hanoi behauptete sich Sihanuk in einem halsbrecherischen Balanceakt. Er praktizierte Neutralität und diplomatischen Opportunismus, um seinem Land die Unabhängigkeit zu
erhalten. Er war durchaus nicht jener »Polit-Clown«, als den
ihn seine westlichen Kritiker hinstellen wollten, auch wenn er
jeden seiner Sätze mit einem unmotivierten Kichern begleitete. Er war ein Meister der Tarnung. Er war sich stets jener
tödlichen Gefahren bewußt, die dem Königreich Kampuchea
noch im 19. Jahrhundert gedroht hatten, als die Siamesen
im Westen und die Vietnamesen im Osten sich anschickten,
den Staat der Khmer aufzuteilen. Das französische Protektorat
hatte diese Entwicklung unterbrochen. Aber kein Khmer hatte
vergessen, daß das ganze vietnamesische Mekong-Delta mitsamt der Stadt Saigon, die früher einmal Prey Nohar geheißen
hatte, bis etwa 1700 rein kambodschanisches Siedlungsgebiet
gewesen war.
Sihanuk hatte viele Feinde. Da waren die Amerikaner, die
damals noch in der von John Foster Dulles ererbten Vorstellung befangen waren, daß Neutralität etwas Unmoralisches
bedeute. Da gab es die Generale von Bangkok, die immer
wieder versuchten, die Provinzen Battambang und Siem Reap
an sich zu reißen, die mit Hilfe des amerikanischen CIA eine
Untergrundbewegung, »Khmer Serei« genannt, unterstützten
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
108
und gegen Monseigneur intrigierten. Die Regierung von Saigon
sah in der Benutzung kambodschanischen Territoriums durch
den Vietkong eine tödliche Bedrohung. Tatsächlich rollten aus
dem Hafen Sihanoukville Lastwagenkolonnen mit Verpflegung
und Munition für die südvietnamesische Befreiungsfront über
die roten Lateritstraßen, die zur umstrittenen Grenze führten.
Böse Zungen behaupteten, Prinzessin Monique, die halbitalienische und bildschöne Frau Sihanuks, sei an diesem Schleichhandel prozentual beteiligt. Jedenfalls erwähnte man in den
westlichen Kanzleien Phnom Penhs unverblümt die Existenz
eines »Sihanuk-Pfades«.
Monseigneur wußte um seine Schwächen. Er besaß nur
einen echten Freund und Gönner. Das war der General de
Gaulle in Paris, der seit 1958 wieder über Frankreich herrschte.
Aber der französische Schutz reichte nicht aus. Die verwinkelten Schachzüge Sihanuks wurden von den amerikanischen
Journalisten, denen er aus guten Gründen sein Land verboten
hatte, als Ausdruck von Charakterlosigkeit gedeutet. In Wirklichkeit hatte sich Sihanuk einer skrupellosen Politik der nationalen Selbsterhaltung verschrieben. Er lebte aus der geschichtlichen Erfahrung, daß die Vietnamesen in Nord und Süd –
unabhängig von ihrer ideologischen Färbung – die Todfeinde
seines Volkes waren. Dieser rundliche, lebhafte Mann, der nie
zur Ruhe kam und unaufhörlich mit hoher Falsettstimme auf
seine Besucher einredete, beobachtete sie dabei mit einem
unruhigen und gleichzeitig stechenden Blick, der gar nicht
harmlos war. Das ewige Lächeln wurde zur Grimasse, wenn
sich seine Höflinge und Minister nahten und vor ihm niederknieten. Die Wutausbrüche Monseigneurs waren gefürchtet.
Sihanuk war ein Mann mit mannigfaltigen Gaben. Er
fungierte als Choreograph des königlichen Balletts, das
jeden Morgen in einem Pavillon seines Palastes probte. Die
Vortänzerin war keine Geringere als seine Tochter Bopha
Davi. Er betätigte sich als Filmregisseur und bemühte sich um
die Wiedergeburt der klassischen kambodschanischen Kunst.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
109
Er spielte Saxophon und Akkordeon und komponierte sogar
Schlager und Tangos. Als de Gaulle im Sommer 1966 bei einem
Staatsempfang wie ein fernöstlicher Sonnenkönig in Phnom
Penh und Siem Reap gefeiert wurde, ehrte man ihn auch
mit einem musikalischen Programm, das Werke von Rameau,
Mozart und Sihanuk enthielt. Sogar Theaterstücke verfaßte
dieser seltsame Mann. Sein Einakter, »Der ideale Gatte«,
erzielte bei den Franzosen Phnom Penhs einen besonderen
Heiterkeitserfolg. Ein König verstieß darin seine Lieblingsfrau, weil sie sich damit vergnügte, ihre Katzen grausam am
Schwanze zu zerren. Monseigneur schrieb die Leitartikel der
eigenen Regierungspresse und bezeichnete sich mit einem
Anflug skurriler Ironie als Korrespondent der Pariser satirischen Zeitung »Le Canard Enchaîné«.
Unter Norodom Sihanuk war Kambodscha ein für
südostasiatische Begriffe recht ordentlich verwaltetes Land.
Dem Volk von Phnom Penh wurden in einem neuen riesigen
Stadion Spiele und Feste geboten. Den einzigen, aber fatalen
Rückschlag erlitt dieser unternehmungshungrige Herrscher
auf dem Gebiet seiner Erziehungspolitik. Er hatte eine Reihe
von Fakultäten gegründet und zahlreiche Stipendiaten ins
Ausland, vor allem nach Paris geschickt, nicht ahnend, daß
sie im Quartier Latin in den Sog der dort gängigen marxistischen Ideen gerieten. Die junge Intelligenzia Kambodschas,
die der aufgeklärte Herrscher selbst gezüchtet hatte, wurde
zur militanten Vorhut der revolutionären Opposition. Bisher
hatte Sihanuk vor allem gegen die sogenannten »Khmers Vietminh« einschreiten müssen, kambodschanische Verbündete Ho
Tschi Minhs, die bis 1954 gegen die Franzosen für die Errichtung einer Kommunistischen Föderation Indochina gestritten
hatten. Diese versprengten kambodschanischen Freunde der
vietnamesischen Marxisten waren Anfang der sechziger Jahre
durch die roten und extrem nationalistischen Kadergruppen
einer neuen Generation verstärkt worden, die in der Provinz
Battambang die Bauern aufwiegelten und in den Urwäldern
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
110
von Ratanakiri geheimen Kontakt zum Vietkong herstellten.
Von nun an sprach man nicht mehr von »Khmers Vietminh«,
sondern von »Khmers Rouges«. Mit äußerster Härte und
Grausamkeit ließ Sihanuk seine Gendarmerie gegen diese
Abtrünnigen vorgehen. Es kam zu öffentlichen Erschießungen.
Die Rädelsführer, so hieß es, seien im Dschungel bis zum
Hals vergraben und den roten Ameisen zum Fraß überlassen
worden. Sogar ein paar junge Minister, darunter ein gewisser
Kieu Samphan, die Monseigneur vorübergehend in ein linksorientiertes Übergangskabinett aufgenommen hatte, tauchten
im Widerstand unter. Angeblich seien sie gefaßt und hingerichtet worden, so berichteten damals die westlichen Diplomaten aus Phnom Penh an ihre Ministerien. Das Erstaunen war
groß, als sehr viel später der prominenteste dieser Dissidenten die militärische Führung der Roten Khmer übernahm und
schließlich sogar zum ersten Staatschef des kommunistischen
Kambodscha avancierte.
Diese extremen Entwicklungen lagen im Frühjahr 1965 weit
ab. Phnom Penh war eine Oase des Friedens. Im Restaurant des
Hotels »Royal« wurde vorzügliche französische Küche serviert.
Am Swimmingpool führten die Stewardessen der Fluggesellschaft UTA ihre knappsten Bikinis vor. Dort saßen auch stets –
um den kahlköpfigen Militärarzt von Dien Bien Phu geschart –
ein paar französische Veteranen des ersten Indochina-Krieges
sowie ein stattliches Sortiment von Geheimagenten aus aller
Herren Ländern. Sie horchten fasziniert auf den dröhnenden
Waffenlärm, auf die Gerüchte und Nachrichten vom amerikanischen Krieg, die aus dem nahen Vietnam herüberwehten.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Der amerikanische Stil
Vietnam, im Frühjahr 1965
Der Kriegsstil der Amerikaner ist ein ganz anderer. Auf Befestigungen wird kein Wert gelegt. Die eigene Feuerkraft ist alles.
In Härtefällen verläßt man sich auf die Luftwaffe, und wenn
es ganz schlimm kommt, stehen die Hubschrauber, die unentbehrlichen Chopper, bereit, um das amerikanische Beraterpersonal auszufliegen. In Kontum, im Hochland von Annam,
unweit jenes Dreiländerecks, wo Vietnam, Laos und Kambodscha aufeinanderstoßen, mache ich meine Erfahrung mit
dem Zweiten, mit dem amerikanischen Indochina-Krieg. In der
Nachbarschaft des Städtchens Kontum hat sich eine Gruppe
der Special Forces einquartiert, Fertigbau-Baracken aufgestellt
und Stacheldraht gezogen. Die Truppe der Green Berets, wie
sie wegen ihrer grünen Baskenmützen genannt werden, war
von Präsident Kennedy persönlich gefördert worden.
In Kontum begrüßte uns ein Major libanesischen Ursprungs.
Er und seine Männer machten einen selbstsicheren und resoluten Eindruck. Es handelte sich um Profis des Krieges, die auf
Dschungelkampf, Sabotage und Counter-Insurgency hinter den
feindlichen Linien gedrillt waren. Dirty tricks gehörten ebenfalls zur Ausbildung.
Bei den französischen Beobachtern hieß es, drei Mann der
Special Forces seien mindestens so viel wert wie eine normale
US-Kompanie. Der pockennarbige Major deutete an, daß er
eine bewegte Karriere hinter sich habe. Auf Grund seiner perfekten Arabisch-Kenntnisse war er für abenteuerliche Sondermissionen in Nahost eingesetzt gewesen. Aber nun wurden fast
alle Green Berets in Südvietnam zusammengezogen, um der
kommunistischen Herausforderung aus dem Norden zu begegnen. In Kontum hatten sie eine zuverlässige Truppe eingeborener Soldaten um sich geschart, die ihnen treu ergeben waren.
Sie gehörten der Urbevölkerung des Hochlandes an. Die Amerikaner hatten für sie den französischen Ausdruck Monta-
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112
gnards übernommen. Beim vietnamesischen Küsten- und Herrenvolk hingegen wurden diese kupferhäutigen Menschen mit
den kaum geschlitzten Augen, die angeblich der polynesischen Rasse zuzuordnen waren, als »Moi«, das heißt als Wilde
bezeichnet. Soweit sie nicht oberflächlich christianisiert waren,
hingen die Moi noch ihrem animistischen Geisterglauben an.
Sie waren in viele Stämme mit recht unterschiedlichen Sprachen gespalten, aber eines verband sie: der Haß gegen die Vietnamesen, die sie im Laufe der Jahrhunderte systematisch aus
den fruchtbaren Ebenen ins unwirtliche Gebirge verdrängt
hatten. Im Jahr 1946 hatte ich die Moi im Umkreis von Dalat
noch nackt, nur mit einem Lendenschurz angetan, durch die
Wälder streifen sehen. Jetzt trugen die meisten Männer grünes
amerikanisches Drillichzeug, und die Frauen versteckten ihre
wohlgeformten Brüste. In der Nähe von Kontum besuchte
ich eines ihrer Pfahldörfer. In der Mitte erhob sich unter
hohem, malaiisch wirkenden Giebel das Gemeinschaftshaus.
Dem Europäer gegenüber waren diese einfachen Menschen
von herzlicher Zutraulichkeit. Ein paar Alte stellten sich
als ehemalige Hilfssoldaten der französischen Kolonialarmee
vor und grüßten militärisch. Wir mußten ihr faulig schmekkendes Bier, oder wie immer man dieses abscheulich schmekkende Getränk bezeichnen mochte, mit Strohhalmen aus
dickbäuchigen Krügen saugen. Dabei war keine Täuschung
möglich, denn mit Hilfe eines kleinen Schwimmers prüften die
Moi nach, ob wir dem Ehrentrunk auch kräftig zugesprochen
hatten.
Tagsüber war es heiß und staubig in Kontum. Die Männer
der Special Forces freundeten sich in der zwanglosen amerikanischen Art schnell mit uns an. Typische Vertreter ihrer
Nation waren diese Berufssoldaten, von denen die meisten
Tätowierungen auf Brust und Armen trugen, nicht. Sie waren
ein weit härterer Schlag als jene anderen GI’s, die wir in Saigon
und Umgebung getroffen hatten. In der Mehrzahl handelte
es sich um Neueinwanderer oder jedenfalls um US-Bürger,
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113
die mit den gesellschaftlichen Klischees ihrer Heimat nicht
zurechtkamen. Ein Mexikaner, ein Finne und ein Vollblutindianer gehörten zu dem kleinen Trupp von Kontum, aber nur ein
Neger. Noch wurden die Green Berets in der amerikanischen
Presse wie Helden gefeiert, aber im Grunde waren sie »misfits« in ihrem puritanisch geprägten Land, das keine Verwendung für diese Art Außenseiter mehr hatte, seit die Tage der
Waldläufer und Pistoleros zu Ende gegangen waren.
Der libanesische Major, ein maronitischer Christ, wie sich
schnell herausstellte, kommentierte das wachsende US-Engagement in Südostasien mit hellsichtiger Skepsis. Das Jahr 1964
war ein schwarzes Jahr für die südvietnamesische Nationalarmee gewesen. Die amerikanischen Advisers hatten errechnet,
daß jeden Monat die Kampfkraft eines vollen Bataillons vom
Vietkong aufgerieben wurde. Die Kommunisten waren zur
offensiven Phase des revolutionären Krieges übergegangen
und griffen neuerdings in Regimentsstärke an. Die Special
Forces mokierten sich über jene Generalstabsoffiziere aus USA,
die die Armee von Saigon auf eine Art Wiederholung des KoreaKrieges getrimmt, sie mit viel schweren Waffen und einer völlig
unsinnigen Zahl von Schützenpanzern ausgerüstet hatten. »Als
ob die Nordvietnamesen mit russischen Tanks über den 17.
Breitengrad rollen würden«, lachte der finnische Oberleutnant. Die Landung der ersten amerikanischen Kampfeinheiten
– an ihrer Spitze ein Regiment Marines, das bei Da Nang durch
die Brandung an den Strand watete und dort von vietnamesischen Mädchen mit Blumen bekränzt wurde, – quittierten die
Männer von Kontum mit offenem Hohn: »Das hier ist ein Partisanenkrieg, und die Marines möchten am liebsten Guadalcanal und Okinawa wiederholen.« Auch die von Präsident Johnson befohlene Bombardierung strategischer Ziele in Vietnam
imponierte ihnen nicht. »Man zermalmt keine Ameisen mit der
Dampfwalze«, meinte der Indianer.
Am nächsten Morgen lud uns der Major zu einem kriegerischen Anschauungsunterricht ein. In der Nähe des Monta-
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gnard-Dorfes Dak-Seng, nur ein paar Kilometer von der laotischen Grenze entfernt, hatten eingeborene Kundschafter einen
Stützpunkt des Vietkong ausgemacht, der in Wirklichkeit wohl
von nordvietnamesischen Regulären gehalten wurde. Auf der
Grasnarbe des Flugplatzes von Kontum, der damals nicht viel
größer war als ein Fußballfeld, wartete ein Dutzend Hubschrauber. Vietnamesische Soldaten, mit M 16-Schnellfeuergewehren bewaffnet, schwere amerikanische Helme auf dem
Kopf, die für die kleinen Kerle viel zu groß waren, kletterten in
die Helikopter. Die meisten trugen kugelsichere Westen, denn
etwas mehr oder weniger Gepäck spielte für diese zähen Asiaten keine Rolle. Die Piloten waren durchweg Amerikaner. Im
Tiefflug knatterten wir über den Dschungel und scheuchten
auf halber Strecke eine Elefantenherde auf. Eine Waldpiste
war im Dickicht zu erkennen. »So und nicht anders sieht der
ominöse Ho Tschi Minh-Pfad aus«, brüllte der Pilot durch den
Lärm der Rotoren. Plötzlich formierten sich die Hubschrauber
wie ein Hornissenschwarm. Drei Chopper schossen steil auf
eine kaum erkennbare Bodenerhebung zu und feuerten Raketen ab, die mit dunklem Qualm explodierten. Wir schwebten
wie im Stand nur noch einen Meter über dem Boden. Mit den
vietnamesischen Soldaten sprangen wir ins Freie und gingen
am Rande der Lichtung in Deckung. Der Feuerzauber war
schon vorbei. Der Angriff war als totale Überraschung gekommen. Soweit die Nordvietnamesen nicht eiligst geflohen waren,
lagen sie als halbverkohlte Leichen neben dem Bambusverhau.
Dies war eine Art der Kriegführung, von der die Franzosen
nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Nach ein paar Minuten kletterten wir wieder in unseren Hubschrauber und traten
den Heimflug an. Die Südvietnamesen mußten zu Fuß nach
Kontum zurückmarschieren. Sie sollten Feindkontakt suchen.
Diese Aussicht löste keine Begeisterung aus.
Das stattlichste Gebäude von Kontum war der Bischofssitz.
Das angeschlossene Priesterseminar glich einer französischen
Kolonialkaserne. Das Seminar war geschlossen, aber der
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Bischof, Monseigneur Seitz, ein urwüchsiger, bärtiger Elsäßer,
war auf seinem Posten geblieben. Er schickte seine Priester
sogar noch in die entlegenen Gebirgsdörfer der Moi, um dort
die Sakramente zu spenden und Katechismus zu lehren. Die
französischen Missionare wußten besser über den Vietkong
Bescheid als die Nachrichtenexperten der Special Forces. Sie
trafen immer wieder auf die roten Partisanen und wurden gelegentlich von ihnen verschleppt. »Ich kenne mein Gegenüber,
den kommandierenden Kommissar des Vietkong, recht gut«,
sagte der Bischof. »Er ist ein alter Streiter und kämpft schon
seit 1946 im Untergrund. Er ist ein selbstloser Idealist, fast ein
Heiliger, würde man sagen, wenn er bei uns stände. Im Juli
1954, kurz vor dem Waffenstillstand als die französische Garnison abrückte, sind sie damals alle aus dem Dschungel gekommen und haben ein paar Wochen lang in Kontum eine sozialistische Verwaltung eingerichtet. Gemäß dem Genfer Abkommen sind sie ein paar Wochen später nach Norden abgezogen.
Aber heute sind sie wieder da. Die südvietnamesische Division, die bei uns stationiert ist und die sich höchst ungern aus
der Nachbarschaft der Stadt Kontum herauswagt, ist zutiefst
demoralisiert und wird sich nicht lange halten können, es sei
denn, die Amerikaner träten die Ablösung an.«
In der ganzen Dritten Welt gehören die Missionare zu den
zuverlässigsten Informationsquellen. Vielleicht sind die katholischen Patres in der Nüchternheit ihrer Analysen ihren protestantischen Amtsbrüdern überlegen. In ihren Augen, falls
ihr theologisches Selbstverständnis noch intakt ist, bleibt die
Welt ein Tal der Tränen, und sie wissen, daß niemand in
Unschuld regieren kann. Während ich Monseigneur Seitz
lauschte, mußte ich an die Franziskaner von Lashio in Nordburma denken, die mich im Frühjahr 1952 sehr viel präziser
über die verworrenen Bürgerkriegszustände zwischen Kommunisten, »weißen und roten Fahnen«, zwischen Karen, Schan
und Katschin-Völkern unterrichten konnten als die westlichen
Militärattachés in der Hauptstadt Rangun. Der Elsäßer war aus
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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einem anderen Holz geschnitzt als jener traurige französische
Salesianer, der mir damals mit Verzweiflung in der Stimme
inmitten der zerbombten Ruinen von Mandalay seine tiefe
Enttäuschung über die ihm anvertrauten Burmesen gestand.
»Ich hielt sie für Kinder«, klagte er damals, »aber jetzt habe ich
entdeckt, daß sie böse Kinder sind.«. Monseigneur Seitz teilte
solchen Pessimismus nicht. Er hing an seinen Montagnards
und stritt wacker um ihr Seelenheil gegen den verderblichen
Einfluß der marxistischen Ideologen. Er hatte noch die Statur
und das Gottvertrauen eines Kreuzfahrers.
Der Generalvikar der Diözese war ein nachdenklicher
Intellektueller. Er kam auf die Tragödie des katholischen
Präsidenten Ngo Dinh Diem zu sprechen. Er erzählte von dem
Wahn des unbestechlichen Mandarins, der mit einer Minderheit von knapp zwei Millionen Katholiken versucht hatte, aus
Südvietnam eine Art katholische Dollfuß-Republik zu machen.
Damit hatte er die Gegenbewegung der Buddhisten ausgelöst.
Die Jünger Gautamas hatten sich verständlicherweise gegen
die christliche Bekehrungskampagne Diems zur Wehr gesetzt,
dann aber den Schritt zur militanten politischen Opposition
in Windeseile vollzogen. Ganz von selbst war diese Mutation
der bislang völlig neutralen buddhistischen Bonzen in eifernde
Vorkämpfer des revolutionären Umsturzes bestimmt nicht
gekommen. Im französischen Krieg hatte der Buddhismus
nicht die geringste Rolle gespielt. Unter Diem hatte eine
gezielte Unterwanderung der Pagoden durch Agenten des
Vietkong stattgefunden. Die Wandlung vom Kommissar zum
Yogi, vom Vietkong-Agenten zum meditierenden Bonzen war
ein Kinderspiel, wo doch jeder fromme Buddhist zumindest
eine kurze Spanne seines Lebens in einem Kloster verbringen
sollte.
Mit der Verstärkung des US-Engagements in Indochina
waren ganze Rudel amerikanischer Journalisten in Saigon
eingetroffen. Sie hatten im höchsten Stockwerk des modernen Hotels »Caravelle«, das angeblich der katholischen Kirche
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
117
gehörte, in einer unterkühlten, sterilen Bar ihr Stammquartier
aufgeschlagen und waren sich schnell einig in der Beurteilung der Lage: Der Diktator Diem mußte weg, und die Buddhisten als wahre Repräsentanten des vietnamesischen Volkes
würden zwischen dem Kleriko-Faschismus des »Unbestechlichen« und dem Kommunismus der Befreiungsfront den rettenden Weg zu Frieden und Demokratie weisen. Daß die Buddhisten überhaupt nicht repräsentativ für dieses zutiefst konfuzianische Volk waren, daß die Lehre Gautamas als Zufluchtsreligion der kleinen Leute nur am Rande existierte und in
Cochinchina vor allem dank der kambodschanischen Nachbarschaft der Theravada-Richtung über eine größere Präsenz
verfügte, war allenfalls ein paar Außenseitern der CIA bekannt,
auf die niemand hörte. Als dann tatsächlich ein paar Bonzen
das Martyrium wählten, sich auf der Straße mit Benzin
übergossen und wie lebende Fackeln loderten, entlud sich die
Empörung der amerikanischen Berichterstatter und übertrug
sich auf ihre Leser. Madame Nhu, die mächtige und schöne
Schwägerin des Präsidenten Diem, hatte unwillkürlich dazu
beigetragen, indem sie bei einem Interview leichthin erklärte,
sie könne die Bonzen ja nicht daran hindern, ihr eigenes Barbecue zu veranstalten.
Ausgerechnet Präsident Kennedy, der erste katholische
Staatschef der USA, verfügte den Sturz des katholischen
Diktators Ngo Dinh Diem im Herbst 1963 und leitete eines
der unrühmlichsten Kapitel der amerikanischen Diplomatie
ein. Kennedy, so wird angenommen, hatte sich blindlings auf
die Berichterstattung des New York Times-Korrespondenten
David Halberstam verlassen, der ein engagierter Diem-Gegner
war. David war ein alter Freund aus den Zeiten der KongoWirren und Katanga-Feldzüge. Doch für die Hintergründigkeit
Südostasiens hatte er wohl weniger Gespür als für die schicke
und schöne Welt der amerikanischen Ostküste, die er geistreich zu schildern wußte. Am Ende fiel Ngo Dinh Diem einem
amerikanischen Komplott zum Opfer, dessen Ausführung der
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
118
südvietnamesischen Generalität oblag. Daß der Staatschef
dabei ermordet wurde, mag eine Panne gewesen sein. In seinem
Stolz und seiner Würde hatte Diem offenbar das Fluchtangebot amerikanischer Zwischenagenten abgelehnt und den Tod
vorgezogen. Der Dolchstoß gegen diesen starren, aber aufrechten Patrioten lastete von nun an wie ein Kainszeichen auf der
gesamten amerikanischen Vietnampolitik.
Dem Generalvikar von Kontum war zugetragen worden,
der geopferte Diktator habe in den letzten Monaten seiner
Herrschaft mit französischer Hilfe versucht, ein direktes
Gespräch mit Ho Tschi Minh aufzunehmen, um der vietnamesischen Nation die bevorstehende Internationalisierung
des Bürgerkrieges zu ersparen. Diese Kontakte hätten die
verhängnisvolle Entscheidung des Weißen Hauses beschleunigt. Auf die Beseitigung Ngo Dinh Diems war das Vakuum
gefolgt in Gestalt einer goldchamarrierten Offiziersjunta unter
Vorsitz des Generals Duong Van Minh, von den Franzosen einst
le gros Minh, jetzt Big Minh genannt. Aber auch Big Minh war
den Amerikanern schnell suspekt. Dieser phlegmatische Mann
hatte in der französischen Armee seine ersten Galons verdient
und der alten Kolonialmacht sowie dem General de Gaulle eine
völlig unerwartete Loyalität bewahrt. Es dauerte nicht lange,
bis Duong Van Minh durch einen neuen, von den Amerikanern
inspirierten Putsch gestürzt und nach Bangkok exiliert wurde.
Seine tragische Stunde sollte erst am Vorabend des kommunistischen Einmarsches in Saigon im April 1975 schlagen,
als er an die Spitze der verwesenden Republik Südvietnam
gerufen wurde und nur noch die bedingungslose Kapitulation
verkünden durfte. Nach der Verbannung Big Minhs hatten sich
im Palais Norodom, dem alten französischen Gouverneurssitz,
den man in »Palais Doc Lap«, in »Unabhängigkeitspalast«,
umgetauft hatte, Operettengenerale und Marionettenpolitiker
abgelöst. Am Ende fiel die Wahl des amerikanischen Botschafters auf den rundlichen General Khanh, dessen Ziegenbart
große Heiterkeit auslöste. Khanh war der Sohn eines Schau-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
119
spielers und damit Angehöriger eines in Vietnam gering geachteten Standes. Für die USA war er ein allzu bequemer, völlig
unzulänglicher Verbündeter in dieser extremen Krisensituation.
Der Generalvikar hatte aus der Schule geplaudert und
lächelte nun maliziös hinter seinen dicken Brillengläsern. »Von
den Buddhisten ist seit der Ermordung Diems nur noch selten
die Rede«, meinte er. »Der CIA hat sich inzwischen die Agenten des Vietkong vorgenommen und schleust seine eigenen
Vertrauensmänner in die Pagoden ein. Allenfalls in der alten
Kaiserstadt Hue hat sich der politische Buddhismus in einer
letzten Bastion verschanzt.«
In Hue, so hieß es damals, schlug das nationale Herz Vietnams. Noch waren keine amerikanischen Truppen in der alten
Hauptstadt des annamitischen Reiches gelandet, aber schon
verkrampften sich ihre Einwohner in feindseliger und instinktiver Abwehr gegen diese neuen Eindringlinge. Hue wurde von
den vermoderten, grauen Wällen der Zitadelle beherrscht. Der
Stil des französischen Festungsbaumeisters Vauban war nicht
zu verkennen. Die verwahrlosten Palastanlagen kündeten nicht
mehr von imperialer Pracht.
Ein junger deutscher Arzt, der an dem Universitätshospital
von Hue praktizierte und unterrichtete, begleitete uns in
seinem Peugeot zu den alten Kaisergräbern. Diese Mausoleen
lagen bereits in einem hügeligen Niemandsland, wo nach
Anbruch der Dunkelheit der Vietkong den Ton angab. Die
Grabtempel waren getreue Repliken chinesischer Vorbilder.
Nur war hier alles kleiner und bescheidener, selbst die Elefanten und Fabelwesen, die die Alleen säumten. Steinerne Mandarine waren zu hierarchischer Huldigung aufgereiht. Nirgendwo
wurde deutlicher, daß die Vietnamesen nur durch ein schieres
Wunder an Widerstandskraft ihrer totalen Einverleibung in
das Reich der Mitte widerstanden hatten. Schrift und Kultur
Chinas hatten sie bereits übernommen, ehe die europäischen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
120
Missionare die Transkription der vietnamesischen Sprache ins
lateinische Alphabet vornahmen. Die Pagoden der Totenstadt
waren in verschwiegenen Parks verstreut. Im modrig-grünen
Wasser der quadratischen Teiche blühten Lotos und Seerosen. Über einen Lehmpfad fuhren wir weiter nach Westen.
Auf einer Hügelkuppe, die noch von einem alten französischen
Betonbunker des letzten Krieges gekrönt war, hielten wir
an. Der rote Sonnenball näherte sich den schwarzen Konturen der Cordilleren. Dort verlief die Grenze von Laos. Zu unseren Füßen lag eine der lieblichsten Landschaften Asiens. Der
»Fluß der Wohlgerüche« zog sich wie ein breites silbernes
Band durch hellgrüne Reisfelder und welliges Bambusgehölz.
Im rauchigen Licht trieben Fischerboote und Dschunken auf
der Rivière des Parfums. Eine Turmpagode entfaltete ihre
geschwungenen Dächer.
Der blonde deutsche Arzt drängte zur Heimfahrt. »Ich selbst
fürchte mich nicht vor den Vietkong«, meinte er, »die kennen
mich längst und wissen, daß ich bei meinen Patienten nicht
nach der politischen Couleur frage. Bei Tage besuche ich sogar
jene Dörfer, die notorisch mit den Rebellen sympathisieren.
Aber Sie sind hier unbekannt und könnten für Amerikaner
gehalten werden.« Der Arzt von Hue wußte damals nicht, was
ihm bevorstand. Bei der großen Neujahrsoffensive der Nordvietnamesen im Januar 1968, als die Soldaten Hanois über
der kaiserlichen Zitadelle den gelben Stern ihrer Revolution
hißten und vierzig Tage lang dem Ansturm der amerikanischen Übermacht trotzten, ist er mit einer Anzahl seiner Kollegen ermordet worden. Man hatte zunächst behauptet, die
Nordvietnamesen seien die Täter gewesen, was angesichts der
großen Disziplin der regulären Truppen General Giaps wenig
plausibel klang. In Wirklichkeit, so wurde später heimlich kolportiert, seien die Ärzte von Hue von einer Gruppe ihrer ehemaligen Studenten gemeuchelt worden, die bei den medizinischen Examen schlecht abgeschnitten hatten oder ihren
revolutionären Übereifer beweisen wollten.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
121
Der chinesische Wirt in Hue übersetzte uns die Radio-Nachrichten. Die Militärregierung des General Khanh in Saigon
hatte beschlossen, gegen die Neutralisten und die Anhänger
der sogenannten »Dritten Kraft«, die sich vor allem im Umkreis
der buddhistischen Pagoden sammelten, drastisch vorzugehen. Davon war in Hue noch nichts zu merken. Am Morgen
hatten wir einer merkwürdigen buddhistischen Kulthandlung
beigewohnt. Die Bekehrungsversuche und die klerikale Politik des katholischen Diktators Diem hatten bei der jungen
Generation nicht nur Widerstand ausgelöst, sondern auch eine
verblüffende Mimikry. In der größten Pagode von Hue zelebrierten die Bonzen ihr buddhistisches Ritual in den straffen
liturgischen Formen einer römischen Messe. Die Gläubigen
waren exakt ausgerichtet und rezitierten ihre Sutren wie Litaneien. Die Mädchen waren in einer Art Jungfrauen-Kongregation mit himmelblauem Ao Dai organisiert, und die Boy Scouts
mit dem Baden Powell-Hut, die vor der Kirche fromme Schriften verteilten, sahen den St. Georgs-Pfadfindern zum Verwechseln ähnlich. Die militante Auflehnung der Buddhisten von
Hue, die ein Jahr später in eine offene Studentenrevolte gegen
die Saigoner Behörden und die amerikanische Überfremdung
einmündete, brach jedoch jäh und endgültig zusammen, als
südvietnamesische Fallschirmjäger auf Befehl Generals Kys
eingeflogen wurden und Jagd auf die Bonzen machten.
Drei der prominentesten Neutralisten Saigons waren im
Frühjahr 1965 kurzerhand verhaftet und zur Demarkationslinie am 17. Breitengrad transportiert worden. Dort hatten
die Propagandastäbe auf dem südlichen Ufer des Ben Hai
eine Schar von johlenden Zuschauern zusammengetrommelt,
während die drei peace mongers (Friedenshetzer) – der unglaubliche Ausdruck stammte aus der Saigoner Presse – über die
Brücke nach Norden abgeschoben wurden. Die Kommunisten
von Hanoi waren klug genug, diese unfreiwilligen Besucher
gastlich aufzunehmen und nach Paris Weiterreisen zu lassen,
wo sie ihre Kampagne für die Schaffung einer Dritten Kraft in
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Südvietnam fortsetzten. Zu diesem Zeitpunkt tobte zwar schon
der Bürgerkrieg in ganz Vietnam. Doch an der Wespentaille
dieses schmalen Küstenlandes, dort wo die beiden feindlichen
Teilstaaten aufeinanderstießen, hatte Oberbefehlshaber Giap
sich bislang gehütet, seine Regimenter ins Gefecht zu werfen.
Er wollte die Illusion aufrechterhalten, es handele sich bei den
Kampfhandlungen in Annam und Cochinchina lediglich um
den Aufstand örtlicher Freiheitskämpfer. Mit dem massiven
Eingreifen der Amerikaner sollten derlei Rücksichten auf die
Weltmeinung überflüssig werden.
Bei den Marines
Vietnam, 17. Breitengrad, im Herbst 1966
Mit Munition sparten die Marines nicht. Ihre Stellung befand
sich etwa auf halber Strecke zwischen dem Südchinesischen
Meer und der Grenze von Laos. Die Dschungellandschaft, die im
Norden zum Greifen nahe lag, gehörte schon zu Nordvietnam.
Unser Hubschrauber landete unter ohrenbetäubendem Lärm.
Sämtliche Granatwerfer und Haubitzen der Marines schossen, was die Rohre hielten, auf die umliegenden Felshänge, in
deren Kalkhöhlen die Nordvietnamesen Unterschlupf fanden.
Man versicherte uns gleich, daß es sich um eine Routineübung
handle, gewissermaßen um den Gutenacht-Gruß, den man
dem Feind entbot. »Here are the Krauts«, stellte ein Leutnant, der uns am Helikopter erwartet hatte, unser Fernsehteam seinem Oberst vor. »We are all Krauts«, lachte der Colonel und zeigte auf sein Namensschild auf der grünen Uniformjacke. Er hieß Hess. Bei den Marines war man offenbar stolz
darauf, deutscher Abstammung zu sein. Die Ballerei ringsum
wurde wie eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Bei den
Franzosen wäre es unvorstellbar gewesen, daß in einem so
exponierten Felskessel, der von drei Seiten vom Gegner eingesehen wurde, keine Stellungen ausgehoben wurden. Aber
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123
vom Schanzen hielten die Marines offenbar nichts, und zu
diesem Zeitpunkt des Krieges hatten sie es auch nicht nötig.
Hanoi war dem Materialaufgebot aus USA noch in keiner
Weise gewachsen. Nur als ich meine Tarnjacke auszog und
in der Dämmerung ein weißes Unterhemd darunter zum Vorschein kam, warnte mich der Corporal, der uns beim Zeltbau
half: »Die haben Scharfschützen auf den Hängen und warten
nur auf Zielscheiben.« Als die Nacht hereinbrach, verwandelten sich die schwarzen Rauchwolken, die über den nördlichen
Höhen längs des 17. Breitengrades krochen, in hellrote Scheiterhaufen. Ein Bataillon Marines war dort auf eine nordvietnamesische Eliteeinheit gestoßen und hatte erhebliche Verluste
erlitten. Die feindlichen Stellungen waren so eng ineinander
verzahnt, daß der Infanteriekampf im wesentlichen mit Handgranaten ausgetragen wurde. Endlich kam für die Amerikaner
die längst fällige Hilfe aus der Luft. Die Kuppen im Norden
wurden mit Napalm übergossen und verschwanden in einer
gigantischen Feuersbrunst. Noch gespenstischer war der Einsatz eines sogenannten Dragon-Ship. Aus seinen Bordkanonen pumpte dieses Spezialflugzeug dichte Kugelstrahlen auf
die gegnerische Stellung. Der Dschungel wurde wie mit Laserstrahlen abgetastet und brannte lichterloh.
Wir schlossen uns einer Nachtpatrouille an und stolperten
durch dichtes Unterholz. Die Nacht war so schwarz, daß jeder
sich an seinem Vordermann festhielt, um nicht verlorenzugehen. Als wir anfingen, uns im Kreise zu drehen, wurde ein
Späher auf einen Baum gejagt, um sich nach den Sternen
zu orientieren. Nach drei Stunden waren alle schweißgebadet
und erschöpft. Die Feldflaschen waren leergetrunken, aber
die Amerikaner füllten unbesehen schlammiges Wasser aus
einem Bach nach und fügten zwei Desinfektionspillen hinzu.
Nach zehn Minuten waren sämtliche Keime getötet, wenn
die Flüssigkeit auch scheußlich schmeckte. Gegen die Moskitos gab es ein stinkendes Öl, das auf den Lippen brannte,
aber wirksamen Schutz gegen alle Insekten bot. Die Tro-
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penhygiene hatte seit dem Franzosenkrieg beachtliche Fortschritte gemacht. Die Marines hatten in dieser Nacht keine
Feindberührung. Unter der Zeltplane schliefen wir wie Tote.
Am nächsten Morgen rückten Verstärkungen an. Mit ihren
geländegängigen Fahrzeugen hätten die Marines ohne Mühe
unser Camp von der Küste her erreichen können. Aber härteste
Beanspruchung, Strapazen bis an die Grenze des physischen
Zusammenbruchs und ein erbarmungsloser Drill gehörten
zum Credo dieser amerikanischen Elitetruppe. Die kahlgeschorenen Soldaten ächzten unter ihrem schweren Gepäck.
Sie schleppten Granatwerfer, Maschinengewehre, Bazookas
und Munitionskisten. Sie stapften wie Roboter an uns vorbei.
Die Offiziere hatten gute Köpfe und scharfe Profile wie Filmschauspieler aus einem Western. Es war eine Truppe von Athleten. Ob die Marines für den Partisanenkrieg geeignet sein
würden, stand auf einem anderen Blatt. Vielleicht waren sie für
diese Art Kleinkrieg zu sehr auf blinde Disziplin und Verachtung der Gefahr eingeschworen. Ein Leutnant mit Kindergesicht wies einen bulligen Master-Sergeant und dessen Leute
in ihre Behelfsquartiere ein. »Alle Felsen rundum stecken
voller Vietkong«, sagte er. – »Gooks«, brummte der Master-Sergeant. »Wir werden Glück haben«, fügte der Leutnant hinzu,
»wenn demnächst nicht auch noch Rotchinesen dazukommen«. – »Chinks«, kommentierte der Master-Sergeant, ohne
eine Miene zu verziehen. Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt
im amerikanischen Offizierskorps die Meinung weit verbreitet,
daß das US-Engagement in Vietnam lediglich der Auftakt zur
Generalabrechnung mit dem China Mao Tse-tungs sei.
Es war Sonntagmorgen. Ein katholischer Feldgeistlicher
bimmelte zum Gottesdienst. Er brachte eine recht ansehnliche
Gemeinde zusammen. Viele Männer gingen zur Kommunion.
Kurz vor dem »Ite missa est« schlugen zwei feindliche Granaten am Rande des Camps ein und lösten dröhnendes Gegenfeuer aus. Die Marines waren lediglich zum Segen niedergekniet.
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Victor Charlie will sich nicht zeigen
Kim Son-Tal, im Herbst 1966
General Westmoreland, der US-Oberbefehlshaber in Vietnam,
habe das unfehlbare Rezept zur Bekämpfung der Partisanen
gefunden, so hieß es damals in den Stäben von Saigon, und die
westliche Presse stimmte in diesen Chor ein.
Die neue Formel des Sieges hieß: »Search and destroy –
Aufspüren und Vernichten.« Von der bisherigen Strategie,
die noch unlängst unter der Bezeichnung: »Clear and hold
– Säubern und Besetzen« empfohlen worden war, wollte niemand mehr etwas wissen. Der Sieg schien in Reichweite, seit
die Erste US-Kavallerie-Division, First Cav genannt, mit einer
ganzen Armada von Hubschraubern in Mittel-Annam gegen
die Schlupfwinkel der Vietkong ausschwärmte. Im Kim SonTal waren feindliche Freischärler gemeldet worden. Als wir
im Chopper bei der kurz vor uns gelandeten Kompanie der
First Cav eintrafen, waren die GI’s schon ein paar Kilometer
durch das hohe Elefantengras gestapft. Wir bewegten uns im
Gänsemarsch und setzten stets die Füße in die Spuren des Vordermanns. So wurde das Risiko, auf Minen zu treten, gemindert. Besonders gefürchtet waren jene heimtückischen Fallgruben, in deren Tiefe messerscharfe Bambusstäbe mit Leichengift beschmiert waren. Wir wateten durch zwei Furten und
passierten mehrere Reisfelder. Unter einem Bambusdickicht
entdeckten die Kavalleristen mehrere Tonkrüge, die mit Reis
gefüllt waren. Die Gefäße wurden zerschlagen. Die Ameisen
würden den Rest besorgen. Am Rande einer winzigen Siedlung war der Boden frisch aufgeschüttet. Die GI’s buddelten
und hielten sich die Nasen zu. Sie hatten ein Massengrab von
etwa zwölf verwesenden Leichen gefunden. Mir war aufgefallen, wie häufig die Soldaten der First Cav Rastpausen einlegten und wie nachlässig ihre infanteristische Sicherung war.
Offenbar war der Hubschrauber ein so bequemes Transport-
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mittel, daß man darüber leicht das Marschieren verlernte. Im
übrigen wurde zwar heftig »gestöbert«, aber überhaupt nicht
»zerstört«, wenn man von den paar Bambushütten absah, die
in Flammen aufgingen. »Bitte nicht filmen«, sagte Captain
Lewis aus Alabama. »Offiziell dürfen wir nämlich diese Behausungen nicht niederbrennen.« Der Captain war ein gutaussehender, sympathischer Neger. Er kommandierte eine fast
ausschließlich weiße Kompanie, und seine Autorität war
unbestritten. Während der Mittagsrast erzählte er mir seine
Geschichte. Am Tage vor seiner Abreise nach Vietnam, als er
sich in einer öffentlichen Telefonzelle von Montgomery von
seiner Frau verabschiedete, war er von einem weißen Rassenfanatiker in den Rücken geschossen worden. Die Armee hatte
sich voll mit ihm solidarisiert, und er war bevorzugt zum Company-Commander befördert worden.
Am Nachmittag erreichten wir einen Bergkegel, der angeblich als Gefechtsstand eines irregulären VC-Bataillons ausgemacht war. VC oder Victor Charlie waren bei den Amerikanern
die geläufigen Abkürzungen für »Vietcong«. Die Granatwerfer
gingen in Stellung, und es wurde wahllos in den Dschungel
geknallt. Wir hatten den ganzen Tag keinen einzigen VC gesehen. Als eine Stunde später die Sprechfunkverbindung zum
Regimentsstab hergestellt wurde, meldete Captain Lewis zwölf
getötete Gegner. Als ich ihn fragte, woher er diese Zahl nehme,
antwortete er achselzuckend, das sei eine Wahrscheinlichkeitsrechnung nach dem erfolgten Granatwerferbeschuß. Im
übrigen sei das Mogeln mit feindlichen Verlustzahlen eine
weitverbreitete Übung. Jeder Regimentskommandeur habe
im Interesse seines persönlichen Ansehens und Fortkommens
möglichst hohe Ziffern an das Oberkommando einzureichen;
denn der Body-Count, das Addieren feindlicher Leichen, sei
eine der Hauptbeschäftigungen der Stäbe in Saigon. Mit
diesen Angaben wurden die Computer gefüttert, die über die
noch verbleibende Kampfkraft von Victor Charlie zu befinden
hätten. »Meine Vorgesetzten erwarten von mir, daß ich das
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Spiel mitspiele«, sagte Captain Lewis und brach in schallendes
Gelächter aus.
Im Laufe des Jahres 1966 verwandelten sich die lieblichen
Fischerdörfer und Sandbuchten von Annam-Nhatrang, Cam
Ranh, Qui Nhon und wie sie alle hießen – in gigantische
Fabriken des Krieges, in eintönige Barackensiedlungen und
Asphaltwüsten. Auf dem Flugplatz von Da Nang donnerten von
früh bis spät die Kampf- und Transportmaschinen aller Kategorien. Die US-Air Force begann, Brennstofflager im engen
Umkreis von Hanoi zu bombardieren. Die unaufhörliche Startund Landetätigkeit funktionierte wie am Fließband mit technischer und organisatorischer Perfektion. Hier waren die Amerikaner in ihrem Element. Aber nur ein paar Kilometer vom
Kriegshafen und von der Air Base Da Nang entfernt, schob
sich eine kahle, felsige Landzunge in das Südchinesische Meer,
und die GI’s hatten es mit all ihren technischen Wundermitteln nicht fertiggebracht, die volle Kontrolle über diese Hügel
zu gewinnen. Kein Wunder, daß es den Vietkong immer wieder
gelang, Raketenangriffe gegen diesen mächtigsten Stützpunkt
der Welt zu richten.
Die Stadt Saigon hatte sich seit der massiven amerikanischen Intervention in unerfreulicher Weise verändert. Die
Straßen und Gassen rings um die Rue Tu Do wimmelten von
grünen amerikanischen Felduniformen. Aber das Grün der
Bäume verkümmerte und verdorrte unter einer infernalischen
Benzinwolke. Daran waren nicht nur die knatternden Auspuffrohre endloser Militärkonvois schuld, sondern vor allem
das unbeschreibliche Massenaufgebot von Motorrollern und
Mopeds, kurzum »Hondas« genannt, die alle Verkehrswege
verstopften. Saigon war im Gefolge der erdrückenden USPräsenz in den Sog eines hektischen und artifiziellen Konsumtaumels geraten, und das Symbol dieses neuen Lebensstils
war die Honda. Gleichzeitig war die Hauptstadt Südvietnams
zu einem gewaltigen Bordell geworden. Anrüchige Bars mit
kurzgeschürzten Hostessen waren wie Pilze aus dem Boden
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geschossen. Auch die Prostitution hatte industriellen Zuschnitt.
Das Angebot reichte von den klimatisierten Luxus-Lupanaren
mit Stereomusik und Spiegelwänden bis zu den stinkenden
Lasterhöhlen niederster Kategorie, wo die Lust-Pritschen nur
durch schmuddelige Tücher voneinander getrennt waren. Die
schwarzen GI’s hatten ihr abgesondertes Red Light Quarter
jenseits des Flusses. Ein Vietnamese brauchte kein Kommunist
zu sein, um angesichts dieses Sodom und Gomorrha, das die
Nachkommen der frommen Pilgerväter in Indochina anrichteten, zum Antiamerikaner zu werden.
Am frühen Morgen des Nationalfeiertages waren zwei Raketen neben der Kathedrale eingeschlagen. Sie waren aus den
Rungsat-Sümpfen abgefeuert worden. Trotzdem fand die große
Parade vor dem Doc Lap-Palast zur vorgesehenen Uhrzeit
statt. Saigon hatte gelernt, mit Attentaten zu leben. »Wenn
die Südvietnamesen so gut kämpfen könnten, wie sie defilieren, dann wäre der Krieg längst gewonnen«, tuschelten die
Militärattachés auf der Ehrentribüne. In elegant geschneiderten Kampfuniformen, mit bunten Halstüchern und spiegelblanken Stiefeln marschierten die Einheiten der ARVN, Army
of the Republic of Vietnam, am neuen Regierungschef General
Ky und US-Botschafter Cabot Lodge vorbei. Es war eine martialische Modenschau. Die weiblichen Kontingente in hautengen Hosen wirkten sehr sexy. Montagnards aus dem Hochland
nahten schwankend auf ihren Elefanten. Kampfschwimmer in
Gummianzügen rollten auf ihren Schlauchbooten heran. An
diesem Tag sollte demonstriert werden, daß Südvietnam nicht
allein stand. Die Amerikaner waren in Regimentsstärke mit silberfunkelnden Helmen dabei. Es folgten die Südkoreaner der
Tigerdivision mit furchterregenden Kabuki-Gesichtern.
Die Australier traten zum Klang von »Waltzing Mathilda«
auf. Sogar ein paar Thai-Soldaten, Filipinos und Neuseeländer
waren von der Partie. Sicherheitschef Oberst Loan, ein hagerer Tonkinese mit fliehendem Kinn und Raubvogelnase, war
unermüdlich mit seinem Walky-Talky unterwegs. Die Polizisten
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Loans waren fast ebenso gefürchtet wie ihre Vorgänger vom
Binh Xuyen.
Ich war am Vortag von einer Rundfahrt durch Cochinchina
zurückgekommen. Das Mekong-Delta war weiterhin höchst
unsicher, pourri, wie die Franzosen einst sagten. Verfault war
vor allem die militärische Führung, an ihrer Spitze jener feiste
General Quang mit der Fistelstimme, der an Bestechlichkeit
nicht zu überbieten war. In meiner Gegenwart war es zu einer
giftigen Auseinandersetzung zwischen Quang und einem fast
zwei Meter langen US-Colonel gekommen, der als DivisionsAdviser abkommandiert war. Es war wohl nicht leicht für die
unkomplizierten Riesen aus USA, mit diesen listigen Zwergen
zurechtzukommen. Bei Tay Ninh, zu Füßen der »Schwarzen
Jungfrau« hatten die Special Forces zusammen mit eingeborenen Söldnern, die der kambodschanischen Minderheit »Khmer
Krom« angehörten, ein sternförmiges Lager ausgebaut. In der
Grenzzone mit Kambodscha waren die Vietkong besonders
aktiv und verfügten im Nachbarland über eine Anzahl von
unverletzlichen Nachschubbasen. Für General Westmoreland
waren diese Sanctuaries eine unerträgliche Herausforderung.
Die Green Berets von Tay Ninh mußten eingestehen, daß trotz
der Errichtung einer befestigten amerikanischen Funk- und
Beobachtungsstation auf dem Gipfel der »Black Virgin« die
Hänge dieses Bergkegels immer noch von VC wimmelten. Die
Kampfkraft der Cao Dai war bereits unter den Schlägen Ngo
Dinh Diems zerbrochen, und ein Teil der Sekte war sogar
zur »Befreiungsfront« übergegangen. Nur die kriegerischen
Buddhisten vom Hoa Hao wachten am Rande der Schilfebene
noch darüber, daß die Roten Kommissare ihren Dörfern fernblieben. Aber sie hatten nicht verwunden, daß ihr wirrer und
blutrünstiger Prophet Ba Cut mit Unterstützung amerikanischer Agenten seinerzeit von den Soldaten Diems gefangen
und öffentlich enthauptet worden war. Nur dort, wo die katholischen Flüchtlinge aus Tonking in schmucken Dörfern angesiedelt waren, herrschten Sicherheit, Ordnung und Anstand. Im
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Umkreis ihrer gelbweißen Kirchtürme und der blauen Marienstatuen führten die kampferprobten Geistlichen aus dem
Norden ein strenges und sittliches Regiment. Ich beobachtete
einen jungen Kaplan, wie er seine Pfarrkinder hinter der
Lourdes-Grotte im Werfen von Handgranaten und im Bajonettkampf unterrichtete. Die schwarze Soutane behinderte ihn
dabei nicht im geringsten.
Die Gipfelkonferenz zählt die Tage des Vietkong
Manila, im Herbst 1966
Im Malacañan-Palast von Manila hatte Präsident Lyndon B.
Johnson seine Verbündeten und Vasallen versammelt. Die spanische Kolonialresidenz bot der Veranstaltung einen prunkvollen Rahmen. Neben den Premierministern von Australien und
Neuseeland waren Präsident Park Chung Hee aus Korea und
ein thailändischer General aus Bangkok dem Ruf des amerikanischen Präsidenten gefolgt. Die Republik von Saigon war
durch Regierungschef Nguyen Cao Ky und dessen Rivalen,
General Nguyen Van Thieu, repräsentiert. Ferdinand Marcos
von den Philippinen spielte mit viel Gewandtheit und Eleganz
den Gastgeber. Die Politiker und Militärs trugen alle das
weiße philippinische Spitzenhemd über der dunklen Hose.
Die schattigen Alleen des Parks von Malacañan waren von
mandeläugigen Mädchen gesäumt. Sie trugen die spanische
Kolonialtracht mit lasziver Grazie.
Die eigentliche Gipfelkonferenz hatte nicht lange gedauert.
Hinter verschlossenen Türen hatte Lyndon B. Johnson seinen
Alliierten mitgeteilt, daß Amerika seine Kriegsanstrengungen
in Vietnam bis zum Enderfolg steigern werde und daß er beabsichtige, seine Landstreitkräfte in Indochina auf den Stand von
500000 Mann zu bringen. General Westmoreland war zu dem
Schluß gekommen, daß auf die ARVN-Verbände kein Verlaß
sei und daß die GI’s in Zukunft die Offensiv-Operationen in
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eigene Regie nehmen sollten. Den Südvietnamesen würden
lediglich Verteidigungsaufgaben zufallen. Die Generale Ky und
Thieu mußten sich dieser Entscheidung beugen. Der Vorschlag des Fliegergenerals Nguyen Cao Ky, der aus Tonking
stammte, den Landkrieg nach Nordvietnam in die Hochburg
des Feindes zu tragen, wurde vom Tisch gefegt. Das Risiko
einer chinesischen »Freiwilligen«-Intervention nach koreanischem Muster war zu groß. Angesichts der Entschlossenheit
des US-Präsidenten und seines gewaltigen Einsatzes prophezeite die Weltpresse, die in hellen Scharen nach Manila
geströmt war, daß die Tage des Vietkong nunmehr gezählt
seien.
Das Treffen von Manila endete mit einem ungezwungenen
Bankett. Um Johnson und Marcos gruppiert, saßen die offiziellen Teilnehmer an einer langen Tafel. Der festliche Raum
mit den schweren spanischen Möbeln wurde von Fackeln
erleuchtet. Ein Filipino-Orchester musizierte. Der amerikanische Präsident hatte dem Alkohol hemmungslos zugesprochen.
Wenn er sein Glas zum Toast erhob, erdrückte seine mächtige
Cowboygestalt die asiatischen Partner. Johnson hatte sich Hals
über Kopf in das Vietnam-Abenteuer gestürzt, pokerte mit der
Weltmachtrolle der USA und setzte seine politische Karriere
aufs Spiel. Der Hauptverantwortliche für dieses gewagte Engagement war jedoch John F. Kennedy gewesen. Die amerikanischen Journalisten, die auf der Air Force One mit eingeflogen waren, erzählten, daß Johnson, der ein gewiegter
Innenpolitiker war, dem jedoch die Kenntnis der internationalen Zusammenhänge abging, sich in seiner Vietnam-Strategie vorbehaltlos auf die ehemaligen Ratgeber und Minister
seines Vorgängers verlasse. Die Namen McNamarra, McGeorge
Bundy, Walt Rostow, Dean Rusk wurden immer wieder
erwähnt, wenn eine neue Intensivierung der Kriegführung,
eine zusätzliche Eskalation beschlossen wurde. Sie waren »the
best and the brightest«, wie David Halberstam ironisch schreiben sollte, und sie trieben Lyndon B. Johnson mit ihren pseudo-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
132
wissenschaftlichen Analysen und Prognosen ins Verhängnis.
Ich sah mir an diesem Abend die Männer und Frauen am
Tisch der Prominenten sorgfältig an. Die Urwüchsigkeit Johnsons wirkte ungestüm und sympathisch an diesem kosmopolitischen Ende der Welt, wo Asien sich mit der Hispanität
vermählt hatte, ehe ein halbes Jahrhundert US-Präsenz die
Philippinen zusätzlich mit dem Firnis des american way of
life überzog. Der Präsident hatte seine Frau, Lady Bird, mitgebracht. Mit ihrer vorspringenden Nase und dem Elsterblick
glich sie tatsächlich einem Vogel. Aber sie strahlte jene amerikanische Freundlichkeit aus, die so entwaffnend ist. Von
einer ganz anderen Klasse war die Gastgeberin in Malacañan,
Imelda Marcos. Sie bewegte sich wie eine Königin und war
blendend schön. Die ehemalige Beauty Queen der Philippinen
hatte mit den Jahren etwas Fülle angesetzt, was ihr aber gut
stand. Man sagte ihr großen Einfluß auf ihren Mann nach. Die
Oppositionspresse von Manila, die damals noch sehr aggressiv
war, machte sie dafür verantwortlich, daß das Vermögen des
Marcos-Clans ins Unermeßliche gestiegen sei. Wie so viele
Asiatinnen in führender Position besaß sie Persönlichkeit,
Intelligenz und stählerne Energie. Diese herrschaftliche Frau
brachte es durch ihre natürliche Eleganz und ihr Auftreten
zustande, daß der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wie ihr Vasall erschien. Zehn Jahre später erlag sogar
der greise Mao Tse-tung ihrem Charme und küßte bei einem
seiner letzten öffentlichen Auftritte der First Lady der Philippinen die Hand.
Präsident Marcos gab eine gute Figur ab. Mit den Amerikanern verstand er umzugehen, seit er im Zweiten Weltkrieg an
ihrer Seite mit Bravour gefochten hatte und mit ihren höchsten
Orden dekoriert worden war. Dieser Staatschef trug immer
noch die verwegenen Züge des Bandenführers. Jedermann
wußte, daß er als junger Pistolero einen politischen Gegner
seines Vaters eigenhändig erschossen hatte. Man merkte ihm
an diesem Abend nicht an, daß ihm die innere Opposition im
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
133
Parlament und die Straßenunruhen der Studenten zu schaffen
machten, ganz zu schweigen von den versprengten Trupps der
New People’s Army, die in den Bergen der Insel Luzon ausharrten und ihre Emissäre neuerdings in den brodelnden muselmanischen Süden des Archipels entsandten.
Die Regierungschefs von Australien und Neuseeland wirkten wie hohe Beamte aus dem Stab des Präsidenten der USA.
Premierminister Holt von Australien hatte unter der Wirkung
von Hitze und Alkohol einen knallroten Kopf bekommen, der
mit der elfenbeinernen Blässe der Asiaten kontrastierte. Als
das Orchester einen Slow spielte, eröffnete Johnson mit Imelda
Marcos den Tanz. Er drückte sie eng an sich und hatte Mühe,
das Gleichgewicht zu halten. Nguyen Cao Ky von Südvietnam
forderte Lady Bird auf. Der Fliegergeneral war Anfang der
fünfziger Jahre von den Franzosen in Marokko als Pilot
ausgebildet worden. Botschafter Cabot Lodge hatte den als
Draufgänger bekannten Ky zum Regierungschef von Vietnam
gemacht, was ein monumentaler Fehlgriff war. Mit seinem
öligen Haar, dem Menjou-Bärtchen und der eingedrückten
Nase wirkte Nguyen Cao Ky wie ein Gigolo, während er
im weißen Filipino-Hemd die Gattin des amerikanischen
Präsidenten über das Parkett bewegte. Ky war für asiatische
Augen keine Respektsperson. Nach einer gescheiterten Ehe
mit einer Französin hatte er die hübscheste Stewardess von
Air Vietnam geheiratet und seinen Ruf als Playboy bestätigt.
Die amerikanischen Gönner hofften vergeblich auf seine politische Profilierung und Initiative.
Im Gegensatz zu dem aufgekratzten Ky, der die große
Stunde genoß, verhielt sich sein vietnamesischer Begleiter
und Widerpart, General Nguyen Van Thieu, der im Auftrag
der Generalität von Saigon einer Art Parallelregierung vorstand, zurückhaltend und scheinbar unbeholfen. Er stammte
aus einer einfachen Fischerfamilie Süd-Annams, aber er
hatte das Auftreten eines Mandarins in Uniform. Man spürte
bereits, daß Nguyen Van Thieu am Tage der unausweichli-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
134
chen Kraftprobe mit Nguyen Cao Ky der Umsichtigere und
der Überlegene sein würde. Am äußersten Ende der Tafel saß
eine reglose Figur aus Bronze, Präsident Park Chung Hee von
Südkorea. Angesichts der alkoholischen Ausgelassenheit, der
amerikanisch-australischen Kumpanei und ihrer lauten Geselligkeit hatte Park sich verkapselt und trug unverblümt seine
Mißlaune, seine Geringschätzung zur Schau. Er tanzte nicht
und rührte das Essen kaum an. Die Backenknochen seines
harten Soldatenschädels traten stark hervor. Die Sehschlitze
waren fast geschlossen. Der Sohn armer koreanischer Bauern
hatte sich erst als Lehrer, dann als Leutnant der japanischen
Armee nach oben geschuftet, ehe er nach Kriegsende die
Sprossen der südkoreanischen Militärhierarchie systematisch
erklomm. Nach dem Putsch von 1961 hatte die Generalsjunta
Park Chung Hee an ihre Spitze berufen, weil sie ihn als blasse
Übergangsfigur einschätzte. Das war ein schwerwiegender
Irrtum, denn mit konfuzianischer Autorität und einer in der
Armee des Tenno anerzogenen Strenge hatte General Park alle
Hebel der Macht in Seoul an sich gerissen. Er konnte es sich
leisten, in Manila wie der »Steinerne Gast« aufzutreten. Zwei
südkoreanische Elite-Divisionen kämpften im Abschnitt von
Qui Nhon in Zentral-Annam. Wo die Soldaten aus dem »Land
des stillen Morgens« zuschlugen, da wuchs kein Gras mehr. Die
Südkoreaner waren in Vietnam gefürchtet wie die Hunnen,
mit denen sie angeblich entfernt verwandt waren. Sie erledigten ihre Gefangenen mit der flachen Karate-Hand. In ihrem
Sektor traute sich der Vietkong kaum aus seinen Verstecken
heraus. Daran gemessen, waren das thailändische Kontingent
und die paar philippinischen Soldaten, die nach Südvietnam
entsandt worden waren, Operettenkrieger. Die Neuseeländer
waren nur symbolisch vertreten. Die Australier hingegen
bewährten sich im Dschungelkrieg und sorgten für Ordnung in
ihrem Abschnitt zwischen Xuan Loc und Vung Tau.
Ein Mitglied des Präsidentenstabes beugte sich zu Johnson
und teilte ihm mit, daß eine randalierende Menge von Halb-
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wüchsigen und Studenten das Hotel der amerikanischen Delegation belagere und in Sprechchören die Beendigung des Vietnam-Krieges sowie die Räumung der US-Basen auf den Philippinen fordere. Es war spät nach Mitternacht. Lyndon B.
Johnson gab das Signal zum Aufbruch. Er war bester Laune.
Er stieg in seine gepanzerte Limousine. Über die Lautsprecheranlage ließ er mit schwerer Zunge immer wieder den
philippinischen Gruß »Mabuhai« in den nächtlichen Park
von Malacañan dröhnen. Auf der Treppe winkte ihm Imelda
Marcos mit unergründlichem Lächeln nach.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Laos, im Herbst 1966
»Dort unten beginnt die Ebene der Tonkrüge«, sagte der Pilot
und deutete auf eine riesige Mulde, die von allen Seiten durch
Gebirge eingesäumt war. Es sei nicht ratsam, diese Plaine des
Jarres zu überfliegen. Die Nordvietnamesen, die sich dieser
strategischen Schlüsselstellung im nördlichen Laos bemächtigt
hatten, verfügten neuerdings über russische Flak. »Erst vergangene Woche haben sie bei Tchepone eine Privatmaschine
heruntergeholt«, ergänzte der Pilot und drehte seine Cessna
nach Nordwesten ab.
Er hieß Pierre Mounier und hatte einmal als Feldwebel
in der französischen Luftwaffe gedient. Mit einem anderen
Veteranen des Ersten Indochina-Krieges hatte er in Vientiane
diese winzige Fluggesellschaft gegründet. Mounier hatte wohl
alle erdenkliche Konterbande inklusive Opium transportiert.
Wir charterten seine Cessna für unser Fernsehteam zu einem
lächerlich niedrigen Preis und hatten dabei das Gefühl, daß wir
ihm seit langer Zeit den ersten ehrlichen Auftrag und damit
ein Beschäftigungsalibi gegenüber den Behörden verschafften.
Mounier war ein stiller, zuverlässiger Mann. Er lebte mit einer
Laotin und kannte das Land wie seine Westentasche.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
136
Auf einem Grasplateau im Gebirgsdschungel waren wir
gelandet. Ringsum standen solide Wellblechbaracken, die mit
hohen Antennen bestückt waren. Auf dem Rollfeld wurden wir
sofort von asiatischen Kriegern umringt. Der rassische Typus
kam mir bekannt vor. Es waren Meo. Die Angehörigen dieses
Gebirgsvolks waren während des Ersten Indochina-Krieges
treue Verbündete der Franzosen gewesen. Sie hatten sich
den Amerikanern zur Verfügung gestellt, als die Nordvietnamesen im Verbund mit symbolischen Einheiten der laotischen
Kommunisten, der sogenannten »Pathet Lao«, über die 1954
vereinbarte Demarkationslinie vorstießen und die Ebene der
Tonkrüge eroberten. Mit diesen Meo-Kriegern war ein beachtlicher Wandel vorgegangen. Sie waren einheitlich uniformiert,
und ihre Steinschloßflinten hatten sie gegen funkelnagelneue
Schnellfeuergewehre vom Typ M 16 eingetauscht. Sie erhielten
reichlichen Sold. Für die regelmäßige Versorgung mit Lebensmitteln und Munition in den vorgeschobenen Berg- und Igelstellungen sorgten die Flugzeuge einer angeblich kommerziellen und privaten Firma, »Air America« genannt, die in Wirklichkeit das wirksame Instrument des amerikanischen Geheimdienstes CIA war. Die Frauen der Meo trugen noch ihre malerische Tracht. Die schweren Silberringe um Hals und Knöchel
zeigten Wohlstand an. »Die Meo sind noch nie so glücklich
gewesen«, sagte Mounier. »Seit sie auf Seiten der Amerikaner
kämpfen, fehlt es ihnen an nichts. Jeder hat zwei Gewehre
unter seinem Strohsack, und sie dürfen nach Herzenslust Krieg
führen.« Eine kleine Gruppe von Amerikanern in Zivil verwaltete diese zentrale Kommandostelle des Meo-Widerstandes.
An ihrer Spitze stand ein athletischer Mann in einem bunten
Hawaii-Shirt, der fließend Laotisch sprach. »Mein Name ist
John«, stellte er sich burschikos vor und erzählte, daß er für
eine humanitäre Hilfsorganisation arbeite, die sich vor allem
um die Ernährung der Bergvölker kümmere. Er wußte, daß er
uns nichts vormachen konnte. Neben einem Funker und ein
paar Spezialisten, die sich durch ihren Haarschnitt, den Crew
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Cut, als Angehörige der Special Forces auswiesen, lebten auch
drei amerikanische Frauen in dieser geheimnisvollen Enklave.
Die eine unterrichtete die Meo-Kinder, die andere überwachte
die Lebensmittelverteilung, die dritte verwaltete das Hospital,
wo ein paar schwerverwundete Meo-Krieger mit großer Gelassenheit ihrer Genesung oder ihrem Tod entgegendösten. Die
Lehrerin hatte es am schwersten, denn spätestens, wenn sie
zwölf Jahre alt wurden, zogen die Meo-Knaben grünes Drillich
an, schnappten sich eine der zahlreichen M 16 und gingen mit
ihrem Vater auf den Kriegspfad.
»Ich muß noch einen Außenposten inspizieren«, sagte John.
»Aber Ihre Maschine und Ihr Pilot werden da nicht landen
können.« Ich stieg zu ihm in eine winzige Sportmaschine,
und wir kreisten über schwarzen Abgründen in eine Nebelwand hinein, die trotz der Trockenzeit den Horizont verstopfte.
Wir mußten über 2000 Meter hoch sein, als die Maschine auf
die Lehmhütten eines kümmerlichen Wehrdorfes zusteuerte.
Jetzt entdeckte ich auch die primitive Landebahn, die wie
eine Sprungschanze angelegt war. Bei der Ankunft setzte das
Flugzeug brutal auf und wurde durch die Steigung gebremst.
Beim Abflug holte die Maschine auf dem abschüssigen Hang
Schwung und ließ sich wie ein Skispringer in die Leere schleudern. Ganz ungefährlich war das nicht.
»Wir sind hier am Rande der Plaine des Jarres und ringsum
von roten Pathet Lao und nordvietnamesischen Regulären
umgeben«, versicherte mir John mit einem breiten Grinsen.
»Eine andere Rasse als die Meo könnte dieses Katz- und
Mausspiel nicht durchstehen, denn unsere Lufttätigkeit ist in
dieser chaotischen Urlandschaft recht begrenzt.« Am Rande
des Dorfes entdeckte ich die altvertrauten Mohnfelder. Die
Meo hatten nicht aufgehört, Opium zu zapfen und zu verkaufen. Das Gerücht ging hartnäckig um, die Linie »Air America«
gehöre zu den privilegierten Transporteuren des Rauschgiftes.
Die Nachfrage war groß und gierig bei den GI’s in Vietnam.
Der Heroinkonsum hatte dort die Ausmaße einer Seuche ange-
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nommen. Auf dieses Thema war John nicht anzusprechen.
»Die Meo müssen schließlich leben«, meinte er knapp, »und
Reis wächst in dieser Höhe nicht mehr.«
Der Krieg in Laos war ein großes Abenteuer. Mounier
meinte zwar, es finde hier nur ein Schattenboxen statt. Die
Laoten seien viel zu träge und friedlich, um als Soldaten zu
taugen. Aber die Kampftätigkeit wurde von anderen besorgt:
Von den Spezialisten der Central Intelligence Agency mitsamt
ihren Meo-Verbündeten auf der einen, von den nordvietnamesischen Interventionsregimentern auf der anderen Seite, die
ebenfalls im Gebirge Partisanen für die Einheiten der roten
Pathet Lao rekrutiert hatten. Die Rasse der Kha war, wie der
Name besagt, von dem laotischen Staatsvolk des Mekong-Tals
jahrhundertelang als Sklaven behandelt worden. Nun hatten
sie sich bereitwillig den Kommissaren aus Hanoi angeschlossen, die ihnen im sozialistischen Lao-Staat von morgen Gleichberechtigung und bessere Lebensbedingungen versprachen.
An Absurdität war die Situation in Laos kaum zu überbieten.
An der Spitze der roten Revolutionäre stand die eindrucksvolle
Figur des Prinzen Souphanouvong, der mit seinem Katzenkopf
und dem breiten Schnurrbart wie ein südostasiatischer Samurai wirkte. Mit russischer Hilfe hatte seine Bewegung »Neo Lao
Haksat« in der Felslandschaft von Sam Neua und Vieng Xai
ein Labyrinth von Höhlen ausgebaut, sogar Kaderschulen und
Reparaturwerkstätten dort untergebracht und sich somit den
Bombardements der US-Air Force entzogen. Souphanouvong
genoß auch bei seinen Gegnern hohes Ansehen. Erst nach
der totalen Machtergreifung der laotischen Kommunisten 1975
sollte sich herausstellen, daß der »Rote Prinz« für die Strategen aus Hanoi nur ein Aushängeschild war und daß der wirkliche Chef des Pathet Lao ein bislang völlig unbekannter, halbvietnamesischer Apparatschik, Kaysone Phomvihane, war, der
seine Heimat zum Vasallenstaat der Sozialistischen Republik
Vietnam machte.
In Vientiane residierte unterdessen Ministerpräsident Sou-
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vanna Phouma, auch er ein Prinz und ein Halbbruder seines
roten Rivalen Souphanouvong. Souvanna Phouma war ein
dicklicher Aristokrat von großer Bildung und erlesenen Manieren. Er war ursprünglich als Neutralist zum Regierungschef
berufen worden und betrachtete Frankreich als sein zweites
Vaterland. Die Franzosen, denen nach dem Waffenstillstand
von 1954 die Ausbildung der Königlich Laotischen Armee
übertragen worden war, hatten unaufhaltsam an Boden verloren. Nachdem die kleine neutralistische Truppe des tapferen
Oberst Kong Le bei den Kämpfen um die Ebene der Tonkrüge
auseinandergefallen war, blieb den zweihundert französischen
Militärinstrukteuren nur noch eine Statistenrolle. In ihrem
Camp bei Vientiane hatten sie uns zu einem gesellschaftlichen
Empfang geladen, mit dem sie des Waffenstillstands von
1918 gedachten. Die französischen Offiziere waren in weißer
Uniform angetreten. Der kommandierende Brigadegeneral
begrüßte die zahlreichen laotischen Gäste, unter denen sich
natürlich Prinz Souvanna Phouma befand. Es war eine nostalgische Veranstaltung.
Die ursprünglichen Vereinbarungen über die Neutralisierung von Laos, die noch zwischen Kennedy und Chruschtschow ausgehandelt worden waren, zerplatzten wie Seifenblasen, seit es in Vietnam wieder ernsthaft zu rumoren begann.
Souvanna Phouma hatte vergeblich versucht, seinen Kurs
einer Dritten Kraft durchzuhalten. Aber in Vientiane und
vor allem in der stockkonservativen und feudalen Südprovinz
Champassak mußte er mit den Intrigen und Umsturzversuchen jener adligen Kriegsherren rechnen, die mit dem amerikanischen Geheimdienst und mit ihren thailändischen Verwandten jenseits des Mekong konspirierten. Da auch die rote
Gegenpartei immer unversöhnlicher und aggressiver wurde,
blieb Souvanna Phouma keine andere Wahl, als seinerseits auf
die amerikanische Karte zu setzen und durch diesen Schachzug seine reaktionären Rivalen, an ihrer Spitze den Prinzen
Boun Oum auszutricksen. An der Grenze mit Jünan entstand
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zusätzliche Verwirrung. Dort hatten die Emissäre Mao Tsetungs die nördlichste laotische Provinz Phong Saly in eine
rein chinesische Einflußzone verwandelt, wo auch keine Vietnamesen geduldet wurden. In hochoffiziellen Vereinbarungen
mit der Regierung von Vientiane war die Volksrepublik China
beauftragt worden, im Norden von Laos zwischen Jünan, Dien
Bien Phu und der alten Königsstadt Luang Prabang ein System
von Allwetterstraßen auszubauen, das auf lange Sicht die strategische Landverbindung zwischen dem Reich der Mitte und
dem Königreich Thailand herstellen würde. Dort wo die Pioniere Mao Tse-tungs am Werk waren, hatten auch die amerikanischen Kampfflieger strikte Weisung, den Himmel zu meiden.
In den Botschaften von Vientiane wurde immer wieder die
Legende von den tambours de bronze erzählt. Diese Bronzetrommeln gehören seit dem fernen Altertum zu den prächtigsten
Erzeugnissen des laotischen Handwerks. Die runde Oberfläche
ist mit astrologischen Zeichen verziert. Am Rande kopulieren
Dreiergruppen von kleinen Fröschen, und die Schweißnaht ist
mit winzigen Elefanten geschmückt. Diese Tempeltrommeln,
so besagt die Legende, seien in grauer Vorzeit von einem klugen
laotischen Fürsten für eine Kriegslist benutzt worden. Als ein
weit überlegenes chinesisches Heer von Norden einrückte, ließ
der Prinz die Bronzetrommeln aus den Pagoden holen und
stellte sie unter den zahllosen Wasserfällen dieses Gebirgslandes auf. Dadurch entstand ein so ungeheuerliches Dröhnen,
daß bei den Soldaten des Kaisers von China der Eindruck entstand, eine starke laotische Armee sei im Anmarsch. Die Söhne
des Himmels, vom Lärm der tambours de bronze verschreckt,
hätten das »Land der Million Elefanten« damals kampflos
geräumt, so endete die Sage.
In der schläfrigen und unansehnlichen Hauptstadt Vientiane spiegelten sich die Gegensätze, an denen das Königreich
Laos zerbrach. Am Ende einer breiten Allee erhob sich ein
grauer, scheußlicher Triumphbogen, der den toten Helden des
Laos-Krieges gewidmet werden sollte. Das kolossale Denkmal
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wurde nie fertig, obwohl der ursprünglich vereinbarte Baupreis bereits zehnfach überschritten war. Das Geld verschwand
angeblich in den Taschen der chinesischen Bauherren und
einer total korrupten Bürokratie. Nicht weit vom bunten Treiben des Zentralmarktes schirmte sich der schwer bewachte
Compound der amerikanischen Botschaft hinter weißen Mauern
ab. Der US-Ambassador agierte nicht nur als Prokonsul von
Laos, er war auch der faktische Oberkommandierende. Er dirigierte persönlich die Einsätze der US-Air Force und bestimmte
die Ziele. In Laos war der CIA allmächtig und gab – rein technisch bewertet – keine schlechte Figur ab. Dem Ruf von Air
America waren Rudel von Abenteurern und Freibeutern aus
USA gefolgt. Sie flogen halsbrecherische Missionen, spielten
sich als »James Bond«-Kopien auf, spezialisierten sich in dunklen Geschäften und verunsicherten nach Einbruch der Dunkelheit die anrüchigsten Nightclubs der einst so langweiligen
Hauptstadt. Ganze Kontingente siamesischer Prostituierter
waren über die Mekong-Grenze gekommen und pendelten zwischen Vientiane und dem thailändischen Städtchen Udorn hin
und her, wo sich eine gigantische Luftwaffen- und Radaranlage der Amerikaner befand. Eine Schar von Transvestiten war
ebenfalls aus Bangkok eingeflogen. Sie waren so erotisch aufgedonnert und mit chirurgischen Kunstgriffen feminisiert, daß
die betrunkenen Söldner von Air America ihre wahre Beschaffenheit oft erst entdeckten, wenn es zu spät war.
Keine dreihundert Meter von der amerikanischen Botschaft
entfernt standen zwei ungewöhnliche Soldaten vor einer verschwiegenen Villa auf Posten. Sie trugen grüne Ballonmützen
mit blauroter Kokarde und viel zu weite Uniformen. Die
Gesichter waren bäuerlich. Bewaffnet waren sie mit chinesischen AK 47-Gewehren. Sie bewachten die offizielle Vertretung der kommunistischen Bürgerkriegspartei Pathet Lao im
Herzen der laotischen Hauptstadt. Etwa dreißig Soldaten hatte
der Pathet Lao in Permanenz aufgeboten, um seinen Sonderbeauftragten Soth Petrasy zu beschützen. Sie mußten sich
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schrecklich langweilen, durften den Umkreis ihrer Villa nicht
verlassen, spielten Volleyball und pflanzten im Garten ihrer
Unterkunft Gemüse. Soth Petrasy war ein umgänglicher Mann.
Jedesmal wenn ich in Laos einreiste, habe ich ihm einen
Besuch abgestattet und bei ihm Tee getrunken. Die Liaison zwischen dieser seltsamen Mission und den roten Behörden von
Sam Neua wie auch die gelegentliche Ablösung des Wachpersonals wurde durch eine kleine Aeroflot-Maschine gewährleistet,
deren Piloten bestimmt nicht harmloser waren als ihre Kollegen von der anderen, der amerikanischen Feldpostnummer.
Die Laoten waren von Natur ein heiteres, sorgloses, verspieltes Volk. Sie schienen endgültig von der duldsamen Lehre
Gautamas geprägt. Während im Gebirgsland der CIA und die
Nordvietnamesen ihren Kleinkrieg um die entscheidenden
Schlüsselstellungen dieses Zweiten Indochina-Krieges austrugen und die US-Air Force mit ungeheuren Bombenlasten sowie
modernsten elektronischen Kniffen den Ho Tschi Minh-Pfad
lahmzulegen suchte, feierte die Bevölkerung von Vientiane in
aller Unbekümmertheit ihre buddhistischen Feste. Am Nachmittag war die ganze Regierung, Prinz Souvanna Phouma
an der Spitze, in feierlicher Prozession zum weißgetünchten
Heiligtum Tat-Luang im Osten der Hauptstadt gepilgert. Die
Minister trugen die Hoftracht mit schwarzen Kniehosen und
weißem Jackett. Ein safrangelbes Aufgebot von Bonzen nahm
diese Huldigung regungslos und würdevoll entgegen. Die laotischen Mädchen beugten ihre lieblichen Mondgesichter und
hatten die schwarze Haarpracht, die ihnen oft bis in die Kniekehlen fiel, zu züchtigen Knoten geschürzt. Beim nächtlichen
Umzug von Pagode zu Pagode hielt jeder Teilnehmer eine
Fackel in der Hand. Es wurde viel gescherzt bei diesen Festlichkeiten, und das goldene Lächeln Buddhas übertrug sich
auf die entspannten Gesichter der Gläubigen.
Am folgenden Morgen begab sich König Savang Vatthana
zur größten Pagode der Innenstadt. Der stattliche, eigenwillige Monarch, der beim Volk große Achtung genoß, verließ nur
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ungern seine verschnörkelte Residenz von Luang Prabang,
obwohl sich die roten Partisanen bis auf zwanzig Kilometer
der alten Königsstadt genähert hatten. Der König von Laos
trat mit prächtigem Gefolge auf. In knallrote Livree gekleidete
Diener vom Volk der Kha trugen die schweren Tempelgongs.
Die Palastgarde war wie die Schweizer des Vatikans mit Hellebarden bewaffnet. Der König würde es nicht lange im kosmopolitischen und sündhaften Vientiane aushalten. Er sehnte
sich schon wieder nach seinen verträumten Gärten von Luang
Prabang, wo die abendliche Stille nur durch die Gongschläge
und das monotone Beten der Mönche unterbrochen wurde.
Savang Vatthana huldigte einer skurrilen literarischen Leidenschaft für Marcel Proust. Es hieß bei den Franzosen, daß der
Sonderling auf dem Thron der Million Elefanten ganze Kapitel aus dem Proustschen Werk »A la récherche du temps
perdu« auswendig rezitieren konnte. Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit, das wäre ein treffender Titel für die Schilderung dieses liebenswerten hinterindischen Königreichs gewesen, das an einer ruchlosen Machtpolitik der Supermächte
zugrunde ging.
Unsere Chartermaschine hatte uns erlaubt, weite Teile
von Laos zu inspizieren. Beim letzten versprengten Häuflein
der Neutralisten in Vang Vieng, wo die Felsen wie grüne
Zuckerhüte den Horizont verstellten, hatten wir einen einsamen französischen Major getroffen, der sich seiner Funktionslosigkeit voll bewußt war. Auf der Höhe von Thakek waren
wir nach Osten abgedreht und hatten überprüft, ob die von
gewissen amerikanischen Strategen erwogene Absicht, einen
Sperriegel quer durch Laos zu ziehen, realisierbar wäre.
Doch das erschien als aussichtsloses Unterfangen. Zwischen
Thakek am Mekong und dem Dorf Tchepone an der vietnamesischen Grenze legte sich eine chaotische, zerklüftete Gebirgslandschaft quer. Dieses Relief eignete sich nicht im geringsten
für eine zusammenhängende Abwehrlinie. Im nördlichen Fort
Ban Huei Sai, wo China und Burma zum Greifen nahe sind,
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wo die Opiumschmuggler sich ein Stelldichein geben und das
»Goldene Dreieck« beginnt, konnten wir nicht landen, weil
der Mekong – von der Schneeschmelze des Himalaja gespeist
– den Flugplatz überflutet hatte. Schließlich waren wir im
Tiefflug über das Boloven-Plateau im äußersten Süden des
Landes gekreuzt und in der isolierten Garnison von Atopeu
von einem feisten phlegmatischen Oberst der Königlich Laotischen Armee bewirtet worden. Der Colonel begleitete uns bis
zu seiner vorgeschobensten Wegkontrolle, die nur zwei Kilometer vom Pfahldorf Atopeu entfernt war. Dort begann schon
das Niemandsland, und hinter der Biegung des Waldpfades
vermutete der Oberst die ersten nordvietnamesischen Vorposten. Der Umkreis von Atopeu galt bei den Nachrichtendiensten von Saigon als Drehscheibe des Ho Tschi Minh-Pfads.
Dieses strategische Verbindungsnetz sei in letzter Zeit erheblich ausgebaut worden, erklärte der Oberst vor der Generalstabskarte. »Bei Nacht hören wir nicht nur die Lastwagenkonvois, wir können in der Ferne sogar ihre abgeblendeten
Scheinwerfer erkennen. Da geht es manchmal zu wie auf den
Champs Élysées«, fügte er grinsend und mit offensichtlicher
Übertreibung hinzu. Er war stolz darauf, einmal einen Lehrgang in Frankreich absolviert zu haben. Ob er denn im Ernstfall
Atopeu verteidigen und halten könne mit seinen zweihundert
Soldaten, fragte ich. Da lachte der Colonel schallend. »Wenn
wir Glück haben, schlagen wir uns mit äußerster Anstrengung
über das Boloven-Plateau bis Pakse am Mekong durch. Hier
in Atopeu sitzen wir hoffnungslos in der Mausefalle.« Die
Tage, in denen die Laoten einen übermächtigen Gegner mit
dem Dröhnen ihrer Bronzetrommeln verscheuchen konnten,
gehörten offenbar einer fernen Vergangenheit an.
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»Zu ihrer Rettung vernichtet«
Vietnam, im Herbst 1967
Der Krieg sei so gut wie gewonnen, verkünden die amerikanischen Armeesprecher in Saigon. Jeden Tag weiß der briefing officer von Hunderten von structures, Öl- und Munitionsdepots zu berichten, die durch die US-Air Force nördlich
und südlich des 17. Breitengrades zerstört worden seien. Bei
genauem Nachfragen erfährt man, daß mit structures oft nur
Bambushütten im Feindgebiet gemeint sind. Ganze Computer-Systeme haben an Hand des sorgfältig zentralisierten body
count errechnet, daß die feindliche »main force« im wesentlichen aufgerieben und die irregulars am Ende ihrer Kraft seien.
Von diesen Siegesbulletins merkt man hier oben in Con Thien,
wo Nord- und Südvietnam aufeinanderstoßen, herzlich wenig.
Es ist kalt und windig in der Nähe der Demarkationslinie, die
zur heiß umkämpften Front geworden ist. Die Wolken hängen
niedrig und grau. Der Regen prasselt in Strähnen auf eine
baumlose Landschaft, die im Schlamm versinkt. Ich begegne
einer Kolonne von Marines, die in die vorderen Stellungen
rücken. Beiderseits der glitschigen Lateritstraße verwesen drei
Büffel, die in eine Granatwerfersalve geraten sind, und verbreiten süßlichen Gestank. Die Marines sind schwer beladen,
völlig durchnäßt und schlammverkrustet. Wie sie sich gegen
den drohenden Himmel abzeichnen, erinnern sie an Bilder
von Verdun. In diesem Abschnitt des Vietnam-Krieges ist
nicht mehr die Rede vom forschen Erfolgsrezept search and
destroy. Die B 52 der US-Air Force haben mit Bombenteppichen
den sogenannten nordvietnamesischen »Flaschenhals«, den
schmalen Küstenstreifen zwischen dem Ben Hai-Fluß und der
Stadt Vinh, in eine Mondlandschaft verwandelt. »Wir werden
die Kommunisten in die Steinzeit zurückbomben«, hatte General Curtis Le May gedroht. Dennoch ist es General Giap gelungen, sein Stellungs- und Bunkersystem bis unmittelbar an
die amerikanischen Linien vorzutreiben, und er hat neuer-
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dings sogar schwere Artillerie an die Front geschafft, Gott
weiß wie. In unregelmäßigen Abständen schlagen die Granaten im Umkreis der amerikanischen Stützpunkte ein und
haben die fluchenden Marines dazu gezwungen, ihrerseits
Stollen und Gräben tief in den lehmigen Boden zu treiben.
»Die Beschießung durch den Feind ist äußerst lästig«, meint
der Major, der meine Führung in Con Thien übernommen hat.
»Aber viel schlimmer sind die Ratten, mit denen wir hier im
Dreck leben müssen und die meine Männer gelegentlich anfallen.« In der Ferne rollt Artillerie- und Bombenlärm. Vom Feind
ist nichts zu sehen, obwohl er hinter der braunen Bodenwelle
eingebuddelt sein muß. »Sie bringen es immer noch fertig,
trotz Drahtverhau und Minenfeldern zwischen unseren Stellungen durchzusickern«, flucht der Major und wischt sich den
Regen aus dem Gesicht. »Wir kämpfen gegen eine Armee von
Maulwürfen.«
Über Saigon strahlte zu dieser Jahreszeit eine warme,
trockene Novembersonne. Die bonne société saigonnaise traf
sich am Swimmingpool des »Cercle Sportif«. Dieser exklusive
Club, in dem sich ein Hauch der französischen Kolonialzeit
erhalten hatte, war eine vortreffliche Nachrichtenbörse. Zu
den Stammgästen gehörten in jenen Tagen der deutsche und
der holländische Militärattaché. Der Niederländer war ein in
Insulinde ergrauter Kolonialoffizier, dem man nichts vormachen konnte. Der deutsche Oberstleutnant stand beim übrigen
Botschaftspersonal im Rufe eines Miesmachers. Während die
diplomatische Vertretung Bonns in der Rue Vo Tanh von
der Stabilisierung zugunsten der Amerikaner, vom unvermeidlichen Sieg der guten Sache berichtete, erging sich
der Militärattaché in pessimistischen Prognosen und Kassandra-Rufen. Im »Cercle Sportif« konnte man sich auch mit
französischen Plantagenverwaltern verabreden. In der Mehrzahl waren es junge Offiziere, die nach dem Algerien-Debakel
ihren Abschied eingereicht hatten. Sie mußten jede Woche
mit den Kommissaren des Vietkong verhandeln, Abgaben
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entrichten und Personalfragen klären, um die Gummibäume
ihrer Pflanzungen weiter anzapfen und ihren Rohkautschuk
abtransportieren zu dürfen. Die begüterte Bourgeoisie Cochinchinas war im »Cercle Sportif« zu Hause und tummelte sich auf
den Tennisplätzen. Natürlich waren auch zahlreiche Amerikaner Stammgäste, aber es gehörte zum guten Ton, französisch
zu sprechen.
Zum Dîner war ich beim französischen Generalkonsul
Tomasini eingeladen, einem bärbeißigen Korsen, der sich als
junger Mann in der Résistance von Savoyen und im Maquis
von Vercors hervorgetan hatte. Trotz seiner grauen Haare war
ihm die Freude am Risiko erhalten geblieben. Wir kannten
uns aus der Zeit der Katanga-Wirren, wo er sich als Generalkonsul in Elisabethville sehr intensiv um die französischen
Söldner gekümmert hatte und durch ein Attentat schwer verletzt worden war. Wir aßen unter vier Augen in der altmodischen Villa in der Rue Hai Ba Trung. Ein ganzes Museum
ostasiatischer Kostbarkeiten war hier von seinen Vorgängern
zusammengetragen worden. Als der Boy gegangen war, holte
Tomasini einen dicken Umschlag aus dem Safe. »Was Sie hier
sehen, ist eine Botschaft des Vietkong«, begann der Generalkonsul. »Einer unserer Plantagenbesitzer, Jean Dufour, ein
älterer Mann, der sein ganzes Leben in Indochina verbracht
und gegen unser Anraten auf seiner Pflanzung an der alten
Kolonialstraße nach Dalat ausgeharrt hatte, war seit mehreren Wochen verschwunden. Die Viets hatten ihn bei Nacht
verhaftet und in ihre Schlupfwinkel entführt. Wir haben seitdem vergeblich versucht, Kontakt mit Dufour aufzunehmen.
Gestern abend habe ich den Besuch eines geheimnisvollen
Emissärs der Befreiungsfront erhalten, eines höflichen Vietnamesen mittleren Alters, der bestimmt einmal in unsere Schulen gegangen ist. Er habe mir eine sehr betrübliche Mitteilung
zu machen, kündigte mir der Agent an, als wir allein waren.
Monsieur Dufour sei leider in der Haft gestorben. Die Nationale Befreiungsfront sei zu ihrem Bedauern gezwungen gewe-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
148
sen, ihn in Gewahrsam zu nehmen, nachdem er entgegen
den ausdrücklichen Weisungen der Revolutionsbehörden eine
Rodung fortgesetzt habe, die die Sicherheit der Partisanen
in diesem Sektor beeinträchtigte. In der Gefangenschaft
sei Dufour schwer erkrankt und trotz aller medizinischen
Bemühungen gestorben, noch ehe man ihn nach Saigon
transportieren und freilassen konnte. Im Namen der »Nationalen Befreiungsfront von Südvietnam« sei er nun beauftragt,
dem französischen Generalkonsul die persönliche Habe
zurückzuerstatten, die Dufour im Moment seiner Entführung
bei sich getragen habe und auch die Geldsumme zu übergeben,
die bei dem Pflanzer konfisziert worden sei. Davon habe man
die Kosten für die Medikamente abgezogen, aber darüber sei in
dem gelben Kuvert eine detaillierte Aufstellung enthalten. Im
übrigen drücke die Befreiungsfront den Angehörigen Dufours
ihr ehrliches Beileid zu diesem tragischen Schicksalsfall aus.
Vielleicht könne es ihnen zum Trost gereichen, daß Monsieur
Dufour vor seinem Ableben die Absichten der vietnamesischen Revolution zur Kenntnis genommen und ein spontanes Bekenntnis zu ihren Zielen abgelegt habe.« – Tomasini
schüttelte den Kopf. »Wie rührend«, sagte er, »der arme Dufour
war mit den heiligen Sakramenten des Vietkong versehen, ehe
er zu Karl Marx ging.«
Ich erzählte ihm von meinem Erlebnis der vergangenen
Woche. Meine Bemühungen, ein Direktgespräch mit den
Repräsentanten des Vietkong zu führen, hatten endlich zum
Ziel geführt. Zuerst hatte ich es über eine neutralistische
Anwältin, Madame Ngo Ba Thanh, versucht, die nach langer
Kerkerhaft in einem feuchten Saigoner Gefängnis auf Drängen
liberaler amerikanischer Organisationen freigelassen worden
war. Madame Thanh war eine energische und couragierte
Dame, die als Juristin internationalen Ruf genoß. Sie sei zu
scharf überwacht, um mir helfen zu können, meinte sie. Ansonsten war ihr politisches Engagement ungebrochen, und sie
versicherte mir, daß die sogenannte Dritte Kraft Vietnams im
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
149
Verbund mit den patriotischen Buddhisten eine reale Chance
böte, den Krieg zu beenden und die freiheitliche Zukunft vorzubereiten. Daß ihr nach der kommunistischen Machtergreifung in Saigon jede politische Tätigkeit untersagt und daß sie
von den Revolutionsbehörden unter Hausarrest gestellt würde,
wäre Madame Ngo Ba Thanh damals nicht in den Sinn gekommen.
Das geheime Stelldichein wurde schließlich durch Vermittlung eines Saigoner Knopffabrikanten arrangiert, in dessen
Werkzeugraum gelegentlich auch oppositionelle Flugblätter
gedruckt wurden. Der Treffpunkt war ein Restaurant-Dancing
an der Autobahn, die nach Bien Hoa führte. Erkennungszeichen meiner Gesprächspartner sei ein auf dem Arm getragener Regenmantel. Die Wahl des Lokals war verblüffend.
Gleich beim Eintritt wurde ich von sehr kessen und eindeutigen Hostessen in Empfang genommen. Hohe Beamte und Offiziere des Saigoner Regimes pflegten sich hier zu amüsieren.
Die anmutige Besitzerin dieses Etablissements, die mich ohne
Zögern zu einem abseits gelegenen Tisch im Garten führte,
war die Geliebte des zweiten Polizeichefs von Saigon. Nach
einer Weile näherten sich drei vietnamesische Zivilisten. Einer
trug den vereinbarten Regenmantel über dem Arm. Sie stellten
sich vor, und ich versuchte, mir ihre Namen zu merken, obwohl
sie zweifellos frei erfunden waren. Der Senior der drei war, wie
er glaubhaft versicherte, ein alter Gewerkschaftsfunktionär,
der schon zur Zeit der Franzosen unter den Hafenarbeitern
von Saigon agitiert hatte. Der zweite war ein typischer vietnamesischer Intellektueller mit dicker Brille und entpuppte
sich im Verlauf des Abends als ideologischer Wortführer. Der
dritte war ein kräftiger, schweigsamer Typ, der vermutlich
durch eine militärische Ausbildung gegangen war. Wir bestellten ein umfangreiches vietnamesisches Menu und wurden von
der Bedienung bald alleingelassen. Was ich an diesem konspirativen Abend erfuhr, war in keiner Weise sensationell. Die
Losungen und Propagandaparolen der Befreiungsfront waren
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
150
mir zur Genüge bekannt. Was mich wunderte, war die Selbstsicherheit, mit der sich diese Männer gewissermaßen in der
Höhle des Löwen bewegten.. Mich interessierten vor allem
die zukünftigen Absichten der »Befreiungsfront«. Der junge
Ideologe antwortete. Die ausländischen Berichterstatter sollten sich nicht irreführen lassen durch die Siegesbulletins
der amerikanischen Imperialisten und ihrer Saigoner Marionetten, der Fantoches, wie er es ausdrückte. Das Volk von
Südvietnam warte auf seine Stunde, auf die Stunde der nationalen Erhebung. In Bälde werde die Welt erkennen, wessen die
revolutionären Kräfte Vietnams fähig seien. Der Wein und der
Reisschnaps, denen die Emissäre des Vietkong kräftig zugesprochen hatten, sorgten schließlich für eine gewisse Entspannung. Die beiden Jungen blieben auf der Hut. Der Gewerkschaftler hingegen erzählte aus seinem Leben und von seinen
Erlebnissen in zwanzig Jahren Untergrundtätigkeit. Er war
ein jovialer, väterlicher Typ, und ich habe später mit Bedauern erfahren, daß er im Zuge der großen Polizeioperation
»Phoenix« gefangen und gefoltert worden sei. Was aus den
beiden anderen geworden ist, ob sie beim großen Neujahrsaufstand ums Leben kamen, den sie mir fast unverschleiert
ankündigten, habe ich nie herausfinden können.
Aus der US-Basis Dak To, in jener ominösen Gegend, wo Vietnam, Kambodscha und Laos aneinandergrenzen, wurden heftige Kämpfe mit regulären nordvietnamesischen Verbänden
gemeldet. Im »Cercle Sportif« war man darüber geteilter Meinung. Die Mehrzahl der Beobachter sah darin einen verzweifelten Versuch der Kommunisten, den Konflikt, den sie militärisch
in den Ebenen von Annam und Cochinchina verloren hätten,
auf Sparflamme weiterzuführen. Daß sie den Schwerpunkt
ihrer Aktion in das äußerste Randgebiet verlagerten, sei ein
Eingeständnis ihrer Schwäche. Der niederländische Oberst
hingegen befürchtete, daß es sich hier um ein großangelegtes
Ablenkungsmanöver Hanois handele. In Wirklichkeit seien
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
151
ganz andere strategische Vorbereitungen im Gange.
Am Tag darauf setzte mich eine Hercules-Maschine in
Dak To ab. In aller Eile hatte ich nur einen schwerbehinderten französischen Kameramann, Auguste Lecoq, auftreiben
können, der bei der Belagerung von Dien Bien Phu ein Bein
verloren hatte. Als wir auf dem Metallgeflecht des Flugfeldes
von Dak To standen, das ringsum von bewaldeten Bergen eingerahmt war, machte Lecoq ein betretenes Gesicht. »Dieser
Kessel hier erinnert mich fatal an mein abgeschossenes Bein«,
sagte er. »Damals hat es mich auf der Landepiste von Dien Bien
Phu erwischt, als die ersten Granaten des Vietminh einschlugen.« Doch in Dak To war Ähnliches nicht zu befürchten. Dafür
sorgte die totale und alles zermalmende Luftüberlegenheit der
Amerikaner.
Das Unheil hatte sich ein paar Kilometer südwestlich von
Dak To im dichten Gebirgsdschungel zugetragen, wo ein Bataillon der 172. US-Luftlandebrigade mit dem Aufspüren feindlicher Kräfte an den Ausläufern des Ho Tschi Minh-Pfades
beauftragt war. Auf den Hängen der Höhe 875 waren die amerikanischen Paratroopers in einen Hinterhalt der Nordvietnamesen geraten und drohten im Dickicht aufgerieben zu
werden. Die eilig herangeschafften Verstärkungen wurden
ebenfalls dezimiert. Trotz seiner Amputation kletterte Lecoq
in den Hubschrauber, der uns zunächst zu einem vorgeschobenen Artilleriestützpunkt transportierte. Dort wurde Munition gefaßt, und wir flogen dem Kampflärm entgegen. Die
Amerikaner waren in einer verzweifelten Situation. Die Jagdbomber vom Typ F 100 hatten mit unglaublicher Präzision
eine Schneise in den Urwald gewalzt, um den bedrängten
Fallschirmjägern zu erlauben, eine provisorische Igelstellung
zu beziehen. Plötzlich ließ sich unser Hubschrauber wie ein
Fahrstuhl steil in diese verwüstete Lichtung fallen, wo gefällte
Baumriesen den GI’s als Deckung dienten. Die Soldaten hoben
in aller Eile Schützenlöcher aus. Sie schanzten um ihr Leben.
Ringsum dröhnte ohrenbetäubender Lärm. Ganz in der Nähe
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heulten die Kampfflugzeuge im Sturzflug auf den unsichtbaren Gegner herunter und setzten ihre Bomben auf die Verstecke der Nordvietnamesen, die knappe dreihundert Meter
von der amerikanischen Position entfernt waren. Der Hubschrauber schwebte einen Meter über dem zerwühlten Boden,
als ich Lecoq beim Absprung half. Die überlebenden Paratroopers waren über und über mit Schlamm beschmiert. Sie hatten
die Leichen ihrer Kameraden in grüne Plastikhüllen gezerrt
und warfen jetzt diese makabren Pakete wie Postsäcke in aller
Eile auf den schlingernden Chopper, der sich abhob, sobald
die Maximalbelastung erreicht war. Der nächste Helikopter
stand schon in Wartestellung über uns. Die Verluste der Amerikaner waren ungewöhnlich hoch. Die Verwundeten waren als
erste aus dem Kessel geschafft worden. Den Männern stand
die Erschöpfung und die Todesangst in den geweiteten Augen.
Die Uniformen waren zerfetzt. Nur die kugelsicheren Westen
hatten den Dornen des Dickichts standgehalten. Als die Dunkelheit kam, schnatterten wir vor Kälte. Während der Nacht
veranstaltete die Runde der F 100 im Umkreis der Höhe 875
ein unglaubliches Inferno. Das Gelände war taghell erleuchtet, und ganze Dschungelhänge loderten im Napalm. Der
heißumkämpfte Berg war fast kahlgestampft, als der Morgen
graute. Die Fallschirmjäger gingen unter starkem Feuerschutz
zum Sturmangriff vor. Sie liefen gebückt durch die verkohlte
und qualmende Vegetation dem Gipfel entgegen. Dreimal gerieten sie unter Granatwerferbeschuß des Gegners und büßten ein
paar Mann ein. Dann standen sie vor leeren, ausgeräucherten
Höhleneingängen, Fuchsbauten und unterirdischen Stollen,
die für eine Rasse von Gnomen gebaut schienen. Die GI’s richteten die Flammenwerfer auf die Löcher und warfen Sprengladungen hinein. Dann gruppierten sie sich zum Abtransport
durch ein ganzes Hubschraubergeschwader, das aus Dak To
heranknatterte. Der Himmel über dem Hochland von Annam
war wieder zartblau. Die Kondensstreifen der Kampfflugzeuge
zogen silberne Fäden. Die Soldaten blickten ausgepumpt über
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
153
den endlosen grünen Dschungel. Die Höhe 875 hatten sie dem
Feind entrissen, aber vor ihnen entrollte sich eine Landschaft,
die Hunderte von ähnlichen Bergkegeln bereithielt. »Ob wir
die alle noch erstürmen müssen?« fragte der Sergeant neben
uns und reichte uns eine Büchse Coca-Cola.
Nach Dak To zurückgekehrt, versammelten sich die Paratroopers zu einer Gefallenenehrung besonderer Art. Das Sternenbanner wehte auf Halbmast. Die Männer standen reglos,
während der Feldprediger ein Bibelwort verlas. Die leeren Stiefel der Gefallenen waren, blitzblank geputzt, wie zu einem fetischistischen Ritual präzis ausgerichtet und in einem gespenstischen Halbkreis formiert. »They died with their boots on«,
so lautete doch der Titel eines amerikanischen Films aus den
Indianerkriegen.
In Europa erreichte mich zwei Monate später die Nachricht
von der großen Neujahrsoffensive. Der Vietkong hatte die Feststimmung der buddhistischen Tet-Feiern zu Beginn des Jahres
des Affen benutzt, einen Generalangriff in ganz Südvietnam
auszulösen, der die Amerikaner total überrumpelte. Ein Selbstmord-Kommando griff sogar die zur Festung ausgebaute neue
US-Botschaft im Herzen Saigons an. Fast sämtliche Ortschaften des Mekong-Deltas gerieten vorübergehend in die Gewalt
der Aufständischen, und die Stadt Ben Tre mußte, wie der offizielle Sprecher meinte, »zu ihrer Rettung vernichtet werden«.
Die alte Kaiserstadt Hue wurde durch nordvietnamesische
Einheiten besetzt, die aus Laos heranmarschiert waren. Die
Soldaten aus Hanoi hißten die Fahne des Vietkong über
der Zitadelle und behaupteten sich fast vierzig Tage gegen die
wütenden Gegenangriffe der US-Marines. Am Ende brach die
Tet-Offensive zusammen. Die roten Revolutionäre hatten auf die
Insurrektion der gesamten südvietnamesischen Bevölkerung
spekuliert, auf den Aufstand der Massen. Aber in ihrer
überwältigenden Mehrheit verhielten sich die Südvietnamesen
völlig passiv. Keine einzige Einheit der Nationalarmee ging
zu den Kommunisten über. Rein militärisch gesehen, war
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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die Neujahrsoffensive 1968 ein Fiasko und ein fürchterlicher
Rückschlag für Hanoi. Die bodenständigen Kampfverbände
der Nationalen Befreiungsfront von Südvietnam wurden aufgerieben. Die politischen Kommissare, Agenten und Aktivisten hatten sich zu erkennen gegeben und fielen in den kommenden Monaten einer gezielten Polizeiaktion gigantischen
Ausmaßes zum Opfer. Die meisten westlichen Kommentatoren
schrien Sieg.
In Wirklichkeit hatte sich mit diesem tragischen Auftakt des
Jahres des Affen das Schicksal endgültig zugunsten Nordvietnams entschieden. In den Vereinigten Staaten steigerte sich
die angestaute Entrüstung gegen den »schmutzigen Krieg«
zu einem Orkan, Studenten und Intellektuelle standen in der
ersten Reihe der Auflehnung. Veteranen- und Frauenverbände
zogen im Protest vor das Weiße Haus.
Die US-Army hatte in der Neujahrsschlacht einen glatten
Abwehrerfolg errungen. Den langfristigen politischen Erfolg
konnte jedoch der nordvietnamesische Befehlshaber Vo Nguyen
Giap für sich buchen. Seine unermüdlichen Truppen hatten den
übermächtigen amerikanischen Gegner demoralisiert. Unter
dem Eindruck des kommunistischen Amoklaufs, den seine
Generale nicht vorhergesehen hatten, resignierte Präsident
Johnson und kündigte an, daß er die Bombardierung Nordvietnams einstellen und die amerikanische Truppenpräsenz
in Südvietnam systematisch reduzieren werde. Washington
erklärte sich bereit, Verhandlungen mit Hanoi aufzunehmen.
Er selbst, so gab Johnson bekannt, beabsichtige nicht mehr, bei
den kommenden Präsidentschaftswahlen zu kandidieren.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Bereit für die Revolution
Kambodscha, im Frühjahr 1970
Der französische Priester war bleich vor Wut und Verzweiflung. »Sehen Sie sich an, was die neue Regierung von Kambodscha angerichtet hat«, sagte er und zeigte auf die Menschen,
die in seiner Kirche Zuflucht gesucht hatten. Die Gesichter
der vietnamesischen Flüchtlinge waren von Leid und Entbehrung gezeichnet. Es waren überwiegend Frauen und Kinder.
»Die Männer im waffenfähigen Alter haben sie erschossen,
weil sie angeblich Kommunisten waren«, fuhr der Priester
fort. »Dabei sind diese Vietnamesen samt und sonders Katholiken und sympathisieren in keiner Weise mit dem Vietkong.
Durch ihren Terror werden die neuen Machthaber von Phnom
Penh die noch im Land verstreuten Vietnamesen in die Arme
der Roten Khmer treiben.« Trotz der Menschenmenge war es
beklemmend still in der Kirche. Die Frauen schluchzten lautlos. Die Verwundeten, die teilweise durch schreckliche Schnittwunden verstümmelt waren, stöhnten kaum. Sogar die Babies
klammerten sich ohne einen Ton an ihre Mütter, die in der vergangenen Nacht mehrfach vergewaltigt worden waren.
Am Portal standen schwerbewaffnete Kambodschaner. Mit
der Disziplin war es bei ihnen nicht weit her, und die Uniformen waren verdreckt. Sie hatten stumpfe, feindselige Gesichter und wirkten auf einmal gar nicht mehr asiatisch. »Weißt du,
an wen sie mich erinnern?« fragte mich Horst, der deutsche
Photograph, den ich aus gemeinsamen Jahren in Zentralafrika
kannte und den ich hier in Phnom Penh wiedergetroffen hatte.
»Sie erinnern mich an die meuternde schwarze Soldateska der
ehemaligen belgischen Force Publique in Léopoldville.« Das
Paradies Kambodscha war über Nacht zu einem asiatischen
Kongo geworden. Die Angehörigen der vietnamesischen Minderheit, deren die Krieger des neuen Staatschefs Lon Nol habhaft werden konnten, waren die ersten Opfer in einer unseligen Kette von Massakern.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
156
Das Jubeln war den Einwohnern von Phnom Penh inzwischen vergangen. Im März war Prinz Sihanuk, der sich auf
einer allzu langen Auslandsreise verspätet hatte und den
Warnungen seiner Ratgeber nicht gefolgt war, durch einen
Militärputsch abgesetzt worden. Monseigneur hatte in Moskau
und Peking erreichen wollen, daß die beiden kommunistischen Großmächte Druck auf ihre Verbündeten in Hanoi
ausübten. Nordvietnamesen und Vietkong hatten in den letzten
Jahren ihre Sanctuaries im kambodschanischen Grenzgebiet
mit Südvietnam zu unverletzlichen Ausgangsbasen für ihre
militärische Tätigkeit in Cochinchina ausgebaut. Die Gefahr
einer amerikanischen over-reaction war groß, und Sihanuk
hatte die bedrohliche Lage klar analysiert. Die innenpolitischen Verhältnisse hatte er jedoch völlig falsch eingeschätzt,
indem er sich auf die Loyalität seiner kleinen und schlecht
ausgerüsteten Armee von 35 000 Mann und deren Oberbefehlshaber General Lon Nol verließ. Die dringenden Appelle Lon
Nols, sofort nach Phnom Penh zurückzukommen, hatte Sihanuk verächtlich zurückgewiesen. Ohne die Amerikaner und
den CIA wäre es natürlich nicht zu diesem kambodschanischen
Pronunciamiento gekommen. Die Agenten des US-Nachrichtendienstes versicherten den kambodschanischen Militärs, daß
ihre Divisionen nur auf die Aufforderung durch eine neue
prowestliche Regierung in Phnom Penh warteten, um die
Schlupfwinkel des Vietkong auszuräuchern und das Land
der Khmer ein für allemal von der Präsenz des Vietkong zu
befreien. Reichliche Bestechungsgelder, die von proamerikanischen Agenten der Untergrundbewegung »Khmer Serei« –
der »Freien Khmer«, wie sie sich nannten – verteilt wurden,
räumten die letzten Bedenken des kambodschanischen Offizierskorps aus.
Die Revolte gegen Sihanuk hatte wie ein Volksfest begonnen. Die Schüler und Studenten, denen das aufgeklärte monarchische Wohlwollen Sihanuks in besonderem Maße gegolten
hatte, legten den größten republikanischen Eifer an den Tag.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
157
Im Stadion von Phnom Penh führten die Studenten vor einer
johlenden Volksmenge heroisches Theater vor, machten Jagd
auf einen als Sihanuk verkleideten Schauspieler und errangen mit Holzgewehren großartige Siege über eine Gruppe
Kommilitonen, die sich mit schwarzen Pyjamas und vietnamesischen Strohhüten als Vietkong maskiert hatten. Auf der
Ehrentribüne saß der Usurpator Lon Nol, der sich inzwischen
zum Marschall befördert hatte. Sein dunkelbraunes Gesicht
war ernst. Es spiegelte keinen Triumph, sondern die Unsicherheit eines Mannes, der als der Treueste der Treuen gegolten hatte und seinen Herrn unter dem Zwang der Ereignisse
verraten hatte. Sooft ich Lon Nol noch in den nächsten fünf
Jahren begegnen sollte, er schien stets von schlechtem Gewissen geplagt zu sein, auch wenn er sich im Laufe der Zeit
die Attitüde eines asiatischen Kriegsherrn anzueignen suchte.
Noch ehe er durch einen Schlaganfall halb gelähmt wurde,
was ihn endgültig zu einer debilen Figur auf dem Schachbrett
des großen Indochina-Konflikts machte, hatte er sein Schicksal
und seine strategische Planung in die Hände von Hof-Astrologen gelegt. Gegen den eigenwilligen Aberglauben des Marschalls waren die amerikanischen Ratgeber machtlos. Dieser
kambodschanische Wallenstein hatte eine abstruse nationalistische Mystik entwickelt. In den Sternen hatte er gelesen, daß
er berufen sei, das Reich der Khmer in neuer Größe erstehen
zu lassen. Er würde über die auswärtigen Feinde und Schmarotzer, über Vietnamesen, Siamesen, Chinesen triumphieren.
In den Adern des Marschalls floß angeblich chinesisches Blut,
aber das sah man ihm nicht an. Er selbst betrachtete sich
als den authentischen Repräsentanten jener dunkelhäutigen
Khmer-Mon-Rasse, die lange vor der Ankunft der hellhäutigen
Eroberer aus dem Norden die größte Kultur Südostasiens
geschaffen hatte. Lon Nol ließ sich während seiner astrologischen Meditationen als Grand Noir, als »Großer Schwarzer«
bezeichnen. Die Revolutionsfeiern waren von kurzer Dauer.
Die Masse der Bevölkerung, vor allem auf dem Lande, trau-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
158
erte ihrem gestürzten Prinzen nach und fragte sich, wie denn
das Königreich ohne den Segen dieser Gott-König-Gestalt
weiterhin überleben und gedeihen könne. Norodom Sihanuk
hatte sich in Peking etabliert, wo er von Tschou En-lai mit
Ehren überhäuft wurde und eine Exilregierung proklamierte.
In deren Namen stießen die Nordvietnamesen tief nach Kambodscha hinein, bemächtigten sich der Provinzen östlich des
Mekong und unterstützten jene kleine Gruppe von kommunistischen Khmer-Partisanen, die von nun an als »Rote Khmer«
Furcht und Schrecken verbreiten sollten. Kaum begonnen, war
der Krieg für das Regime Lon Nol bereits so gut wie verloren.
Zwar hielten seine Soldaten noch das Städtchen Siem Reap,
doch über den Tempeln von Angkor Wat flatterte bereits das
blutrote Fanal der »Khmers Rouges«. Die Amerikaner erwirkten nicht einmal einen Aufschub. In Divisionsstärke drangen
sie etwa zwanzig Kilometer tief in kambodschanisches Territorium vor in der Absicht, die im Grenzgebiet georteten Sanctuaries des Vietkong zu vernichten. Vor allem das Hauptquartier der »Befreiungsfront«, im Militärjargon COSVN genannt,
war ihr Ziel. Aber die US-Army stieß ins Leere. Die Verstecke
waren geräumt. Der Nachrichtendienst hatte miserable Arbeit
geleistet. Die Aktion Kambodscha erwies sich als Schlag ins
Wasser. Die vietnamesischen Kommunisten, die vorübergehend
ihre Stellungen im Umkreis der Gummiplantagen von Snoul,
Krek und Mimot räumen mußten und sich aus den kambodschanischen Gebietsvorsprüngen, »Papageienschnabel« und
»Angelhaken« genannt, zurückzogen, hatten im Westen nunmehr die ganze Tiefe des kambodschanischen Raumes zu ihrer
Verfügung. Daran konnten auch die südvietnamesischen Elitetruppen nichts ändern, die ihrerseits die Grenze überschritten.
Als eine Flottille von Kanonenbooten, aus Saigon kommend,
den Mekong hochsteuerte und in Phnom Penh vor Anker
ging, hätte jedermann wissen müssen, was die Stunde geschlagen hatte. In einer unentschuldbaren Fehleinschätzung hatte
Präsident Nixon, von Henry Kissinger beraten, das letzte Boll-
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159
werk nationaler Unabhängigkeit und Neutralität in Indochina,
das Kambodscha Sihanuks, aus den Angeln gehoben und in
einen Krieg geschleudert, von dem die USA sich ohnehin schon
distanzierten. Er hatte das Land der Khmer einer unaufhaltsamen kommunistischen Machtergreifung ausgeliefert.
Am Sonntagmorgen fuhren wir mit dem Mietwagen in
dreieinhalb Stunden von Phnom Penh zum Hafen Sihanoukville, der neuerdings Kompong Som hieß. Wir begegneten
Militärkolonnen. Auf der Höhe des Pich Nil-Passes, wo sich
einst die Sommerresidenz Sihanuks befand, waren die Villen
ausgebrannt. »Bei Nacht errichten hier die Roten Khmer ihre
Wegsperren«, erklärte unser chinesischer Fahrer.
In Kompong Som war jeder Hafenverkehr erstorben. Der
Bahnhof, mit Mitteln der Bundesrepublik erbaut, lag verwaist.
Im luxuriösen Strandhotel waren wir die einzigen Gäste und
wurden von den Kellnern mit tiefen Verneigungen begrüßt.
Das Meer war kristallklar und der Strand unter den Palmen
schneeweiß. Erst nach der Rückkehr in die Hauptstadt spürten
wir, daß uns sie Sandflöhe fürchterlich zugesetzt hatten.
Dieser Ausflug blieb unsere einzige große Fahrt über Land,
denn die roten Partisanen näherten sich jetzt von allen Seiten
der Hauptstadt. Der Krieg in Kambodscha war tückischer
und grausamer als in Vietnam. In den ersten Wochen wurde
ein ganzes Dutzend westlicher Journalisten umgebracht. An
irgendeiner Straßenbiegung waren sie auf eine Truppe »Roter
Khmer« gestoßen, und bei denen gab es kein Pardon. Wer
sofort erschossen wurde, konnte sich glücklich schätzen.
Diese kambodschanischen Kommunisten mit der chinesischen
Ballonmütze, den gesprenkelten Halstüchern und den AK
47-Gewehren töteten wie Roboter. Es waren blutrünstige wilde
Gesellen, die selbst ihren vietnamesischen Verbündeten nicht
geheuer waren. Ein Blutrausch war über das Land der Khmer
gekommen, und die Pagoden mit ihren lächelnden Gold-Buddhas wirkten wie verlorene Inseln der Seligen. Kambodscha
war einer Horde von mordenden »Zombies« ausgeliefert.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Das Städtchen Neak Luong mit der Mekong-Fähre war
eine strategische Schlüsselstellung dieses Krieges. Der
Flußübergang war nur siebzig Kilometer von der Hauptstadt
entfernt und lag an der alten Kolonialstraße 1, die einst Saigon
mit Phnom Penh verband. Die kambodschanische Armee bot
den Anblick eines bunten Kriegshaufens. Mit grell bemalten
Autobussen waren die in aller Eile aufgebotenen Reserveeinheiten den vorrückenden Nordvietnamesen und »Khmers
Rouges« entgegengeworfen worden. Rechts und links der
Straße 1 waren von früheren vietnamesischen Siedlungen nur
verkohlte Ruinen übrig. Als wir über den Damm fuhren, der
den Ausblick über den Ton Le Sap-Fluß freigibt, sichteten
wir ein Flußboot der kambodschanischen Marine und konnten durch den Feldstecher beobachten, wie gefesselte vietnamesische Zivilisten in den gelben Strom gestoßen wurden.
Die Matrosen an Bord eröffneten dann das Feuer auf diese
im Fluß treibenden Zielscheiben. Wenn sie nicht gerade mordeten, waren die Lon Nol-Soldaten nett und umgänglich. Sie
hatten ihre Familien bis in die vordersten Stellungen mitgebracht.
Frauen und Kinder lebten stets in der ersten Linie und
begegneten den Gefahren des Krieges mit unverdrossener
Gleichgültigkeit. »Mutter Courage« trat hier im Sarong auf.
Als es aus einem nahen Bambusdickicht knallte und wir
in Deckung sprangen, schüttelten sich alle vor Lachen. Die
zwölfjährigen Knaben trugen bereits die M 16-Schnellfeuergewehre, die in aller Eile aus Saigon an die Lon Nol-Truppe geliefert worden waren. Die Frauen waren hauptsächlich damit
beschäftigt, Essen zu kochen und Kinder zu säugen. Diese
unbekümmerten Familienbilder am Rande der Vernichtung
waren wohl das einzige, was von dem berühmten sourire khmer
übriggeblieben war.
Auf dem westlichen Mekong-Ufer bei Neak Luong verkauften die Bauern Reis und schwarze Schweine an die Soldaten.
Das eigentliche Marktzentrum jenseits des Flusses war von den
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161
chinesischen Kaufleuten fluchtartig geräumt worden. Von nun
an fuhren wir durch Niemandsland. Unser junger chinesischer
Fahrer, der sich durch Intelligenz, Unternehmungsgeist und
peinliche Sauberkeit vom kambodschanischen Schlendrian
wohltuend unterschied, war jetzt hellwach. Auch wir prüften
mißtrauisch die Baumlinie und die Büsche jenseits der trockenen Reisfelder. Die Straße war leer. Es wurde nicht geschossen. Die Stille war in diesem Konflikt stets ein Alarmsignal,
der Vorbote akuter Gefahr. Wir wußten, daß der Flecken Svay
Rieng, auf den wir zufuhren, von den roten Partisanen bereits
eingeschlossen war. Ich wollte kehrtmachen, da sahen wir die
letzte Vorpostenlinie der Lon Nol-Armee. Eine Pagode diente
wie stets als Unterkunft. Die Soldaten empfingen uns Europäer
ohne jede Spur von Mißtrauen. Der Hauptmann, der die Kompanie führte, sprach ein holpriges Französisch. Seine Feinde
bezeichnete er bereits nach amerikanischer Manier als VC. Sie
seien ganz in der Nähe, hinter den Zuckerpalmen in östlicher
Richtung. Der Rückweg nach Neak Luong sei höchst unsicher.
Er riet uns, schleunigst aufzubrechen. Im Ernstfall würde er
sich mit seinen Männern bis zum Mekong durchschlagen,
denn sie seien mit der Gegend vertraut. Aber für uns gäbe
es bei Nacht keine Rettung. Mit hundert Kilometer Geschwindigkeit raste unser chinesischer Fahrer zurück. Am nächsten
Morgen berichtete er uns, daß tatsächlich die von uns besuchte
Pagode nach Einbruch der Dunkelheit von den roten Partisanen überfallen und von ihrer Garnison eiligst geräumt worden
sei. Es befänden sich jetzt keine Lon Nol-Einheiten mehr jenseits des Mekong-Knicks von Neak Luong.
Ein paar Wochen Krieg hatten genügt, um aus Phnom Penh
eine schmutzige und verwahrloste Stadt zu machen. Der Abfall
häufte sich in den Straßen. Die Ministerien verschanzten
sich hinter Sandsäcken und Stacheldraht. Die Brücken waren
schwer bewacht. Dennoch war alles zu kaufen im Umkreis der
großen runden Markthalle. Versorgungsprobleme gab es nicht,
und sehr bald stellte sich heraus, daß die Roten Khmer jede
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162
Form von Nachschub in die belagerte Hauptstadt gelangen
ließen, unter der Voraussetzung, daß die Lon Nol-Armee sie als
Gegenleistung mit Granatwerfern und Munition belieferte. Die
amerikanischen Militärberater verzweifelten an ihren neuen
Verbündeten, die in selbstmörderischer Sorglosigkeit einen
Teil ihres Waffenarsenals an den Gegner verkauften und deren
Offiziere ganze Geisterbataillone auf dem Papier führten, um
den Sold für diese nicht existierenden Mannschaften zu kassieren. Ohne die ständige Intervention der US-Air Force wäre
der Krieg in Kambodscha schon viel schneller zugunsten der
Kommunisten entschieden gewesen. Bei Einbruch der Dunkelheit leerten sich die Straßen der Innenstadt. Die Sperrstunde
wurde sehr willkürlich ausgelegt. Die Patrouillen spielten gern
mit dem Abzugshahn, sie waren trigger-happy. Die letzten Zivilisten, die vom Trottoir verschwanden, waren die Prostituierten, deren Kreischen und Lachen noch lange zu hören war.
Als Kriegskorrespondenten besaßen wir Passierscheine für
die Nachtstunden. Es war ratsam, das Auto von innen zu
beleuchten, damit man gleich als weißer Ausländer erkannt
wurde. Mit Ian Manoch fuhr ich zu einem verschwiegenen
Holzhaus, das abseits vom Boulevard Monorom auf einen
Tümpel blickte. Die Frösche quakten den Mond an. Ian war
als free lance-Journalist nach Phnom Penh gekommen und
berichtete für eine Reihe englischer Publikationen. Wir hatten
uns zehn Jahre zuvor in Guinea, in der revolutionären Volksrepublik Sekou Tourés an der Westküste Afrikas kennengelernt. Ian Manoch war ein rothaariger Hüne, der in der feuchten Tropenhitze unter seiner Korpulenz litt. Ein chinesisches
Amulett verschwand im klebrig-gelben Pelz seiner Brusthaare.
Unaufhörlich strich er sich den Schweiß von der Stirn. Die Tür
zur Opiumhöhle wurde von einer zahnlosen Chinesin geöffnet.
Sie begrüßte den Schotten wie einen alten Komplicen und
führte uns in ein winziges Holzverlies ohne jegliches Mobiliar.
Wir lagerten uns auf Strohmatten. Zwei junge Kambodschanerinnen rollten die schwarzen Kügelchen, ließen sie anschmoren
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
163
und reichten uns die Pfeifen. Ich war von der schlechten Straße
nach Neak Luong und der Nervosität des Tages gerädert. Aber
sehr bald stellten sich Entspannung und Abgeklärtheit ein.
Zwischen zwei Pfeifen massierten uns die Mädchen, indem
sie sich uns auf Brust und Rücken stellten und behutsam
mit ihren Füßen bearbeiteten. Wir lagen fast nackt im Zwielicht der rötlichen Ölfunzel. Die stickige Schwüle und die Moskitostiche peinigten mich nicht mehr. Unsere kleinen kambodschanischen Gesellschafterinnen weckten trotz des engen
körperlichen Kontakts keine sexuelle Begierde. Der süße Gott
des Opiums, so heißt es, sei ein Bruder des Todes. Mit Sicherheit ist er ein Feind des Eros. Ich ließ mich treiben und schwieg.
Aber Manoch war durch den milden Rauch geschwätzig geworden. Er erzählte umständlich von dem Buch über den Krieg
der Geheimdienste in Afrika und Asien, das er zu schreiben
gedenke, auf das sein Verleger bereits warte und das ihm den
Durchbruch zum literarischen Ruhm sichern werde. Genau
die gleichen Pläne hatte er vor zehn Jahren in Conakry ausgesponnen, nachdem wir zu zweit eine ganze Flasche Whisky
geleert und in die heiße Nacht der westafrikanischen Küste
gelauscht hatten. Im Nebenhof hatte damals ein politischer
Funktionär der Einheitspartei von Guinea seinen Zuhörern die
Losungen des »Großen Elefanten« Sekou Touré eingepaukt:
»Honneur, Gloire, Révolution« brüllte er, und der Refrain
wurde vom Comité de Quartier endlos nachgeplärrt. In dieser
fernen Opiumhütte von Phnom Penh glaubte ich auf einmal,
das Geschrei von Conakry aufs neue zu hören: »Ehre, Ruhm,
Revolution«. Wie einst das schwarze Guinea stand plötzlich
auch das Land der Khmer im Begriff, das Kauderwelsch einer
unverdauten europäischen Ideologie aufzuschnappen, und es
ging daran zugrunde. Ich überraschte mich, wie ich – um
Ian Manoch endlich zum Schweigen zu bringen – einen anderen Kampfruf »Silys«, des großen Elefanten von Guinea, wie
eine Litanei zu murmeln begann: »Prêt pour la révolution
– Bereit für die Revolution.« Afrikanische Erinnerung und
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
164
südostasiatische Gegenwart vermischten sich. Die ganze Dritte
Welt, so schien mir, war in weltanschauliche Trance geraten,
und diese Feststellung erfüllte mich mit blödsinniger Heiterkeit.
Auflösung und Flucht
Hue, Ostern 1972
Die Filipinos feierten Karfreitag auf ihre Art. Wir erlebten
das Passionsspiel in einem Städtchen im Süden der Insel
Luzon. Die durchweg männlichen Büßer hatten sich die Dornenkronen auf den Schädel gedrückt, daß ihnen das Blut über
die Stirn floß. Dutzende von Flagellanten geißelten ihre nackten Rücken, bis breite, tiefrote Striemen aufplatzten. Andere
hatten sich – was wohl mehr Spaß machen mußte – mit Blechhelmen und Lanzen als römische Legionäre verkleidet. Sie
peitschten die Christusdarsteller durch die Gassen und fesselten sie schließlich ans Kreuz, ehe sie diese Golgatha-Kopien
aufrichteten. Irgendwo auf Luzon sollte sich jedes Jahr ein
Sonderling mit Nägeln an das Kreuz schlagen lassen, so hatte
man uns gesagt; wir hatten auf die Besichtigung dieser Extravaganz verzichtet. Aus unzähligen Lautsprechern dröhnten
Choräle und Bußlieder, doch am populärsten waren in dieser
Karwoche die Weisen des großen Show-Erfolges von Manila:
»Jesus Christ, Superstar«. Sevilla und Hollywood waren auf
dieser spanisch-amerikanisch geprägten Inselgruppe eine kuriose Verbindung eingegangen. Ein Teil der frommen Zuschauer
nahm an den Auspeitschungen teil. Ich beobachtete fasziniert,
wie der blutige Rücken eines im Staub ausgestreckten jungen
Mannes von einer alten Frau in pedantischer Regelmäßigkeit
mit einer Rute bearbeitet wurde. Da rief unser Fahrer Ben
mich beiseite. Ben war lächerlich klein gewachsen, doch die
breite Messernarbe in seinem wilden, malaiischen Gesicht
gab ihm etwas Verwegenes. Wir hatten Ben im Verdacht, der
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
165
wohlorganisierten Unterwelt von Manila anzugehören, was
unser Vertrauen in ihn nicht minderte. Beim Kamerateam hieß
er »Mackie Messer«. Ben hatte im Auto Radio gehört. »Seit
gestern haben die Nordvietnamesen eine Großoffensive gestartet«, sagte er. »Sie sollen die südvietnamesischen Linien schon
durchbrochen haben.« Wir drehten den Ton lauter. Tatsächlich
hatte General Giap wieder einmal überraschend zugeschlagen. Er hatte genau an der Stelle angegriffen, wo niemand
damit rechnete, an der schmalen Demarkationslinie längs des
17. Breitengrades. Die Südvietnamesen, die den Bodenkampf
allein führen mußten, seit die amerikanische Militärpräsenz
durch Präsident Johnson auf 50000 GI’s reduziert worden war,
hatten in diesem vernachlässigten Sektor ihre schlechteste, die
3. Infanteriedivision stationiert, die sich im wesentlichen aus
erwischten Deserteuren und Ganoven zusammensetzte. Als
die Sturmtruppen Hanois sich am Gründonnerstag nach vernichtender Artillerievorbereitung plötzlich mit Rudeln sowjetischer Panzer vom Typ T 52 und T 54 auf die Stellungen der
Südisten stürzten, gab es kein Halten mehr. Die US-Air Force
war durch die niedrige Wolkendecke in ihrer Bodenintervention gehemmt. Die amerikanischen advisers ließen sich mit
Hubschraubern aus den umzingelten Stützpunkten der McNamara-Linie rund um Dong Ha und Cam Lo ausfliegen, was die
Moral der Saigoner Truppe vollends untergrub. Schon hieß
es, die Provinzhauptstadt Quang Tri sei gefallen. Zum gleichen Zeitpunkt war eine andere nordvietnamesische Panzerkolonne aus dem kambodschanischen Grenzraum nördlich von
Saigon längs der Straße 13 nach Süden geprescht und hatte
das Distriktstädtchen Loc Ninh im Handstreich erobert. Bei
An Loc hingegen waren die im Bewegungskrieg ungeübten
Nordvietnamesen, die ihre Panzer ohne ausreichenden infanteristischen Schutz nach vorn geworfen hatten, auf die entschlossene Abwehr der südvietnamesischen Fallschirmjäger
und deren panzerbrechende Waffen geprallt. Zwanzig Kilometer südlich von An Loc kam der Angriff zum Stehen.
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166
Wenige Tage später – nachdem wir uns in Manila Visum und
Flugkarte besorgt hatten – landeten wir fröstelnd auf dem verregneten Flugplatz Phu-Bay, südlich von Hue. Die Stimmung
war trostlos. Am Stacheldraht der verlassenen amerikanischen
Camps und Basen vorbei, deren Baracken bereits verfaulten,
fuhren wir in einem ächzenden Bus zur alten Kaiserstadt.
Das einzige brauchbare Hotel – am Fluß der Wohlgerüche gelegen – war bereits mit Journalisten aus aller Herren Ländern
überfüllt. Bei unserer Ankunft stand ein einzelner Weißer vor
der Eingangstür mit den zertrümmerten Scheiben. Er trug
einen Stahlhelm wie ein amerikanischer GI. Das gelbliche
Gesicht war unrasiert. Seine Kleidung hing klatschnaß an
ihm herunter, und die Stahlbrille war durch die Feuchtigkeit
beschlagen. Dennoch erkannte ich ihn sofort, und wir umarmten uns.
Ich hatte Dietrich Schanz am Kongo kennengelernt. Er war
damals mit einem VW-Bus durch die Sahara und das halbe
Afrika gereist, bis er in Begleitung seiner russischen Frau
im schwarzen Hexensabbat von Léopoldville eintraf. Dietrich
Schanz war ursprünglich als fortschrittlicher Geist und Gegner
des Kolonialismus von Bonn aufgebrochen. Die Kongokrise
hatte ihn mancher Illusion beraubt. Die entscheidende Umkehr
in seiner Beurteilung der Dritten Welt hatte er wohl vollzogen,
als sein Wagen auf dem Boulevard Albert von einem angetrunkenen schwarzen Soldaten der Force Publique angehalten
wurde. Dietrich, der damals einen Bart trug, wurde in kaum
verständlichem Französisch gefragt, ob er Missionar sei. Als
er das verneinte, verabreichte ihm der Kongokrieger eine
magistrale Ohrfeige. Nur Missionare trügen Bärte, meinte der
schwarze Ordnungshüter, und wer sich als Geistlicher tarne,
stehe im Verdacht, ein Spion zu sein. Viel später, nachdem
Patrice Lumumba ermordet, Moise Tschombe entführt worden
war und in Kinshasa, wie Léopoldville jetzt hieß, die glorreiche Ära Mobutu begann, hatte Dietrich Schanz sein Korrespondenten-Domizil in Hongkong aufgeschlagen, und seitdem
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167
bereiste er unermüdlich die Länder Südostasiens. Die Neger
war er satt, aber die Asiaten lagen ihm im Grunde auch nicht.
Die Hongkong-Chinesen waren ihm zu gerissen, eiskalt und
unverschämt. Die Thai bezeichnete er nicht ohne Grund als the
giggling race, die kichernde Rasse, den Vietnamesen warf er
den Schlendrian im Süden und den Fanatismus im Norden vor.
Erst als er in späteren Jahren nach Teheran versetzt wurde,
begann er den Ostasiaten und vielleicht auch den Afrikanern
nachzutrauern.
In einem Beruf, der durch eine Vielzahl von Wichtigtuern,
Halbgebildeten und Trunkenbolden gestraft ist, war der Journalist Dietrich Schanz eine rühmliche und herzerfrischende
Ausnahme. Er hatte sein kindliches Herz bewahrt, wie wohl
überhaupt eine gewisse abenteuernde Naivität die unerläßliche
Voraussetzung für den journalistischen Einsatz in Krisengebieten ist. Wenn es irgendwo brannte, war Dietrich mit dem ersten
Flugzeug dabei. Daß er als free lance jämmerlich schlecht
bezahlt wurde und er seine Haut zum Markte trug, während
andere, wohlbestallte Ostasienkorrespondenten ihre Frontberichte in klimatisierten Hotelzimmern erdichteten, quittierte
er mit Geringschätzung. Sein rheinischer Humor war intakt
geblieben. Ihm war das Erleben im Grunde wichtiger als der
Erfolg. Er war ein Don Quijote des Journalismus.
Dietrich gab uns den Rat, auf dem Markt von Hue jenseits
der Eisenbrücke Matratzen für das Hotelzimmer – die Betten
waren verschwunden –, Regenhäute, Stahlhelme und kugelsichere Westen zu kaufen. Mit etwas Glück könnten wir auch
ein Taxi für die Fahrt zur Front auftreiben. Er selbst war
gerade aus der vordersten Verteidigungslinie bei Dong Ha
zurückgekommen. Als jenseits des Cua Viet-Flusses ohne jede
Vorwarnung aus dem regenschweren Himmel ein Bombenteppich der B 52 herunterschüttete und der Boden sich wie
bei einem Erdbeben aufbäumte, war er in blanker Panik
in einen wassergefüllten Trichter gesprungen, zum Ergötzen
einer Reihe südvietnamesischer Soldaten, die sich an dieses
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168
apokalyptische Dröhnen schon gewöhnt hatten.
Am nächsten Morgen fuhren wir über die alte Kolonialstraße
Nr. 1, von den Franzosen einst die »freudlose Straße« genannt
und von Bernard Fall in seinem Buch verewigt, in Richtung
Quang Tri nach Norden. Wir hatten einen uralten schwarzen
Citroën gemietet, wie er zu den unentbehrlichen Requisiten
der französischen Gangsterfilme der Vorkriegszeit gehörte.
Man hatte dieses Modell einst wegen seiner vorzüglichen
Straßenlage la reine de la route genannt. Unsere »Königin der
Landstraße« von Hue war in einem erbärmlichen Zustand. Es
regnete zum Dach herein. Die Federn sprangen aus den zerschlissenen Polstern. Dennoch wollten wir jenen Spaßvögeln
nicht glauben, die uns versicherten, unser Vehikel bestehe
in Wirklichkeit aus dem Vorder- und Hinterteil von zwei verschiedenen Citroëns, die ein findiger vietnamesischer Garagist zusammengeschweißt habe. Als wir dem vietnamesischen
Chauffeur Nho unser Ziel angaben, schüttelte er mißbilligend
den Kopf. »C’est très mauvais, Monsieur«, meinte er, was ihn
jedoch nicht hinderte, seinen zehnjährigen Sohn neben sich
auf den Vordersitz zu packen und ratternd nach Norden zu
starten.
Die Nordvietnamesen sind von Westen bis auf vier Kilometer
an die Straße Nr. 1, diese Nabelschnur der Verteidigung zwischen Hue und Quang Tri, herangerückt. Die Landschaft
ertrinkt im Regen. Das Rollen der Artillerie weht mit dem
Westwind herüber. Dort befindet sich irgendwo im Nebel die
südvietnamesische Feuerstellung Bastogne, die hart umkämpft
ist. Bastogne bildet den letzten Sperriegel am Ausgang des A
Shau-Tals, wo die nordvietnamesische Division 324 B angeblich
auf dem Sprung steht. Beiderseits der »freudlosen Straße«, die
parallel zur Eisenbahnlinie Saigon – Hanoi verläuft, schwärmen
Marines aus. Sie durchkämmen Dörfer und Bambusdickichte
nach eingesickerten Gegnern. Diese Elitetruppe, die den Kern
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
169
der strategischen Reserve Saigons bildet, ist in aller Eile nach
Norden eingeflogen worden: Den kleinen gelben Männern in
den gefleckten Tarnuniformen ist weder Mißmut noch Furcht
anzumerken. Sie sind Profis des Krieges. In Sichtweite des
Asphaltbandes errichten sie Stellungen zur Rundum-Verteidigung. Immer wieder blicken sie zum Himmel, ob nicht endlich
die Wolkendecke reißt und den Einsatz der amerikanischen
Kampfbomber ermöglicht.
In der Provinzhauptstadt Quang Tri sind alle Läden geschlossen, und verrammelt. Es wimmelt von Flüchtlingen, die ein
Bündel Habseligkeiten oder Kinder auf dem Rücken tragen.
Mit erstaunlicher Gelassenheit warten sie unter strömendem
Regen auf die Essenausgabe. Die kläglichsten unter ihnen sind
zweifellos die Leute aus dem Gebirge, die Montagnards, die
Moi vom Stamme der Bru. Sie lebten ursprünglich im Umkreis
der US-Festung Khe San und mußten seit 1968 mindestens
dreimal die Fluchtquartiere wechseln. Über der Zitadelle von
Quang Tri weht die nördlichste amerikanische Fahne in Vietnam. Die US-Berater der 3. südvietnamesischen Division sind
dort gruppiert und haben mit einer Unzahl von Sandsäcken
den Befehlsstand zu einer einigermaßen sicheren Höhle ausgebaut. Im Gegensatz zu den Schönfärbern in Saigon sehen
die advisers von Quang Tri der Zukunft mit grimmigen Ahnungen entgegen. Sie verlangen von uns, ehe wir nach Norden
weiterfahren, daß wir kugelsichere Westen, sogenannte FlakJackets, anlegen. Dabei fällt mir auf, daß kein Kriegsberichterstatter mehr amerikanische Uniform trägt, wie das früher
eiserne Vorschrift war, wenn man ins Kampfgebiet wollte. Im
Gegenteil bevorzugen die Presseleute neuerdings blaue und
gelbe Hemden, die zwar als Zielscheibe gut auszumachen sind,
sie jedoch als Nicht-Kombattanten ausweisen. Die Amerikaner
erzählen uns, daß die Südvietnamesen sich unlängst geweigert haben, abgeschossene amerikanische Piloten, die hinter
den feindlichen Linien abgesprungen waren, mit Stoßtrupps
herauszuhauen. Die verständliche Reaktion einer asiatischen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
170
Armee, die die Haut eines weißen Soldaten nicht höher veranschlagt als die eines gelben.
Vor dem Befehlsbunker sind Pontons gestapelt. Jederzeit
muß damit gerechnet werden, daß feindliche Sabotagetrupps
die Brücken der lebenswichtigen Straße 1 in die Luft jagen.
Zwei Stunden vor unserer Ankunft war ein solches Kommando
von Sturmpionieren bis an den Stadtrand von Quang Tri vorgedrungen, wurde aber dort – knapp hundert Meter vor den
ersten Brückenpfeilern – durch südvietnamesische Rangers
gestellt und aufgerieben. Nun liegen zwei Dutzend Leichen
wie blutverschmierte Puppen in ihren hastig ausgehobenen
Schützenlöchern. Die grünen Tropenhelme mit dem roten
Stern sind rundum verstreut. Die Verwundeten müssen durch
Nahschüsse erledigt worden sein, denn die Köpfe sind durch
schreckliche Löcher entstellt. Beim Anblick dieser Toten weigert sich der Chauffeur Nho, mit seinem schwarzen Citroën,
der ohnehin wie ein Leichenwagen wirkt, weiterzufahren.
Seine Bedenken sind einleuchtend, denn von hier ab rollen nur
noch Panzerfahrzeuge mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung
Dong Ha nach Norden. Der Waffenlärm wird zur permanenten Geräuschkulisse. Schließlich nimmt uns ein Sanitätswagen
mit und setzt uns an einer Gabelung am Südrand von Dong
Ha ab. Die Straße wirkt jetzt beklemmend in ihrer bedrohlichen Leere. Tatsächlich sollte Dong Ha drei Tage später fallen.
Den Rückzug müssen wir zu Fuß antreten. Knapp fünfhundert
Meter von der Straße 1 entfernt entdecken wir eine Kolonne
von sieben nordvietnamesischen Panzern, die den Bazookas
der Saigoner Marines zum Opfer gefallen sind. Sie waren wie
wilde Büffel gegen Süden gebraust und hatten die elementarsten Regeln der Absicherung vernachlässigt. Zum erstenmal
gab die Generalität Hanois ihre Vorliebe für den konventionellen Bewegungskrieg nach sowjetischem Vorbild zu erkennen.
Wir sind schon entschlossen, unsere hinderlichen Flak-Jackets
in den Graben zu werfen, da lädt uns ein Jeep auf. Nho hat
getreulich mit seinem Citroën auf uns gewartet.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
171
Bei Einbruch der Dämmerung treffen wir in Hue ein. Die
schwarzen Mauern der kaiserlichen Zitadelle verschwimmen
im nieselnden Dunst. Ein vor Nässe triefender Menschenhaufen drängt sich vor dem Haupttor. Zwei erbeutete feindliche Panzer, die bei Dong Ha wegen Brennstoffmangels liegengeblieben waren, sind nach Hue abgeschleppt worden und
werden hier als Trophäen ausgestellt. Der eine ist russischer
Bauart vom Typ T 54, der andere chinesischer Fabrikation
vom Typ T 59. Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Ein
amerikanischer Berater klettert zur Inspektion in die Turmluke. Ansonsten zeigen sich die letzten US-Militärs möglichst
selten in Hue, denn die Vietnamesen, vor allem die Soldaten
der ARVN, sind auf den großen Verbündeten schlecht zu
sprechen. Schon fühlt sich die Armee Saigons im Stich gelassen. Zehntausende von Flüchtlingen sind in die Kaiserstadt
geströmt und kampieren jämmerlich im Schlamm. Nur die
reichsten Bürger von Hue können sich ein Flugbillett nach
Süden leisten. Sämtliche Sitze sind mehrfach ausgebucht.
Die Bestechungssummen sind astronomisch. Die Furcht vor
den Kommunisten ist groß, seit so viele Zivilisten während der
Tet-Offensive 1968 durch unkontrollierte rote Banden ermordet wurden.
In einer Seitengasse sammeln sich die Gaffer wie ein
Schwarm Fliegen um die Leichen von drei Vietkong-Partisanen. Die Freischärler hatten am frühen Morgen versucht, das
Polizeigefängnis zu stürmen. Jetzt bleiben sie zur Abschrekkung im Regen liegen. Die jungen südvietnamesischen Milizsoldaten blicken ohne Teilnahme auf diese Kadaver, die ihre
Brüder sein könnten.
Der Speisesaal ist in der obersten Etage des Hotels untergebracht. Der feuchte Zugwind dringt durch alle Ritzen. Die
Korrespondenten wärmen sich mit Whisky aus PX-Beständen,
den man immer noch auf dem Schwarzmarkt von Hue findet.
Die Stimmung ist gloomy. Inmitten einer kleinen Gruppe
vietnamesischer Stabsoffiziere entdecke ich Claude Rouget,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
172
der als Sonderkorrespondent des »Figaro« nach Vietnam
zurückgekehrt ist, der aber nie aufgehört hat, sich als Offizier
zu fühlen. Unter dem weißen Haarschopf wirkt er heute wie
ein feinnerviger Intellektueller. Im Frühjahr 1954 hatte er sich
zum freiwilligen Fallschirmabsprung in die eingeschlossene
und bereits verlorene Dschungelfestung Dien Bien Phu gemeldet. Bis dahin war er Adjutant des französischen Oberbefehlshabers Navarre gewesen. Nach dem Fall von Dien Bien
Phu war er ein paar Monate den Umerziehungsmethoden
des Vietminh ausgeliefert gewesen, und ganz ohne Spuren
war das wohl nicht abgegangen. Denn im Algerien-Konflikt
gehörte Rouget zu jenen französischen Offizieren, die mit
den pseudorevolutionären Methoden der psychologischen
Kriegführung liebäugelten. Angeblich wurde er sogar in den
Generalsputsch gegen de Gaulle verwickelt. Im Kessel von Dien
Bien Phu hatte er wohl – wie die meisten seiner französischen
Kollegen – von den nationalvietnamesischen Verbündeten eine
recht geringe Meinung gehabt. Aber das war jetzt vergessen.
In dieser aussichtslosen Situation von Hue wurden die alten
Gemeinsamkeiten aus der Kolonialzeit lebendig. Die vietnamesischen Obersten und Rouget tauschten Erinnerungen aus,
fragten nach dem Schicksal alter Freunde und schimpften
gemeinsam auf die Yankees.
Ein paar Tage später fährt uns der Chauffeur Nho über die
unvermeidliche Straße 1 in Richtung Da Nang nach Süden.
Man hätte annehmen sollen, daß dieser strategische Verbindungsweg zwischen der Nordfront und dem entscheidenden
amerikanischen Versorgungs- und Luftstützpunkt Da Nang
ständigen Überfällen ausgesetzt wäre. Aber sogar auf den Haarnadelkurven, die zum »Wolkenpaß« führen, rollt der Nachschub ungehindert. Die entgegenkommenden Laster fahren
mit aufgeblendeten Scheinwerfern durch die Nebelschwaden.
Militärkonvois von mehr als hundert schweren Fahrzeugen
transportieren Munition zur Front. Aus instinktiver Furcht vor
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einem plötzlichen Hinterhalt kleben die Fahrer so eng hintereinander, daß jeder Bremszwischenfall zur Katastrophe führen
müßte. Der Regen hat nicht nachgelassen. Durch den Dunst
erkennen wir wie Schemen die Wachttürme der Regierungstruppen. In dieser Landschaft verliert der Krieg jede Wirklichkeit. Jenseits des Col des Nuages reißt die Wolkendecke
plötzlich auf. Hinter den Bambuszweigen einer Biegung öffnet
sich in der Tiefe die Bucht von Da Nang. Die Dschunken heben
sich wie auf einer chinesischen Tuschmalerei von der bleichen,
reglosen See ab.
Vierzehn Tage später kehren wir zum Nordabschnitt zurück.
Das Wetter ist umgeschlagen. Die Sonne brennt gnadenlos aus
wolkenleerem Himmel. Der Schlamm der Regenzeit hat sich
in feinen Staub aufgelöst, der durch alle Fugen dringt und sich
hinter den Fahrzeugkolonnen zu rostbraunen Wolken aufbläht.
Nach Quang Tri ist kein Durchkommen mehr. Die Provinzhauptstadt wird von den Nordvietnamesen eingeschlossen. Die
Front verläuft am My Chanh-Fluß, wo die südvietnamesischen
Marines sich in alten französischen Betonbunkern eingenistet
haben und stoischen Auges die amerikanische Feuerwalze
beobachten, die über dem Gegner in kaum zweihundert Meter
Entfernung zusammenschlägt. Dabei schieben sie seelenruhig
mit den Eßstäbchen ihre Reisration in den Mund.
Die ersten Flüchtlinge aus Quang Tri sind Zivilisten. Sie
schleppen sich erschöpft über die Bailey-Brücke des My
Chanh-Flusses. Ochsenkarren sind mit Hausrat und Kindern
beladen. Alte Männer und Frauen humpeln auf wunden Füßen
und benutzen ihre Bambusstöcke als Krücken. Verwundete
stützen sich gegenseitig. Die Einwohner von Quang Tri sind
durch Minenfelder und Artilleriesperren nach Süden ausgebrochen in die vermeintliche Sicherheit.
Major Price, der amerikanische Ratgeber bei den
südvietnamesischen Marines, hat bisher als Artillerie-Beobachter das Feuer der 7. amerikanischen Flotte auf die vorder-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
174
sten Stellungen der Kommunisten gelenkt und gleichzeitig die
Raketeneinschläge der Kobra-Hubschrauber registriert. Aber
jetzt richtet er sich auf, streicht sich den rotblonden Schnurrbart zurecht, setzt den Helm auf und zieht die kugelsichere
Weste an. Über Sprechfunk hat er eine krächzende Nachricht
erhalten, die er uns widerstrebend mitteilt. Der Kommandeur
der 3. südvietnamesischen Division hat am frühen Morgen
in seinem Befehlsstand von Quang Tri die Nerven verloren
und sich mit einem Hubschrauber ausfliegen lassen. Die USBerater folgten ihm auf dem Fuß, und nun brach unter den
Zurückgebliebenen die Panik aus. Als erste requirierten die
südvietnamesischen Rangers, die im Rufe einer Elitetruppe
standen, die verfügbaren Fahrzeuge und brachen, von den
Nordvietnamesen kaum behindert, in Richtung Süden auf. Die
Trümmer der 3. Division folgten in heilloser Angst. Die Festung
Quang Tri fiel kampflos, ein böses Omen für spätere Schlachten. Die Nordvietnamesen hätten dieses Debakel durch gezielte
Beschießung in ein Gemetzel verwandeln können. Aber sie hielten sich zurück. Vielleicht versprachen sie sich von der chaotischen Ankunft der Deserteure eine psychologische Schockwelle, die das gesamte Verteidigungsgefüge von Zentral-Annam
aus den Fugen heben würde.
Gegen Mittag treffen die ersten Rudel flüchtender Soldaten
an der My Chanh-Brücke ein, ein beschämendes Bild der
Auflösung. Sie sind teilweise betrunken und feuern wild in
die Luft. Die Lastwagen und Kettenfahrzeuge brausen mit
Höchstgeschwindigkeit nach Süden, als sei der Gottseibeiuns
ihnen auf den Fersen. Um in dieser entwürdigenden Situation
immer noch das Gesicht zu wahren, täuschen die Deserteure
derbe Ausgelassenheit vor und machen mit ihren Panzern Jagd
auf Hühner und Hunde. Unser schwarzer Citroën wird auf
der Rückfahrt nach Hue von drei grimmig blickenden Soldaten durch Abfeuern ihrer M 16-Gewehre zum Stehen gebracht.
Sie zwängen sich auf den Vordersitz neben den Fahrer. Wir
bieten ihnen zur Beruhigung Zigaretten an. Je mehr Abstand
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zur Frontlinie sie gewinnen, desto umgänglicher werden sie.
Kurz vor Hue entschuldigen sie sich in aller Form für ihre
schlechten Manieren, bedanken sich für den lift und winken
uns lange nach. Sie sind eben doch die Söhne eines zutiefst
zivilisierten Volkes.
Die Psychose der Niederlage hat, wie erwartet, auf die
alte Kaiserstadt übergegriffen. Zwei Drittel der Bevölkerung
wälzen sich mit Karren und Bündeln über die »freudlose
Straße« und quälen sich dem angeblich sicheren Hafen Da
Nang entgegen. So muß es bei der Eroberung von Shanghai
und der Auflösung der Kuomintang-Armee zugegangen sein.
Die Szene wirkt gespenstisch, denn diese schwitzende, unter
den Lasten ächzende Masse schiebt sich fast lautlos und ohne
Gestikulation wie ein schwerverwundetes Tier nach Süden.
Würde wird selbst in der Verzweiflung gewahrt. Im nächtlichen
Hue leuchtet roter Feuerschein über den Fluß. Es fallen
Schüsse. Die marodierenden Soldaten sind zur Plünderung
und Brandschatzung des Marktes übergegangen, nachdem die
Händler sich geweigert hatten, ihnen ihre Alkoholbestände
ohne Bezahlung zu überlassen. Die Soldaten sind dabei auf
die Gegenwehr der Militärpolizei gestoßen. Im »Fluß der
Wohlgerüche« explodieren Wasserminen. Sie sollen die nordvietnamesischen Froschmänner an der Sprengung der einzigen und unentbehrlichen Brücke hindern.
Daß wir noch einen Platz in der mehrfach ausgebuchten Air
Vietnam-Maschine nach Saigon fanden, verdankten wir unserem Begleiter und Dolmetscher Tran Van Tin. Mit hundert
grünen US-Dollar Aufschlag war eine solche Begünstigung zu
erkaufen, und niemand verstand sich besser darauf als Tin. Er
war klein wie alle Vietnamesen und konnte ohne seine Brille
kaum sehen. Seine sehr helle Haut deutete auf einen chinesischen Einschlag hin. Tran Van Tin hatte seit mehr als zehn
Jahren den beiden deutschen Fernsehsystemen zuverlässig
und mit geradezu legendärer Effizienz gedient. Es gab keine
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Drehgenehmigung, keine Visumverlängerung, keine Zollbereinigung, die er nicht binnen kürzester Frist erwirkte. Dazu war
er ein Sprachgenie. Neben Französisch, Chinesisch und Englisch hatte er in Selbstkursen so gut Deutsch gelernt, daß er
jeden Neuankömmling verblüffte. Tin war älter, als er aussah.
Über seinen Werdegang gab es widerspruchsvolle Angaben.
Er sei Waise in Hue gewesen, und während des französischen
Krieges habe ihn ein Oberst der Fremdenlegion adoptiert, hieß
es. Später wurde behauptet, er sei nur eine Art Maskottchen
dieses Regiments gewesen, und ganz ohne Familie konnte
er auch nicht sein, denn er sprach gelegentlich von seiner
bedürftigen Mutter und von einem Bruder, der als Polizeibeamter von den Kommunisten erschossen worden sei. Tin
war ein hektischer Mann, und seine Nervosität brachte manchen Fernsehkorrespondenten an den Rand der Raserei. Er
verfügte nach ein paar Jahren intensiver Zusammenarbeit mit
ARD und ZDF über zwei altertümliche, aber durchaus brauchbare Luxuslimousinen amerikanischer Bauart, befehligte eine
Anzahl von Chauffeuren, Kamera-Assistenten und Trägern,
die von ihm meist als Onkel, Vettern und Neffen vorgestellt und
alle miserabel entlohnt wurden. Seine Geschäftstüchtigkeit
paarte sich mit Überlebenskunst. Es wurde behauptet, Tin
habe einst dem Regime des katholischen Diktators Ngo Dinh
Diem nahegestanden, ehe er eine blitzschnelle Wendung vollzog und neue Gönner suchen mußte. Persönlich hatte ich zu
ihm ein völlig unproblematisches Verhältnis. »Für mich sind
Sie so etwas wie ein Vater«, sagte er mir gelegentlich, eine
Beteuerung, die ich nicht auf die Goldwaage gelegt hätte. Aber
ich bin von Tin niemals hintergangen oder im Stich gelassen
worden. Dieser ungewöhnliche Aufnahmeleiter war, wie so
mancher seiner Landsleute, ein politischer Phantast. Er hatte
in einer dreihundertseitigen Ausarbeitung niedergelegt, wie
man die Republik Südvietnam von Korruption und Sittenverfall befreien und einen sieghaften antikommunistischen Staat
aufbauen könne. Vorher müßten allerdings sehr viele verderb-
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liche Elemente erbarmungslos ausgemerzt werden, so las man
in dieser Schrift.
Jedenfalls hatte uns Tin trotz des Andrangs Tausender von
Wartenden auf die Maschine nach Saigon gebracht, und er
genoß diese Bestätigung seiner Unentbehrlichkeit. Bei der
Zwischenlandung in Da Nang brach eine schöne vietnamesische Passagierin in elegantem Ao Dai nach einem kurzen
Gespräch mit einem Luftwaffenoffizier mit schrillen Schreien
in Weinkrämpfen zusammen. »Was ist passiert?« fragte ich
den vietnamesischen Steward. Der stimmte ein hohes asiatisches Gelächter an. »Man hat ihr mitgeteilt, daß ihr Mann,
ein Pilot der vietnamesischen Luftwaffe, gestern abgeschossen
worden ist.« Der Steward merkte plötzlich, daß sein Lachen,
das doch nur der zuchtvollen Beherrschung des Mitgefühls und
der eigenen Betroffenheit dienen sollte, von den zuhörenden
Weißen mißverstanden werden konnte und setzte eine todernste Miene auf.
Die Vietnamisierung der Särge
Saigon, im Frühjahr 1972
Der Botanische Garten von Saigon ist am Sonntag eine Oase
des Friedens und des Anstandes. Die jungen Mädchen des
Bürgertums führen hier ihre elegantesten Ao Dai aus. Sie
lassen sich auf keinen Flirt mit Unbekannten ein, sondern
halten nach ernsthaften Freiern Ausschau. Familien sammeln
sich vor dem Palmenhintergrund für ein Gruppenbild. Immer
wieder geknipst werden die Kleinen, wenn sie auf dem steinernen Drachen des Ahnentempels hocken. Ein fünfjähriger
Knabe ist als südvietnamesischer Fallschirmjäger mit einer
Spielzeug-MP kostümiert. Anschließend knattern die meisten
Spaziergänger auf ihren Hondas zum Boulevard Le Loi im
Stadtzentrum. Sie fahren an dem monströsen Heldendenkmal
vorbei, das General Ky wie eine Bedrohung unmittelbar vor das
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Parlament, die frühere Französische Oper von Saigon, setzen
ließ. Dicht hintereinander geklebt, mit aufgepflanztem Bajonett, stürmen zwei überdimensionale vietnamesische Soldaten,
die aus einer scheußlichen schwarzgrünen Masse geformt und
von den Journalisten mit einem obzönen Spitznamen bedacht
worden sind, auf die Tore der südvietnamesischen Volksvertretung zu. Auf dem Rathausplatz gleich daneben staut sich die
sonntägliche Menge vor den erbeuteten nordvietnamesischen
Waffen der Osteroffensive. Sogar die beiden Panzer aus Hue, an
ihren Kennzeichen auszumachen, sind auf dem Seeweg nach
Saigon geschafft worden, um Kunde vom Abwehrerfolg der
Soldaten des Südens gegen die Divisionen General Giaps zu
geben. Diese angeblichen Symbole des Sieges hätten den Einwohnern von Saigon in Wirklichkeit als Vorboten des Untergangs erscheinen müssen. Am glücklichsten sind auch hier die
Kinder. Sie lassen sich von südvietnamesischen Soldaten auf
die Schützensitze der Viererflak heben, kurbeln mit Begeisterung und lassen die Rohre schwenken.
Wenige Tage zuvor hatte Staatspräsident Nguyen Van Thieu,
der sich nach der Verdrängung seines Rivalen Ky endgültig
als starker Mann Südvietnams durchgesetzt hat, seine Generalsuniform mit der Tracht des annamitischen Mandarins vertauscht. Im Rahmen eines konfuzianischen Ahnenfestes hatte
er dem mythischen Stammvater aller Vietnamesen, Huong
Vuong, gehuldigt, der der Sage zufolge vor viertausend Jahren
weit oben im Norden die Nation gegründet hatte. Zwischen
den scharlachrot gekleideten Offizianten, die hohe schwarze
Kappen im chinesischen Hofstil trugen, begleitet von blaugewandeten Knaben, die mit hüpfenden Bewegungen geometrische Figuren beschrieben, ging Thieu im straffen Schritt des
Berufsmilitärs auf den Ahnenaltar zu.
Der Präsident stammt aus kleinen Verhältnissen, aus einer
Fischerfamilie in Südannam, aber in diesem Rahmen bewegte
er sich mit Würde und starrer Miene. Er ist stets von seiner
Frau begleitet, die aus der Bourgeoisie kommt, Katholikin
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
179
ist und sehr geschäftstüchtig sein soll. Unter ihrem Einfluß,
und um seine Karriere zu beschleunigen, die er einst als
Leutnant in der französischen Fernostarmee begonnen hatte,
war Nguyen Van Thieu unter dem Diktator Ngo Dinh Diem
zum Katholizismus übergetreten. Das hatte ihn nicht gehindert, maßgeblich am Generalsputsch gegen den gleichen Diem
beteiligt zu sein. Der Präsident versäumt am Sonntag niemals
das Hochamt in der katholischen Kirche von Saigon, und auch
in den Pagoden des regierungstreuen Buddhistenflügels ist er
häufig zu sehen. Dennoch ist Thieu weder eine Marionette
noch ein skrupelloser Opportunist. In seinem reglosen, abweisenden, sehr gelben Gesicht unter dem straff gescheitelten
Haar, das erste weiße Strähnen aufweist, verrät lediglich der
intensive Blick eine unüberwindbare Unsicherheit. Thieu ist
ein Mann des Volkes, aber Ausstrahlung auf das Volk besitzt
er nicht. Südvietnam wird von diesem steifen, kontaktarmen
Mandarin in Uniform in seine schwerste Stunde geführt.
Die südvietnamesische Armee hatte sich nach anfänglichen
Auflösungserscheinungen gegen den kommunistischen Ansturm recht und schlecht behauptet. Die Amerikaner hatten
den »dicken Knüppel« ihrer Luftwaffe herausgeholt, um Hanois
Absichten zu durchkreuzen. Acht Flugzeugträger hatten sie
im Südchinesischen Meer versammelt. Quang Tri war nach
der Einnahme durch die Nordvietnamesen in eine gespenstische Schutthalde, in eine Art konventionelles Hiroshima, verwandelt worden, und die südvietnamesischen Marines hatten
tatsächlich diesen Trümmerhaufen zurückerobert. In gewissen Provinzen Nordvietnams, so hatte man in jenen Tagen
errechnet, seien auf jeden Quadratmeter Boden durchschnittlich drei amerikanische Bomben niedergegangen. Präsident
Nixon pokerte weiter, indem er die Häfen von Tonking verminen ließ, was Moskau nicht hinderte, zur gleichen Zeit ein
Abkommen über die Sicherheit der Schiffahrt auf hoher See
mit Washington zu unterzeichnen. Henry Kissinger, der gerne
die Figur eines zeitgenössischen Metternich abgegeben hätte,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
180
sah sich in die fatale Rolle des »Dr. Strangelove« versetzt, der
»die Bombe lieben lernt«.
In Wirklichkeit war das Team Nixon-Kissinger dabei, mit der
Intensivierung ihres Bombenkrieges die vermeintlichen Voraussetzungen zu schaffen, um mit Hanoi über die Beendigung
des Vietnam-Konfliktes zu verhandeln. Wieder einmal war eine
groß angelegte Aktion der Nordvietnamesen, die Osteroffensive 1972, nach bescheidenen Anfangserfolgen im Sande verlaufen und nach rein militärischen Kriterien gescheitert. In
Wirklichkeit war jedoch aller Welt vor Augen geführt worden,
daß das Heil der Südvietnamesen von der amerikanischen
Luftunterstützung abhing. Der Abzug der US-Bodentruppen
war seit Johnsons Kandidatur-Verzicht so systematisch betrieben worden, daß von ursprünglich 550000 GI’s im Frühjahr
1972 nur noch 50000 in Südvietnam verblieben, und dabei
handelte es sich im wesentlichen um Versorgungs- und Etappendienste. Während die Heimführung der Amerikaner unter
dem Druck einer hemmungslosen Antikriegskampagne in USA
beschleunigt wurde, sickerten die regulären nordvietnamesischen Divisionen über die porösen Grenzen von Laos und
Kambodscha weiter in Südvietnam ein. Etwa 130000 Mann
reguläre Truppen mochte Hanoi bereits in den Dschungeln
und Bergen südlich des 17. Breitengrades stehen haben. Ihren
Abzug wollte Präsident Thieu erzwingen, ehe er sich in konkrete Waffenstillstandsverhandlungen einließ. Aber in diesem
Punkt blieb das Politbüro von Hanoi steinhart, leugnete die
Präsenz seiner Streitkräfte im Süden rundum ab und zwang die
amerikanische Diplomatie, die aus innenpolitischen Gründen
zum totalen und beschleunigten Disengagement aus Indochina
getrieben war, zu einer heuchlerischen Vogel-Strauß-Politik.
Die Opfer waren General Thieu und seine Armee. Der Waffenstillstand in Vietnam, den Henry Kissinger mit Le Duc
Tho, dem Bevollmächtigten Hanois, in den kommenden Monaten mühselig aushandelte und dessen Abschluß im Januar
1973 von einer törichten nordischen Jury mit dem Nobelpreis
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181
prämiiert werden sollte, war nichts anderes als Augenwischerei. Die Amerikaner verschafften sich ein Alibi und lieferten die
Südvietnamesen ohne Appell ihrem tragischen Schicksal aus.
Als zusätzliche politische Belastung kam für Thieu die Tatsache hinzu, daß Washington sich mit der Präsenz der »Nationalen Befreiungsfront von Südvietnam« am Verhandlungstisch
abfand. Diese eindeutig von Kommunisten beherrschte Sammelbewegung installierte nunmehr in dem Flecken Cam Lo,
unmittelbar südlich der einstigen Demarkationslinie, eine Parallelregierung unter Vorsitz des Rechtsanwalts Nguyen Huu
To, eines Angehörigen der cochinchinesischen Bourgeoisie, der
in den Konsularregistern von Saigon noch als französischer
Staatsangehöriger geführt war.
Auf dem Heldenfriedhof von Bien Hoa ist die Diskussion
über Erfolg oder Mißerfolg der Vietnamisierung des Krieges,
die im nahen Saigon so angeregt geführt wird, überflüssig
geworden. Hier ist sie vollzogen. Hier ist sie gelungen, wie
die Zyniker sagen, die Vietnamisierung der Särge. Rings
um den Totenhügel von Bien Hoa, der von einer geschwungenen Pagode gekrönt ist, treffen die südvietnamesischen Gefallenen der letzten Woche in einer ununterbrochenen Folge von
Leichenzügen ein. Das Ausschaufeln der Gräber, so scheint es,
wird mit mehr Eifer betrieben als der Stellungsbau und das
Schanzen an der Front. Ob Buddhist oder Katholik, ob arm
oder reich, ob einsam oder von der spektakulären Klage der
Hinterbliebenen mit dem weißen Stirnband der Trauer umgeben, diese Toten haben eines gemeinsam: die gelbe Hautfarbe
und die gelbe südvietnamesische Fahne mit den drei blutroten Streifen auf dem Sarg. Bei der angelsächsischen Presse
ist es Mode, die Kampfleistungen der Armee von Saigon zu
schmähen. Wieviel Tapferkeit und stoisches Ausharren auch
auf südvietnamesischer Seite aufgeboten wurden, zeigen diese
Gräber. Gerade weil sich sehr bald herausstellen könnte, daß
sie für eine aussichtslose Sache fielen, sollte man diesen Toten
Achtung zollen.
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182
Ganz in der Nähe dieses südvietnamesischen Golgatha, im
amerikanischen Mammut-Stützpunkt von Bien Hoa, vollzieht
sich unaufhaltsam – die Wahlversprechungen des amerikanischen Präsidenten müssen eingehalten werden – die Evakuierung der letzten GI’s. Die Soldaten aus der Neuen Welt
waren einst bei ihrer Ankunft von südvietnamesischen Ehrenjungfrauen bekränzt worden. Der Abgang vollzieht sich beinahe in Schande. Bärbeißige Militärpolizisten lassen das
Gepäck der Heimkehrer von Schäferhunden nach Rauschgift
durchschnüffeln. Der Heroin-Konsum unter den Amerikanern in Indochina hatte erschreckende Ausmaße angenommen, und nun befürchtet man, daß die Seuche auf die Heimat
übergreifen könnte. Eine demoralisierte Armee macht sich hier
aus dem Staub, und es wirkt grotesk, wenn gewisse Exhibitionisten vor dem Besteigen der Transportmaschine nach Guam
vor versammelten Pressephotographen noch einen Champagnerpfropfen knallen lassen und das V-Zeichen wie »Victory«
machen. Die Huren und das Rauschgift hätten diese Truppe
geschafft, sagen manche. Das ist weit übertrieben, auch wenn
man an das Wort des Generals von Mackensen aus dem
Ersten Weltkrieg denkt, der nach seiner blitzartigen Eroberung
Rumäniens erklärt hatte: »Mit einer Armee Soldaten bin ich
in Bukarest einmarschiert; mit einer Herde von Säuen werde
ich hier abziehen.« Einige GI’s trugen Plaketten auf dem Uniformhemd: »Die Hölle fürchte ich nicht mehr; ich habe sie in
Vietnam erlebt.« Aber das ist in den meisten Fällen reine
Prahlerei. Im Durchschnitt hat allenfalls einer von zwanzig USSoldaten tatsächlich Feindberührung gehabt. Stets besaß die
US-Army die erdrückende materielle Überlegenheit. Jeder
Verwundete wurde in kürzester Frist per Hubschrauber zu
den modernsten Operationssälen transportiert. Wie verzweifelt waren dagegen die Kampfbedingungen der Franzosen
während ihres Indochina-Kriegs gewesen. Eine leichte Verwundung im Reisfeld kam damals infolge von Wundbrand und
Unbeweglichkeit oft dem Todesurteil gleich. In den Bars der
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183
Tu Do-Straße, wo die grün uniformierten Amerikaner und die
Barmädchen selten müßig werden, klingen immer häufiger
Protestsongs aus der Juke-Box. »Bring them home« heißt eines
dieser Lieder. Die boys sollen leben, die Vietnamesen sollen
zusehen, wie sie zurechtkommen.
In der Nähe des »Eisernen Dreiecks«, wo der Vietkong
durch nordvietnamesische Reguläre verstärkt wurde und das
Gesetz des Handelns wieder an sich gerissen hat, hält eine
Nachhut der berühmten First Cavalry Division noch den
Feuerstützpunkt »Melanie«. Vor sieben Jahren, als der amerikanische Vietnam-Einsatz so hoffnungsvoll begann, hatten
sich die GI’s in ähnlich sternförmigen Festungen verschanzt,
als gelte es, einen neuen Indianerkrieg zu führen und ein
modernes Wildwest-Abenteuer zu bestehen. Bei den letzten
Hubschrauber-Kavalleristen von »Melanie«, deren Vorgänger
– damals noch beritten – die mörderische Indianerschlacht
von »Little Big Horn« lieferten, ist von den trügerischen Siegeserwartungen nur der schale Nachgeschmack geblieben.
Aus dem Soldier Blue der Indianerkriege ist der Soldier Green
von Vietnam geworden. Die Filmproduzenten von Hollywood
haben plötzlich entdeckt, daß sich zwischen der Ausrottung
der Indianerstämme durch die Blauröcke des 19. Jahrhunderts
und dem Massaker von My Lai durch die verstörten Grünröcke
des feisten Leutnant Calley ein schauriger Zusammenhang
konstruieren läßt. Die Außenposten der Ersten Kavalleriedivision sind zu Friedhofswächtern der verlassenen Monsterbasen rings um Saigon geworden. Sie hüten die Trümmer eines
verflüchtigten Riesenheeres. Auf den Schutthalden türmen sich
kilometerweit Berge von Schrott, die Exkremente des Krieges.
Auf einem Panzerwrack lese ich die ungelenke Inschrift: »Give
peace a chance!«.
»Road to peace – Straße zum Frieden«, so hatten die amerikanischen Pioniere die Straße 13 genannt, als sie zu ihrem
Ausbau abkommandiert wurden. Ein makabrer Scherz, denn
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184
die Straße 13 führt von Saigon aus in gerader Linie nach
Norden zu jenem Städtchen An Loc, das man mit einigem
Pathos das »Verdun Vietnams« getauft hat. An Loc ist seit
Anfang der Osteroffensive von den Nordvietnamesen eingeschlossen und bedrängt. Die Fallschirmjäger des General Thieu
haben dem Ansturm, der plötzlich aus dem kambodschanischen Grenzgebiet mit russischen und chinesischen Panzern
über sie hereinbrach, wacker standgehalten. Weiter südlich
sind die Eliteverbände Hanois längs der Straße 13 bis auf 70
Kilometer an Saigon herangekommen, ehe sie unter gewaltigem Materialaufwand und Einsatz von drei Divisionen mühsam
gestoppt wurden.
Durch Kautschuk-Plantagen und geschäftige Dörfer sind wir
zu dem südvietnamesischen Divisionsquartier Lai Khe gelangt,
wo die Raketen des Feindes ein paar Tage zuvor das Munitionslager in die Luft gejagt haben. Kurz danach nimmt der
Gefechtslärm zu, und es wimmelt von Soldaten und Kanonen.
Am Rande des Fleckens Chon Tanh stoßen wir auf diese
allzu nahe und bedrohliche Front. Die amerikanischen Berater
machen an diesem Tag besorgte Gesichter, weil der Gegenangriff der 21. ARVN-Division, die aus dem Delta herangeführt
wurde, nicht vom Fleck kommt. Das Verhältnis ist gespannt
zwischen diesen letzten advisers und dem südvietnamesischen
Offizierskorps.
Strafabteilungen südvietnamesischer Deserteure bauen
Unterstände. Sie türmen Sandsäcke auf, die allenfalls Splitterschutz bieten. Die Südvietnamesen gehen wie die Amerikaner stets von der totalen eigenen Luftüberlegenheit und von der
trügerischen Annahme aus, daß der Gegner über keine nennenswerte Feuerkraft verfügt. Beiderseits des Asphaltbandes
sind ein paar Stellungen der Nordvietnamesen erobert worden.
Die Ein- bis Zwei-Mann-Bunker sind wie Maulwurflöcher
angelegt. Was bleibt den Sturmtruppen Giaps anderes übrig,
als sich möglichst hastig und tief in den Boden zu krallen, um
dem Napalm und den Druckwellen der Bomben zu entgehen.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Leichengeruch liegt über dem verwüsteten Flachland. Neben
einer vorgeschobenen Artilleriebasis kauert ein verwundeter
nordvietnamesischer Gefangener. Seine Füße sind angekettet,
und er ist völlig apathisch.
Die »Straße des Friedens« ist von Trümmern gesäumt. Die
Raketen und Granaten der Kommunisten schlagen selten zu,
aber dann sitzen sie meist im Ziel. In der Berührungszone
zwischen den beiden feindlichen Heeren ist die Hölle los.
Ohne Unterlaß kreisen amerikanische Jagdbomber, stürzen
wie Falken aus dem Himmel und laden Napalm und Sprengstoff ab. Wir fragen uns, wie die nordvietnamesische Infanterie
dieses unbeschreibliche Stahlgewitter wochenlang durchstehen und überleben kann. Eine kleine Gruppe Journalisten ist
den vietnamesischen Vortrupps bis in die erste Linie gefolgt.
Ein paar Heimwehkranke des französischen Indochina-Kriegs
sind mit blasierten Gesichtern dabei. Wir stellen kopfschüttelnd
fest, daß die Vietnamesen sich den Luxus der Amerikaner leisten, feindlichen Widerstand nie durch infanteristischen Einsatz zu brechen, sondern stets zu warten, bis der Gegner durch
Luftwaffe und Artillerie zermürbt und aufgerieben ist. Aber
diese Methode verfängt nicht mit den erprobten »Triariern«
Hanois an der Straße 13. Dort wo die Napalmbomben schwarze
Rauchklumpen setzen und Dreckfontänen hochgehen, sind
die vordersten Nordvietnamesen eingebuddelt. Sie hüten
sich, die eigene Position durch Gegenfeuer zu enttarnen. Am
Nachmittag versuchen Vorhuten der ARVN mit Hilfe von
Schützenpanzern, ein paar hundert Meter nach Norden in
Richtung auf An Loc voranzukommen, aber sie bleiben stekken und fordern erneut Artillerieunterstützung an. Dabei ist
die umzingelte Festung An Loc jenseits einer Geländemulde
mit dem Feldstecher in etwa zwölf Kilometer Entfernung klar
zu erkennen. Man sieht sogar die geborstenen weißen Mauern
der früheren Präfektur. Es scheint unglaublich, daß bei dem
gewaltigen Material- und Menschenaufgebot der Südarmee die
paar hundert Nordvietnamesen nicht aus ihrer Umklamme-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
186
rung vertrieben werden können. »Man möchte die Kerle in den
Hintern treten, damit sie endlich zum Sturmangriff antreten«,
flucht ein ehemaliger deutscher Panzeroffizier, der sich als
Rundfunkberichterstatter keine Kriegsszene entgehen läßt und
bei den amerikanischen Kollegen als galoping Major bekannt
ist.
Am späten Abend sitzt unser Fähnlein von Frontbeobachtern beim Glas Pernod auf der Terrasse des »Continental«. Aus
dem Lautsprecher kommt das trotzige Chanson der Edith Piaf
»Non, je ne regrette rien«. Das Lied war 1962 zum Protestsong der französischen Fallschirmjäger geworden, als sie nach
dem Scheitern ihres letzten Putschversuches von de Gaulle
zur Aufgabe Algeriens gezwungen wurden. »Nein, ich bereue
nichts«, singt die Piaf. »Das werden die Amerikaner nicht
singen können, wenn sie hier einmal endgültig weg sind«, sagt
der Dien Bien Phu-Veteran Rouget, der sich zu uns gesetzt hat.
»Je me fous du passé – Ich pfeife auf die Vergangenheit«, endet
das Lied.
Opium und Geheimdienst
Goldenes Dreieck, im Sommer 1973
Die Studenten von Bangkok sind auf die Straßen gegangen.
Über das häßliche Denkmal der Demokratie, das in einem
plumpen Bronzetopf endet, haben sie einen schwarzen Trauerflor gebreitet. Die thailändische Jugend, meist sind es Söhne
und Töchter des Bürgertums, fordert eine neue Verfassung, die
Zulassung politischer Parteien. Sie verlangt Demokratie, und
die Militärjunta der Marschälle Kittikachorn und Prapass ist
tatsächlich ins Wanken geraten. Noch ist die Person des
Königs Bumiphol sakrosankt. Am Ende ihrer Kundgebung
ertönt die monarchische Hymne, und die Studenten verbeugen sich in Richtung auf den Palast. Aber die westlichen
Geheimdienste sehen hinter der Agitation in den Hochschu-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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len bereits die geübte Subversionspraxis von marxistischen
Berufsrevolutionären. Die roten Partisanen, die vor allem in
den vernachlässigten Nordostprovinzen bäuerliche Rekruten
anwerben, dürften demnächst intellektuellen Zulauf aus den
Städten erhalten. Wird das vielzitierte Gespenst der DominoTheorie doch zur Realität? Bereitet sich die große asiatische
Umwälzung von Indochina kommend über ganz Hinterindien
aus? Der Gesichtsverlust der Amerikaner in Vietnam konnte
nicht ohne Folgen bleiben. Die Asiaten teilen nicht die Illusionen so vieler westlicher Kommentatoren, die den Waffenstillstand, der Ende Januar in Paris unterschrieben wurde, als
ein Dokument Kissingerscher Staatskunst preisen. Sie wissen,
daß Präsident Thieu, als er dem Verbleib der nordvietnamesischen Divisionen vor den Toren Saigons und Hues zustimmen
mußte, das Todesurteil des Saigoner Regimes unterschrieben
hat. Der Untergang Südvietnams ist nur noch eine Frage des
Termins.
Wir wollten herausfinden, welches die wirkliche Lage in
jenem geheimnisvollen Gebiet am Schnittpunkt von Thailand,
Burma und Laos war, das den klangvollen Namen »Goldenes
Dreieck« trägt. Es traf sich gut, daß ein junger Journalist
der Bangkoker »Nation« sich durch die Aufdeckung gewisser
Querverbindungen des Opiumhandels am Rande der burmesischen Shan-Staaten einen Namen machen wollte. Der Reporter Chula, der uns nach Norden begleitete, gehörte einer sehr
angesehenen siamesischen Familie an, die sich ihrer engen
Verbindung zum Hof rühmte. Er lief stets in Jeans herum, trug
eine lange Mähne, gab sich fast so progressiv wie die MaiStudenten des Pariser Quartier Latin und trat in Begleitung
einer höchst resoluten, ebenso großbürgerlichen Freundin
auf, die seinen demokratischen Linksdrall wohl maßgeblich
inspirierte. Chula führte uns gar nicht erst nach Chieng Rai
oder an den Grenzübergang Mei Sai, wo bereits die ersten
Touristenkonvois auftauchten, um die pfeiferauchenden und
barbrüstigen Hakka-Frauen zu photographieren. Wir fuhren
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
188
in den abgelegenen Umschlagplatz Mae Hong Son, wo ganze
Schmuggelkarawanen aus dem nur 15 Kilometer entfernten
Burma eintrafen, um die Antiquare von Bangkok mit immer
neuen und immer unechteren Buddha-Statuen zu versorgen.
Ehe Chula seine Vertrauensleute kontaktieren konnte, vergingen ein paar Tage. Ich hatte den Pagodenhügel mit den
beiden riesigen weißen Steinlöwen schon viermal erklommen,
um mir die Zeit zu vertreiben, und saß jeden Abend an dem
verträumten Lotosteich, der die Roben der Bonzen in sattem
Gold widerspiegelte.
Da entdeckten wir ein hölzernes Thai-Haus besonderer Art.
Es war von jungen Weißen bewohnt. Erst nahmen wir an, wir
seien auf eine Gruppe Hippies gestoßen, denn es roch nach
Haschisch, die jungen Männer sahen aus wie Mitwirkende
aus dem Musical »Hair«, und die Mädchen trugen lange indische Kleider oder den landesüblichen Sarong. Aber das war
keine harmlose Versammlung. Der Rudelführer, der eine Art
zeitgenössischen Hemingway mimte, war ein Geologie-Dozent
aus Missouri. Der asketische Typ neben ihm firmierte als
Archäologe, und der dritte im Bunde, ein klösterlich blickender
Jüngling mit kurzem Haarschnitt und dicken Brillengläsern,
John genannt, entpuppte sich als einer der erfahrensten
Ethnologen in diesem Winkel Südostasiens, der mit seinem
Mosaik von Rassen und Gebirgsstämmen ein völkerkundliches
Museum darstellt.
Unser Kamerateam wurde freundlich, aber mit verhaltenem
Mißtrauen aufgenommen. Die amerikanischen Mädchen waren
reizlos und pickelig. Aber eine blonde üppige Südafrikanerin
namens Mandy schaffte erotischen Ausgleich. Sie streichelte
den Nacken eines schönen Jünglings italo-amerikanischen
Typs, der als einziger keine professionelle Spezialisierung aufzuweisen hatte. Für die sexuellen Bedürfnisse des Hemingway-Typs, der sich beim Kredenzen des Whisky als Andrew
vorstellte, sorgten wohl die zwei unbeschwerten Thai-Dienerinnen, die voll in die Gemeinschaft integriert waren.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Chula hatte uns begleitet, aber diese Umgebung mißfiel ihm
sichtlich. Im Hinausgehen flüsterte er mir zu, es handle sich
hier um einen Horchposten des CIA. Tatsächlich habe ich nie
wieder eine so malerische Auswahl von spooks gesehen. Unter
zunehmender Einwirkung von Hasch oder Alkohol – wohl auch
um unsere wahren Absichten zu ergründen – wurden die honorable schoolboys mitteilsamer. Ihre Studien, so gaben sie zu,
galten in erster Linie den rassischen Minderheiten Burmas,
die sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs in offener Revolte
gegen die Zentralregierung von Rangun befanden.
Jedermann in Hinterindien kennt das weitgehend christianisierte Volk der Karen, das mit Hilfe seiner »Befreiungsarmee«
die meisten Grenzübergänge zwischen Thailand und Burma
sowie den umfangreichen Schmuggel zwischen Bangkok und
Rangun kontrolliert. Auf den Warenstrom, der aus dem Konsum-Eldorado Thailand in die durch ein absurdes sozialistisches Experiment ausgepowerte Union von Burma fließt, erheben die Karen einen Wegzoll von vier Prozent. Sie organisieren andererseits die Elefantenkarawanen, die die seltenen
Metalle Burmas – vor allem Antimon und Wolfram – nach Siam
befördern. Das Interesse der westlichen und östlichen Geheimdienste an den Karen war gering. Diese Rebellen waren fast
schon zu einem Element der Stabilität im burmesischen Chaos
geworden. Die Pseudo-Hippies von Mae Hong Son, die sich
alle durch vorzügliche Beherrschung der Thai-Sprache auszeichneten, blickten nach Norden auf die mysteriösen ShanStaaten, wo der Kampf um die politische Autonomie zwischen
Minderheiten – Shan, Lahu, Meo, Yao, Katschinen, Lolo und
wie sie alle heißen mochten – oft nur als Tarnung für die unerbittliche Auseinandersetzung zwischen ganz gewöhnlichen
Räuberbanden herhalten mußte. Es ging hier in Wirklichkeit
um den Transport und die Kommerzialisierung der Opiumproduktion des »Goldenen Dreiecks«. Sogar hochspezialisierte
Laboratorien zur Herstellung von Heroin Nr. 4 waren im
Gebirgsdschungel versteckt.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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John war in düsterer Stimmung. Er verwies auf ein eben
erschienenes Buch über die »Heroinpolitik in Südostasien«.
Darin war er mit vollem Namen als Agent des amerikanischen
Geheimdienstes aufgeführt. Es verhalte sich alles doch ganz
anders, warf er ein. Sein Vater habe als methodistischer Missionar in der südchinesischen Provinz Jünan gewirkt. Vom
scheuen, aber kriegerischen Volk der Lahu sei er wie ein
weißer Gott verehrt worden. Er selbst sei unter den Lahu-Kindern aufgewachsen, und es erscheine doch nur natürlich, daß
er zu dem Zweig dieses Stammes, der in Nordburma siedle und
sich neuerdings dem allgemeinen Aufruhr angeschlossen habe,
enge Verbindung halte. Ob wir die Absicht hätten, die chinesischen Kuomintang-Verbände aufzusuchen, die in diesem Wirrwarr von Banditen, Schmugglern und Rebellen den Ausschlag
gäben, fragte Andrew. Ich hütete mich, unsere wahren Intentionen preiszugeben.
Tatsächlich war es unser Ziel, mit jenen versprengten
Angehörigen der alten Tschiang Kai-schek-Armee Kontakt aufzunehmen, die 1950 auf der Flucht vor den siegreichen Divisionen Mao Tse-tungs von Jünan nach Burma und insbesondere in die Shan-Staaten übergewechselt waren und sich dort
bis auf den heutigen Tag behauptet hatten. Im Frühjahr 1952
hatte ich bereits versucht, diese Geisterarmee des Generals Li
Mi aufzusuchen, war aber in letzter Minute von den burmesischen Sicherheitsbehörden festgenommen und nach Rangun
zurückgeleitet worden. Erinnerungen wurden wach an jene
kurze Reise auf der legendären Burma-Road, deren steile Biegungen bis zur Eroberung Ranguns durch die Japaner die
Nabelschnur des nationalchinesischen Abwehrkrieges gegen
das Reich der Aufgehenden Sonne und die einzige Verbindungslinie des amerikanischen Nachschubs für Tschungking
darstellten. Von Mandalay nach Lashio hatte mich ein Chauffeur aus dem halb bengalischen Arakan in den hohen Norden
gefahren. Er betonte stets, daß er Moslem und deshalb ein
ehrenwerter Mann sei. Lashio war von den letzten englischen
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Administratoren längst verlassen worden. Aber es blieben dort
sechs italienische Franziskaner als einzige europäische Präsenz
übrig.
Die Patres blickten voller Sorge auf die nahe Grenze mit
China, denn zu jener Zeit rechnete man noch mit Eroberungsabsichten Pekings in Südostasien. Zusätzlicher Kummer war
den italienischen Minoriten entstanden, als ein amerikanischer
Geheimagent im Zustand panischer Angst aus Jünan, wo er
wohl eine letzte Funkstation bedient hatte, zu ihnen geflüchtet
war. Die Italiener steckten den Spion in eine braune Kutte
und beteten zum Himmel, daß er bald nach Rangun abreise.
Die Neuchristen vom Katschinen-Volk, die damals in der
Missionsschule noch in lateinischer Sprache die Meßliturgie
nachplärrten, interessierten sich fatalerweise für den
Neuankömmling und äußerten den Wunsch, bei ihm zur Kommunion zu gehen. Der Prior rettete sich durch eine Notlüge:
der neue Pater sei ein so frommer Mann, daß er bereits in den
nächtlichen Morgenstunden das heilige Meßopfer zelebriere.
Die einfältigen Katschinen gaben sich mit dieser Erklärung
zufrieden.
In einer Teestube von Lashio hatten sich drei unauffällige Chinesen mit Poker-Mienen zu mir gesetzt und in recht gutem
Englisch gefragt, welche Waffenmodelle ich ihnen vermitteln
und verkaufen könne. Die Franziskaner, denen ich von dieser
Verwechslung erzählte, belehrten mich, daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach mit Emissären der »Triade«, einer großen
chinesischen Geheimgesellschaft, zusammengetroffen sei, und
baten mich inständig, ihre Mission nicht mehr zu verlassen.
Schließlich bin ich dann doch mit einem Pater aus Piemont
und einer langen Maultierkolonne nach Norden geritten. Er
wollte seine versprengten Pfarreikinder aufsuchen, und ich
erhoffte mir eine Begegnung mit der ominösen KuomintangArmee des Generals Li Mi. Im Dörfchen Kutkai, wo alte Chinesinnen mit verkrüppelten Füßen an Spinnrocken saßen und
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indigoblaue Webstoffe in der Sonne trockneten, holten mich,
wie gesagt, zwei bewaffnete Zivilisten ein, stellten sich als
Geheimpolizisten der Zentralregierung vor und verfrachteten
mich in das nächste Flugzeug nach Süden.
Zwanzig Jahre später wollte ich mein Mißgeschick von
1952 wettmachen. Noch vor Sonnenaufgang gab uns Chula
das Signal zum Aufbruch. Wir fuhren mit dem Jeep etwa
vierzig Kilometer nach Norden, wechselten dann auf eine
Schotterstraße über, die an einem Pfahldorf endete. Dort warteten acht düster blickende Männer unter der Leitung ihres
Anführers Cheng, dessen Visage jedem Kungfu-Film Ehre
gemacht hätte. Cheng war ein brummiger, aber – wie sich
später herausstellte – verläßlicher Mann. Zehn Pferde waren
für uns aufgetrieben worden. Es waren traurige Klepper. Dem
zweiten Kameramann Klaus wurde sogar ein einäugiges Reittier zugewiesen, das wir »Moshe Dayan« nannten. Die Teammitglieder hatten ihre Kopfkissen aus dem Hotel mitgebracht,
um weicher auf den knochenharten Sätteln zu sitzen. Nach ein
paar Kilometern Ritt durch Reisfelder und relativ flaches Terrain stiegen die bewaldeten Hänge steil an. Wir mußten absitzen und die größte Strecke zu Fuß zurücklegen. Welche Ware
die Maultiere, die uns begleiteten, transportierten, wußten wir
nicht und wir fragten auch nicht danach.
Gegen Mittag, als wir gerade einen besonders schwierigen
Dschungelpfad hochächzten, entlud sich das Monsun-Gewitter. Der Regen kam wie ein Sturzbach über uns. Der Boden
verwandelte sich in Morast. Wir mußten die Pferde fluchend
hinter uns herziehen. Sobald es bergab ging, setzten sich die
Tiere auf die Hinterhand und rutschten, wie uns schien, mit
hämischer Schadenfreude an uns vorbei. Wir hatten alle Mühe,
ihnen nachzustolpern. Endlich erreichten wir ein Plateau,
und die Sonne kam stechend zwischen den Wolken heraus.
Am Nachmittag begegnete uns eine Maultier- und Pferdekarawane, die von schwerbewaffneten Asiaten undefinierbaren
Typs begleitet war. Sie musterten uns argwöhnisch, hielten
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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die Gewehre schußbereit vor der Brust und ritten grußlos an
uns vorbei. Wir hätten gern gewußt, was unter den Zeltplanen
ihrer Saumtiere verborgen war, aber Neugier war im »Goldenen Dreieck« fehl am Platz.
Schließlich erreichten wir unser Nachtquartier im Meo-Dorf
Ban Na Plak. Die Frauen waren mit Stickereien oder dem
Stampfen von Hirse beschäftigt. Andere kamen von den Opiumfeldern zurück. Die Kinder waren trotz der empfindlichen
Abendkälte splitternackt, trugen jedoch einen dicken Silberring um den dreckstarrenden Hals. Die Männer hatten zu
unseren Ehren Blasinstrumente aus Bambusrohr herausgeholt
und veranstalteten für unsere Tonaufnahme ein quäkendes
Konzert. Sie hielten die Instrumente wie phallische Symbole
zwischen den Beinen und bewegten sich rhythmisch im Kreis.
Den ganzen folgenden Vormittag waren wir weiter nach
Norden geritten, da hielt Cheng mich an und zeigte auf den
seichten Bach, den wir gerade durchwateten. »Das ist die
Grenze von Burma«, sagte er. Wir hatten das Gebiet der ShanStaaten erreicht. Noch drei Regengüsse mußten wir über
uns ergehen lassen, ehe wir das verwahrloste Feldlager auf
dem roten Laterithügel entdeckten. Wir waren am Ziel. Im
Stützpunkt Ban Meo war ein Détachement der chinesischen
Kuomintang-Armee stationiert. Rund um die Lehmhütten
liefen Deckungsgräben und Bambusverhaue. Eine Viertelstunde lang regte sich nichts, und wir warteten im Schatten.
Dann kamen uns fünf Männer in verwahrloster grüner Uniform entgegen. Irgendwoher war ihnen unsere Ankunft bereits
gemeldet worden. Sie sahen wie Wegelagerer aus, luden uns
aber mit erlesener Höflichkeit zum Tee ein. Chula hatte Schwierigkeiten mit der Übersetzung. In Ban Meo lebten, wie wir
bald feststellten, etwa achtzig Kuomintang-Soldaten mit ihren
Familien. Es war eine heruntergekommene Truppe. Die Li MiArmee war 1950 in Nord-Burma eingerückt in der Hoffnung,
eines Tages mit Hilfe Taiwans und der Amerikaner an der
Rückeroberung Festland-Chinas von der Südflanke her mit-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
194
wirken zu können. Nach und nach hatten sich die Einheiten
jedoch aufgelöst und sich zu assimilieren gesucht. Im Laufe
der Jahre wurden die Veteranen des KMT immer älter. Sie heirateten Frauen der örtlichen Gebirgsstämme. Nur selten kam
einmal ein Emissär aus Taipeh eingeflogen und überbrachte
illusorische Durchhalteparolen. Die Regierung von Peking
wetterte zwar in allen Tonlagen gegen das imperialistische
Komplott, das zwischen Yankees und »Taiwan-Banditen« im
Norden Burmas angeblich ausgeheckt wurde, aber die Volksbefreiungsarmee war wohl sehr bald zu dem Schluß gekommen, daß diese Kuomintang-Trümmer keine Gefahr mehr darstellten und eines Tages – wer weiß – einmal nutzbringend verwendet werden könnten.
Die Streitkräfte von Burma hatten mehrfach mit großem
Spektakel militärische Operationen gegen die bewaffneten
Überreste der Li Mi-Armee eingeleitet, deren Angehörige sich
häufig wie Marodeure aufführten. Aber damit verschaffte sich
Rangun lediglich ein Alibi gegenüber dem zürnenden chinesischen Drachen. In Wirklichkeit wurden die Kuomintang-Soldaten sehr bald in die Anarchie und das Zwielicht des »Goldenen Dreiecks« integriert. Schließlich entdeckten die Generale von Bangkok, daß diese entwurzelten Chinesen wertvolle
Dienste in den äußersten Nordprovinzen leisten könnten. Die
thailändische Armee taugte ohnehin nicht für den Gebirgs- und
Dschungelkrieg. Auch die weit überschätzte Sonder-Grenzpolizei, Border Patrol Police genannt, stieß höchst ungern in diese
unwirtlichen Gegenden vor. Da erwies sich der Kuomintang
am Ende als ideales Instrument, um die Nordgrenze gegen
Banditen und kommunistische Infiltranten abzuschirmen. Vor
allem boten die Nationalchinesen, die über eine ganze Kette
von Stützpunkten in der Grenzzone verfügten, eine Gewähr
dafür, daß der Opium- und Heroinschmuggel der Kontrolle der
thailändischen Behörden nicht völlig entglitt. Denn in diesem
chaotischen Paradies der Wegelagerer, Trafikanten und Halsabschneider war das Rauschgift der Nerv des Krieges.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
195
Die jungen Chinesen, die uns den Tee servierten, waren
bereits im burmesischen Exil geboren. Aber jetzt humpelte
ein alter Mann, der eine abgenutzte blaugraue Uniformjacke
und einen Schlapphut trug, auf uns zu und stellte sich als
Oberst Lao Bo von der chinesischen Nationalarmee vor. Der
Oberst war zum Skelett abgemagert und mußte schwer krank
sein. Das Wort überließ er seinem Neffen, dem breitschultrigen
Major Lao Li, der keine Uniform, sondern ein weißes Hemd
trug. Lao Li wurde später von Chula in seiner Artikelserie über
die wirren Verhältnisse im burmesisch-thailändischen Grenzstreifen als Schlüsselfigur des südostasiatischen Opiumhandels vorgestellt. Er war der tatsächliche Kommandeur von Ban
Meo. Während die Chinesen in einer Nebenhütte berieten, wie
sie auf unseren Wunsch, ihr Lager zu filmen, reagieren sollten,
erklärte mir Chula, daß der Kuomintang im Auftrage gewisser
Militärbehörden einen Cordon sanitaire bilde, daß aber gleichzeitig direkte und sehr diskrete Verbindungen zwischen den
ehemaligen Li Mi-Leuten und den allmächtigen chinesischen
Kaufmannsgilden von Bangkok beständen. Mit Hilfe der kampferprobten und den meisten anderen Banden überlegenen
Nationalchinesen werde der Rauschgifthandel von der Grenze
ab straff zentralisiert und gegen Rivalengruppen notfalls mit
Waffengewalt abgeschirmt. Die öffentliche Vernichtung von
beschlagnahmtem Opium und Heroin, die zur Besänftigung des
amerikanischen Rauschgiftdezernats gelegentlich in Bangkok
oder in großen Provinzstädten theatralisch inszeniert wurde,
sei ein großangelegtes Täuschungsmanöver. Die thailändische
Generalität sei an dem Geschäft maßgeblich beteiligt und sorge
für höchste Protektion.
Einer der Chinesen sprach ein leidliches Englisch. Leutnant Fang war erst dreiundzwanzig Jahre alt und bediente das
Funkgerät. Nach einigen fruchtlosen Versuchen kam die Verbindung mit einer geheimnisvollen Befehlszentrale in NordThailand zustande. Die Weisung aus dem Hauptquartier eines
gewissen General Li war formell. Es dürfe in Ban Meo nicht
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
196
gefilmt werden, aber man solle uns gastlich bewirten und
sicher über die Grenze zurückgeleiten. Fang hatte ein sympathisches Lausbubengesicht. Er beklagte sich bei uns über den
kärglichen Sold und die Einsamkeit in diesem Außenposten.
Er träumte von den Mädchen in Bangkok und hatte die Bretter seiner Funkbude mit asiatischen Badeschönheiten beklebt.
Wir erzählten ihm, daß wir ein paar Tage zuvor im Grenzraum
westlich von Mei Sai einer Gruppe burmesischer Freischärler
begegnet waren, die ein Abzeichen mit dem Tigerkopf und
der anspruchsvollen Bezeichnung Free Shan State-Army am
Ärmel trugen. Das seien ganz gewöhnliche Räuber, meinte
Fang. Diese angeblichen Shan-Krieger hätten so lange mit den
burmesischen Behörden paktiert und Jagd auf rivalisierende
Banden gemacht, wie ihnen Rangun im Abschnitt von Kengtung das Opium-Monopol zugestanden hätte. Als die Beauftragten des Präsidenten Ne Win ihnen diese Konzession jedoch
wieder entziehen wollten, seien sie in den Dschungel gegangen und gebärdeten sich jetzt als Freiheitskämpfer des ShanVolkes.
»Peking braucht nur den kleinen Finger zu heben«, meinte
Fang, »und die ganze Union von Burma, die hier nur noch in
der Theorie existiert, bricht zusammen.« Der einzige ernstzunehmende militärische Faktor sei die Kommunistische Partei
Burmas chinesischer Obedienz. Der Kuomintang hüte sich
strikt davor, mit dieser disziplinierten Truppe irgendwie in
Berührung zu kommen. Die burmesischen Kommunisten, die
sich im wesentlichen unter gewissen hill tribes rekrutierten,
hätten sich ganz bescheiden auf den schmalen Streifen der WaStaaten längs der Grenze von Jünan beschränkt. Dort sorgten
sie nicht nur für Zucht, Ordnung und soziale Gerechtigkeit,
sondern halfen sogar den armen Bergbauern beim Einbringen ihrer Ernte. Bei aller politischen Gegnerschaft fühlte man
bei Leutnant Fang eine echte Bewunderung für dieses riesige
Rote Reich der Mitte, das seine wirkliche Heimat blieb. Unser
Rückritt verlief beschwerlich, aber ereignislos.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
197
Die Pseudo-Hippies von Mae Hong Son hatten bereits erfahren, wohin unsere Reise gegangen war. Chula warnte uns vor
jeder Verbrüderung. »Die thailändischen Behörden werden die
Gruppe bald auffliegen lassen«, meinte er. »Die Zeit der allzu
engen Zusammenarbeit mit dem CIA ist vorbei, und es besteht
sogar der Verdacht, daß einer dieser Amerikaner ein verkappter Agent der Anti Narcotics Brigade ist.«
Die Autofahrt von Mae Hong Son über Chieng Rai bis zu
dem verträumten Mekong-Hafen Chiang Saen und zur laotischen Grenze war ein Alptraum. Ich war unvorsichtigerweise zu einem amerikanischen Neuankömmling der seltsamen Gemeinde von Mae Hong Son namens Sam in den Landrover gestiegen. Sam war ein drahtiger junger Mann, der
aus seiner Geheimdienst-Leidenschaft gar kein Hehl machte.
Er bemühte sich, auf der kurvenreichen Straße sämtliche
Rennrekorde zu brechen. Seine Spezialität war es, Jagd auf
streunende Hunde zu machen und sie zu überfahren. Einmal
brachte er den Wagen nur noch mit quietschenden Bremsen in
letzter Sekunde zum Stehen, als er in der Abenddämmerung
ein nacktes braunes Kind mit einem Hund verwechselt hatte.
Trotz dieser mörderischen Instinkte bezeichnete sich Sam als
Buddhist. Er war mit einer thailändischen Generalstochter verheiratet, die seinem Sagen nach Haare auf den Zähnen hatte.
Immer wenn wir an einer Pagode oder an einem Geisteraltar
vorbeikamen, hielt Sam an, verbeugte sich vor den »Phi« und
zündete Räucherstäbchen an. Besonderes Vergnügen bereitete ihm das Abbrennen von Knallfröschen zu Ehren eines
Straßengeistes, der angeblich für die Sicherheit der Reisenden
zu sorgen hatte und der an dem Feuerwerk, so versicherte der
skurrile Amerikaner, besonderes Wohlgefallen finde.
Wir ließen uns vom Mekong nach Süden treiben und waren
froh, den hektischen Geisterbeschwörer losgeworden zu sein.
Unsere überdachte Piroge hielt sich an das laotische Ufer.
Ganze Dorfgemeinschaften planschten fröhlich im Wasser. Der
Strom floß mit majestätischer Gelassenheit. Arbeitselefanten
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
198
schleppten Baumstämme zu einsamen Sägewerken. An diesem
Punkt hatte die Kuomintang-Armee Ende der fünfziger Jahre
versucht, ihr Opium-Monopol auch auf Nord-Laos auszudehnen. Aber die Fallschirmjäger der Königlich Laotischen Armee
hatten sich unter französischer Beratung zur einzig glorreichen Waffentat ihrer Geschichte aufgerafft. Sie hatten die Chinesen über den Fluß nach Thailand zurückgejagt. Im Fort von
Ban Huei Sai, das mich an die alte französische Zitadelle von
Tay Ninh erinnerte, suchten wir vergeblich nach dem laotischen
Ortskommandanten. Im Königreich der Million Elefanten
war endlich der Waffenstillstand zwischen den konservativen
Streitkräften von Vientiane und den roten »Pathet Lao« in Kraft
getreten. Der ungewohnte Friedenszustand hatte bei den proamerikanischen Truppen zu rapiden Auflösungserscheinungen
geführt. Es sei nicht ratsam, nach Osten vorzudringen, warnte
uns ein laotischer Leutnant, den wir in seiner verlängerten
Siesta störten. Schon in sieben Kilometer Entfernung könnten
wir auf die Straßenbaupioniere der chinesischen Volksbefreiungsarmee stoßen. Peking fuhr fort, zwischen Jünan und Thailand ein Netz von Allwetterstraßen und eine strategische Infrastruktur für alle Eventualitäten zu schaffen.
In der Königsstadt Luang Prabang erwartete uns John
Everingham. Der blutjunge Australier mit dem blonden Christuskopf machte einen fast zerbrechlichen Eindruck. Aber er
war ein ganz harter Typ. Als free lance-Journalist verdiente
er ein saures Brot. Er lebte mit einer Laotin zusammen und
beherrschte ziemlich fließend die Sprache des Landes. Das war
ihm zugute gekommen, als er bei einer seiner einsamen Expeditionen von den roten »Pathet Lao« festgenommen wurde und
ein paar Wochen ihr Gefangener blieb. John und die »Pathet«
waren als relativ gute Freunde auseinandergegangen.
Nun sollte John uns ebenfalls auf die kommunistische Seite
bringen. Der Waffenstillstand im Königreich der Million Elefanten war fast simultan mit dem Vietnam-Abkommen von
Paris unterzeichnet worden. Doch im Gegensatz zu Vietnam
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
199
waren die Kampfhandlungen in Laos tatsächlich eingestellt
worden. Das versöhnliche Temperament dieses Volkes kam
sehr schnell zu seinem Recht, und schon wurde von Hochzeiten und buddhistischen Festen in der Berührungszone der
beiden Bürgerkriegsparteien gesprochen, auf denen sich die
Feinde von gestern verbrüderten. Wären nicht die unerbittlichen Nordvietnamesen mit der ihnen ergebenen Kommunistischen Partei von Laos im Hintergrund gestanden, dann hätte
dieser hinterindische Pufferstaat tatsächlich auf ein glückliches
Ende seiner langen Wirren hoffen können. Die Pagoden von
Luang Prabang waren hinter uns in den schwarzen Monsunwolken verschwunden. Die gelben Fluten des Mekong, der uns
in rascher Fahrt nach Süden trug, standen hoch. Der Steuermann der schmalen Motorpiroge mußte immer wieder treibenden Ästen und Stämmen ausweichen. Die Ufer auf beiden
Seiten waren von dichtem Dschungel überwachsen und gaben
nur gelegentlich winzigen Siedlungen und schmalen Reisfeldern Raum. Wir lagen flach im Boot und hatten die Tropenhüte
tief in die Stirn gedrückt, damit man uns von weitem nicht
sofort als Europäer erkennen könne.
Hinter einer malerischen Flußbiegung, wo nackte Kinder
unter einem Wasserfall planschten, klebte ein laotisches Pfahldorf. Ein paar Frauen mit nackten Schultern wuschen ihre
Sarongs im Fluß. Ein halbes Dutzend buddhistischer Mönche
in goldgelber Toga schiffte sich gerade auf einer Piroge ein.
Alles blickte uns Europäern mit sichtlichem Staunen entgegen. John gab dem Bootsmann die Weisung anzulegen. Das
Dorf heiße Pak Howe, sagte er. Es sei erst ein paar Stunden vor
dem Waffenstillstand von den »Pathet Lao« besetzt und deshalb von der Bombardierung durch die Amerikaner verschont
worden. Pak Howe lag bereits auf dem Westufer des Mekong in
der Provinz Sayaburi. Die roten Partisanen hatten sich hier in
letzter Minute einer wichtigen Position für die Unterstützung
der diversen Aufstandsgruppen im benachbarten Thailand
bemächtigt.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
200
Auf dem Pfad, den wir mit unserem Kameramaterial hochkeuchten, begegnete uns zunächst eine Gruppe Yao in ihrer
exotischen schwarzen Tracht. Plötzlich stand der erste Soldat
vor uns und gleichzeitig entdeckten wir in einer langen Hütte
eine ganze Gruppe von Kriegern des »Pathet Lao«. Sie kamen
uns forschend, aber freundlich entgegen und forderten uns
auf, an einem Bambustisch im Freien Platz zu nehmen. Die
roten Laoten entsprachen ganz unserer Vorstellung. Sie trugen
Ballonmützen nach chinesischem Vorbild, die grünen Uniformen mit den viel zu weiten Hosen waren peinlich sauber. Die
Waffen, die wir zu sehen bekamen, waren AK 47-Schnellfeuergewehre aus China. Zwei Soldaten trugen ein Transistor-Radio
am Riemen um die Schulter.
Während John Everingham dolmetschte, wurde ein Offizier
gerufen. Es mußte sich um den Kompaniechef handeln. Rangabzeichen gab es nicht. Dafür trug er statt des Gewehrs eine
Pistole und eine Kartentasche am Koppel. Der Offizier setzte
sich, prüfte unsere Papiere und erklärte uns mit ausgesuchter
Höflichkeit, daß er uns die Erlaubnis zum Filmen leider verweigern müsse, solange keine schriftliche Weisung seiner vorgesetzten Dienststellen vorliege. Im übrigen werde man uns
nicht festhalten, wir dürften unsere Fahrt als freie Männer
fortsetzen und er wünsche uns eine gute Reise. »Wir sind
keine Wilden, wie immer von uns behauptet wird«, übersetzte
der Australier. Tatsächlich hatten wir während der kurzen
Fühlungnahme feststellen können, daß es sich bei den
»Pathet Lao« durchaus nicht um unkontrollierte Haufen von
Heckenschützen handelte, sondern um eine disziplinierte und
gut ausgerüstete Truppe. Über ihre Transistoren waren die
Soldaten auf das genaueste über den letzten Stand der Verhandlungen zwischen der prowestlichen Regierung von Vientiane und der »Patriotischen Front – Neo Lao Haksat« informiert, in der die Kommunisten das Sagen hatten. Wir hatten
sogar kurz über das mögliche Datum der angestrebten Koalitionsvereinbarung zwischen beiden laotischen Richtungen dis-
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201
kutiert, die mit der Stationierung von Teilgarnisonen der
»Pathet Lao« in Vientiane und Luang Prabang parallel gehen
sollte.
Der Offizier, der in mancher Hinsicht einem jungen idealistischen Geistlichen glich, wies unsere Mitbringsel – Zigarettenstangen und Ovomaltinebüchsen – von sich. Seine Soldaten nähmen keine Geschenke an. So überreichten wir unsere
Gaben dem Dorfältesten und den Kindern von Pak Howe. Die
rassische Zusammensetzung der kleinen roten Einheit war
bemerkenswert. Der Offizier entsprach dem rein laotischen
Typus der Mekong-Ebene, aber seine dunkelhäutigen Soldaten waren von fast zwerghaftem Wuchs. Sie gehörten fast ausnahmslos den Gebirgsstämmen der Kha an, die man neuerdings aus Gründen der nationalen Integration als »Lao
Theung«, als »Gebirgs-Lao« bezeichnete.
In Vientiane waren die amerikanischen Geheimdienstler mit
der Räumung ihrer Unterkünfte und der Demontage ihrer
elektronischen Einrichtungen beschäftigt. Ministerpräsident
Prinz Souvanna Phouma empfing in seiner schmucken Villa
am Mekong weiterhin ausländische Journalisten und versuchte
sie davon zu überzeugen, daß das glückliche Naturell der
Laoten über die gegenwärtigen politischen Gegensätze am
Ende obsiegen würde. »Wenn man uns Laoten alleinläßt«,
meinte er, »finden wir immer eine Lösung.« Das Unglück war
jedoch – das wußte Souvanna Phouma natürlich, der sich
anschickte, seinen Halbbruder, den »Roten Prinzen« Souphanouvong als Vizepremier in Vientiane zu installieren –, daß
die Laoten nicht allein bleiben würden und daß die Emissäre
Hanois bereits ihre Schlüsselpositionen ausbauten.
Im Hotel »Constellation«, das als Nachrichtenbörse der
Journalisten galt, trennten wir uns von John Everingham.
Mehr als fünf Jahre später sollte ich über einen Agenturbericht wieder von ihm hören, ja, sein Photo erschien in mehreren fernöstlichen Zeitungen. John war nach der totalen
kommunistischen Machtergreifung aus Vientiane ausgewie-
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202
sen worden und mußte seine laotische Freundin, die er inzwischen wohl geheiratet hatte, zurücklassen. Da schwamm er
vom thailändischen Ufer aus bei Nacht über den Mekong und
entführte das Mädchen, das zudem nicht schwimmen konnte,
auf einem Luftkissen in die Freiheit.
Einer der letzten Piloten von Air America ließ sich für
gute Dollars überreden, uns in das geheime Hauptquartier des
CIA und des Meo-Widerstandes, nach Long Cheng, zu fliegen.
Während des Krieges war uns diese Genehmigung stets verweigert worden. Zweimal mußten wir über dem Nam NgumStausee, aus dem schwarze Baumstümpfe wie Marterpfähle
herausragten, umkehren, weil ein unbeschreiblicher Wolkenbruch die gefährlichen Dschungelriffe vor uns in eine warme,
milchige Brühe tauchte. Beim dritten Anlauf gelang die Landung in Long Cheng. Nur ein paar Nachzügler der Special
Forces bevölkerten noch die Rollbahn und die umliegenden
Felsbunker dieser früheren Schlüsselstellung des IndochinaKrieges. Ein laotischer Major, der der Meo-Rasse angehörte,
fuhr uns im Jeep auf eine nahe Höhe, um uns zwei zerstörte
nordvietnamesische Panzer vom Typ T 34 zu zeigen. Die Meo
wußten, daß sie demnächst im Stich gelassen und allein gegen
das gewaltige Potential Hanois stehen würden, daß sie zum
Untergang und zum Gemetzel verurteilt waren. Ihr Befehlshaber, General Vang Pao, stand schon im Begriff, sich mitsamt
seiner Kriegskasse nach USA abzusetzen, wo er später in Montana eine Rinderfarm bewirtschaften sollte. Gewiß kämpften
auch auf seiten der kommunistischen »Pathet Lao« Angehörige
des Meo-Volkes, aber an eine Versöhnung zwischen den feindlichen Brüdern war kaum mehr zu denken. Der schlimmste
Leidensweg dieser eigensinnigen, verschlossenen und todesmutigen Außenseiter, die erst unter dem Druck der späten chinesischen Mandschu-Kaiser in Südostasien eingefallen waren,
stand erst bevor.
In der schlammigen Dorfstraße von Long Cheng, wo die chinesischen Händler sich beeilten, ihren Plunder zu packen, um
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203
rechtzeitig über den Mekong nach Siam zu kommen, streunten Gruppen von Thai-Söldnern. 17000 dieser mercenaries
aus dem Nachbarland hatte der CIA auf dem Höhepunkt der
Kämpfe gegen die vorrückenden Divisionen Hanois angeworben. Die meisten waren bereits in ihre Heimat zurückgekehrt
und hatten in Laos einen sehr schlechten Ruf hinterlassen.
Die Phantasie-Uniformen der letzten Thai-Söldner waren mit
viel Silberbeschlägen und aufgenähten Tigerköpfen verziert.
Sie trugen schwarze Cowboyhüte. Sie spielten einen ThaiWestern.
Die Mekong-Bar von Vientiane war dem revolutionären Puritanismus, der von Norden und Osten mit den vorrückenden
»Pathet Lao« bereits an die Tore der Hauptstadt pochte,
noch nicht zum Opfer gefallen. Die Gogo-Girls wippten im
roten Scheinwerferlicht. Am Rande der Tanzfläche leerten
beschäftigungslose Offiziere der Königlich Laotischen Armee
und chinesische Geschäftsleute ganze Batterien von Bierflaschen. Die Taxi-Girls bemühten sich, vor dem Anbruch der
neuen Ära noch ein paar Kip auf die Seite zu legen. In einem
Nebenraum drängte sich eine Gruppe von Asiaten und amerikanischen Voyeuren um eine nicht mehr ganz junge, nackte
Laotin, die mit einem ganzen Päckchen brennender Zigaretten
eine obszöne Darbietung gab. Unter den Zuschauern entdeckte
ich die staunenden blauen Augen des galoping Major, den
irgendein Zufall ebenfalls nach Vientiane verschlagen hatte.
Im Hotel »Lane Xang« hatte sich eine Gruppe von amerikanischen Frauen etabliert, die zwischen 25 und 40 Jahren
alt sein mochten. Sie wirkten recht bieder und trugen eine
geheimnisvolle Plakette mit den Buchstaben MIA auf dem
Busen. Wir rätselten lange an der Bedeutung herum, hatten
zunächst angenommen, es handele sich um einen Vornamen,
dann hatten wir auf eine medizinische Hilfseinheit getippt.
Schließlich fragten wir die Damen selbst. MIA stand für missed
in action. Die Amerikanerinnen waren die Frauen von USPiloten, die über den Dschungeln von Laos oder Nordvietnam
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abgeschossen worden waren und von denen jede Spur fehlte.
Nun waren sie nach Vientiane gekommen, um nach dem
Schicksal ihrer Männer zu forschen und im Bestätigungsfall
ihre Rentenansprüche geltend zu machen. Ein paar »MIA’s«
trösteten sich in ihrer Einsamkeit, indem sie mit den letzten
Fliegern von Air America ausgingen. Der eine oder andere
dieser Nachzügler war vielleicht des reichlichen Angebots an
gelber Haut überdrüssig und wollte mal wieder ein Stück
Heimat unter sich spüren.
Pol Pot ante portas
Kambodscha, im August 1973
Im Morgengrauen des 15. August schwebten die letzten B
52-Ma-schinen der amerikanischen Luftwaffe, von Kambodscha kommend, auf dem Stützpunkt Utapao in Süd-Thailand
ein. Präsident Nixon hatte unter dem Druck des Senats auch
für das Land der Khmer die Einstellung der Bombardierungen verfügt. Die amerikanischen Piloten, die in Utapao von
der Presse bestürmt wurden, sagten lediglich, sie hätten einen
»guten Job« verrichtet. Tatsächlich lagen fast sämtliche Pagoden im Aufstandsgebiet der »Roten Khmer« in Schutt und
Asche. Die Dörfer waren verwüstet. Die militärische Kampfkraft der kommunistischen Partisanen war durch die Bombardierung jedoch kaum angeschlagen worden.
In Phnom Penh hatte man mit einer sofortigen Großoffensive
der »Khmers Rouges« gerechnet. Statt dessen lockerte diese
geheimnisvolle Aufstandsbewegung ihren Würgegriff rings um
die Hauptstadt. Die Straße 5, die zur reichen Reisprovinz Battambang führt, war plötzlich wieder befahrbar. Die Flußkonvois
aus Saigon trafen ziemlich unbehelligt über den Mekong in
Phnom Penh ein. Auf der Straße Nr. 1, die bereits fünf Kilometer vor dem Stadttor fest in der Hand der Revolutionsbewegung war, fuhren wir wieder zu dem strategischen Mekong-
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Knick von Neak Luong, den die US-Air Force bei einem ihrer
letzten Einsätze irrtümlich und ausgerechnet an einem Markttag eingeäschert hatte. In den Botschaften und Geheimdiensten wurde viel gerätselt über diese plötzliche Passivität der
»Roten Khmer«. In Wirklichkeit kam die Wiederherstellung
eines halbwegs normalen Transportwesens – sogar der Seehafen Kompong Som war wieder erreichbar – den Aufständischen
mindestens in gleichem Maße zugute wie den Regierungstruppen des Marschall Lon Nol. Die nordvietnamesischen Divisionen, die sich im Schutz des Waffenstillstandes in ihren
südvietnamesischen Einflußzonen zum letzten großen Sturm
rüsteten, brauchten Nachschub. Eine Entlastung des Ho Tschi
Minh-Pfades dank gesteigerter Lieferungen über Kambodscha
war ihnen höchst willkommen.
Ganz ohne Amerikaner ging es natürlich nicht. Die SöldnerPiloten des CIA und der Linie Air America flogen verstärkte
Transporteinsätze. Fast sämtliche Provinzhauptstädte waren
eingekreist und nur durch die Luft zu versorgen. In einem grell
bemalten Monstervogel, dessen Bug wie ein riesiger Schnabel
zur Aufnahme der Fracht auseinanderklaffte, flogen wir in aller
Frühe nach Kompong Cham. Das Städtchen ist etwa 120 Kilometer nordöstlich von Phnom Penh am Mekong gelegen. Hier
war der Druck des Feindes am stärksten. Neben Reissäcken
und Milchkonserven hatten wir auch Munition geladen. Vom
Flugplatz Kompong Cham, der durch ein dilettantisches Bunkersystem geschützt war, fuhren wir zum Zentrum. Die Stadt
war von der Bevölkerung weitgehend verlassen. Ein chinesischer Restaurateur servierte uns eine Nudelsuppe zum
Frühstück. Er machte sich keine Illusionen über den Ausgang
des Krieges und hatte seine Angehörigen bereits nach Thailand
verschickt. Am Marktplatz filmten wir zwei Propagandaplakate:
Das eine stellte einen rasenden Vietkong dar, der eine Pagode
niederbrannte und buddhistische Mönche ermordete; auf dem
zweiten intervenierte Buddha in Person, um die nordvietnamesischen und russischen Panzer, die – von fürchterlichen
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Dämonen bemannt – gegen seinen Lotos-Thron anrannten, mit
magischer Geste zu vernichten.
Nur am Fluß herrschte rege Tätigkeit. Pirogen und Motorboote kamen über den Mekong. Das Gegenufer, das bereits
von den »Roten Khmer« beherrscht wurde, war nur 700
Meter entfernt. Dort erstreckten sich die großen KautschukPlantagen der französischen Kolonialzeit, die teilweise noch
arbeiteten. Der Latex, das Rohgummi, wurde in glitschigen,
übelriechenden Riesenklumpen ausgeladen und mit Lastwagen zum Flugplatz gebracht. Dort übernahmen die US-Piloten den Weitertransport zum Hafen Kompong Som und trugen
somit indirekt zur Finanzierung der Kriegskasse der kambodschanischen Revolutionsarmee bei. Die Kulis ächzten unter
den schweren Ballen, die sie vom Fluß auf das höhergelegene
Ufer wuchteten.
Bei dem Chinesen trafen wir einen düster blickenden, ausgemergelten Franzosen. Trotz seines schlechten Gesundheitszustandes war der Mann peinlich sauber gekleidet und trug
einen eleganten Seidenschal um den Hals. Sogar einen gewissen Galgenhumor hatte er bewahrt. Der Franzose gehörte
zu jenen Kautschuk-Spezialisten, die sich selbst durch die
Ankunft der roten Partisanen nicht aus ihren Plantagen hatten
vertreiben lassen. Da sie für die Rohgummi-Gewinnung unentbehrlich waren, hatten sie in der ersten Phase – als die Nordvietnamesen noch den Ton angaben – eine gewisse Duldung
genossen. Aber nach und nach war das Leben in den »befreiten
Gebieten« von Mimot, Krek und Snoul unerträglich geworden.
»Was hinter mir liegt, ist ein entsetzlicher Alptraum«, erzählte
der Franzose. »Bei Ausbruch des Kambodscha-Krieges gab
es höchstens tausend Rote Khmer. Die ganze Kriegführung
lag in den Händen der Nordvietnamesen und des Vietkong.
Die Vietnamesen sind mißtrauisch und bürokratisch, aber man
konnte mit ihnen auskommen. Vor allem war man sich bei
ihnen seines Lebens sicher. Aber nach und nach übernahmen
die roten Kambodschaner die Verwaltung und die reale Macht.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
207
Ihre Kommissare, die über Leben und Tod eines jeden völlig
willkürlich verfügten und deren Namen niemand kannte,
waren Ausgeburten des Schreckens. Man hat vom SteinzeitKommunismus der Roten Khmer gesprochen. Mir ist vor allem
die Herrschaft des totalen Terrors in Erinnerung geblieben,
und das Instrument dieser mörderischen Willkür, die vor niemandem – weder vor den Bonzen, noch den Intellektuellen, ja
nicht einmal vor den bewährten Lon Nol-Gegnern bürgerlicher
Herkunft – haltmachte, waren Kinder und Halbwüchsige. Ich
hatte ein persönlich schmerzliches Erlebnis. Nach den schweren Kämpfen und Verwüstungen im Sommer 1970 hatte ich
ein fünfjähriges Waisenkind, ein Mädchen, bei mir aufgenommen und hatte es zwei Jahre lang beherbergt und verköstigt.
Als ich anläßlich einer großen antiimperialistischen Kundgebung an den öffentlichen Pranger gestellt wurde – eine sehr
milde Maßnahme von seiten der Roten Khmer –, zogen die
revolutionären Kinder an mir vorbei, um mich zu beschimpfen und zu bespeien. Diejenige, die sich am schlimmsten dabei
gebärdete und nicht aufhörte, mir ins Gesicht zu spucken oder
am Bart zu zerren, war die kleine Waise, der ich so viel Gutes
getan hatte. Es ist ein unvorstellbares Inferno, das sich dort
vorbereitet. Selbst die vietnamesischen Kommunisten, die jede
Kontrolle über die Roten Khmer und deren anonyme Führung
verloren haben, sind offenbar entsetzt. Es ist auch schon zu
ersten Zusammenstößen zwischen den roten Brüdern von
gestern gekommen.«
Der Name Kompong Cham erinnert an das alte hinduistische Reich Champa, das im heutigen Annam beheimatet
war, zu kühnen Feldzügen gegen das damalige Imperium von
Angkor ausholte und später durch die vietnamesischen Eroberer aus dem Norden vernichtet und aufgesogen wurde. Vom
Volk der Cham sind nur noch wenige Spuren übriggeblieben.
In Kambodscha mochten die Cham 80000 Menschen zählen. Sie
waren weder durch ihre Sprache noch durch ihren rassischen
Typus zu erkennen, sondern lediglich durch den Umstand, daß
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sie aus einem kaum erklärbaren Reflex der Selbstbehauptung
irgendwann zum Islam übergetreten waren. Vor allem längs
der nordwestlichen Ausfallstraße Phnom Penhs hatten diese
kambodschanischen Moslems, immer noch Cham genannt,
ihre Dörfer und Gebetshäuser errichtet. Als ich den Imam
einer bescheidenen Blech-Moschee mit einem Zitat aus dem
Buch des Propheten begrüßte, kamen dem alten Mann die
Tränen. Er führte mich in seine Koranklasse von etwa fünfzig
Jugendlichen. Auf den hinteren Bänken saßen unter züchtigen
Kopftüchern auch ein paar Mädchen. Er ließ die heilige Schrift
aus Arabien verlesen und überreichte mir stolz eine Broschüre,
die der Cham-Minderheit gewidmet war. Die Moslems von
Kambodscha zeichneten sich durch militanten Antikommunismus aus. Sie hatten sogar eine autonome Militäreinheit aufgestellt, die von einem gewissen General Karim befehligt wurde.
Während die übrigen Offiziere der Lon Nol-Armee seit Abzug
der Amerikaner aus Vietnam in Thailand ausgebildet wurden,
kümmerte sich die Republik Indonesien – wohl aus islamischer
Solidarität – um das kleine Häuflein der Cham und holte deren
Offiziere zu Instruktionskursen nach Jakarta.
Phnom Penh lebte in einer Atmosphäre der Unwirklichkeit.
Ein Trupp nordvietnamesischer Sturmpioniere war vor ein
paar Wochen in das Stadtzentrum eingedrungen und hatte
die elegante hochgespannte Brücke über den Ton Le Sap
gesprengt. Gleichzeitig bemächtigten sie sich im großen Sportstadion der dort abgestellten Panzerfahrzeuge und fuhren wild
schießend durch die nächtlichen Straßen. Am nächsten Morgen
hatten die Lon Nol-Truppen, die des Überfalls schließlich Herr
geworden waren, die Leichen dieses Himmelfahrtskommandos wie auf einem Fleischmarkt zur Schau gestellt. Im März
hatte ein rebellischer Pilot der kambodschanischen Luftwaffe
versucht, seine Bombenlast auf die schwerbewachte Residenz
Marschall Lon Nols abzuwerfen und das Gelände um 200 Meter
verfehlt. Seitdem kapselte sich Lon Nol noch mehr von der
Außenwelt ab. Zahlreiche Mitglieder der königlichen Familie
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wurden eingekerkert. Immer mehr Einfluß und Macht delegierte der Staatschef an seinen Lieblingsbruder, den petit frère
Lon Non, dessen Korruptheit selbst für kambodschanische
Verhältnisse zum Himmel schrie und den der amerikanische
Botschafter ohne Erfolg kaltzustellen suchte. Sogar die Hofastrologen des Marschalls wurden ins Gefängnis geworfen, als
ihre Horoskope nicht mehr den Erwartungen entsprachen.
Père Ubu regierte in Phnom Penh.
Vor dem Königspalast begegneten wir einem buddhistischen
Trauerzug. Auf Lafetten wurden die Särge von drei hohen
kambodschanischen Offizieren zur Einäscherung geleitet. Sie
waren auf der mehrfach von uns benutzten Straße nach Neak
Luong in einen tödlichen Hinterhalt geraten. Die Militärkapelle
spielte im Tango-Rhythmus einen Trauermarsch, aus dem von
Zeit zu Zeit französische Clairon-Töne schmetterten. Die goldgelben Bonzen gaben der Trauerfeier das eigentliche Gepräge.
Die Hinterbliebenen waren gefaßt. Der Tod erschien hier als
etwas Natürliches, als der Übergang zu einer neuen Inkarnation. Bald stieg am Ufer des Ton Le Sap, wo die Wracks der versenkten Schiffe ihre rostenden Schnauzen in den bleigrauen
Monsunhimmel hoben, der Qualm der Totenverbrennung auf.
Der Weihrauch überdeckte den süßlichen Leichengeruch. Ein
alter Mann in schwarzem Anzug nahm mich beiseite: »Wir
müssen in einem früheren Leben viel gesündigt haben, daß wir
heute so hart gestraft werden«, sagte er.
Die Gastlichkeit des Geschäftsträgers der Bundesrepublik
Deutschland in Phnom Penh, Marschall von Bieberstein, war
bei Diplomaten und Journalisten hochgeschätzt. Er hatte
vor der Schließung des Blockaderings der »Roten Khmer«
genügend exzellente Weine aus seiner badischen Heimat
kommen lassen, um die Belagerung zu überstehen. Beim
abendlichen Gespräch auf der Terrasse der deutschen Residenz waren die Meinungen über die Zukunft Kambodschas
oft geteilt. Vor allem an der Figur des Prinzen Sihanuk schieden sich die Geister. Ich hatte Monseigneur, wie die Franzosen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
210
den gestürzten Staatschef von Kambodscha immer noch nannten, im Frühherbst 1972 in Peking aufgesucht. Seine rastlose
Behendigkeit war ihm erhalten geblieben. Sihanuk wohnte im
alten Diplomatenviertel von Peking. Der Toreingang und auch
der Vorraum zu seinem Besprechungszimmer waren von Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee in grüner Uniform mit rotem Stern bewacht. Der Prinz genoß die persönliche
Sympathie und Protektion Tschou En-lais, aber die Emissäre
der »Roten Khmer« stützten sich auf die Komplizenschaft jener
linksradikalen Kreise, die später als »Viererbande« berühmt
wurden. Der politischen Aktivität Sihanuks wurden durch
die ständige Präsenz eines hochgestellten Aufpassers aus
den Reihen der kambodschanischen Kommunisten namens
Ieng Sary enge Grenzen gesetzt. Ieng Sary sollte später
Außenminister des blutrünstigen Pol Pot-Regimes von Phnom
Penh werden.
Während der Audienz ließ sich Monseigneur von all den
Miseren nichts anmerken. Sein oberstes Ziel jenseits aller Ideologie sei die Unabhängigkeit und das Überleben seines Landes,
erklärte er. Ob im Kambodscha von morgen noch ein Platz für
Sihanuk sei, darüber sollten seine Landsleute befinden. »Eine
Welt ist in Brüche gegangen, die meine Welt war«, beendete
der Prinz aus dem Geschlecht der Herrscher von Angkor das
Interview und stimmte sein schrilles Lachen an, während die
Augen starr und traurig auf den Besucher gerichtet waren.
Jetzt wurde auf der deutschen Terrasse von Phnom Penh
im Schein des blutroten Sonnenuntergangs und zum Genuß
badischen Weißweins darüber gestritten, ob Norodom Sihanuk
den sogenannten befreiten Gebieten Kambodschas tatsächlich
einen Besuch abgestattet habe. Ich hatte den Film über diese
Reise, der von chinesischen Kameraleuten gedreht worden war,
vor meiner Abreise in Paris gesehen. Über die Authentizität
des Dokuments bestand kein Zweifel. Sihanuk wie auch seine
Frau, Prinzessin Monique, hatten die schwarze Pyjama-Uniform der »Roten Khmer« angezogen und den »Karma«, das
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
211
schwarzweiß gesprenkelte landesübliche Tuch um den Hals
geschlagen, das den Kambodschanern als Sonnenschutz, als
Bauchbinde, als Handtuch und Schlafdecke dient. Der Staatschef, diesen Titel hatte er im Exil bewahrt, nahm die Huldigung einer Einheit schwarz gekleideter Partisanen entgegen,
die unter den Hevea-Bäumen einer Gummiplantage Schutz
vor der amerikanischen Luftaufklärung gefunden hatten. Er
besuchte buddhistische Pagoden, faltete die Hände und verbeugte sich devot vor den kahlgeschorenen Bonzen. Er wurde
in der Tempelstadt von Angkor Wat gefilmt, vor einem Hintergrund kambodschanischer Größe, der ihm eine zusätzliche
Legitimität verlieh. Die dramatischste Szene war die Begegnung Sihanuks mit seinem alten Todfeind Kieu Samphan, der
zu jenem Zeitpunkt als zentrale Führungsfigur in der geheimnisvollen Organisation der »Roten Khmer« angesehen wurde.
Zu Unrecht übrigens, wie sich später herausstellte. Kieu Samphan war vom Lon Nol-Regime offiziell für tot erklärt worden.
Er hatte einst mit einer These über die totale Neuverteilung
des Bodenbesitzes in Kambodscha an der Sorbonne promoviert und war vorübergehend Minister unter Sihanuk gewesen. Aber dann traf ihn der Bannstrahl des Autokraten, und
es hieß, er sei von der königlichen Gendarmerie umgebracht
worden. Nun begegneten sich der Prinz und der Kommissar
im Dschungel von Ratanakiri, und sie umarmten sich wie alte
Freunde. Die Bilder des Films waren authentisch, aber alle
Gefühle, Verbrüderungen, Toleranz-Szenen, die dort zur Schau
gestellt wurden, wirkten künstlich und verlogen. Jedermann
wußte zu jener Zeit bereits, daß die Bonzen unter der roten
Revolution nichts zu lachen hatten.
Bei den Westdeutschen servierte man badischen Wein. Bei
den Ostdeutschen gab es Radeberger Bier. Die DDR hatte
einen sehr aktiven Kultur- und Pressereferenten nach Phnom
Penh geschickt. Im Brieffach des Hotels »Monorom« fand ich
seine Visitenkarte mit der Einladung zu einem gemeinsamen
Abendessen. Herr K. war ein agiler Vierzigjähriger mit kurz-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
212
geschnittenem, blondem Haar. Er sprach mit Berliner Akzent.
Im Gegensatz zu so vielen Emissären aus Ostberlin gab er sich
gelockert und fast burschikos. Er mußte wohl einen speziellen
Vertrauensposten bekleiden, um so ungeniert meine Gesellschaft zu suchen. In der Innenstadt war es erdrückend schwül,
und das vorzügliche chinesische Restaurant, in das mich K.
eingeladen hatte, war nicht klimatisiert. Die Moskitos surrten
in dicken Schwärmen um die Neonröhren, während die Söhne
des Himmels an den Nebentischen, reiche Kaufleute von
Phnom Penh, die am Kriege ein Vermögen verdient hatten,
sich mit steigendem Alkoholgenuß lärmend zuprosteten und
immer lauter rülpsten.
Nach einer Stippvisite in der Villa des Pressereferenten,
wo uns eine brave, blonde Frau das unvermeidliche Radeberger Bier mit sächsischer Freundlichkeit ausgeschenkt hatte,
forderte mich K. zu einer Tournee durch die Nachtlokale
von Phnom Penh auf, ein ziemlich ungewöhnliches Angebot
für einen Ostblock-Diplomaten. Wir hockten uns an eine Bar,
umgeben von grell bemalten Prostituierten, von betrunkenen
kambodschanischen Offizieren und amerikanischen SöldnerPiloten. Im Etablissement nebenan war es am Nachmittag zu
einer Schießerei gekommen, als ein kambodschanischer Major
vergebens auf die Auszahlung einer größeren Gewinnbeteiligung gepocht hatte. Von den Schüssen des aufgebrachten
Offiziers war ein skandinavischer Experte tödlich getroffen
worden. Der Barbesitzer hatte geistesgegenwärtig hinter der
Theke Deckung gesucht. Nach dem dritten Whisky kam K.
zur Sache. Er entwarf ein sehr nuanciertes Bild der Lage in
Indochina. Die Osteroffensive der Nordvietnamesen im Jahre
1972 sei keineswegs mit Ermutigung oder gar auf Wunsch der
Sowjetunion erfolgt. Hanoi betreibe seine eigene Politik der
Wiedervereinigung auf Biegen und Brechen. Im übrigen sei
General Giap, der nordvietnamesische Oberbefehlshaber, wohl
etwas übergeschnappt, seit er glaube, den Partisanenkampf
zugunsten des Panzerkrieges vernachlässigen zu können. Für
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
213
eine moderne konventionelle Kriegführung nach russischem
Modell fehle es den Nordvietnamesen an der elementaren
Logistik. Auf meine Frage, warum die Sowjetunion und deren
Verbündete ihre diplomatischen Vertretungen in Phnom Penh
auch unter dem Regime Lon Nol beibehalten hätten, wo ihre
Sympathie doch den Roten Khmer gehören sollte, kam eine
sibyllinische Antwort. Es gehe für die Ostblockstaaten darum,
in Phnom Penh nicht nur einen Beobachtungsposten, sondern auch eine Stellung zu halten. Irgendwie müsse es zum
Kompromiß kommen, denn die Bewegung, die man als »Rote
Khmer« bezeichne, gleite immer mehr unter den Einfluß von
chaotischen und unberechenbaren Elementen ab. Sogar im
Interesse der vietnamesischen Freunde müßten die Staaten
des Warschauer Paktes in Phnom Penh präsent bleiben, denn
Hanoi blicke mit immer größerer Sorge auf die ideologischen
Abweichungen im Lager der kambodschanischen Revolution.
Wenn die Chinesen sich selbst ins Abseits setzen wollten, dann
sei das ihre Sache.
Welche Botschaft mir Herr K. tatsächlich übermitteln wollte,
ist mir in dieser Nacht nicht klargeworden. Der Fahrstuhl
im Hotel »Monorom« war wieder einmal blockiert, und so
stieg ich mit brummendem Schädel die vier Treppen zu
meinem Zimmer hoch. Vom Flugplatz Pochentong klang der
topfige Lärm einschlagender Granaten. Hoffentlich würde das
Flugzeug der Air Vietnam am nächsten Mittag einigermaßen
pünktlich nach Saigon starten.
Gefangener des Vietkong
Südvietnam, im August 1973
Wir trauten unseren Augen nicht. Wie das Tor zu einer Geisterwelt ragte ein riesiges Portal in der verwüsteten Landschaft.
Die rote vietnamesische Inschrift auf dem oberen Querbalken
ließen wir uns von unseren Fahrern übersetzen. Es war darin
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
214
von Volksbefreiung, von Sozialismus und Wiedervereinigung
die Rede. Über dem Seitenpfosten wehte das Fanal der Revolution, die blaurote Fahne des Vietkong mit dem gelben Stern im
Mittelfeld. Eine Friedenstaube aus Blech klapperte im Wind.
Die Straße 13 war unter dem Torbogen durch einen Lehmwall
von etwa 50 cm Höhe gesperrt. Viel später erfuhren wir, daß
darin Antitank-Minen verbuddelt waren.
Bis dahin war es eine ereignisarme Fahrt gewesen. Ich hatte
erkunden wollen, wo nördlich von Saigon auf der im Vorjahr
heiß umkämpften Straße 13, auch Road to Peace genannt, die
Waffenstillstandslinie oder – besser gesagt – die neue Front
verlief. Niemand hatte in Saigon genaue Angaben gemacht.
Den südvietnamesischen Divisionsgefechtsstand von Lai Khe,
40 Kilometer nördlich der Hauptstadt, wo normalerweise alle
Unbefugten angehalten und zurückgeschickt wurden, hatten
wir in einer großen Schleife passiert. Wir wunderten uns über
eine Gruppe von vietnamesischen Zivilisten, die mit vollgepackten Honda-Motorrollern an einer Straßensperre warteten
und von Soldaten der Saigoner Regierung kontrolliert wurden.
Uns winkten sie durch, angeblich – wie uns nachträglich
berichtet wurde – weil man uns für Mitglieder der Internationalen Kontrollkommission gehalten hatte. Ein paar letzte
südvietnamesische Sandsackbunker, über denen die gelbe
Fahne mit den roten Streifen wehte, ein Wachtturm, und
dann waren wir allein in einer Landschaft des Todes. Zu
beiden Seiten des beschädigten Asphaltbandes häuften sich
die Trümmer des Krieges, verrostete Panzer, zerschmetterte
Lastwagen, zerbombte Stellungen und Batterien. Das Gras
wucherte bereits hoch über dem Unrat der Vernichtung. Der
Monsun-Himmel hing niedrig und bleischwer. Die Stimmung
in dieser feindseligen Einsamkeit war beklemmend. Jean-Louis
Arnaud, der Saigoner Korrespondent der französischen Nachrichtenagentur AFP, den ich am Vorabend bei einem Pressecocktail zu dieser Informationsfahrt überredet hatte, legte mir
die Hand auf die Schulter. »Du weißt, daß ich um 16.00 Uhr
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
215
eine Verabredung mit Botschafter Mérillon in Saigon habe«,
mahnte er. Ich erwiderte, daß auch wir bis spätestens 17.00 Uhr
Filmmaterial verschicken müßten. Wir waren ja höchstens 50
bis 60 Kilometer von Saigon entfernt, und es war noch nicht
Mittag.
Da hatten wir unvermittelt dieses Portal erreicht, das eindeutig die Grenze des Vietkong-Territoriums bezeichnete. Eine wirkliche Demarkationslinie zwischen den Bürgerkriegsparteien
gab es nicht, und trotz des Pariser Waffenstillstandsabkommens waren die Schießereien nie zur Ruhe gekommen. Die
Stellungen der Gegner waren eng ineinander verzahnt. Man
sprach vom sogenannten Leopardenfell, so gescheckt boten
sich die von der roten Partei beherrschten Gebiete dar. Man
hätte sie besser mit Tintenklecksen auf einem Löschblatt verglichen, deren Ränder immer mehr ausliefen. Vor dem Torbogen
ließ ich unsere beiden Limousinen wenden, um unverzüglich
die Rückfahrt antreten zu können. In Eile wollte ich vor diesen
Emblemen der vietnamesischen Revolution einen On-Kommentar, einen Lagebericht, sprechen. Während wir das Stativ
der Kamera aufrichteten, raschelte es ringsum in den hohen
Grasbüscheln, und mit vorgehaltenen Schnellfeuergewehren
kamen etwa zwanzig grünuniformierte Soldaten konzentrisch
und lautlos auf uns zu. Es bestand kein Zweifel: der grüne
runde Dschungelhut, die Waffen vom Modell AK 47, die flatternden Hosen, die Ho Tschi Minh-Sandalen wiesen die kleine
Truppe als Partisanen des Vietkong oder als nordvietnamesische Reguläre aus.
Die sehr jungen Männer, die uns umzingelten, hatten offene,
bäuerliche Gesichter. Ich ging auf den vordersten zu und
schüttelte ihm die Hand. Das entsprach einer alten Erfahrung
aus den Kongo- und Katanga-Wirren. Der meuternden schwarzen Soldateska, die stets den nervösen Finger am Abzug
hatte, flößte man damals durch diese uralte Geste der
Verständigung ein wenig Vertrauen ein. Im übrigen konnte ein
händeschüttelnder Bewaffneter nicht schießen. Beim Vietkong
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
216
schienen solche Befürchtungen überflüssig. Die Truppe war
diszipliniert. Die Partisanen wiesen uns ohne jede Aufregung
an, im Straßengraben Deckung zu suchen. Offenbar erwarteten sie Störfeuer der Südvietnamesen. Unsere schwerfälligen
Limousinen dirigierten sie um das Portal herum nach Norden.
In 200 Meter Entfernung wurden die Fahrzeuge mit Laub
getarnt. Dann führten sie uns in eine Holzbaracke, die als
offizieller Kontrollpunkt diente. Das Kameramaterial wurde
beschlagnahmt, aber auf heftigen Protest unseres Kameramanns wurde ihm eine Quittung mit dem Stempel der Befreiungsfront ausgestellt. Die Verständigung war schwierig, und
wir wußten nicht, wer der diensthabende Offizier war. Rangabzeichen gab es beim Vietkong nicht. Ich hatte meine Begleiter
angewiesen, mit unseren Wächtern lediglich französisch und
auf keinen Fall englisch zu sprechen. Der Dolmetscher Thanh,
ein Neffe unseres vietnamesischen Mitarbeiters Tran Van Tin,
der mit vielen Listen und mit Hilfe seines Onkels der Einberufung in die südvietnamesische Armee bisher entgangen
war, schien völlig eingeschüchtert. Er war blaß und brachte
kaum ein Wort heraus. Für unsere Pässe interessierten sich die
Partisanen nicht sonderlich, auch nicht für die französischen
Identitätspapiere Jean-Louis Arnauds. Sie hatten Thanh mitgeteilt, daß ihnen unsere Eigenschaft als Journalisten sehr
fragwürdig vorkomme, und niemand könne garantieren, daß
wir nicht CIA-Agenten seien. Wir setzten uns auf eine Bank
und warteten. Die Blicke der jungen kommunistischen Soldaten waren eher neugierig als feindlich. Die höheren Chargen
gaben sich durch mißtrauische Distanz zu erkennen.
Auf der Straße entstand plötzlich Bewegung. Die HondaKolonne, die wir am südvietnamesischen Kontrollposten Lai
Khe überholt hatten staute sich vor dem Vietkong-Portal. Hier
war mitten im Spannungsgebiet zwischen den Fronten eine Art
kleiner Grenzverkehr erhalten geblieben. Die Ortschaft Chon
Tanh war kurz vor der offiziellen Feuereinstellung von den
Nordvietnamesen umzingelt, aber nicht erobert worden. Die
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
217
Bürgerkriegsparteien hatten einen Modus Vivendi vereinbart
und den Einwohnern von Chon Tanh erlaubt, jeden Morgen in
südlicher Richtung nach Lai Khe zu fahren, um dort Lebensmittel einzukaufen. Am frühen Nachmittag kehrten sie wieder
zurück. Natürlich profitierte auch die kommunistische Seite
von diesem Arrangement, sonst hätte sie sich schwerlich
darauf eingelassen. Die 30 Kilometer weiter im Norden gelegene Festung An Loc, die immer noch von südvietnamesischen
Fallschirmjägern gehalten wurde, konnte von Saigon aus nur
durch Hubschrauber versorgt werden.
Gegen Abend tauchte ein junger Politischer Kommissar auf,
musterte uns bärbeißig und sprach kein Wort. Er war von sechs
Bewaffneten begleitet. Er gab uns zu verstehen, daß wir zu
einer Unterkunft im Wald abgeführt werden sollten. Die Wegstrecke dehnte sich über sieben Kilometer in nordwestlicher
Richtung. Unsere Bewacher trugen ihre AK 47 im Anschlag,
um jeden Fluchtversuch zu vereiteln. Der Kommissar hielt
eine Handgranate abzugsbereit. Das Gelände, durch das wir
marschierten, war von B 52-Bombardierungen der Amerikaner verwüstet worden. Die gewaltigen Trichter hatten sich
mit Wasser gefüllt und trugen am Rande bereits wieder eine
hellgrüne Grasnarbe. Im Westen verschwand die Abendsonne
mit tropischer Eile hinter einer bizarren schwarzen Wolkenwand. Wir gingen ohne Gepäck, denn das Kameragerät hatten
die Vietkong uns abgenommen, und wir hatten für unseren
kurzen Tagesausflug nicht einmal eine Zahnbürste oder AntiMalariapillen, geschweige denn ein Hemd zum Wechseln mitgenommen. Arnaud und die Team-Mitglieder trugen Stadtschuhe oder Sandalen. Ich hatte als einziger hohe PataugasStiefel angezogen, weil ich seit meinem ersten Indochina-Aufenthalt nur mit festem Schuhwerk ins Reisfeld ging.
Wir drangen in ein modriges Dickicht ein, als die Dämmerung
uns einholte. Plötzlich stießen wir auf ein paar Bambushütten
und Erdbunker. Der kleine Vietkong-Stützpunkt war durch
Stacheldraht und Bambusspitzen abgesichert. Ein ernster Offi-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
218
zier, der im Rang eines Hauptmanns stehen mochte, nahm
uns in Empfang. »Versuchen Sie nicht zu fliehen«, ließ er uns
übersetzen, »rings um das Lager haben wir Minen gelegt,
auf die Sie unweigerlich treten würden.« Die Soldaten, die
uns keine Stunde allein ließen, waren wachsam, aber korrekt.
Sie trugen grüne runde Dschungelhüte und grüne Uniformen.
Unsere Fahrer, die im Laufe des Abends von uns getrennt
wurden, flüsterten uns zu, daß diese jungen Krieger an ihrem
Akzent deutlich als Nordvietnamesen auszumachen seien. Wir
waren also nicht bei Partisanen des südvietnamesischen Vietkong, sondern bei einer regulären Einheit aus dem Norden.
Nachdem ich mehrere Male Durchfall vorgetäuscht hatte, um
eventuell noch eine Möglichkeit zur Flucht auszukundschaften,
ließ mich der Hauptmann in seine Hütte rufen. Die Nacht war
hereingebrochen. Die Soldaten sangen schwermütige Lieder.
Er mache sich Sorgen um meine Gesundheit, meinte der
Kommandeur. In Erwartung einer besseren Medizin rate er
mir, Tiger Balm auf meinen Bauch zu schmieren, und er gab
mir tatsächlich das kleine Salbendöschen, dem die Ostasiaten
eine fast magische Heilwirkung zuschreiben. »Sie täten besser
daran, meinen Begleitern etwas zu essen und uns eine Schlafstatt anzubieten«, erwiderte ich. Tatsächlich hockten wir alle
noch höchst unbequem auf einer Bretterstange, während die
Soldaten ihre grünen Plastik-Hängematten aufspannten.
Man brachte uns daraufhin Reis, heißes Wasser und ein
paar Halme undefinierbaren Gemüses. Die Nordvietnamesen
aßen die gleiche kärgliche Mahlzeit. Der Hauptmann wies uns
eine große Pritsche zu. Meine Gefährten hatten das unerwartete Mißgeschick mit erstaunlicher Gelassenheit hingenommen.
Kameramann Josef Kaufmann war in erster Linie um seine
Ausrüstung besorgt, fürchtete die Einwirkung der Feuchtigkeit auf die empfindlichen Geräte und versuchte unsere Bewacher radebrechend davon zu überzeugen, daß sie für dieses
wertvolle Gerät verantwortlich gemacht werden könnten.
Klaus Pattberg, ein ruhiger und humorvoller Kölner, überlegte
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
219
bereits, wie wir die bevorstehenden Tage oder Wochen der Haft
in guter physischer und psychischer Verfassung überdauern
könnten. Er entwarf ein Programm von Leibesübungen und
bastelte schon am nächsten Tag an einem primitiven »Mensch
ärger dich nicht«- und Halma-Spiel. Dieter Hofrath, der Toningenieur aus Rheinhessen, der die Vietnamesen wie ein Goliath
überragte, setzte der Ungewißheit unserer Situation ein angeborenes Phlegma entgegen. Halb im Scherz meinte er: »So
hatte es bei den Maltesern wohl auch angefangen.« Gemeint
war jene Gruppe von deutschen Helfern des Malteserordens,
die bei einem Sonntagsausflug in der Umgebung von Da Nang
vom Vietkong entführt worden war. Man hatte die unerfahrenen Jungen und Mädchen gezwungen, wochenlang durch den
Dschungel in Richtung Hanoi zu marschieren, und die meisten
waren den Strapazen erlegen. Hierin sah auch ich die größte
Gefahr. Ich war absolut sicher, daß wir von den Nordvietnamesen weder umgebracht noch mißhandelt würden. Dafür kannte
ich sie seit zu langer Zeit. Aber wenn sie uns – selbst bei
Gewährung privilegierter Verpflegungsrationen – über endlose
Dschungel- und Gebirgspisten in Richtung Norden abschleppen würden, dann wäre das Risiko der totalen Erschöpfung
und einer tödlichen Erkrankung riesengroß. Der Franzose
Jean-Louis genoß das Abenteuer mit der seiner Nation eigenen intellektuellen Neugier. Nur gelegentlich zwirbelte er sorgenvoll an dem gewaltigen Gardeschnurrbart, den er sich in
Erinnerung an seine Korrespondentenzeit in Delhi nach britischer Kolonialmanier hatte wachsen lassen.
Wir wurden durch das Gegacker der Hühner und die
Rufe der Posten geweckt. Über Nacht hatte unsere Bewachung wohl in Funkverbindung mit dem Hauptquartier der
Revolutionsstreitkräfte in Loc Ninh gestanden. Eine blutjunge
Krankenschwester mit Rotkreuz-Binde nahm sich unser an.
Jeder von uns mußte zum heißen Wasser, das uns in Ermangelung von Tee gereicht wurde, eine Chinin-Tablette schlucken.
Wie wir später erfuhren, waren die meisten Ausfälle unter den
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
220
Nordvietnamesen auf Malaria zurückzuführen. In der Reissuppe schwamm sogar ein winziges Stück Fleisch. Der Hauptmann sagte uns, daß unser Gewahrsam bei der Befreiungsfront mindestens ein paar Tage dauern würde. Da wir weder
Seife, Rasierzeug, Handtuch, Kopfbedeckung noch Proviant
besaßen, biete er sich gern an, das Nötige besorgen zu lassen.
Der tägliche Honda-Konvoi nach Lai Khe werde in etwa drei
Stunden starten. Er wolle unseren Dolmetscher Thanh an die
Straße 13 schicken, und wir sollten ihm aufschreiben, was
wir brauchten und Geld dazugeben. Am Nachmittag komme
Thanh dann mit dem Gegenkonvoi zurück.
Ich nahm eine Visitenkarte heraus, aber statt die benötigten
Gebrauchsartikel zu notieren, schrieb ich auf die Rückseite:
»We are prisoners of the Vietcong near Road 13. Please prevent immediately German Embassy in Saigon for liberation.
Help!« Als ich Jean-Louis den Text zuflüsterte, amüsierte
er sich vor allem über das Schlußwort. »Du hast zu viel
Beatles-Filme gesehen«, meinte er. Thanh schärfte ich ein,
sofort nach Saigon zu fahren und dort die deutsche und
französische Botschaft zu alarmieren. Ich warnte ihn vor der
südvietnamesischen Polizei. Auf keinen Fall solle er zum Vietkong zurückkommen. Die List klappte. Eine kleine Genugtuung war es schon, die berufsmäßigen Verschwörer des vietnamesischen Untergrunds zu übertölpeln.
Gegen Mittag wurden wir in eine neue Unterkunft verlegt.
Wir kampierten jetzt in einem umfangreichen Waldlager, wo
ein Bataillon Nordvietnamesen vorgeschobene Etappen- und
Erholungspositionen bezogen hatte. Sie wechselten sich dort
wöchentlich ab. Die eigentliche Frontlinie war höchstens
fünf Kilometer entfernt, und bei Nacht hörten wir Artilleriefeuer. Die Vietkong waren Meister der Tarnung. Aus der
Luft war unser Camp mit Sicherheit nicht zu erkennen. Die
Laubhütten leiteten zu unterirdischen Höhlen über, wo wir im
Ernstfall Schutz vor Granateinschlägen suchen sollten. Unsere
Hängematten aus grünem Nylon und die Moskitonetze kno-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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teten wir in überdachten Splittergraben fest. Die Kost bei
der Revolutionsarmee sei spärlich, hatte uns der Hauptmann
übersetzen lassen. Aber es solle uns nach Möglichkeit das
Beste geboten werden. Das Wasser, das man uns reiche, sei
abgekocht und keimfrei. »Wir werden uns mit wenig zufriedengeben«, antwortete ich, wir essen gern Reis, und wenn
wir dazu wie die vietnamesischen Bauern etwas Nuoc Mam,
die landesübliche Soße aus gefaultem Fisch bekämen, wären
wir hoch zufrieden. Der Hauptmann wurde verlegen: »Reis
haben wir ja, aber Nuoc Mam ist für uns ein unerschwinglicher
Luxus. Zum Würzen des Reis begnügen wir uns mit salzigem
Wasser.« Wir durften den Umkreis der drei Hütten, die uns
zu je zwei Personen zugewiesen waren, nicht verlassen. Der
Posten ließ uns nicht aus den Augen. Aber einen Transistor
hatte man uns zur Verfügung gestellt, und ein junger Soldat
aus Tonking erzählte einem unserer Fahrer, daß er und seine
Kameraden regelmäßig BBC hörten. »Die BBC lügt nicht«,
hieß es beim Vietkong. Unsere Stimmung war nicht auf dem
Höhepunkt. Die Erregung der ersten Stunde machte einer
gewissen Depression Platz. Am Nachmittag näherte sich ein
streng blickender hagerer Offizier. Er teilte uns vorwurfsvoll
mit, daß der Dolmetscher Thanh, statt unsere Provisionen zu
kaufen und zurückzukommen, wohl zu den »Marionetten« von
Saigon geeilt sei, um dort Bericht zu erstatten. Das spreche nicht
zu unseren Gunsten. Wir beteuerten unsere Unschuld, aber die
beiden vietnamesischen Chauffeure, die sehr viel ängstlicher
waren als wir, wurden von nun an streng abgesondert, und
wir verfügten über keinerlei Verständigungsmöglichkeit mehr.
Gegen Abend fand Josef Kaufmann die Wellenlänge der BBC,
und plötzlich hörten wir sein Jubelgeheul. Der Nachrichtensprecher hatte mitgeteilt, daß ein deutsches Fernsehteam und
ein französischer AFP-Korrespondent vom Vietkong gefangengenommen worden seien. Der Beauftragte der Befreiungsfront habe erklärt, die Festgenommenen befänden sich bei
guter Gesundheit. Damit waren wir die schlimmste Sorge los,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
222
unser Verschwinden sei in Saigon gar nicht bemerkt worden.
Wir segneten Thanh und wußten zu dem Zeitpunkt nicht,
daß der arme Kerl, in Lai Khe von der südvietnamesischen
Militärpolizei geschnappt, in einer feuchten Zelle inhaftiert saß
und vor Angst fast umkam.
Nachmittags hörten wir Ballaufschläge und die Stimmen
von Volleyballspielern. In der Nacht sangen die Nordvietnamesen Revolutionslieder. Eine Weise prägte sich uns besonders ein, weil der Refrain sich endlos wiederholte und mühelos
verständlich war: »Vietnam, Ho Tschi Minh! Vietnam, Ho Tschi
Minh! Vietnam, Ho Tschi Minh!« Um uns kümmerte man sich
kaum. Man brachte uns Essen und Chinin und wartete offenbar
Weisungen der Befehlsstelle in Loc Ninh ab. Unsere Beteuerungen, wir seien harmlose Journalisten und hegten keinen
anderen Wunsch, als in unser Hotel in Saigon zurückzukehren,
stießen auf Schweigen und verschlossene Mienen. Der dritte
Tag begann mit bösen Ahnungen.
Am dritten Morgen führten uns zwei Soldaten zu einem riesigen B 52-Trichter, der sich mit klarem Regenwasser gefüllt
hatte. Wir streiften unsere verschwitzte Kleidung ab und badeten, während die Wachen ihre AK 47 schußbereit hielten.
Während der schwülen Mittagsstunde der Siesta kam die große
Wende. Im Urwald knatterte ein Motor, ein völlig ungewohntes Geräusch. Vor unserer Hütte hielt ein schlammverkrusteter Honda. Der Fahrer mochte bereits fünfzig Jahre alt sein
und wirkte trotz seiner grünen Uniform wie ein Zivilist. Er ging
unverzüglich auf uns zu, schüttelte uns die Hand und hieß uns
im Namen der »Nationalen Befreiungsfront von Südvietnam«
in den »befreiten Gebieten« willkommen. Er sprach ein fast elegantes Französisch mit stark vietnamesischem Akzent. »Entschuldigen Sie meine Verspätung«, sagte Kommissar Huyn
Ba Tang und stellte sich vor. »Die Pisten zwischen Loc
Ninh und diesem Lager sind in der Regenzeit kaum befahrbar. Aber ich bringe gute Nachricht. Sie sind von unseren
Verbindungsstäben in Saigon eindeutig als Journalisten iden-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
223
tifiziert worden. Sie sind nicht länger mehr unsere Gefangenen, sondern dürfen sich als unsere Gäste betrachten. Wenn
Sie nach Saigon zurückwollen, werden wir Sie möglichst bald
auf den Weg schicken. Falls Sie jedoch den Wunsch haben, in
der befreiten Zone zu filmen und über uns zu berichten, steht
Ihnen das frei.« Er wies auf eine Kolonne von Soldaten, die
aus dem Busch kam und unsere gesamte Kameraausrüstung –
fein säuberlich in Nylon verpackt – bei uns ablieferte. Sogar die
Batterien waren noch aufgeladen und brauchbar. Die Wendung
unseres Schicksals grenzte ans Wunderbare. Die mißtrauischen
Bewacher verwandelten sich in lächelnde Betreuer, die uns
in leeren Granathülsen wäßrigen Tee servierten. »Sie werden
auf manches verzichten müssen«, meinte Huyn Ba Tang mit
einem scheuen Lächeln, »aber wir werden unser Bestes tun,
damit Sie sich bei uns wohlfühlen.«
Wir hatten ihn gleich liebgewonnen, diesen stillen kleinen
Mann, der uns später schilderte, wie er seit mehr als zwanzig
Jahren im Untergrund, erst gegen die Franzosen, dann gegen
den Diktator Diem, schließlich gegen die Amerikaner und
Präsident Thieu, gekämpft hatte. Er war vom Tod immer wieder
gestreift worden, war zweimal in Flächenbombardements der
B 52 geraten und hatte mit der Zähigkeit einer Katze überlebt.
Kommissar Huyn Ba Tang war ein Außenseiter und Sonderling unter seinen Revolutionskameraden. Er stammte aus
einer kleinbürgerlichen Familie in Saigon. Sein Vater hatte als
Beamter früher in der französischen Administration gedient.
Zu hohen Ehren und Rängen hatte Huyn Ba Tang es wohl bei
den Partisanen nicht gebracht. Wir merkten bald, daß in dieser
Armee, die aus dem Dschungel kam, die harten »Profis« aus
dem Norden, die Apparatschiks der Partei und die Techniker
des Krieges nunmehr das Sagen hatten. Daran gemessen,
war Huyn Ba Tang ein frommer Idealist, ein einfältiger
Träumer, kurzum ein viel zu guter Mensch. Dieter Hofrath
fand den Spitznamen, den dieser sonderbare Kommissar bis
zum Ende bei uns behalten sollte: »Pater Albert«. Etwas Kle-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
224
rikales, Mönchisches ging von ihm aus, und ich mußte an den
elsäßischen Bischof Seitz in Kontum denken, der seinen Vietkong-Gegenspieler als einen »Heiligen« bezeichnet hatte.
Von nun an durften wir mit Kamera und Tonbandgerät
durch das Lager streifen. Die Soldaten, kräftige Bauernburschen zwischen 18 und 28 Jahren, lächelten uns freundlich
zu. Sie zeigten uns ihre Kochstelle, deren Rauchabzug durch
einen hundert Meter langen Tunnel geleitet wurde, um die
feindliche Luftaufklärung zu täuschen. Das Feldlazarett verschwand unter Laub und grünen Netzen. Es war so angelegt,
daß es binnen zwei Stunden abgebrochen werden konnte. Die
Beleuchtung über dem Operationstisch wurde durch ein Fahrrad betrieben. Die Muskelkraft mußte das Notaggregat ersetzen. In mancher Hinsicht glich dieses Dschungellager einem
Pfadfinder-Camp. Ununterbrochen war für Beschäftigung der
Soldaten gesorgt. Sie führten immer noch eine kärgliche Existenz in ihren Laubhütten und den darunter eingegrabenen
Schutzstollen, aber gemessen an der Hölle, durch die sie
gegangen waren, an den Fuchsbauten und Rattenlöchern,
in denen sie vor Napalm und Bomben jahrelang Zuflucht
gesucht hatten, lebten sie jetzt unter fast paradiesischen Bedingungen. Was machte es da schon aus, wenn bei Nacht die
Artillerieeinschläge einmal näherkamen.
Jean-Louis fand ein sehr herzliches Verhältnis zu den Partisanen. Irgendeine Magie war doch noch wirksam zwischen
diesem sehr typischen Repräsentanten der alten Kolonialmacht und den Bauernsöhnen aus Tonking. Denn aus dem
Norden stammten sie fast alle, diese Krieger der Revolution,
und sie machten gar kein Geheimnis daraus. Die meisten kamen
aus dem übervölkerten Delta des Roten Flusses, und wenn
ich ihnen mitteilte, daß ich aus dem Ersten Indochina-Krieg
Hanoi, Haiphong, Nam Dinh und Tanh Hoa aus persönlicher
Anschauung kannte, dann leuchteten ihre Augen. Dieses war
die Armee des General Vo Nguyen Giap. Kaum mehr als zwei
Autostunden von Saigon entfernt, richteten sie ihre Uhren
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
225
nach der Ortszeit Hanois, die um 60 Minuten differierte. Die
einzigen Porträts, die sie entfalteten, waren die Ho Tschi Minhs.
Am Fahnenmast flatterte zwar offiziell die blaurote Fahne des
Vietkong, aber ihr eigentliches Emblem war die blutrote Flagge
Ho Tschi Minhs mit dem gelben Stern der asiatischen Volkserhebung. Vom Vorsitzenden der »Nationalen Befreiungsfront
für Südvietnam«, Nguyen Huu Tho, jenem cochinchinesischen
Anwalt französischer Prägung, der am 17. Breitengrad in dem
Behelfsquartier von Cam Lo die Diplomaten und Delegationen
des Ostblocks empfing, war hier unten nicht die Rede. Die Fiktion von Nord- und Südvietnam hatten die Militärs aus Hanoi
längst beiseite geschoben. Die Wiedervereinigung Vietnams
war knappe 70 Kilometer von Saigon entfernt bereits vorweggenommen.
Die Dschungelkrieger waren stets auf der Hut. Sie wurden
damals schon von der internationalen Presse als »Bo Doi«
bezeichnet. Bei Tag und bei Nacht schickten sie selbst aus
dieser Etappenstellung Patrouillen aus. Die waren dann mit
Laubwerk so perfekt und possierlich getarnt, daß Jean-Louis
sie mit dem Papageno aus der »Zauberflöte« verglich. Zur
Entspannung spielten sie Volleyball, oder sie verfaßten unter
Leitung ihrer Politoffiziere Aufsätze über den revolutionären
Krieg. Sie mußten auch kriegerische Erlebnisse, natürlich
in höchst patriotischem Stil, niederschreiben. Unter einer
Bambushütte gab es Zeichenunterricht. Die Bo Doi griffelten
in betrüblicher Einförmigkeit und im plattesten Stil des sozialistischen Realismus die Züge eines heldischen Kämpfers gegen
den Imperialismus auf das Papier.
Wir wurden zu den ideologischen Schulungskursen eingeladen, die mindestens zwei Stunden pro Tag in Anspruch
nahmen. Dabei wurde Selbstkritik geübt, gute Vorsätze wurden
gefaßt. Die Zehn Gebote des Revolutionssoldaten wurden
durchgesprochen und meditiert. Die geistige Atmosphäre eines
Priesterseminars fand ich unversehens in diesem Urwald von
Cochinchina wieder. Die ideologische Inbrunst wirkte fast
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
226
religiös. Das war mehr als eine Lehrstunde in politischem
Katechismus, hier wurde die marxistisch-leninistische Doktrin mit der Methodik geistlicher Exerzitien vertieft. Irgendwie schien der Heilige Ignatius von Loyola Pate gestanden zu
haben, doch ich hütete mich, unseren frommen Pater Albert
auf diese Analogie hinzuweisen.
Wir machten uns mit den Zehn Geboten des Bo Doi vertraut.
An erster Stelle des Dekalogs stand die Forderung nach der
totalen Wiedervereinigung Vietnams. Ferner wurden Gehorsam
gegenüber den Vorgesetzten, Teilnahme am Kampf der Arbeiterklasse, Mitwirkung an Produktion und Propaganda vorgeschrieben. Militärische Geheimnisse durften selbst unter Folter
nicht preisgegeben werden. Der Revolutionssoldat mußte seine
Klasse lieben und seine Genossen wie sich selbst. Er hatte die
Pflicht, seine Waffen zu pflegen, dem Volk zu helfen und es niemals zu bestehlen. Kritik an den Fehlern der Kameraden und
vor allem Selbstkritik verstanden sich von selbst.
Wenn die Dämmerung hereinbrach, gingen wir zu den
Soldaten, stolperten in der Dunkelheit über die Salat- und
Gemüsebeete, die sie angelegt hatten, und suchten im Qualm
des Lagerfeuers Schutz vor den Moskitos. Die Verständigung
war schwierig, denn Pater Albert ließ uns dann meist allein,
und unsere Fahrer wurden in einer separaten Unterkunft von
uns ferngehalten. Die Nordvietnamesen waren eine keusche
Gemeinschaft. Zum Teil standen sie seit sieben Jahren im Feld.
Ihre besten Freunde hatten sie im Krieg verloren. Rangabzeichen trugen sie im Kampfgebiet nicht, obwohl in Hanoi das
Offizierscorps mit breiten russischen Epauletten paradierte.
Viele Angehörige dieser Eliteeinheit waren mit Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden, und sie waren stolz darauf. Die
Postverbindung zu den Familien in Tonking, so erklärten sie
uns, sei überaus spärlich. Eine Postkarte alle sechs Monate sei
ein großer Glücksfall. Ihre Freundinnen und Bräute hätten sie
seit Jahren nicht mehr gesehen. Aus ihren Brusttaschen holten
sie die vergilbten Bilder bäuerlich-heiterer Mädchen, die sie
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
227
durch Schlamm und Napalm gerettet hatten. Welchen Beruf
sie denn nach ihrer Entlassung aus dem Wehrdienst ausüben
wollten, fragten wir diese jugendlichen Veteranen, die teilweise schon bei der Neujahrsoffensive von 1968 oder bei den
Schlachten von Khe Sanh, von Tay Ninh und Kontum sowie
längs der Straße 13 im vordersten Dreck gelegen hatten. Die
Antwort lautete stereotyp: »Wir werden das tun, was die Partei
von uns erwartet.« Natürlich hatten sie persönliche Wünsche.
Manche wären gern Lehrer oder Ingenieur geworden. Der eine
wollte in den Gruben arbeiten, der andere ganz einfach in die
heimische Landwirtschaft zurückkehren. Und immer wieder
kam das Gespräch auf die fernen Mädchen zu Hause. Wie
lange sie noch die grüne Uniform des Revolutionssoldaten
tragen würden? Dann klang die Antwort einstimmig: »Bis ganz
Vietnam wiedervereinigt und das Testament Ho Tschi Minhs
erfüllt ist.« Dabei klang dieses eingepaukte und fast unmenschliche Pathos spontan und ehrlich. Es waren beklemmende und
ergreifende Stunden.
Bis in die frühen Morgenstunden sangen sie im Chor ihre
patriotischen Kampflieder. Da war von Mut, Frohsinn und
Vaterlandsliebe die Rede. »Denk nicht an dein Leben, wenn
du den Imperialismus bekämpfst!«, und der Refrain lautete:
»Unser zweigeteiltes Vaterland ist vom Mekong bis zu den
Bergen des Nordens eine einzige Nation.«
Zwischendurch war Pater Albert hinzugetreten. Er forderte
einen jungen Bo Doi auf, zum Klang seiner Gitarre das Lied
»Brief an einen Freund in Washington« anzustimmen. Es handelte sich um eine Freundschafts- und Solidaritätserklärung
an die Adresse der amerikanischen Kriegsgegner und schloß
mit den Worten: »Die Gerechtigkeit bringt uns zusammen, und
eines Tages werden wir in Washington und in Hanoi gemeinsam unsere Lieder singen.« Ob so viel kindlicher Herzensreinheit gingen wir etwas traurig in unsere Erdlöcher zurück. Die
Südvietnamesen hatten in acht Kilometer Entfernung wieder
mit ihrem sporadischen Artilleriefeuer begonnen. Es war kleb-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
228
rig-schwül. Dennoch wachte Pater Albert mit geradezu franziskanischer Sorgfalt darüber, daß über unseren Hängematten
die Moskitonetze dicht geschlossen waren. Sogar während
unseres Schlafes kam er und prüfte nach, daß wir uns nicht
bloßgestrampelt hatten und vor den Insektenstichen geschützt
waren.
Am folgenden Morgen stellte er uns zwei neue Begleiter vor.
Der ältere war Major Tac, ein väterlich wirkender Nordvietnamese und Frontoffizier, der uns von den Revolutionsbehörden
in Loc Ninh zugeteilt war. Weniger sympathisch wirkte Oberleutnant Trung, der vermutlich dem nordvietnamesischen
Geheimdienst angehörte, über die Sowjetunion nach Kuba
geschickt und auf der Karibeninsel wohl im zwielichtigen
Geschäft der Intelligence und Counter Intelligence gedrillt
worden war. In einer Agentenschule Fidel Castros war er
auch einem intensiven amerikanischen Sprachkurs unterzogen
worden. Ich hatte den unangenehmen Verdacht, daß Oberleutnant Trung im Verhör von gefangenen GI’s recht erfahren sein
mußte, und hätte ihn mir nicht als Kerkermeister gewünscht.
Jedenfalls sprach er karikatural näselndes Amerikanisch, beendete keinen Satz ohne ein obligates »O. K.« und benahm
sich uns gegenüber wie ein unerträglicher Touristenführer
des American Express. Wenn er allzu forsch wurde, riefen wir
ihn zur Ordnung. Dann entschuldigte er sich widerwillig. Wir
gaben ihm den Rat, sich einen zivilisierteren englischen Akzent
zuzulegen.
Wir waren eingeladen worden, einen Streifen der »befreiten Gebiete« zu besichtigen und zu filmen. Vor dem Aufbruch
war sogar ein Armeeschneider erschienen, um unsere Maße zu
nehmen. Auch bei fleißigstem Waschen starrte unsere einzige
Garnitur ständig von Schweiß und Schmutz. Unser Transport
ging mit Hilfe eines russischen Lastwagens vom Typ ZIL
und eines chinesischen Jeeps vonstatten. Etwa 30 Kilometer
fuhren wir nach Nordwesten in Richtung auf An Loc. Die Fahrzeuge quälten sich durch ein menschenleeres, von Bomben
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
229
verwüstetes Gebiet, über das die tropische Natur schon wieder
einen gnädigen Vegetationsmantel gebreitet hatte. Das Ziel
unserer Reise war das Dorf Minh Hoa, in dem einst französische
Plantagenbesitzer ihre Kautschuk-Kulis angesiedelt hatten.
Unsere Betreuer wollten uns nach den ersten militärischen
Impressionen, die wir bei der Befreiungsarmee gesammelt
hatten, auch den zivilen Sektor der Revolution vorführen. Wir
bewegten uns in Richtung auf die kambodschanische Grenze,
in einem jener seltenen Gebiete, wo ein halbwegs normales
Verwaltungsleben auf kommunistischer Seite in Gang gekommen war. Hier war der Osterangriff der Nordvietnamesen vor
einem Jahr so überraschend vorgetragen worden, daß die
lokale Zivilbevölkerung überrollt worden war. Zur Zeit unserer Festnahme kontrollierten die Kommunisten schon umfangreiche Gebietsteile Südvietnams. Aber nur fünf Prozent der
Bevölkerung – etwa eine Million Menschen – siedelten in
diesen peripheren und unwirtlichen »befreiten Zonen«. Die
militärische Infrastruktur wurde im Eiltempo ausgebaut, seit
das Waffenstillstandsabkommen von Paris die Präsenz von
mindestens 150000 nordvietnamesischen Regulären südlich
des 17. Breitengrades de facto legalisiert hatte. Die eigentliche
Main Force des südvietnamesischen Vietkong war auf Grund
der jahrelangen Abnutzung auf rund 50000 Mann zusammengeschmolzen. Wie uns die westlichen Militärattachés in Saigon
nach unserer Rückkehr versicherten, befanden wir uns im
Abschnitt der Siebenten oder der Neunten nordvietnamesischen Division.
Auf der Fahrt begegneten wir den ersten Zivilisten. Sie
waren von den Entbehrungen des Krieges viel härter gezeichnet als die Soldaten. Die Brücken waren zerbombt und durch
notdürftige Übergänge oder betonierte Furten ersetzt. Autos
sahen wir keine. Dagegen begegneten wir häufig Soldaten und
Bauern, die schwer bepackte Fahrräder neben sich herschoben. Während der Schlacht von Dien Bien Phu hatten die Vietminh-Partisanen bis zu 500 Kilogramm Last pro Velo transpor-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
230
tiert. Im niedrigen Monsun-Himmel zuckten Blitze und Wetterleuchten.
Für die rund 800 Einwohner des Dorfes Minh Hoa war
unsere Ankunft eine Sensation. Seit Einmarsch der Revolutionstruppen hatten sie keine Weißen mehr gesehen. Die ehemaligen Kautschuk-Arbeiter machten einen verhärmten und
abgerissenen Eindruck. Die grünen Militärs aus dem Norden
gaben den Ton an, und über die Lautsprecher dröhnten Kampflieder und heroische Parolen durch die leere Hauptstraße. Vor
einer Bambushütte, die speziell für uns hergerichtet worden
war, wurden wir von den Partei- und Armee-Kaders offiziell
begrüßt. Wir lächelten uns freundlich zu und stellten uns
gegenseitig vor. Major Quoc war der Beauftragte für Propaganda, Major Hoang Befehlshaber des in Minh Hoa stationierten Bataillons. Ihm kam das Grinsen am mühsamsten über
die Zähne, als er hörte, daß wir aus Westdeutschland seien.
Hauptmann Thien war Reporter bei der Truppenzeitung. Zwischen dem Kameramann Oberleutnant Diet und unserem
Team entstand sofort kollegiale Sympathie. Unser Sonderbegleiter Trung mit der kubanischen Ausbildung machte uns in
seinem schnarrenden Amerikanisch auch mit den zivilen Mitgliedern der revolutionären Verwaltung bekannt. Darunter fiel
uns Madame Nam auf, eine energische Genossin, die unerbittliche Autorität ausstrahlte. »Wir möchten Sie als Freunde aus
dem Ausland, aus Europa begrüßen«, beendete Major Quoc
seine kurze Ansprache, und wir beklatschten uns gegenseitig.
Ich sagte ebenfalls ein paar Sätze auf englisch, die auf Tonband
aufgenommen und – wie ich später erfuhr – vom Radiosender
der Befreiungsfront am gleichen Abend ausgestrahlt wurden.
Ich sprach von der Bewunderung, die der Tapferkeit der vietnamesischen Partisanen und Revolutionäre auch im Westen
gezollt werde, und wünschte dem vom Krieg verwüsteten
Land Frieden und Wiederaufbau. Für die Forderung der Vietnamesen nach Wiedervereinigung hätten wir als Deutsche
und Angehörige einer zwangsweise gespaltenen Nation tiefes
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
231
Verständnis. Wiederum klatschten wir alle und lächelten uns
zu. Der Satz über die Wiedervereinigung wurde allerdings aus
der abendlichen Rundfunksendung herausgeschnitten, wohl
mit Rücksicht auf die Freunde und Gönner aus der DDR.
Am Nachmittag brachte uns der Schneider unsere neuen
Kleider. Das blaue und grüne Drillichtuch erinnerte an die
Sommeruniformen bulgarischer Polizisten. Als wir die Jacken
und Hosen überstreiften, schüttelten wir uns vor Lachen. Entweder war der Bund so eng, daß wir ihn nicht schließen konnten, oder er weitete sich zu einem Ballon. In die Ärmel war
nicht hineinzuschlüpfen, ohne daß die Rückennaht platzte, und
der Schnitt der Hosenbeine machte uns bewegungsunfähig.
Dennoch waren wir über so viel Aufmerksamkeit gerührt
und beschlossen, die grotesken Monturen als Pyjamas
überzustreifen, bevor wir abends in die Hängematten kletterten.
Am folgenden Morgen wohnten wir in Minh Hoa einer
politischen Kundgebung bei. Jede Familie hatte mindestens
einen Angehörigen entsandt. Der Chef der revolutionären Verwaltung war ein bewährter Untergrundkämpfer mit bulligem
Gesicht. Er rief zur Erhöhung der Landwirtschaftsproduktion
und zum Aufbau »aus eigener Kraft« auf, was unser Dolmetscher mit self reliance übersetzte. Auch die Vorbereitung des
nahen Nationalfestes, am 2. September, des Jahrestages der
Proklamation der vietnamesischen Unabhängigkeit durch Ho
Tschi Minh, wurde besprochen. Die Atmosphäre dieses Meetings war gedrückt und verkrampft. Die obligaten Hochrufe
wurden mit starren Mienen ausgebracht. Ein weißhaariger
alter Mann verkündete wie ein Roboter die einstimmige Bereitschaft des Dorfes, am sozialistischen Aufbau mitzuwirken. Von
revolutionärer Begeisterung war keine Spur vorhanden.
Das erste Lachen hörten wir am Rande der Kautschukplantage. Die Frauen und Mädchen ritzten die Gummibäume
an und überprüften die Holznäpfe, in denen sich langsam
der milchige Latex-Saft sammelte. Die französischen Pflanzer
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
232
hatten sich rechtzeitig nach Saigon absetzen können. Jetzt
wußten die Behörden der Befreiungsfront wohl kaum, was
sie mit dem spärlichen Gummi-Ertrag anfangen sollten.
Exportmöglichkeiten gab es nicht. Die jungen Plantagenarbeiterinnen aus dem Süden beobachteten kichernd, wie die Revolutionssoldaten sich um die Anpflanzung von Gemüse und
Maniok in diesem unfruchtbaren Lateritboden mühten. Diese
weibliche Heiterkeit schien die Bo Doi zu verunsichern.
In einem geräumigen Lagerschuppen, der als Schule diente,
warteten die Kinder von Minh Hoa auf unseren Besuch
und unsere Filmaufnahmen. Es war eine aufgeweckte und
vergnügte Klasse. Die Kinder faßten wohl schneller Tritt im
sozialistischen Rhythmus der neuen Zeit. Wir ließen uns den
Text eines ihrer Lieder übersetzen. »In der vergangenen Nacht
haben wir im Traum den Onkel Ho Tschi Minh gesehen«, so
sangen sie, »den guten Onkel Ho mit dem langen Bart und
den weißen Haaren. Er hat uns zugelächelt und uns ermuntert, brav und strebsam zu sein. Wir lieben den Onkel Ho, wir
lernen fleißig und am Ende wird uns der Onkel Ho das rote
Halstuch der Jungen Pioniere verleihen.«
Neben den Kindern betrachteten die Kommunisten vor
allem die jungen Frauen in den »befreiten Gebieten« als
potentielle Träger der Revolution. In einer Erwachsenenschule
wurde den jungen Arbeiterinnen Lesen und Schreiben beigebracht. Neben marxistischen Schnellkursen gehörte die Glorifizierung des vietnamesischen Nationalgedankens zur beherrschenden Thematik. Die Mädchen schrieben zum Diktat die
legendäre Entstehungsgeschichte des vietnamesischen Volkes
in ihre Notizblöcke, die Sage vom König Hung und der Königin
Au-Cho, denen in grauer Vorzeit aus hundert Eiern – ähnlich
der Drachensaat des Kadmos – fünfzig Söhne und fünfzig
Töchter, die ersten Vietnamesen, entsprossen.
Am Nachmittag spielten die Soldaten Fußball, und die
Bevölkerung schaute zu. Für uns wurde sogar eine kleine infanteristische Übung mit den unvermeidlichen AK 47-Gewehren
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
233
und den bewährten Bazookas vom Typ B 40 inszeniert. Trotz
aller Neugier bekamen wir keine schweren Waffen zu Gesicht.
Nur einmal am Waldrand hatten wir Kettenspuren von zwei
Panzerfahrzeugen entdeckt. Beim Bajonettfechten war der
Feind durch eine Strohpuppe unter einem amerikanischen
Helm dargestellt.
Gegen Abend bemächtigte sich unserer Begleiter eine leichte
Nervosität. Irgend etwas Feierliches stand bevor. Wir hatten
bereits eine Woche beim Vietkong verbracht, und unser unfreiwilliger Ausflug näherte sich dem Ende. Wir hatten den letzten Meter Film verdreht. Die Akkumulatoren, die auf wunderbare Weise der Hitze und Feuchtigkeit widerstanden hatten,
waren am Ende. Hauptmann Tac und Oberleutnant Trung
hatten uns ein besonders reichhaltiges Nachtmahl gebracht:
Hühnersuppe mit Fleischstückchen, Reis, Sardinen aus marokkanischen Konserven und einen Laib Brot, in dem es allerdings von Maden wimmelte. Zur großen Überraschung hatte
Trung plötzlich zwei Flaschen Wodka hervorgezaubert. Der
Wodka stammte aus Hanoi, war aus Reis gebrannt und trug
neben dem vietnamesischen Markenzeichen eine Aufschrift in
kyrillischer Schrift. Wir hatten bereits unsere Nachtkleidung
angezogen. Die beiden Offiziere hatten es eilig. Sie räumten den
Tisch ab und wischten die Speisereste auf. Wir waren immer
wieder überrascht, daß die Chargen der »Befreiungsarmee«
vor den demütigsten Verrichtungen nicht zurückschreckten
und auch beim Tragen unserer Kameraausrüstung hilfreich
Zugriffen. Der ungewohnte Alkohol beflügelte unsere Stimmung. Wir hatten in den vergangenen Wochen warmes, abgekochtes Wasser, bestenfalls bitteren Tee getrunken, der uns am
Schlafen hinderte. Tac blickte jetzt angespannt in die Dunkelheit des Dschungels. Die Glühwürmchen hatten ihren Reigen
aufgenommen. In der Ferne dröhnten wieder Kanonen. Da ratterte plötzlich ein Motor. Ein Jeep tauchte aus der Finsternis
auf. Zwei ältere Offiziere der Partisanenarmee kletterten aus
dem Fahrzeug und kamen in unsere Hütte.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
234
Ihren Dienstgrad haben wir nie erfahren. Vermutlich standen sie im Rang von Obersten, und der eine war mit ziemlicher
Sicherheit ein cadre supérieur – ein Politischer Kommissar in
hoher Position. Sie traten beide sehr selbstsicher auf und stellten sich als Tung und Hung vor. Bestimmt waren das Kriegsnamen, denn die wahre Identität wurde im südvietnamesischen
Maquis streng geheimgehalten. Tung wies eine erstaunliche
Ähnlichkeit mit dem lebhaften nordvietnamesischen Oberbefehlshaber General Giap auf, während Hung bei einiger Phantasie dem asketischen Typ des Regierungschefs von Hanoi,
Pham Van Dong, entsprach. Wir hatten ein hochpolitisches
Informationsgespräch erhofft, wurden jedoch enttäuscht. Die
Geheimniskrämerei blieb oberstes Gebot auch dieser hochgestellten Bo Doi. Nicht einmal über die administrativen Strukturen der provisorischen Revolutionsregierung in den »befreiten
Zonen« wollten sie sich äußern, aus guten Gründen, wie wir
später entdeckten. Sehr bereitwillig hingegen erzählten Hung
und Tung aus ihrem Leben. Der eine stand seit 27 Jahren im
Untergrundkampf – er war jetzt 47 Jahre alt –, der Jüngere
hatte sich auch schon vor 20 Jahren dem Widerstand angeschlossen. Offensichtlich hatte diese schreckliche Zeit sie nicht
zermürbt. Sie sprachen mit auffällig leiser Stimme, und das
Lächeln wich nie von ihren Lippen. Das Schlimmste sei
überstanden, bestätigten sie, seit die Partisanen nicht mehr bei
Tag und Nacht wie Ratten unter der Erde leben müßten. Dennoch hätte der Krieg sie furchtbar geprüft. Von ihren Familien,
die aus den südvietnamesischen Städten Camau und Can Tho
stammten, waren sie seit vielen Jahren getrennt. Hung wußte
nicht, was aus seinen beiden Töchtern geworden war. Tung
haue einen Sohn im Krieg verloren; ein zweiter war schwer
verwundet. »It is a dignity and a glory«, übersetzte Dolmetscher Trung. Dann verschwanden die beiden Obersten so
plötzlich, wie sie gekommen waren. Sie fanden zurück in ihr
wahres Lebenselement der letzten zwanzig Jahre, in die Nacht
und in den Dschungel.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
235
Wir waren in unsere ursprüngliche Etappenstellung im
Umkreis der Straße 13 zurückgekehrt und rüsteten uns für das
Überschreiten der Linien. »Pater Albert« mit seinem scheuen,
guten Lächeln hatte sich uns wieder zugesellt. Wir sorgten uns
um das Filmmaterial, das die Behörden von Saigon bei unserem Auftauchen mit Sicherheit beschlagnahmen würden. Ob
wir denn nicht die Filme über Loc Ninh, Hanoi, Peking und
Moskau nach Westeuropa transportieren lassen könnten, fragten wir. Aber dieser Vorschlag löste bei den Partisanen nur Heiterkeit aus. »Wir werden schon ein Mittel finden, Ihnen Ihre
Aufnahmen in Saigon unbeschädigt auszuhändigen«, meinte
Pater Albert zuversichtlich. »Sie müssen dann allerdings zusehen, wie Sie das Material unkontrolliert aus Südvietnam herausschmuggeln. Wir werden Ihnen eine Botschaft zukommen
lassen, sobald Sie sicher in Saigon eingetroffen sind.«
Es war noch Nacht, als wir die sieben Kilometer zwischen dem
Camp und der Straße 13 zurückmarschierten. Schwer bewaffnete Soldaten begleiteten uns. Aber dieses Mal waren sie zu
unserem Schutz erschienen. Der Morgen kam fahl und grau.
Wir hatten bereits das ominöse Vietkong-Portal an der Straße
13 erreicht und versteckten uns im Gestrüpp der Böschung.
Mit mysteriöser Präzision waren auch unsere beiden Limousinen zur Stelle mitsamt den Chauffeuren, die wir seit sieben
Tagen nicht mehr gesehen hatten. Die Fahrer machten einen
wohlgenährten Eindruck. Die Autos waren teilweise noch mit
Tarnzweigen bedeckt. Im Morgendunst über uns knatterten
südvietnamesische Hubschrauber nach Norden und versorgten die eingeschlossene Garnison von An Loc. Hauptmann Tac
sprang auf den Asphalt. Er zeigte mit dem Gewehr auf den
Konvoi von Motorrollern, der auch an diesem Morgen, aus der
Ortschaft Chon Tanh kommend, pünktlich auf uns zusteuerte.
Pater Albert war mit nervös flackerndem Blick zu uns geeilt.
»Diese Honda-Fahrer sind Ihr bester Schutz, wenn Sie jetzt
durch die Linien zu den Saigon-Truppen fahren«, flüsterte er;
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
236
»wären Sie mit Ihren beiden Limousinen allein auf der Straße,
liefen Sie Gefahr, von der Gegenseite beschossen zu werden.
Keilen Sie sich mit Ihren Wagen zwischen diese Grenzgänger
ein!« Wir umarmten uns wie alte Freunde. Auch den Hauptmann Tac schloß ich in die Arme. Es war ein Moment ehrlicher Ergriffenheit. Dem jungen Dolmetscher aus Kuba hingegen gab ich nur die Hand. Ihm wäre die Akkolade eines Klassenfeindes wohl höchst peinlich gewesen.
Tac riß die Autotüren auf und spornte unsere Chauffeure an.
Wir machten eine Kurve um den Lehmwall unter dem Portal,
in dem die Panzerminen steckten, und rumpelten durch einen
Graben in Richtung auf die südvietnamesischen Vorposten.
Rechts und links von uns knatterten die Hondas aus Chon
Tanh, deren Fahrer uns verdutzt beobachteten. Wir hatten die
Grenze des Vietkong-Gebiets und die Ehrenpforte noch keinen
Kilometer hinter uns, da wurden wir durch wild schreiende
Soldaten der Armee von Saigon gestoppt. Sie trugen amerikanische Stahlhelme und kugelsichere Westen. Das A 16-Gewehr
hielten sie im Anschlag und feuerten in die Luft, als unsere
Fahrer nicht sofort bremsten. Drei Soldaten zwängten sich
neben uns auf die Sitze. Sie waren aufgeregt und richteten
ihre Waffen auf uns. Nach und nach entspannte sich die
Atmosphäre. Wir waren jetzt vorn und hinten durch Jeeps
der Militärpolizei eskortiert und bogen in eine befestigte Regimentsstellung ein, über der die Fahne Südvietnams wehte.
Ein Fallschirmmajor in elegant geschnittener Uniform erwartete uns. Er war schlank wie eine Wespe und trug ein hellblaues Seidentuch im Ausschnitt seiner Tarnbluse. »Seien Sie
trotzdem bei uns willkommen«, grüßte der Major. »Sie sind
es wahrscheinlich auch leid, mit Rattenfleisch abgefüttert zu
werden, denn was Besseres gab es bei den Kommunisten wohl
nicht.« Er reichte jedem von uns eine eiskalte Flasche CocaCola. Eine Woche lang hatten wir von eisgekühltem Coca-Cola
geträumt – während wir unser warmes Wasser schlürften – ja,
dieses US-Getränk, an dem uns normalerweise gar nichts lag,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
237
war zu einer Zwangsvorstellung geworden. Jetzt kippten wir
die Flasche gierig, aber der braune Saft schmeckte schal.
Jean-Louis Arnaud hatte zu einem Cocktail eingeladen, um
unsere gemeinsame Rückkehr nach Saigon zu feiern. Seine
Mietwohnung in der Rue Tu Do lag genau eine Etage über
jenem Appartement, wo ich 1951 den »Pascha« Ponchardier
wiedergetroffen hatte. Jean-Louis wurde von zwei ältlichen
vietnamesischen Schwestern betreut, zwei einfachen Frauen
aus dem Volk, die vorzüglich kochen konnten und sich recht
damenhaft benahmen. Jedesmal, wenn ich den französischen
Kollegen besuchte und er noch nicht aus seinem Büro zurück
war, setzte sich eine der Schwestern zu mir und pflegte Konversation. Erst nach der Eroberung Saigons durch die Nordvietnamesen sollte Jean-Louis erfahren, daß der Mann einer
seiner Dienerinnen seit 1954 in Hanoi lebte und dort sogar
einen wichtigen Posten in der kommunistischen Partei-Hierarchie innehatte.
Zur Cocktailparty der AFP-Korrespondenten waren Journalisten, amerikanische Public Relations-Offiziere, Diplomaten und Angehörige der Internationalen Kontrollkommission
gekommen. Auch die obligaten Fossile der französischen Kolonisation waren zugegen. Jean-Louis hatte einige sorgenvolle
Tage mit uns geteilt. Nach unserem Abenteuer in der »befreiten Zone« waren wir von den Südvietnamesen unter dem Verdacht der Komplizenschaft mit dem Vietkong vier Stunden lang
im Polizeihauptquartier von Saigon festgehalten und verhört
worden. Doch die Einschüchterung der Saigoner Abwehr hatte
nicht verfangen. Als der Sicherheitsbeamte Rotwein und Sandwichs für uns kommen ließ, wie in einem Simenon-Roman,
wußten wir, daß wir das Spiel gewonnen hatten. Die deutsche
und die französische Botschaft hatten sich unverzüglich für
uns eingesetzt. Wenn eine Reihe mißgünstiger Pressekollegen
fortfuhr, unseren unfreiwilligen Abstecher ins Vietkong-Gebiet
als ein abgekartetes Spiel hinzustellen, konnte uns das nichts
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238
anhaben. Kummer hingegen bereitete uns das Schicksal unserer beiden Chauffeure und des Dolmetschers Thanh, den wir
am ersten Tag unserer Gefangennahme nach Lai Khe geschickt
hatten. Sie waren von der Bildfläche verschwunden und steckten in irgendeiner Gefängniszelle der Hauptstadt. Es sollte
noch einige Tage dauern, ehe sie nach zahllosen Demarchen
bei den südvietnamesischen Behörden, nach Intervention der
Botschaft sowie Einschaltung des CIA plötzlich wieder auf
freiem Fuß waren und grinsend ihren Dienst antraten, als sei
nichts geschehen.
Es regnete über Saigon. Die leichten Mädchen wurden von
ihren mopedfahrenden Brüdern oder Zuhältern vor den Bars
der Tu Do-Straße abgesetzt, denn die Stunde des Lasters
rückte näher. Sie hatten die Miniröcke bis zum Nabel hochgezogen und suchten ihre dicke Gesichtsschminke und die
künstlichen Augenwimpern durch Plastikhüllen vor der Feuchtigkeit zu schützen. Ich sah fasziniert auf die Betriebsamkeit
des Geschäfts- und Vergnügungszentrums von Saigon. Noch
fühlte ich mich wie ein Besucher von einem fremden Stern.
Es war einfach kaum vorstellbar, daß knappe 70 Kilometer
von dieser frivolen, verschwenderischen, scheinbar sorglosen
Metropole und ihren drei Millionen Einwohnern entfernt eine
Armee unerbittlicher Asketen im Dschungel auf ihre Stunde
wartete, gewissermaßen in den Startlöchern scharrte, um
diesem falschen Glanz von Sünde und Konsum ein Ende zu
setzen.
Durch eine wohlbekannte Stimme mit östlichem Akzent
wurde ich aus meinen Betrachtungen gerissen. »Ich hatte
gehofft, daß ich dich hier treffe«, sagte Laszlo, und wir freuten
uns über das Wiedersehen. Ich kannte den Ungarn aus Paris,
wo er uns in früheren Jahren gelegentlich Dokumentarfilme
aus dem kommunistisch beherrschten Teil von Laos angeboten
hatte. Die Ostblock-Journalisten konnten sich natürlich auf der
anderen Seite mit großer Freizügigkeit bewegen. »Bist du als
Reporter für das ungarische Fernsehen hier?« fragte ich. Aber
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er wehrte mit großer Geste ab. »Ich bin Mitglied der Internationalen Waffenstillstandskommission und genieße diplomatische
Privilegien«, lachte er, »du weißt, die Polen und Ungarn vertreten in diesem Organismus die sozialistische Staatengruppe.
Übrigens«, fügte er nach einem kurzen Rundblick hinzu, »muß
ich ein paar Worte mit dir unter vier Augen wechseln.«
Wir gingen zum Fenster. Auf dem Trottoir unter uns stolzierten gerade zwei besonders extravagante Exemplare des
Saigoner Nachtlebens vorbei. »Wie halten es denn die offiziellen Repräsentanten der sozialistischen Welt in Saigon mit der
Moral?« fragte ich den Ungarn. Laszlo war kein Puritaner. »Wir
haben einen sehr vernünftigen, väterlichen Typ als Oberst. Er
hat uns nach unserer Ankunft in Südvietnam zusammengerufen und gesagt: ›Genossen, ich weiß, daß man hier den Versuchungen nicht widerstehen kann, und ich erwarte das auch
gar nicht. Denken Sie aber stets daran, wenn Sie mit einem
dieser schönen vietnamesischen Mädchen Schlafengehen, daß
sie dazu beiträgt, ihre Familie zu ernähren, daß sie im Grunde
eine hochachtbare Person ist.‹« Der Gulasch-Kommunismus
aus Budapest schien sich auch auf dem Gebiet der sozialistischen Moral durch eine sehr menschliche Originalität auszuzeichnen.
»Du erwartest doch ein Paket?« fragte Laszlo, als wir
allein waren. Er wußte von meinen Absprachen mit dem Vietkong und meiner Ungeduld, das Filmmaterial in Empfang
zu nehmen. »Wir werden dafür sorgen, daß du deine Filme
bekommst.« Am Saigoner Flugplatz Tan Son Nhut verfügte die
»Nationale Befreiungsfront« seit dem Waffenstillstand von Paris
über eine Enklave, sinnigerweise Camp David genannt, wo ihr
Verbindungsstab Immunität und Exterritorialität gegenüber
der südvietnamesischen Regierung genoß. Dort hielten die
Emissäre des Vietkong regelmäßige Pressekonferenzen für die
westlichen Korrespondenten ab. »Geh ruhig zum nächsten
Briefing der Befreiungsfront im Camp David«, riet mir Laszlo.
»Der Pressesprecher Oberst Phuong Nam erwartet dich bereits,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
240
aber er wird dir nichts überreichen. Es geht nur darum, die
südvietnamesischen Geheimdienste irrezuführen. Die Filme
werde ich dir persönlich aushändigen, sobald sie aus Loc Ninh
eingeflogen sind.«
Major Phuong Nam begrüßte mich zwar besonders herzlich
vor seiner Baracke am Flugplatz, wo die internationale Presse
in einem grau gestrichenen Autobus des Saigoner Regimes
angerollt kam, aber er verlor kein Wort über mein Anliegen.
Unser Mitarbeiter Tin, der wacker für die Freilassung seines
Neffen Thanh gekämpft hatte, war nach Camp David mitgekommen. Nach der Verlesung des Kommuniqués fragte er den
Presseoffizier der Befreiungsfront, was denn wohl mit ihm,
einem notorischen Kollaborateur des Thieu-Regimes, geschehen würde, wenn die Kommunisten in Saigon die Macht ergreifen würden. »Wir werden Ihnen gute Bücher zu lesen geben
und auf Ihre Bekehrung hoffen«, hatte der Vietkong-Major
leutselig geantwortet.
Drei Tage später gab Laszlo im Restaurant »Atabea« endlich
das vereinbarte Signal. »Das Paket ist eingetroffen«, sagte er.
»Ich komme morgen um elf Uhr zur Botschaft der Bundesrepublik in der Rue Vo Tanh. Sei bitte zwei Stunden früher schon
dort, damit die Aufmerksamkeit deiner Überwacher nachgelassen hat. Alles andere ist deine Sache.« Der damalige deutsche Botschafter in Saigon war ein Gentleman der alten Schule
und stand im Ruf eines Ultrakonservativen. Anläßlich einer
Neujahrsansprache hatte er dem Saigoner Präsidenten Thieu
in aller Form seine Hoffnung auf den Sieg des Südens ausgesprochen. Als ich ihn bat, die Filme aus dem Vietkong-Gebiet
per diplomatischem Kurier nach Bonn befördern zu lassen,
zögerte er keine Sekunde und stimmte sofort zu. Um Punkt elf
Uhr fuhr eine feierliche schwarze Limousine mit dem blauen
Wimpel der Kontrollkommission im Vorhof der deutschen
Botschaft ein. Ich hatte den Pförtner Arno Knöchel, einen
ehemaligen Fremdenlegionär, verständigt, sofort das Portal
aufzureißen, damit es zu keiner Verzögerung käme. Laszlo ent-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
241
stieg dem Auto und wurde in das Büro des Botschafters eingelassen, wo auch ich inzwischen beim Tee saß. Der Ungar trug
eine große schwarze Tasche, die er scheinbar achtlos in eine
Ecke des Zimmers stellte. Der deutsche Botschafter eröffnete
das Gespräch mit Gemeinplätzen, erzählte von seinen eigenen
verwandtschaftlichen Beziehungen zum Land der Magyaren.
Auch Laszlo übte sich in gehobener Plauderei. Der Austausch
von Höflichkeiten dauerte etwa eine Viertelstunde. Dann war
die Audienz beendet, Laszlo verabschiedete sich und wurde
zum Ausgang geleitet. Die Limousine fuhr davon. Die schwarze
Plastiktasche war in der Ecke des Botschafterbüros stehengeblieben. Sie war bis zum Rand mit unseren Filmbändern und
Tonrollen gefüllt. Der nächste Kurier beförderte die Sendung
ohne Zwischenfall nach Bonn.
Fieberträume auf Bali
Bali, im März 1975
Die Gong- und Zimbelschläge des Gamelan-Orchesters dröhnen
mir wie eine Eisenschmiede im Kopf. Das Fieber hat mich
wieder überkommen. Wie durch einen roten Schleier sehe
ich die hinduistischen Tänzerinnen, Figuren des Ramayana,
die vor einer Tempelattrappe ihre hieratisch abgezirkelten
Bewegungen ausführen. Sie tanzen für Touristen in der
ernüchternden Atmosphäre einer supermodernen Massenherberge. Die Hintergründigkeit dieser Götter- und Dämonenwelt,
wo die Verklärung der Lichtfiguren mit den Fratzen des tantristischen Inferno alterniert, geht dabei verloren. Statt dessen
wird Exotik geboten. Die Tropeninfektion habe ich mir wohl
in Neuguinea geholt an jenem »Kokoda-Trail«, auf dem die
Japaner 1942 mit einer letzten spasmischen Anstrengung vergeblich versucht hatten, den Hafen Port Moresby zu erreichen
und das Tor nach Australien aufzureißen. Jetzt liege ich im
Sessel des Hotelgartens, schlucke die Pillen, die mir der indo-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
242
nesische Hotelarzt verschrieben hat, wische mir den kalten
Schweiß von Stirn und Nacken. Die großen hinduistischen
Seefahrer-Reiche der Malayen – Shirivijaya und Madjapahit –
waren Zeitgenossen des Khmer-Imperiums von Angkor gewesen. Ich muß an die nächtliche Vorstellung in Siem Reap vor
der »Auberge du Temple« denken. Die balinesischen AsparaDarstellerinnen verschmelzen in meinem Fieberblick mit ihren
anmutigen kambodschanischen Schwestern. Zehn Jahre sind
seitdem vergangen. In zehn Jahren hat die Welt der KrischnaReinkarnation Sihanuk – so sahen ihn damals seine ergebenen
Reisbauern – der Hölle der Todesgöttin Khali Platz gemacht.
Deren Ausgeburten, die »Roten Khmer«, wüten bereits auf
einem Altar von Schädeln.
Der Arzt hat mir mitgeteilt, daß Marschall Lon Nol auf Bali
eingetroffen sei. Auf Drängen der Amerikaner hat der Staatschef von Kambodscha, der »Große Schwarze«, sein Land in der
Stunde des Untergangs auf der Krücke des Paralytikers verlassen. Präsident Suharto von Indonesien, der eine historisch und
kulturell begründete Neigung zur Republik der Khmer empfindet, bot ihm Bali, die letzte hinduistische Insel im islamisierten Indonesien, als vorübergehendes Asyl an. Ich bin viel zu
schlapp und krank, um auch nur zu versuchen, Kontakt mit
Lon Nol aufzunehmen.
In den letzten Januartagen hatte ich Phnom Penh einen
Abschiedsbesuch abgestattet. Es war fast schon ein Gang ins
Leichenhaus. Die Maschine von Air Cambodge, die wir in
Bangkok gebucht hatten, landete wie im Sturzflug in Pochentong, um dem Feuer der Belagerer zu entgehen. Die Hauptstadt war von allen Seiten stranguliert. Das Ende war nahe.
Die »Roten Khmer« hatten sich des Knicks von Neak-Luong
bemächtigt. Kein Fluß-Konvoi gelangte mehr über den Mekong
nach Phnom Penh. Im Hafen stauten sich die nutzlosen
Frachtkähne. Sie waren mit hohen Drahtgeflechten versehen,
an denen die Raketen der Belagerer vorzeitig explodieren
sollten. Krankenhäuser und Schulen waren mit stöhnenden
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
243
Verwundeten überfüllt, deren Blut über die Kacheln der
Gänge und über die Treppen floß. Im unfertigen Betonbau
eines Kolossalhotels, das Sihanuk noch hatte errichten wollen,
drängten sich Tausende von Flüchtlingen um die Reisküchen
internationaler Hilfsorganisationen. Der Swimmingpool stank
nach Kot und Urin. Dennoch planschten dort nackte braune
Kinder. Auf der Straße Fünf verlief die Front zwei Kilometer
jenseits der silbernen Blechkuppel der Cham-Moschee. Die
kambodschanischen Moslems hatten mit ihren Ochsenkarren
im Umkreis dieses Gebetshauses Zuflucht gesucht. Sie wußten
bereits, daß den versprengten Resten des Cham-Volkes eine
neue, vielleicht die letzte Tragödie bevorstand. Vor dem
»Michrab« ertönten die islamischen Totengebete in peinlich
exaktem Koran-Arabisch. Im Königspalast fanden keine Ballettproben mehr statt. Aber in den Gärten, die das Ufer des
Ton Le Sap umsäumten, wurden die greisen Wahrsager immer
noch von zahlreichen Kunden belagert. Wir nahmen an, daß
die Kambodschaner von diesen zerknitterten Auguren erfahren wollten, welches Schicksal ihnen die bevorstehende Machtergreifung der roten Partisanenarmee bescheren würde. Weit
gefehlt. »Sie fragen nur danach, ob ihre Braut ihnen treu ist,
ob sie Glück in der Liebe haben oder ob ihre Frau ihnen zahlreiche Kinder schenken wird«, berichtigte unser junger chinesischer Fahrer Yung. Der Chauffeur erzählte mir auch vom
Schicksal des französischen AFP-Korrespondenten Fillioux,
dem es nach endlosen Bemühungen gelungen war, von den
»Roten Khmer« und der kombodschanischen Revolutionsregierung GRUNK die Genehmigung zur Reportage in den
»befreiten Gebieten« zu erwirken. Fillioux war über Süd-Laos
nach Kambodscha eingereist. Aber schon in der Grenzprovinz
Mondulkiri war er von einer Rotte schwarz gekleideter Partisanen aufgehalten und als Spion verdächtigt worden. Als sie
eine Landkarte bei ihm fanden, auf der die Reiseroute eingezeichnet war, wurde er ohne Prozeß und Verhandlung mit
Bambusknüppeln erschlagen.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
244
Das State Department hatte einen seiner besten Experten,
John Gunther Dean, nach Phnom Penh geschickt. Er kam
als Nachlaßverwalter. Dean, der in Berlin unter einem ganz
anderen Namen geboren war, galt als Experte für verzweifelte
Kompromißlösungen. Er war in Vientiane maßgeblich am
Zustandekommen jenes Laos-Abkommens beteiligt, das zwar
in absehbarer Frist zur Machtergreifung der kommunistischen
Pathet Lao überleiten würde, dem Land der Million Elefanten
aber immerhin das Ende des Blutvergießens bescherte. In
Phnom Penh war es für solche Balanceakte viel zu spät. Henry
Kissinger hatte sich hartnäckig geweigert, die Karte Sihanuk
zu spielen, als habe er mit Monseigneur eine persönliche Rechnung zu begleichen. So blieb Botschafter Dean nur noch das
Jonglieren zwischen Intriganten und Condottieri. Er lavierte
zwischen Prinz Sirik Matak, dem verschlagenen Gegenspieler
Sihanuks, General Lon Non, dem halbkriminellen »kleinen
Bruder« des Staatschefs, und Premierminister Long Boret,
einem der seltenen Politiker von Phnom Penh, die bei den
ausländischen Beobachtern ein gewisses Ansehen genossen.
Eine andere achtunggebietende Figur des kambodschanischen
Puzzle, der frühere Premierminister und General In Tarn,
hatte sich mit einer Geste buddhistischen Verzichts aus diesem
Karussell zurückgezogen. Nun ging es Dean vor allem darum,
den Marschall Lon Nol zur Ausreise zu bewegen. In seiner Botschaft von Phnom Penh, die zu einem Befehlsbunker ausgebaut worden war, übte sich der amerikanische Prokonsul in
stoischem Fatalismus.
Jetzt, in den allerletzten Märztagen, ist es John Gunther
Dean doch noch gelungen, Marschall Lon Nol zur Flucht ins
Ausland zu überreden. Das war sein letzter Scheinerfolg. Siebzehn Tage später sollte Phnom Penh vor den wilden Horden
der roten Wiedertäufer, der Steinzeit-Kommunisten, wie man
sie später nannte, vor den »Khmers Rouges« kapitulieren. Im
Namen des fernen abendländischen Propheten Karl Marx und
unter dem Vorwand der Menschheitsbefreiung stürzte Kambo-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
245
dscha in den Abgrund eines namenlosen Horrors.
Der malayische Kellner räuspert sich neben mir. Er berührt
mich leise am Arm. Ich fahre aus meinem fiebrigen Dösen
auf und sitze ganz allein unter Palmen und übergroßen Sternen. Die Touristen sind schlafen gegangen. Der Gamelan ist
verstummt. Die Tänzerinnen sind verschwunden. Die sanften
Augen des Kellners erinnern mich unvermittelt an jenen indonesischen Kommunistenführer Aidit, dem ich 1954 in Jakarta
gegenübergesessen hatte und der im großen Morden von
1965 mit Tausenden seiner Gesinnungsgenossen abgeschlachtet wurde. Ich schüttele mich, um den wirren Gedanken zu entgehen, und schleppe mich in mein Zimmer. Die grell bemalten
Holzmasken, die dort an der Wand hängen, wirken bedrückend,
fast fürchterlich.
Im Bett geht der Reigen der Halluzination weiter. Einige
Etappen unserer Reportagereise der letzten drei Monate ziehen
mit spukartiger Präzision an mir vorbei: Da sitze ich in dem
nordwestaustralischen Flecken Derby vor dem alten Schamanen Baronga. Er ist nackt bis auf ein Lendentuch. Seine Haut
ist gräulich-schwarz. Die Haare sind zottig und verfilzt. Die
breite Nase, das mächtige Gebiß, die Augenwülste und die fliehende Stirn könnten die eines Neandertalers sein. Mit einem
Zweig zeichnet Baronga eine Spirale in den Sand, das SakralMotiv der »Traumwelt«, das Zeichen der ewigen Wiederkehr,
des stets erneuerten Lebens. In erstaunlich präzisem Englisch
erklärt er den zyklischen Pantheismus der australischen »Aborigines«: »Das Leben sehen wir wie die Wellen des Meeres.
Aber solange man einen Anker hat – Sie wissen, was ich mit
Anker meine? – solange ist man in Sicherheit; dann kehren
wir immer zum gleichen Punkt zurück. Die Menschen lebten
schon vor der großen Flut; dann kam das große Wasser, und
die Menschen wurden von der Erde ausgelöscht. Das glauben
wir. Sie ertranken, aber sie wurden gleichzeitig in Felsen verwandelt, in Lebewesen, die sich bewegen. Was wir Wungur
nennen, das sind unsere Verwandten, das sind Felsen, Bäume
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
246
und Tiere.« In respektvollem Abstand saßen die Frauen. Sie
waren in schäbigen Kattun gekleidet. Ihre Häßlichkeit war
pathetisch und schrecklich. Sie blickten stumm vor sich hin,
trauriger als Tiere. Sie wirkten wie Figuren aus einem absurden Science fiction-Film. Unser Toningenieur Steve sprach
aus, was keiner von uns zu formulieren wagte: »Wenn Sie das
missing link der Menschheitsentstehung suchen, hier haben
Sie es vor Augen.« Im Umkreis der Missionsstationen und Eingeborenenreservate von Derby, Broome und Beagle-Bay in
Nordwest-Australien gehört viel Gottvertrauen oder menschliche Anmaßung dazu, um nicht zum Anhänger der Entwicklungstheorie zu werden. War nicht der Darwinismus eine weit
fundamentalere Herausforderung für das Christentum als jene
marxistische Häresie, die den Erlösungsglauben lediglich vom
Jenseits in eine diesseitige Utopie verlagerte?
Ein ganzer Kontinent liegt zwischen den Wellblechhütten
von Derby und den Wolkenkratzern der angelsächsischen brave
new world von Sidney oder Brisbane. Aber nur eine schmale
Meeresstraße trennt die menschenleere Öde Nordwest-Australiens von der Bevölkerungsexplosion auf Insulinde. Die Einreise nach Portugiesisch-Timor war uns nicht geglückt. Schon
massierte General Suharto seine Truppen auf der indonesischen Inselhälfte, um vollendete Tatsachen zu schaffen.
Die Unabhängigkeitsbewegung von Portugiesisch-Timor lag
überwiegend in den Händen früherer katholischer Geistlicher
oder Seminaristen und drohte, unter dem gleichgültigen Blick
der letzten lusitanischen Administratoren ins kommunistische
Fahrwasser abzugleiten.
Suharto, der »lächelnde General«, auch er erscheint mir in
dieser Fiebernacht, wie er auf Mittel-Sumatra ein Dorf der
»Transmigrasi«, der Bevölkerungsumsiedlung, einweiht. Mit
der »Transmigrasi« sollte die entsetzliche Raumnot auf der
Insel Java gelindert werden, wo 80 Millionen Menschen, teilweise zu 1400 pro Quadratkilometer, zusammengepfercht sind.
Die Neusiedler aus Mittel- und Ost-Java stehen auf Sumatra vor
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
247
der Aufgabe, die Landschaft eines Alptraums urbar zu machen.
Aus dem schwarzen Sumpfboden ragten nackte Stämme in den
bleiernen Himmel. Über den dunkelbraunen Wassertümpeln
ballten sich die Stechmücken zu summenden Wolken. Dort
hatte ich meinen zweiten schweren Fieberanfall auf dieser
Reise gehabt. Trotzdem bummelten wir am Abend nach einer
unerträglichen Flußfahrt durch das Chinesenviertel von Jambi.
Wie Schemen erscheinen mir jetzt wieder die Läden jener
Söhne des Himmels, denen der Erwerb der indonesischen
Staatsangehörigkeit nicht gelungen war. Über dem Eingang
stand wie ein Brandzeichen die Abkürzung »WNA-Jina« –
»Chinesischer Ausländer«. Das Problem der vier Millionen
Auslandschinesen und der ungeklärten Beziehungen zum
roten Reich der Mitte lastete schwer auf der Republik Suhartos.
Szenenwechsel: Aus ekelerregender Nähe sehe ich die
geschlachteten Schweine auf einer Hochzeitsfeier bei den
wilden Hochlandsstämmen von Neuguinea. Die hünenhaften,
pechschwarzen Melanesier mit dem semitischen Profil und
den assyrischen Bärten schenken dem toten Schwein – wie mir
scheint – mehr Aufmerksamkeit als der barbarisch aufgeputzten Braut mit den spitzen nackten Brüsten. Die Schweine sind
nicht nur als Brautpreis, sondern auch als Versöhnungsgabe
zwischen zwei Clans gedacht. Am Vortage hatten wir ein
Scharmützel zwischen zwei halbnackten Gruppen von Stammeskriegern erlebt. Sie stimmten dazu düstere und seltsam
melodische Gesänge an. Sehr blutig waren diese Auseinandersetzungen nicht, wo es um Abgrenzungen des Siedlungsgebietes, um Frauen, um Vieh und um Ehre ging. Man bemühte sich,
den Gegner mit dem Speer in die Wade zu treffen. An einem
Baum waren jetzt die mächtigen Hauer von mindestens fünfzig
Keilern wie zu einer Kultstätte übereinandergeschichtet. In
manchen Gebirgstälern war ein Schwein noch mehr wert als
eine Frau. Ferkel wurden häufig an der Brust der Weiber
gesäugt. Das Schwein genoß mythisches Ansehen, war irgend-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
248
wie menschenähnlich. Da die australischen Behörden und die
Missionare – neuerdings auch die eigene Regierung in Port
Moresby – darüber wachten, daß dem Kannibalismus ein Ende
gesetzt wurde, hatte man sich auf die Schweine als Menschenersatz für die unentbehrlichen Ritualfeste verlegt. Long Pigs
hießen die Menschenopfer auch bei den Fidji-Insulanern. Der
Häuptling mit der prächtigen Federkrone reichte mir gebieterisch ein Stück reines Schweinefett, und ich erbreche mich in
meinem balinesischen Hotelzimmer.
Der Boy hat ein Telegramm unter die Zimmerschwelle
geschoben. Es kommt aus Jakarta, wo das Kamerateam mit
Dreharbeiten beschäftigt ist. Mir wird mitgeteilt, daß die vietnamesische Stadt Da Nang mit dem wichtigsten Militärflugplatz
in Südostasien am 29. März, also am Vortag, kampflos in die
Hände der vorrückenden Nordvietnamesen gefallen ist. Nicht
nur in Kambodscha, auch in Vietnam ist die fatale Wende eingetreten. Wieder packt mich der Schüttelfrost. In den ersten
Januartagen hatte ich auf Wunsch der Redaktion einen Abstecher nach Saigon gemacht. In Ermangelung eines deutschen
Teams hatte ich mit einer vietnamesischen Mannschaft gearbeitet, die der unentbehrliche Tin auftreiben mußte. Damals
war die Großoffensive Hanois noch nicht ins Rollen gekommen.
Aber im kambodschanischen Grenzraum hatten sich die Nordvietnamesen wie aus heiterem Himmel der Ortschaft Phuoc
Long bemächtigt. Phuoc Long war ein trostloses Nest am
Rande des Dschungels, aber zum erstenmal war es den Kommunisten gelungen, eine südvietnamesische Provinzhauptstadt
zu erobern. Das war ein böses Omen für Präsident Thieu, der
vergeblich versuchte, die Bevölkerung von Saigon zu Kundgebungen nationaler Abwehrentschlossenheit zu mobilisieren.
Sehr viel bedrohlicher als der Verlust von Phuoc Long dürfte
sich auf die Dauer die Fertigstellung jener Allwetterstraße auswirken, die seit Jahreswende die Ballungszentren Tonkings
mit der südvietnamesischen Provinz Tay Ninh verbindet. Die
Kulis und Pioniere Hanois haben diese Strecke unter unsag-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
249
baren Entbehrungen durch eine chaotische Landschaft gezogen. Nunmehr dauert der Transport von Waffen und Nachschub aus Tonking nach Cochinchina, der bislang vier Monate
brauchte, nur noch 14 bis 18 Tage. Die Stärke der Nordvietnamesen südlich des 17. Breitengrades soll auf 200000 angeschwollen sein. In einer äußerst gereizten Stimmung war ich
mit Tin und dem vietnamesischen Team nach Tay Ninh gefahren. In der Kathedrale der Caodaisten traf ich nur ein halbes
Dutzend rot und blau gekleideter Würdenträger der seltsamen Sekte. Sie verneigten sich in Weihrauchschwaden vor
dem mystischen Auge des Cao Dai und ließen sich von dem
Ausländer nicht ansprechen.
Die Stadt Tay Ninh war von ihren meisten Einwohnern verlassen. Die Nordvietnamesen schossen gelegentlich mit Granatwerfern auf den leeren Markt. Gegen heftigen Widerspruch
gab ich unserem Chauffeur die Weisung, so nah wie möglich
an die »Schwarze Jungfrau« heranzufahren. Da ragte sie über
uns, die »Black Virgin«, wie eine unheimliche Dschungelpyramide und erdrückte die Reisebene zwischen Vietnam und
Kambodscha. Die Kommunisten hatten sich dieser beherrschenden strategischen Position im sogenannten »Angelhaken« bemächtigt, und das war für mich wie ein Menetekel. Vor
dreißig Jahren, zu Beginn des französischen Fernostkrieges,
hatte die »Schwarze Jungfrau« gewissermaßen Pate gestanden bei meiner indochinesischen Feuertaufe.
In dieser balinesischen Nacht spukt noch manche konfuse
Erinnerung an mir vorbei. Die grünen Halme im Reisfeld verdichten sich zu einem zitternden Filigran, zu einem erstikkenden Netz. Dazwischen treiben aufgeschwollene Leichen
in einem Lotosteich. Am nächsten Morgen ist die Krise
überwunden. Zwei Tage später sitze ich im Flugzeug nach
Europa. Am Treffpunkt in Frankfurt kommt Jörg Wimmelmann auf mich zu. »Sie wissen sicher, weshalb ich Sie hier
erwarte«, sagt er. Ich ahne es. »Die Redaktion bittet Sie, so bald
wie möglich nach Vietnam zurückzufliegen. Wie Sie wissen, ist
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
250
Da Nang gefallen, und die Nordvietnamesen rücken längs
der Küste auf Saigon vor.« Ich bitte mir ein Wochenende
der Erholung in München aus. Vier Tage später lande ich in
Saigon. Tran Van Tin erwartet mich auf der Rollbahn in seinem
adretten Safari-Anzug. »Es geht dem Ende zu«, sagt er mit
einem starren Lächeln, während er mich durch die Zoll- und
Paßkontrolle schleust.
Die letzten Tage von Saigon
Saigon, im April 1975
Noch nie ist mir Saigon so asiatisch erschienen wie in diesen
Tagen vor dem Fall. Sobald man von der Tu Do-Straße und
vom Blumenmarkt abweicht, treibt man schnell als einziger
Weißer in einer kompakten gelben Masse. Die Vietnamesen
haben den Ausländern gegenüber die Maske der Indifferenz
aufgesetzt. Nur wenn sie sich unbeobachtet fühlen, spricht
aus ihren Augen die Sorge und die Erwartung der nahen
Katastrophe. Mein Fahrer Canh, den ich seit vielen Jahren
kenne, ist noch nie so unachtsam und zerstreut durch das
Verkehrsgewühl der Innenstadt gefahren. Wie ich ihn zurechtweise, bricht die Angst aus ihm heraus: »Sie wissen doch,
Monsieur: 1954 bin ich vor den Kommunisten aus Hanoi nach
Süden geflohen, und jetzt holen sie mich wieder ein.« Die
Vorsteherin des Telegraphenamtes, eine bedächtige Annamitin
mit strengem Haarknoten, nimmt mich auf die Seite: »Stimmt
es, Monsieur, daß die Nordvietnamesen die Beamten der Saigoner Regierung umbringen werden?« Im eroberten Da Nang
hätten die Kommunisten in jedem Stadtviertel wahllos hundert Personen aufgegriffen und zur Einschüchterung öffentlich
erschossen. So hat man ihr erzählt. Manchmal sieht es aus,
als würde das Chaos durch Tatarenmeldungen mutwillig
geschürt.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
251
Die Menschen von Saigon wollen mit ihrem Kummer und
ihrer Ungewißheit allein sein. Für Vietnam geht das Kapitel der
zweihundertjährigen Öffnung nach Westen mit einer schrecklichen Enttäuschung über den späten amerikanischen Partner
zu Ende. Die flatterhafte Stadt Saigon, la Perle de l’ExtrêmeOrient, schickt sich an, dem Luxus, der Korruption, der hektischen Betriebsamkeit und der sprudelnden Lebensfreude zu
entsagen. Bald wird es puritanisch und langweilig zugehen
wie in Hanoi. So ähnlich mag die Stimmung Shanghais gewesen sein, als die Soldaten Mao Tse-tungs im Jahr 1959, von
Sutschau kommend, wie Menschen von einem anderen Stern
auf das Babel am Wang Pu zumarschierten.
Die Bilder in den Illustrierten, mit den Menschen, denen
das Grauen in den Augen steht, dürfen nicht darüber
hinwegtäuschen, daß dieses Land mit einer Würde ohnegleichen seinen Schicksalsgang angetreten hat. Seien es die
Flüchtlinge, deren scheinbare Resignation mit stählerner Energie und Überlebenswillen geladen bleibt, seien es die Regierungssoldaten, die ebensogut wissen wie die ausländischen
Reporter, daß der Krieg verloren ist, daß sie sich demnächst
vor Volkstribunalen zu verantworten haben werden und die
dennoch eine unverständliche Gelassenheit bis in die vordersten Linien zur Schau tragen – sie alle wahren auf fabelhafte
asiatische Weise das Gesicht. Dieses ist ein großes Land, das
sich anschickt, unter dem strengen Regiment des proletarischen Sparta im Norden wiedervereinigt zu werden, wo eiserne
Ordnung und mönchische Disziplin herrschen. Wie sollten die
Amerikaner in einem solchen Land und mit einem solchen
Volk zurechtkommen, das sie auf ihren stets irreführenden
Briefings in good guys und bad guys einteilten?
Vor der amerikanischen Botschaft stauen sich täglich die
Bittsteller. Sie möchten mit den letzten Flugzeugen herausgebracht werden. Die dort Schlange stehen, sind die kleinen
Fische der Kollaboration, verschreckte Saigoner Bürger, Bräute
von GI’s, kleine Angestellte der unzähligen US-Dienststellen.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
252
Die wahren Profiteure und Haifische, die in den zehn Jahren
amerikanischer Präsenz Vermögen ansammelten, haben längst
für ihre Sicherheit gesorgt, die Drahtzieher des Schwarzmarktes, des Heroinhandels und der Prostitution. Sie haben sogar
Komplizen auf amerikanischer Seite gefunden, die ganze Bordellbesatzungen nach Manila, Bangkok oder, wie man später
erfuhr, nach Florida und Neu-Mexiko herausschafften. Ohne
Papiere und Identität werden die evakuierten Freudenmädchen
jeder Erpressung ausgeliefert sein. Jene hochanständigen Offiziere und Beamten des Saigoner Regimes, von denen es mehr
gab, als die westliche Presse berichten wollte, und die es nicht
über sich bringen, unter unwürdigen Bedingungen um einen
Flugschein zu betteln, die bleiben zurück.
Gleich neben der US-Embassy befindet sich die französische
Botschaft. Aus dem Élysée-Palast ist die Weisung gekommen,
die Stellung zu halten. Zusätzlich wird Sicherheitspersonal eingeflogen. Rund zehntausend französische Staatsbürger leben
im Raum von Saigon. Mindestens 80 Prozent davon sind vietnamesischer Abstammung. Für sie sind Sammelzentren vorgesehen. Im Arbeitszimmer des Botschafters Mérillon herrscht
eine trotzige Fort Chabrol-Stimmung, als wolle man den Amerikanern nebenan zeigen, wie sich eine Nation mit historischer Überlieferung in Zeiten des Untergangs verhält. Amerika hat im Gegensatz zu den Franzosen bislang noch nie
einen Krieg verloren. Vielleicht will auch das gelernt sein. Ein
Korrespondent aus Washington hat das auf eine prägnante
Formel gebracht: »Die Franzosen sind hier 1954 vernichtend,
aber ehrenhaft in Dien Bien Phu geschlagen worden; unser
Abschied aus Vietnam heißt Watergate.« Der kleine drahtige
Mérillon, der schon während des »Schwarzen September« in
Jordanien Courage bewiesen hat, wirft sich in Pose, zwinkert
mir mit den Augen zu und deklamiert mit gallischem Pathos:
»Ich bleibe hier auf Weisung meines Staatschefs, hülle mich in
die Falten der Trikolore und sehe dem Unabänderlichen gelassen entgegen.« Um es gelinde zu sagen, zum gleichen Zeit-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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punkt war die Atmosphäre in der deutschen Botschaft weniger resolut. Dort ist lediglich Hausmeister Arno Knöchel, ein
Mann mit zahlreichem vietnamesischem Familienanhang, der
in der Fremdenlegion gedient hatte, zum Ausharren bereit.
Nach Evakuierung des diplomatischen Personals hißt er ohne
Weisung und ohne Auftrag einen schwarz-rot-goldenen Wimpel
über dem Portal der Bonner Vertretung. Er zeigt Flagge, wie
man früher gesagt hätte.
Mit der Plötzlichkeit eines Taifun ist die Niederlage über das
Regime des Präsidenten Nguyen Van Thieu gekommen. Mitte
März hatten die Nordvietnamesen im annamitischen Hochland
die Ortschaft Ban Me Thuot mit Panzern und Artillerie angegriffen. Die Südisten hatten sich knappe vier Stunden halbherzig gewehrt. Dann waren die Soldaten Giaps Herr der Lage,
und es gab kein Halten mehr. Die Festungen Kontum und
Pleiku, die Südvietnam gegen die poröse Westgrenze mit Laos
abschirmen sollten, wurden kampflos preisgegeben. Das Oberkommando von Saigon entschloß sich viel zu spät zu einer drastischen Frontbegradigung. Da die ganze Erste Militärregion
mit Quang Tri, Hue und Da Nang seit dem nordvietnamesischen Durchbruch auf den Plateaus gewissermaßen in der
Luft hing, sollte der nördliche Küstenschlauch von den dort
befindlichen Elitetruppen geräumt werden. In der Gegend von
Nhatrang, so hofften die Strategen von Saigon, könnten sie
eine neue Frontlinie ziehen, hinter der die Metropole Saigon
mit dem unentbehrlichen Hinterland bis Tay Ninh sowie das
fruchtbare Mekong-Delta gehalten würden.
Aber ein geordneter Rückzug ist wohl die schwierigste
militärische Operation und setzt perfekte logistische Vorbereitungen sowie eine hohe Kampfmoral der Truppe voraus. Beide
waren nicht vorhanden. In Hue und Da Nang brach Panik
aus. Die Garnison der alten Kaiserstadt hetzte wie die wilde
Jagd auf den Hafen Da Nang zu. Am schamlosesten benahmen sich die kampferprobten südvietnamesischen Marines. Sie
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
254
drängten die zivilen Flüchtlingskolonnen in die Straßengräben
und schossen sich den Weg zu den Kais und den rettenden
Schiffen frei. Es kam zu wüsten Szenen der Plünderung und
Brutalität. An Bord der Transporter und Lastkähne, die zum
Bersten überfüllt aus Da Nang ausliefen, nahmen die Marines
den Zivilflüchtlingen Geld und Schmuck ab. Sie vergewaltigten Frauen und Mädchen. Wer ihnen nichts bieten konnte,
wurde über Bord gestoßen.
Unterdessen spielten die Panzerkolonnen des neuen nordvietnamesischen Generalstabschefs, Van Tien Dung, der den
alternden Oberbefehlshaber Vo Nguyen Giap im aktiven Feldkommando abgelöst hatte, Blitzkrieg. Die Infanterie hatte
Mühe, dem kampflosen Vordringen der motorisierten Spitzen
zu folgen. Die Küstenstädte Annams, die Monster-Basen, die die
Amerikaner – vollgepfropft mit Material – hinterlassen hatten,
hißten die weiße Fahne, ohne daß ein Schuß abgefeuert wurde.
Es fanden nicht einmal ordentliche Übergabeverhandlungen
statt. Die ARVN – Army of the Republic of Vietnam – löste sich
sang- und klanglos auf. Die Nordvietnamesen ihrerseits, die
sich dreißig Jahre lang mit einem zermürbenden und entsagungsvollen Partisanenfeldzug hatten abplacken müssen, entdeckten plötzlich die Freuden des frisch-fröhlichen Krieges,
den Rausch des siegreichen Nach-vorn-Stürmens. Russen und
Chinesen hatten mit Materiallieferungen seit dem trügerischen
Waffenstillstand nicht gegeizt. Eine hochmechanisierte Armee
rollte nach Süden. Aus einem barfüßigen Partisanenheer war
eine stählerne Dampfwalze nach russischem Modell geworden. Sogar die Marsch-Etappen richteten sich nach dem sowjetischen Reglement. Bei aller Hast ging man in Hanoi auf
Nummer Sicher. Nur in einem Überlegenheitsverhältnis von
drei zu eins wurde der Offensivbefehl erteilt. Ein Monat hatte
genügt, um die Nordfront von der zermalmten Provinzhauptstadt Quang Tri am 17. Breitengrad in die unmittelbare Nachbarschaft von Saigon zu verlagern. Knappe 80 Kilometer
vor der Hauptstadt hatten sich zwei Regimenter katholischer
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Fallschirmjäger zu einem letzten verzweifelten Widerstand
aufgerafft. Sie hatten sich in dem Städtchen Xuan Loc an
der Straße Nummer 1 eingeigelt. Sie lieferten seit der Niederlage von Ban Me Thuot das erste Gefecht in dieser gespenstischen Aktion, die den Nordvietnamesen einen Geländegewinn
von mehr als 1000 Kilometer längs der »Freudlosen Straße«
gebracht hatte. Xuan Loc war eingekreist. Mit Leichtigkeit
hätte General Dung seine Sturmtruppen gegen Saigon ansetzen können. Aber er überließ nichts dem Zufall und sammelte
neue Kräfte vor dem Todesstoß.
Die Kriegsberichterstattung ist in den letzten Tagen eintönig
geworden. Die einzigen Gefechte spielen sich im Umkreis der
Straße 1 ab, die nach Osten in Richtung auf Xuan Loc führt.
60 Kilometer Fahrt mit dem Mietwagen an der verlassenen und
verwahrlosten US-Basis Long Binh und am Luftstützpunkt
Bien Hoa vorbei, und schon befindet man sich in Frontnähe.
In der Gegend von Bien Hoa hatten sich nach dem Genfer
Waffenstillstand von 1954 rund 300 000 katholische Flüchtlinge
aus dem Norden angesiedelt und mit viel Fleiß bescheidenen
Wohlstand geschaffen im Schatten ihrer schmucklosen Betonkirchen, Mariensäulen und Lourdes-Grotten. Jetzt sind diese
Menschen, die fünfzehn Jahre lang das Rückgrat des vietnamesischen Abwehrkampfes gegen den Kommunismus gebildet haben, wieder auf der Flucht vor den anrückenden Divisionen Hanois. Wie im Jahr 1954 haben Geistliche und Nonnen
die Führung der Evakuierungskolonnen übernommen, doch
dieses Mal gibt es kein sicheres Asyl im Süden, sondern nur
den Tagesmarsch bis in die übervölkerten Vororte einer bereits
vom Untergang gezeichneten Metropole.
Die südvietnamesische Armee hat ein paar Batterien gruppiert und feuert auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Verteidigungslinie ist nicht zustande gekommen. Für ernsthafte
Gegenwehr fehlt jede Voraussetzung. Wir fahren weiter, bis die
Straße 1 ganz leer wird, ein untrügliches Zeichen dafür, daß
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
256
Gefahr im Verzug und der Gegner nahe ist. Die Regierungssoldaten geben sich bei aller Aussichtslosigkeit der Situation
freundlich und scherzen sogar mit uns. Wir haben schwarz-rotgoldene Plaketten angesteckt, auf denen »Bao Chi Duc – Deutsche Presse« steht. Auf den Fluchtstraßen in vorderster Linie
wird man besser nicht mit einem Amerikaner verwechselt.
Die Soldaten mahnen uns zur Vorsicht. Hinter dem nächsten
Hügel, so warnen sie, befänden sich die Nordvietnamesen. Ich
lasse den Wagen wenden und gehe mit dem Team zu Fuß
bis zum letzten Beobachtungsposten. In den leeren Feldern
bewegt sich nichts. Aber in 300 Meter Entfernung versperrt
ein Erdwall die Straße. Die Nordvietnamesen haben dort ihre
Panzerminen verbuddelt. Ich muß an unsere Gefangennahme
durch den Vietkong im Sommer 1973 denken, als das Portal
zur »befreiten Zone« auf der Straße Nr. 13 durch eine ähnliche
Aufschüttung blockiert war.
Die fremden Armeen haben Saigon verlassen. Sogar jene
amerikanischen Militärratgeber, die als Zivilisten getarnt
waren, sind, den Code-Signalen des US-Senders folgend,
beinahe wie Verfemte nach Tan Son Nhut gefahren und
ausgeflogen worden. Es bleibt nur noch eine letzte weiße
Söldnertruppe zurück, die Kohorte der Journalisten. Die Vorboten der Katastrophe und das Nahen der ideologisch-puritanischen Säuberungswelle, die von Norden auf das sündige
Saigon zuschwappt, wecken wohl auch bei dem bravsten
Presseberichter tief vergrabene Landsknechtsinstinkte. Die
Angehörigen der deutschen Botschaft haben bei ihrer Abreise
reichlich Alkohol hinterlassen. Die Sperrstunde beginnt schon
um acht Uhr abends. So eilt man vom Telex oder von der
Radiokabine schnell in eines der französischen Restaurants
am Blumenmarkt, läßt sich Pfeffersteaks servieren, die auf
Grund der Zeitknappheit stets bleu oder saignant ausfallen,
und schimpft – wie das zur Pose gehört – darüber, daß die Erdbeeren aus Dalat nicht mehr auf dem Dessert-Angebot stehen,
wohl wissend, daß Dalat längst von den Kommunisten besetzt
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
257
ist. Eine letzte Verfügung des Thieu-Regimes hat den Ausschank von Alkohol verboten. So wird der Wein als »Kaffee« in
Tassen serviert.
Um acht Uhr trifft sich dann alles in den Hotelzimmern des
Hotels»Continental«. Eine vermoderte Kolonialatmosphäre ist
in diesem altertümlichen Kasten im Herzen Saigons erhalten
geblieben. Die Kellner und Zimmerboys sind noch die gleichen
wie vor dreißig Jahren. Der junge Franchini, letzter Besitzer
des »Continental« und eurasischer Erbe eines in Saigon wohlbekannten Namens, stand bei den französischen Korrespondenten als Liebhaber asiatischer Kunst und als kenntnisreicher
Gesprächspartner in hohem Ansehen. Er hat mit seiner chinesischen Frau Saigon rechtzeitig in Richtung Hongkong verlassen. Das Hotel übergab er der Treuhänderschaft seines alten
Personals, runzliger, kleiner Männlein, die vor Schwerhörigkeit
kaum noch eine Bestellung entgegennehmen können, die den
Tag auf ihren Matten in den Korridoren verschlafen und den
Stammgästen bei Vorzeigen eines Piasterscheines lächelnde
Zuneigung entgegenbringen. Mit Trippelschritten servieren
sie jeden Abend Eis und Soda für die lärmende Journalistenrunde, die sich über die Alkoholbestände aus der Botschaft
hermacht. Bis spät in die Nacht wird getrunken, und immer
die gleichen Geschichten werden erzählt, Episoden von der
Tet-Offensive 1968, von der Frühlingsoffensive 1972, Anekdoten von Präsident Diem und Präsident Thieu, von Bonzen,
Generalen und Ganoven. Am Ende werden die Gespräche erotisch und schlüpfrig. »Die Weise von Liebe und Tod« hieß es
im »Cornet«; in diesem verpfuschten Kolonialkrieg ist von Blut
und Sperma die Rede.
Daneben sitzen die jungen Vietnamesinnen wie exotische
Blumen und werden mit jedem Glas Alkohol, das die Europäer
kippen, schöner. Sie selber trinken kaum. An der Wand hängt
ein Werbeplakat aus den Tagen, als Südvietnam noch Touristen
anlocken wollte: eine attraktive Asiatin in der Nationaltracht
Ao Dai ist dort dargestellt, verschwommen und verführerisch
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
258
zwischen Blumen und Pastelltönung. »Follow me to Saigon!«
steht darunter.
So sind die Journalisten die letzten Kunden der Mädchen
von Saigon, so etwas wie Beichtväter in der Stunde vor der
großen Prüfung. Die eine gibt sich fatalistisch: »Dann werde
ich eben beim Vietkong Reis pflanzen; ich komme ohnehin
vom Land.« Die zweite meint, daß sie niemals auf schöne
Kleider und das leichte Leben verzichten kann, daß sie die
Schmach nicht ertragen wird, und daß das Wasser des SaigonFlusses tief genug ist, um sie aufzunehmen. Die dritte kehrt
Trotz heraus: »Als es meinem Volk materiell gut ging hier in
Saigon und alle Güter zur Verfügung standen, wollte ich daran
teilhaben; doch wenn mein Volk hart arbeiten muß und arm
sein wird, dann will auch ich arm sein.« Alle sind deprimiert
bei dem Gedanken an ihre Großfamilien, denen sie stets verbunden blieben und deren Überleben sie oft unter Einsatz
ihrer Jugend und ihres Charmes sicherstellten.
Auch die Schmetterlinge der Rue Tu Do sind Töchter jener
beiden sagenhaften Schwestern Hai Ba Trung, die in grauer
Vorzeit den chinesischen Eroberern trotzten und in der Niederlage den Freitod suchten. Das Grundelement dieser Rasse
ist hart und spröde. Im Gegensatz zu den triebhaften und heiter-undifferenzierten Siamesinnen ist die Vietnamesin ähnlich
zerebral wie die Chinesin. Wenn sie sich wegwirft, dann aus
Berechnung oder Verzweiflung, fast nie aus Leichtsinn oder
Flatterhaftigkeit. Während ich an jenem Abend im »Continental« das Mädchen Minh betrachte, die artig, wenn auch nicht
sittsam, mit stark geschminkten Katzenaugen regungslos wie
eine Puppe verharrt, fällt mir ein Zitat aus dem »Stillen Amerikaner« von Graham Greene ein: »Sie ist kein Kind. Vielleicht
ist sie widerstandsfähiger, als Sie jemals sein werden. Kennen
Sie die Art von Politur, die unzerkratzbar ist? So ist Phuong.«
Rund um die Terrasse des Hotels »Continental« drängen
sich bis zum letzten Tag die Bettler, Krüppel, Schuhputzer,
Prostituierten beiderlei Geschlechts und die Souvenir-Händler.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
259
Seit die Polizeigewalt sich allmählich auflöst, werden sie immer
unverschämter. Eine rühmliche Ausnahme der Zurückhaltung
bildet der Buchverkäufer. Er bietet eine stattliche Sammlung
von Publikationen über Indochina an. Obenauf liegt der Roman
Graham Greenes »The Quiet American«. Ein deutscher Kollege
blättert darin, und ich gebe ihm den Rat, ihn zu kaufen. Es ist
wohl das beste Buch, das je über Vietnam geschrieben wurde.
Schauplatz dieses Romans, der in den Jahren 1951/52 spielt, ist
wiederum das Hotel »Continental«. Das zentrale Thema ist ein
Dreiecksverhältnis zwischen dem alternden englischen Journalisten Fowler, dem jungen amerikanischen Geheimagenten
Pyle und der Vietnamesin Phuong. Fowler lebt seit zwei Jahren
mit Phuong, bis Pyle, der »stille Amerikaner«, auftaucht, um
sie wirbt und ihr sofortige Heirat wie Sicherheit verspricht.
Der verlassene Engländer gibt den kommunistischen Partisanen des Vietminh einen Hinweis, wie sie seinen Rivalen
Pyle in einen Hinterhalt locken und umbringen können. –
Schon als ich dieses Buch vor vielen Jahren zum erstenmal las,
erschien mir die Geschichte zutiefst symbolisch. Greene hatte
den Ablauf der Ereignisse in Indochina vorausgeahnt. Phuong
stand für Vietnam, der frankophile alternde Engländer für die
französische Kolonialmacht, und der junge, naive, bedenkenlose Pyle erschien wie die illusionslose Ankündigung der amerikanischen Invasion.
Es ist viel über die angebliche französische Schadenfreude
angesichts der amerikanischen Rückschläge in Indochina
geschrieben worden. Zweifellos waren die Franzosen besser
informiert, waren dem Land intimer verbunden, erkannten
sehr bald, daß dieser Krieg von den USA nicht gewonnen
werden konnte. Hinzu kam jedoch eine geradezu eifersüchtige
Spannung zwischen dem alten, erfahrenen, abgehalfterten
Liebhaber und dem reichen, gutgläubigen, brutalen, jugendlichen und doch schon impotenten Nebenbuhler aus der Neuen
Welt. Die französische Armee, die in Dien Bien Phu besiegt
worden war, blieb krank an Indochina. Sie litt am mal jaune,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
260
wie der Schriftsteller Jean Lartéguy, ein ehemaliger Para-Offizier, das später nannte.
Am frühen Morgen haben wir wieder einmal in Richtung Xuan
Loc auf der Straße 1 gekundschaftet. Die Nordvietnamesen
sickern beiderseits dieser Rollbahn ein. Im nahen Tu Duc
sind ihre Propagandatrupps bereits öffentlich aufgetreten und
haben der Bevölkerung mitgeteilt, daß sie bis zum 1. Mai eine
Schonfrist setzen würden; wenn aber bis dahin General Thieu
nicht zurückgetreten sei, würde die Schlacht um Saigon beginnen, und dann solle jeder sehen, wo er bleibt. Auch in Saigon
warten alle auf die Abdankung des Präsidenten Nguyen Van
Thieu. Seine Ansprache zum großen konfuzianischen Ahnenfest der Vietnamesen, wo des mythischen Stammvaters Huong
Vuong gedacht wird, hatte er in letzter Minute abgesagt. Dafür
tritt er abends um acht Uhr im Fernsehen auf, während
gerade die Ausgangssperre beginnt. Nguyen Van Thieu, dieser
unauffällige Mann mit dem unbeweglichen Poker-face, der
zu Unrecht von so vielen westlichen Zeitungsschreibern
dämonisiert worden ist, wächst in dieser Stunde des Abschieds
von der Regierung über sich selbst hinaus. »Die Vereinigten
Staaten haben ihre Versprechen nicht gehalten«, sagt er mit
verhaltener Wut vor der Kamera; »sie sind unfair; sie sind
unmenschlich. Sie sind nicht glaubwürdig. Sie sind unverantwortlich. Ich habe nie geglaubt, daß ein Mann wie Henry Kissinger unser Volk einem so schrecklichen Schicksal ausliefern
würde.« Mit seinen Anklagen gegen den amerikanischen Protektor, der ihn irregeführt hat, beweist er, daß er eben doch
nicht nur eine Marionette war. Thieu ordnet sich in die tragische Nachfolge des Diktators Ngo Dinh Diem ein. Für das
abergläubische Volk von Saigon lag der Untergang Thieus
seit dem letzten vietnamesischen Neujahrsfest, dem »Tet« der
Katze, ohnehin fest. Der kleinen Minh verdankte ich mein
astrologisches Wissen: Der Staatschef stand unentrinnbar im
astrologischen Zeichen der Maus, und so mußte ihm das
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
261
Jahr der Katze, das nunmehr unter dramatischen Vorzeichen
begann, zum Verhängnis werden. War nicht auch der MausMann Ngo Dinh Diem in einem anderen Jahr der Katze,
nämlich 1963, gestürzt und ermordet worden? Wenn dieses
Mal Thieu mit dem Leben davonkäme, dann würde er das vielleicht seiner Frau verdanken, die im Zeichen des Pferdes geboren war.
Mit einem Wagen des Diplomatischen Corps sind wir um
Mitternacht trotz Sperrstunde durch die verwaiste Stadt gefahren. Polizeipatrouillen sperren die Straßenkreuzungen mit Stacheldraht und spanischen Reitern. Am Flugplatz Tan Son Nhut
geht unter amerikanischer Regie die Evakuierung pausenlos
und beklemmend weiter. Neben vietnamesischer Polizei und
Feldgendarmerie tauchen neuerdings verdächtige Gestalten in
den schwarzen Pyjamas der freiwilligen Miliz auf. Sie stellen
wohl die letzte Reserve des Regimes dar. Diese unsicheren Kantonisten haben schon mit Plünderungen und Ausschreitungen
begonnen. Je schneller und reibungsloser jetzt die Nordvietnamesen die Kontrolle über Saigon übernehmen, desto besser
wird es für die Stadt sein. Am Ende sind wir in der Viking-Bar
des »Palace«-Hotels gestrandet. Neben ein paar amerikanischen Nachzüglern sind wir die einzigen Gäste. Die Journalisten hatten den ganzen Tag wie lechzende Jagdhunde auf den
Rücktritt Thieus gespannt. Jetzt empfand ich das Lachen, das
Grölen, das Schäkern mit den Serviererinnen als eine Peinlichkeit.
Der totale Sieg fällt dem Politbüro von Hanoi früher
als erwartet in den Schoß. Ziel der Hochlandoffensive war
ursprünglich gar nicht die Eroberung von Saigon gewesen. Mit
einigen spektakulären Erfolgen im Raum von Hue hätte sich
General Dung wohl schon zufriedengegeben. Aber der Kollaps
des Südens löste dramatische Überstürzung aus. Während
die Nordvietnamesen in aller Hast ihre strategischen Reserven zu strahlenförmigen Stoßkeilen um Saigon zusammenziehen, verlagern sie auch die Schwerkraft ihrer Luftabwehr
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
262
von Tonking nach Süden. Noch rechnet man in Hanoi mit
einem Eingreifen der US-Air Force in letzter Minute, um
dem südvietnamesischen Verbündeten eine Galgenfrist zu
gewähren. Aber Präsident Gerald Ford, der Richard Nixon im
Gefolge von Watergate abgelöst hat, trägt sich mit anderen
Sorgen. Das allzu schnelle Vordringen der Nordarmee vereitelt auch alle Kompromiß- und Übergangspläne, die im
Umkreis der französischen Botschaft von Saigon ausgeheckt
worden sind. Der wendige Mérillon hatte den Quai d’Orsay
ermutigt, wieder einmal die Karte der Vermittlung zwischen
den Bürgerkriegsparteien zu spielen. Es galt vor allem, die
Nachfolge des Präsidenten Thieu in die Hände eines Mannes
zu legen, der auch für Hanoi als Gesprächspartner akzeptabel
wäre. Hatte nicht schon das Waffenstillstandsabkommen von
1973 einen »Rat der nationalen Versöhnung« als Interimslösung
vorgesehen? Der Vorschlag war intelligent, brillant und scheinbar vernünftig, wie so viele Konstruktionen der französischen
Diplomatie. Nur hielt er den Tatsachen und der grimmigen
Entschlossenheit der Kommunisten nicht stand.
Aller Augen haben sich zwei Tage lang voller Hoffnung auf
General Duong Van Minh gerichtet. Aber Big Minh glaubte
selbst nicht mehr an seine Mission. Der Segen aus Paris ist
in dieser Situation keinen Piaster wert. Er selbst weiß, daß
sein neutralistischer Versuch der letzten Stunde dieses Mal
ebenso scheitern wird wie seine politischen Ambitionen vor
zwölf Jahren, als er entscheidend dazu beitrug, den katholischen Diktator Ngo Dinh Diem zu stürzen. Der phlegmatische,
brave General Minh lädt die Presse zu einem Gespräch in
seine Villa ein. Das Haus ist unweit der Kathedrale an einer
schattigen Allee gelegen, die einmal den Namen »Charles de
Gaulle« trug. »Ich weiß, daß man mich bald an die Spitze
des Staates rufen wird oder dessen, was davon übrigbleibt«,
sagt Big Minh; »der Gedanke daran ist ein Alptraum.« Man
sieht dem schwerfälligen Mann das Bedauern an, daß er durch
die Tücke der Politik aus seiner beschaulichen Randexistenz
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
263
herausgerissen wurde. Er hätte viel lieber seine Orchideen
gezüchtet. Vielleicht hat er einen Moment mit dem Gedanken
gespielt, die Rolle eines vietnamesischen Marschall Pétain zu
spielen, aber Hanoi hat ihm lediglich die klägliche Funktion
eines Admiral Dönitz zugewiesen. Er darf nur noch bedingungslos kapitulieren. Wenige Tage später, am 30. April – aber
das ahnte an jenem Nachmittag noch niemand –, würden die
T 54-Panzer der Nordvietnamesen an der verwaisten US-Botschaft vorbei auf den Doc Lap-Palast zubrausen, die Gitter niederwalzen und die Auflösung der Republik Südvietnam vollziehen. Ehe die Politischen Kommissare aus Hanoi diesen Eintags-Präsidenten abführten, würde Duong Van Minh noch ein
paar Worte in das Mikrophon eines fremden Reporters murmeln: »Diejenigen haben gesiegt, die es verdienten.«
Die zehn letzten Tage vor dem Fall Saigons vergehen in
hektischer Spannung. Die Amerikaner haben den verbleibenden westlichen Ausländern den Evakuierungsplan für den Tag
X mitgeteilt. Über den US-Sender von Saigon wird dann die
Code-Ankündigung verlesen: »Die Temperatur hat 105 Grad
Fahrenheit erreicht.« Anschließend würde eine Platte von Bing
Crosby abgespielt: »I’m dreaming of a white Christmas«. Auf
dieses Signal soll jedermann zu den Startplätzen der amerikanischen Hubschrauber eilen und sich zu den Schiffen der
VII. US-Flotte ausfliegen lassen. Ich war fest entschlossen, an
diesem verzweifelten Run nicht teilzunehmen. Ich wollte mich
nicht wie ein Verstoßener im Schutz amerikanischer Marines
aus diesem Land herausstehlen, das ich vor dreißig Jahren in
Conquistadoren-Stimmung entdeckt hatte.
Mit einer Reihe von ausländischen Kollegen hatten wir
beschlossen, uns in Saigon von den Nordvietnamesen überrollen zu lassen. Die Risiken waren kalkulierbar. Aber ein
Kabel aus der Zentralredaktion hatte mir mitgeteilt, daß meine
Sondersendung über Vietnam auf den 2. Mai anberaumt war.
Schnitt und Endfertigung würden unter äußerstem Zeitdruck
stehen. Am 26. April fand unser Rückflug statt.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
264
Indochina, mon Amour
Im Flugzeug, Ende April 1975
Der Jumbo der Air France schraubte sich in steilen Kurven
hoch. Die nordvietnamesischen Vorhuten standen stellenweise
schon am Rande von Groß-Saigon. Der Pilot wußte, daß längs
der Straße 13 auch SAM-Raketen sowjetischer Bauart aufgefahren waren. Es war der letzte Linienflug, der Saigon verließ,
wie ich später erfahren sollte. Noch ahnte niemand an Bord,
daß der Fall der Hauptstadt nur noch eine Frage von drei Tagen
war. Aber jeder Passagier spürte, daß dies ein endgültiger
Abschied war, daß selbst im Falle einer späteren Rückkehr
die Stadt am Saigon-Fluß, das Land Südvietnam, daß GesamtIndochina total verwandelt und entfremdet sein würden.
Die stämmigen Kollegen vom Kamerateam, die ich solcher
Rührung gar nicht für fähig hielt, blickten mit bewegten und
ernsten Gesichtern auf die überfluteten Reisfelder und die
breiten Wasseradern des Mekong-Delta hinab, die unter den
letzten Strahlen der Sonne aufleuchteten wie Gold und Blut,
wie die Farben jener südvietnamesischen Republik, die in
diesen Stunden im Abgrund der Geschichte verschwand. Der
Steward servierte Champagner. Es kam keinerlei Erleichterung auf, der Tragödie entronnen zu sein. Jeder empfand
Trauer und Schmerz, als würde er das Ende einer Liaison
zelebrieren. Doch aus dem Lautsprecher des Jumbo tönte
nicht »Les feuilles mortes« von Prévert, sondern ein modischer französischer Schlager: »Elle court, eile court, la maladie
d’amour«.
Die Fahrt zum Flugplatz Tan Son Nhut war weniger dramatisch gewesen, als erwartet. Erst vor den letzten Sicherheitskontrollen stauten sich Fahrzeuge und Menschen. Es
herrschte keine Panik, und die Polizisten in den mausgrauen
Uniformen bemühten sich sogar, freundlich zu sein. Die
große Flüchtlingsmasse, die vergeblich versuchte, sich in Richtung auf die Abflughalle vorzuschieben, war weder laut noch
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
265
gewalttätig. In den Gesichtern stand oft eine Resignation, die
mehr aussagte über das künftige Schicksal Saigons als Hysterie
und Wut. Niemand verschwendete einen Blick auf das unfertige Kolossaldenkmal, dessen Grundstein kaum zwei Jahre
zuvor von Präsident Nguyen Van Thieu zu Ehren des »siegreichen« amerikanischen Verbündeten gelegt worden war und
an dem noch vor drei Tagen gearbeitet worden war. Auch
bei der Abfertigung kam es zu keinem Chaos. Paradoxerweise
war der Flug nicht einmal voll ausgebucht, und wir konnten
unser Übergepäck von 250 Kilo problemlos verfrachten. Die
meisten Ausreisenden auf dieser Maschine waren Vietnamesen
französischer Staatsangehörigkeit. Das französische Flug- und
Bodenpersonal machte einen point d’honneur daraus, ähnlich
wie die stark vermehrte Botschaftsbesatzung in Saigon, angesichts der Auflösung in den Reihen der Amerikaner größte
Gelassenheit zur Schau zu stellen. Die Rivalität der beiden
Verbündeten und konkurrierenden Staaten drückte sich selbst
in solchen Kleinigkeiten aus.
Die Menge der Abreisenden verhielt sich gefaßt. Vielen
dieser Vietnamesen sah man an, daß sie zur Creme der Saigoner Bourgeoisie gehörten. Man unterhielt sich in legerem
Plauderton, als hätten diese Zöglinge französischer Schulen
ihre Geschichtslektion gut gelernt und versuchten nun, den
Adel des Ancien Régime zu kopieren, der noch in der Stunde
vor dem Gang aufs Schafott Menuett tanzte. »Sind denn diese
Leute vom Schicksal ihres Landes so wenig berührt?«, fragte
ein deutscher Sozialhelfer, der nichts begriffen hatte und ebenfalls ausflog.
Eine halbe Stunde vor der Abfahrt zum Flugplatz hatte Minh
im Hotel angerufen. Sie verabschiedete sich mit artiger Stimme
und wünschte mir bon voyage. Mit keinem Wort erwähnte sie
ihren Kummer und ihre Angst. Ich versprach ihr, nach Fertigstellung des Films mit dem ersten Flugzeug nach Saigon
zurückzufliegen, wenn das dann noch möglich wäre. Unser
langjähriger Mitarbeiter Tin war bis zur Rampe des Jumbo
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
266
auf das Rollfeld gekommen. »Soll ich versuchen, mit dem
Hubschrauber ins Ausland zu entkommen?«, fragte er mich.
Ich blieb ihm die Antwort schuldig. »Das müssen Sie selbst
entscheiden«, zögerte ich. »Sie müssen die Wahl treffen zwischen einem Leben in der Fremde und der Unterdrückung im
eigenen Land.« Aber ich versicherte ihm, daß wir ihm helfen
würden, wenn er eines Tages im Westen auftauchen sollte.
Jetzt stand der sonst so nervöse und aufgeregte Tin scheinbar
unberührt vor dem Flugzeug und verbeugte sich höflich.
Die Vietnamesen von Saigon werden auch das durchstehen, so hofften wir damals. Auf lange Sicht könnten sie in
der Symbiose mit dem Norden vielleicht auch etwas von
ihrem weicheren, liebenswürdigeren Lebensgefühl vermitteln,
selbst wenn die Ideologen aus Hanoi sich dagegen sträubten.
Am Ende bliebe den Asiaten eine für den Westen unfaßbare
Anpassungsfähigkeit, die nichts mit Opportunismus zu tun
hat, sondern einer elementaren Kraft und dem verbissenen
Überlebenswillen entspringt. Sie würden den revolutionären
und sozialistischen Rummel mitmachen, so wie es die Politischen Kommissare erwarteten. Nach und nach – beginnend mit
den Jugendlichen und Kindern – würden sie zu Gefangenen
der eigenen Pose, des eigenen Mimikry werden und unmerklich in das neue revolutionäre System einbezogen sein.
Der Jumbo der Air France macht Zwischenlandung in Bangkok. Ich bleibe im Flugzeug. Ich will heute keine fröhlichen,
unbekümmerten Asiaten sehen. Warum überkommt mich nur
dieses überstarke Gefühl einer persönlichen Trennung? Ich
war einst fünf Jahre lang Korrespondent in Afrika gewesen
und hatte das Abenteuer der. Entkolonisierung am Kongo wie
einen Schock erlebt. Aber den Schwarzen Erdteil habe ich mit
einem Empfinden der Erleichterung und des Überdrusses verlassen. Eine lange Zeitspanne hatte ich der Berichterstattung
über den arabischen Raum gewidmet und mich im libanesischen Gebirge mühselig in Sprache und Religion des Orients
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
267
vertieft. Doch dort hatte ich mich auf kulturell verwandtem
Boden bewegt. Der einzigartige, fast schmerzliche Reiz Vietnams lag wohl in der widerspruchsvollen Kombination von
spröder Unnahbarkeit und verführerischer, lasziver Exotik,
in einer femininen Rätselhaftigkeit. Außenstehende haben oft
gemeint, die quasikoloniale Situation, in der wir uns befanden,
hätte das Leben der Weißen im Fernen Osten mit solchen Privilegien und solchem Komfort ausgestattet, daß wir nur mit
Nostalgie daran zurückdenken konnten. In Wirklichkeit lag die
Faszination dieser Weltgegend im schwerelosen Lebensstil, in
der oft makellosen Schönheit ihrer Menschen. Der kultivierte
Europäer mußte sich daneben fast barbarisch vorkommen.
Der Alkohol, dem wir seit dem Abflug reichlich zugesprochen haben, beginnt zu wirken. Der französische Teepflanzer
neben mir spricht von Vietnam wie von einer Geliebten, die
sich ihm entzieht, die widerstrebend die Gelübde eines neuen,
strengen Ordens auf sich nimmt; selbst im Falle einer Rückkehr
würde er sie nur durch die Gitter des Klosters wiedersehen
und unter dem Schleier nicht mehr erkennen. Auch ich spüre,
daß ich nicht nur von meinen Jugenderinnerungen Abschied
nehme, sondern von einem gewissen Lebensstil meiner Mannesjahre. Vielleicht koste ich diesen Abschied von dreißig
Jahren Vietnam zu sentimental aus. Was ist schon Erinnerung,
und was ist Einbildung? Hiroshima, mon Amour heißt der paradoxe Titel eines schönen französischen Films. Wieviel treffender hieße es doch: Indochina, mon Amour.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
DER DRITTE INDOCHINA-KRIEG
Die Chinesen
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Umerziehung und neue Fronten
Ho Tschi Minh-Stadt, im August 1976
Was die Informationsbehörden von Hanoi bewogen hat, mich 15
Monate nach der Eroberung Saigons durch die Armee des Nordens wieder in Vietnam einreisen und filmen zu lassen, wird
mir stets ein Rätsel bleiben. Vermutlich sind die Ministerien
und Sicherheitsorgane kommunistischer Staaten die Gefangenen ihrer eigenen Ideologie und Propaganda und können sich
nicht vorstellen, wie ernüchternd und empörend ihre Gleichschaltungsmethoden für einen westlich geschulten Geist sind.
Anders ließ sich auch nicht erklären, daß wir am ersten Tag
nach unserer Ankunft in Saigon – wir waren mit der Linienmaschine aus Hanoi eingetroffen – jenes menschliche Strandgut
besichtigen und filmen mußten, das die Niederlage von Kapitalismus und Imperialismus an den Gestaden des neuen, wiedervereinigten und sozialistischen Vietnam hinterlassen hatte.
Als erstes waren die Prostituierten an der Reihe. Man fuhr
uns in den Saigoner Vorort Tu Duc. Das frühere Erziehungsheim katholischer Schwestern war mit Stacheldraht umzäunt.
Vor dem Eingang standen bewaffnete Posten. Sechshundert
Mädchen hatten die Revolutionsbehörden dort zusammengetrieben. Ihnen sollte die Unsittlichkeit durch produktive Arbeit
ausgetrieben werden. Sie flochten Körbe und Matten. Die Aufseherinnen brachten ihnen Lesen und Schreiben bei, soweit
sie Analphabetinnen waren. Kinderkleidung wurde für die
sozialistischen Gemeinschaftsläden genäht. Im Garten wurde
gepflanzt und gejätet. Neben den strengen Matronen der Kommunistischen Partei huschten auch noch ein paar katholische
Nonnen über das Gelände. Zwischen grellen Propagandaplakaten, die den armen Mädchen eine strahlende und tugendhafte Zukunft versprachen, verblieb auch noch eine vereinzelte Statue des Heiligen Joseph mit der Lilie, dem Symbol der
Keuschheit, in der Hand.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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500000 Prostituierte hätten die amerikanische Besatzung
und das Thieu-Regime in Vietnam hinterlassen, erklärte eine
vietnamesische Aufsichtsdame, die nicht einmal unsympathisch wirkte. In Saigon allein habe es 200 000 gegeben. Nun
würden sie in Sechs-Monats-Kursen rehabilitiert und dann
aufs Land geschickt, um dort in den »Neuen Wirtschaftszonen«
zu wohnen und zu produzieren. Die Freudenmädchen von Tu
Duc waren meist arme Hascherl, unansehnliche Opfer einer
rüden Landsknechtswelt. Sie verrichteten brav und scheu ihre
Arbeit, sahen mit verstohlener Neugier auf unsere Geräte und
kicherten gelegentlich. Die Hübscheren unter ihnen riskierten sogar einen koketten Seitenblick, wenn sie sich von den
Wächterinnen unbeobachtet fühlten. Die gehobenen Exemplare des Gewerbes, die poules de luxe, wie man früher einmal
gesagt hätte, waren in diesen puritanischen Heimen zum roten
»Guten Hirten« nicht anzutreffen. Sie waren wohl rechtzeitig
untergetaucht oder hatten es verstanden, bei den Kommissaren des Nordens, die schnell in den Ruf heuchlerischer Tartufferie geraten waren, neue Protektoren und Kunden zu finden.
Sie taten uns leid, diese gefangenen Vögel von Tu Duc, die am
Ende in einer großen Kachelhalle zusammengetrieben wurden,
um händeklatschend ein revolutionäres Lied zu singen, dessen
Refrain mir sehr bekannt vorkam: »Vietnam, Ho Tschi Minh!...
Vietnam, Ho Tschi Minh!...«
Das nächste Ziel war die Anstalt für Rauschgiftsüchtige.
Auch hier handelte es sich um ein früheres katholisches Internat, das in eine Art Festung umgewandelt worden war, denn
die addicts stellten wohl größere Probleme als die Dirnen.
100000 Drogensüchtige habe das korrupte Regime der Vergangenheit gezüchtet, davon 20000 in Saigon, so sagte man
uns. Die Söhne der Bourgeoisie seien in der Mehrzahl. Aber
wir entdeckten sehr bald auch eine Reihe von Kriegsverwundeten, die sich wohl aus Schmerz oder Verzweiflung an den
Konsum des Opium oder Heroin gewöhnt hatten. Hier war
die Atmosphäre gespannt und schmerzlich. Ein Arzt erklärte,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
271
daß östliche und westliche Medizin zur Entwöhnung angewendet würde. Die Akupunktur habe gute Resultate gebracht.
Vor allem seien rhythmische Kollektivübungen von Nutzen.
Die Insassen dieser Entziehungsanstalt – wir bekamen
bestimmt nur die harmlosesten Fälle zu Gesicht – starrten
apathisch vor sich hin, wenn zwischen ihren tänzerischen
Gymnastikübungen, die dem chinesischen Tai-chi entliehen
waren, eine Pause entstand. Auch sie sollten nach der Heilung
in die neuen Pionierzonen geschickt werden. Die meisten
würden dort wohl zugrunde gehen. Am Ende hockten auch sie
im Kreis, sangen und klatschten zu dem Refrain: »Vietnam, Ho
Tschi Minh!... Vietnam, Ho Tschi Minh!...«
Eine dritte Station auf dem Weg zur Rehabilitierung der
südvietnamesischen Bevölkerung: das Waisenhaus von Diuc
Quang im Süden von Cholon, der chinesischen Schwesterstadt
Saigons. Dieses Mal trafen wir auf eine ursprünglich buddhistische Institution aus der Zeit des amerikanischen Krieges, an
der die Organisation Terre des Hommes mitgewirkt hatte. Noch
stand die riesige Buddha-Statue aufrecht im Hof, aber auch
hier waren die roten Transparente mit revolutionären marxistischen Losungen beschriftet. Etwa dreihundert Vollwaisen
im Alter von sechs bis siebzehn Jahren waren in Diuc Quang
untergebracht. Die buddhistischen Bonzen waren vertrieben
und durch linientreue Lehrkräfte aus dem früheren kommunistischen Untergrund ersetzt worden. Unter den Kindern
dieser Anstalt waren bestimmt auch ein paar jener kleinen
Zigarettenverkäufer, Schuhputzer und Taschendiebe eingefangen, die früher die Hotelterrasse des »Continental« umlagerten. Die vietnamesischen Besprisornyje wurden in die Zucht
des sozialistischen Staates genommen, und dagegen war nicht
viel einzuwenden. In diesem straff geführten Internat entdeckten wir ein paar traurige Nachfahren der fremden Okkupation – ein halbes Dutzend kleiner Eurasier mit blonden
Haarsträhnen und blauen Schlitzaugen; zwei Mädchen mit
Kraushaar, dicken Lippen und dunkler Hauttönung, die von
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
272
schwarzen Amerikanern gezeugt worden waren. Es herrschte
eine militärische Disziplin. Zu Füßen der Gautama-Säule traten
sie alle an, klatschten in die Hände, und es hallte zum Abschied
in quäkendem Gleichklang über den Platz: »Vietnam, Ho Tschi
Minh! ... Vietnam, Ho Tschi Minh!...«
Vor dem Hotel »Majestic« wartete Arno Knöchel in einem
Volkswagen auf mich. »Springen Sie schnell in den Wagen!
Wir fahren zur deutschen Botschaft, und Ihre Aufpasser sollen
nicht gleich wissen, worum es geht. Ich habe eine Zusammenkunft mit Madame Tin arrangiert.« Wir fuhren im Eiltempo
zur Rue Vo Tanh, wo der frühere Fremdenlegionär Knöchel
die geschlossene Vertretung der Bundesrepublik Deutschland
in Saigon wie seinen Augapfel und seine persönliche Domäne
hütete. Er hatte sich von seinen Hausmeisterpflichten auch
durch die kommunistische Machtergreifung nicht abbringen
lassen. »Wie geht es denn dem Freund Tin?«, wollte Knöchel
wissen. Das war eine lange Geschichte.
Unser langjähriger vietnamesischer Mitarbeiter Tran Van
Tin war am 29. April 1975 – drei Tage nach meiner Abreise – auf
einem der letzten amerikanischen Hubschrauber aus Saigon
entkommen. Über ein Flüchtlingslager in Guam erreichte
er die USA, wo Günter Müggenburg von der ARD ihm
eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung beschafft hatte.
Gemeinsam organisierten wir seinen Weiterflug nach Deutschland, wo ich ihm beim ZDF eine Beschäftigung vermittelte.
Aber Tin war ohne seine Frau und seine Kinder geflüchtet.
Lediglich sein junger Neffe Thanh, der unser Abenteuer beim
Vietkong miterlebt hatte, war mit ihm auf den Helikopter
gesprungen und saß jetzt ebenfalls in Wiesbaden. Während der
ledige Thanh in der Bundesrepublik schnell Wurzeln faßte, verfiel Tin einer fast aggressiven Verzweiflung. Offenbar konnte
er es nicht verschmerzen, daß er seine nächsten Angehörigen
in der Heimat zurückgelassen hatte. Wir beschlossen, ihn in
unser Frankreich-Studio nach Paris zu versetzen, wo er zahl-
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273
reiche Landsleute treffen und den Erwerb der französischen
Staatsangehörigkeit einleiten konnte. Doch seine psychische
Verfassung besserte sich keineswegs. Tin hatte wohl – infolge
der Trennung von Frau und Kindern – das Gesicht verloren,
und er unternahm den Kampf um die Rettung seiner Familie
mit einer Verbissenheit, wie sie nur einem Vietnamesen zuzutrauen ist. Vor seiner Abreise nach Saigon hatte er mir einen
Brief an seine Frau und ein paar hundert Dollar mitgegeben.
Frau Tin erwartete mich im Innern des deutschen
Kanzleigebäudes von Saigon. Strömender Regen ging nieder,
so daß den Spitzeln vielleicht die Lust an der Überwachung
vergangen war. Hausmeister Knöchel hielt neuerdings Gänse
im Vorhof der früheren Botschaft. Beim letzten Einbruch
hatten die Hunde nicht angeschlagen. Aber auf die Gänse,
die schon einmal im Altertum das römische Capitol vor dem
Überfall der Gallier gerettet hatten, war Verlaß. Madame Tin
war in einem unauffälligen Ao Dai gekommen. Hinter dunklen Brillengläsern waren die Augen vom Weinen gerötet und
verquollen. Als ich ihr den Brief und das Geld überreichte,
begann sie zu schluchzen. Sie hatte ihre kleine Tochter, ein
adrett gekleidetes, artiges Mädchen, mitgebracht, das unser
Gespräch mit unnatürlichem Ernst verfolgte. »Ich will zu
meinem Mann!« schluchzte Frau Tin, »ich will meinen Mann
wiederhaben. Die Kommunisten peinigen uns ohne Unterlaß,
und ich muß jeden Tag damit rechnen, daß ich mit meinen
drei kleinen Kindern in die Wildnis verschickt werde. Hunderttausende sind gefangen und vermißt. Alle Angehörigen des
früheren Mittelstandes kommen in die Rodungsgebiete, wo die
meisten krank werden und viele sterben. Wenn ich nicht zu
meinem Mann kann, bringe ich mich mit meinen drei Kindern
um.« Arno Knöchel hörte betroffen zu. Er wußte, daß dies ein
Fall unter unzähligen war. Das Schlimmste an der Repression
war ihre Willkür, ihre Planlosigkeit. Ganz einfache Soldaten,
die gegen ihren Willen von der Regierung Thieu zwangsrekrutiert worden waren, wurden seit über einem Jahr in den soge-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
274
nannten Umerziehungslagern, die in Wirklichkeit KZ’s waren,
festgehalten. Manche dieser jungen Männer wurden dann als
menschliche Wracks entlassen. Nicht einmal die rachsüchtige
Bosheit der Revolutionsbehörden, so hörte ich immer wieder,
sei das Schlimmste, sondern der unvorstellbare Schlendrian.
Ob ihr Mann nicht besser daran getan hätte, in Vietnam zu
verharren, statt in den Westen zu fliehen, fragte ich Frau Tin.
Aber da schrie sie zum erstenmal auf: »Sie hätten ihn getötet,
wenn er geblieben wäre.« Sie gab mir einen Brief, und ich versprach, von Paris aus das möglichste zu tun. Vor allem solle
sie Geduld und Zuversicht bewahren. Es waren leere Worte.
Knöchel schleuste sie möglichst unbemerkt durch einen Seiteneingang ins Freie. Es goß immer noch in Sturzbächen.
Dennoch sollte dieses Familiendrama knappe drei Monate
nach meiner Rückkehr aus Ostasien ein glückliches Ende
finden. Als ich Tran Van Tin in Paris wiedertraf, grenzte seine
Depression an Hysterie. Er schlief nicht mehr, war als Mitarbeiter nicht mehr zu gebrauchen und verzehrte sich in zahllosen Demarchen bei allen nur erdenklichen französischen und
vietnamesischen Behörden. Auch ihm hatte ich Geduld angeraten. Die Schlamperei bei den Auswanderungsbehörden von
Ho Tschi Minh-Stadt sei so unbeschreiblich, daß es mindestens ein Jahr dauern würde, ehe seine Anträge Aussicht auf
Bearbeitung hätten. In der Zwischenzeit könne man mit Bestechungsgeldern nachhelfen, denn die revolutionären Tugendbolde waren erstaunlich schnell dem südlichen Klima der Korruption erlegen. Doch Tin wies meine Argumente von sich.
»Ich gehe aufs Ganze«, sagte er, »ich suche den Eklat, den
Skandal. Ich kenne die Kommunisten und die Vietnamesen
und weiß, wie man sich bei ihnen durchsetzen kann, wenn
überhaupt eine Chance besteht.« Er hatte seinen französischen
Adoptivvater, oder was immer er war, wiedergefunden, einen
pensionierten Oberst der Fremdenlegion mit einem wohlklingenden aristokratischen Namen, der sich sofort einsetzte, über
zahlreiche Verbindungen verfügte und sogar mit Madame Gis-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
275
card d’Estaing um einige Ecken herum verwandt sein sollte.
Der Colonel verschaffte Tin in erstaunlich kurzer Frist die
französische Staatsangehörigkeit. Und nun begann der kleine
Vietnamese seinen einsamen Kampf gegen die diplomatische
Vertretung Hanois an der Seine. Wie es ihm gelungen ist, an den
Botschafter der Sozialistischen Republik Vietnam überhaupt
heranzukommen, wird stets sein Geheimnis bleiben. Tatsache
ist, daß er die Rote Exzellenz sogar zu nächtlicher Stunde mit
seinen Anrufen heimsuchte. Er trotzte ihm das Versprechen
ab, daß Ministerpräsident Pham Van Dong persönlich in seine
Affäre eingeschaltet werde. Mit einem anklagenden Protestplakat stand er stundenlang im Regen vor dem Gebäude in
der Rue Le Verrier. Als alles nicht zu helfen schien und seine
Frau die Ausreisegenehmigung immer noch nicht in Händen
hatte, griff er zum äußersten Mittel. Er drohte Selbstverbrennung vor der vietnamesischen Botschaft in Paris an, setzte ein
Ultimatum und lud die Reporter und Photographen der internationalen Presse zu diesem Schauspiel ein. Die deutschen
Fernsehanstalten wurden sich schnell einig, das Autodafe auf
keinen Fall zu filmen, um keine indirekte Ermutigung zum
Selbstmord zu leisten. Die französische Television reagierte
ähnlich. Doch Tran Van Tin gab sich nicht geschlagen. Er
kontaktierte über die südkoreanische Botschaft ein offizielles
Kamerateam aus Seoul, und Präsident Park Chung Hee
wollte sich offenbar die Gelegenheit nicht entgehen lassen,
die Unmenschlichkeit der vietnamesischen Kommunisten an
diesem Beispiel anzuprangern. Tin konnte und wollte nicht
mehr zurück. Wir näherten uns dem dramatischen Höhepunkt,
da rief er mich spät in der Nacht zu Hause an und stotterte
vor Aufregung. Soeben sei ihm von offizieller vietnamesischer
Seite telegraphisch mitgeteilt worden, daß seine Frau und seine
drei Kinder übermorgen mit der Air France-Maschine aus
Ho Tschi Minh-Stadt in Paris eintreffen würden. Tatsächlich
kam es am Flugplatz »Charles de Gaulle« zum Happy-End.
Tin leitet heute in der französischen Hauptstadt eine »Vereini-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
276
gung für die Verwirklichung der Menschenrechte in Vietnam«.
Offensichtlich geht es ihm nicht schlecht dabei.
Wir sind wieder auf der Straße 13, früher einmal »Road to
Peace« genannt. Die Monsunwolken hängen niedrig und dunkel
wie einst. Es war eine elegante Geste der Revolutionsbehörden
von Ho Tschi Minh-Stadt, uns in jene Gegend reisen zu lassen,
wo wir im Sommer 1973 – vor genau drei Jahren – vom
Vietkong gefangengenommen worden waren. Die Spuren der
Materialschlacht sind kaum noch zu erkennen. Mannshohe
Vegetation ist über die verletzte Landschaft gewuchert und
deckt alles zu. Die Vietnamesen nennen diese schilfähnliche
Pflanzendecke »amerikanisches Gras«. Auch die Asphaltbahn
ist repariert, was darauf hindeutet, daß die Straße 13, die zur
kambodschanischen Grenze im Norden führt, wieder strategische Bedeutung besitzt. Um das Militärlager Lai Khe haben wir
einen weiten Bogen gemacht. Dort hatte der südvietnamesische
Divisionskommandeur am Tage der Kapitulation seine Soldaten in strammer Formation antreten lassen und sich vor versammelter Mannschaft eine Kugel in den Kopf geschossen,
während die Flagge Südvietnams endgültig eingeholt wurde.
Die Stimmung in unserem Volkswagen-Bus ist gereizt. Das
liegt an den neuen Begleitern und Aufpassern, die man uns in
Saigon auferlegt hat. Vor allem ein junger Mann namens Map
macht aus seiner Feindseligkeit kein Hehl. Seine Froschaugen
lassen uns keine Minute aus dem Visier. Wie wir erfahren, hat
er nach Hanoi berichtet, wir seien Agenten des Westens und
trügen uns mit subversiven Absichten. Auch die militante Journalistin aus dem Revolutionskomitee von Ho Tschi Minh-Stadt
fällt uns mit ihren aufdringlichen Propagandatiraden auf die
Nerven. Unsere beiden Gefährten aus Hanoi hingegen – Frau
Tu und Herr Hong –, die vom vietnamesischen Fernsehen zu
unserer Führung abgeordnet wurden und die sich durch herzliche Hilfsbereitschaft auszeichnen, haben im Süden nichts zu
melden. Hier herrscht revolutionäre Wachsamkeit, das heißt,
die Spitzelei und das Mißtrauen folgen uns auf Schritt und
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
277
Tritt. Zum Glück haben wir Oberst Phuong Nam in Ho Tschi
Minh-Stadt wiedergetroffen. Er war in der letzten Kriegsphase
Presseoffizier des Vietkong im sogenannten Camp David am
Flugplatz von Saigon gewesen, und jetzt ist er wohl ein ziemlich hohes Tier, wenn man das an seinem Citroën mit Chauffeur ermessen kann. Doch selbst Oberst Phuong Nam gelingt
es nicht, den krankhaften Argwohn der Sicherheitsorgane zu
beschwichtigen. Die Tatsache, daß die vietnamesische Staatspolizei in der DDR ausgebildet wird, erleichtert die Situation
nicht. Unser Ziel ist ein Trümmerhaufen, die Provinzhauptstadt
An Loc, »ein vietnamesisches Stalingrad«, wie Map versichert,
wobei er verschweigt, daß die heldenhaften Verteidiger dieser
strategischen Schlüsselstellung damals südvietnamesische
Fallschirmjäger waren. Von der zentralen Geschäftsstraße An
Locs sind nur ein paar verkohlte Mauern übriggeblieben. Die
spärliche Bevölkerung lebt immer noch behelfsmäßig in Kanisterbuden und Strohhütten. Auf dem Markt sind Früchte und
Maniok geschichtet, die von Angehörigen rassischer Minderheiten auf ihren Dschungellichtungen geerntet werden. Unter
diesen Eingeborenen befinden sich zahlreiche Kambodschaner, aber vor allem primitive Waldmenschen, die die Vietnamesen früher als »Moi«, als »Wilde«, bezeichneten, Verwandte
der Montagnards aus dem annamitischen Hochland. Die Moi
haben eine dunkelbraune Haut und krauses Haar. Sie wirken
grobschlächtig neben den feingliedrigen Annamiten. Sie laufen
immer noch halb nackt, haben Kiepen auf dem Rücken und
schmücken sich mit plumpen Halsringen. Ich frage nach
den Stammesnamen dieser Urrasse. Sie heißen Punong, Chauman und Stieng. Da horche ich auf. In seinem »Königsweg«
beschreibt André Malraux das Zusammentreffen seines Helden
Claude mit den Stieng, diesen Überlebenden der Steinzeit, und
den urweltlichen Schrecken, der von ihnen ausging. Die Stieng
von An Loc wirken recht harmlos, während sie sich um den
überladenen und schrottreifen Bus drängen, der aus Loc Ninh
angerattert ist.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Überall stehen Soldaten und Polizisten mit schußbereiten
Gewehren. Plötzlich beginnt die Knallerei. Ein paar Bewaffnete laufen feuernd und schreiend über die rote Lateritstraße
einer Schranke entgegen. Die Zivilisten sind mit unglaublicher Behendigkeit in Deckung gegangen. Der Zwischenfall
hat nur zwei Minuten gedauert, und die Funktionäre unserer
Eskorte wirken verlegen. Die Soldaten hätten Jagd auf Warzenschweine gemacht, stottert der froschäugige Map, der vor
keiner Absurdität zurückschreckt. Aber der Hauptmann, der
uns in An Loc begrüßt hat, findet diese Lüge wohl doch zu
plump. »Ein Gefangener ist aus dem Gefängnis ausgebrochen
und hat versucht, in den Wald zu entkommen«, sagt er kurz
und bündig; »er ist aber schon wieder gefaßt worden.« Man
führt uns auf die Betonplatte des südvietnamesischen Befehlsbunkers, und mit unseren Objektiven tasten wir die wellige
Landschaft ab, die bei Loc Ninh schon nach Kambodscha
überleitet. Unser Blick fällt auf einen Panzerfriedhof, wo ein
Dutzend stählerner Ungetüme rostet. Die Ketten sind geborsten, die Turmluken gesprengt, die Wände von BazookaEinschlägen zerfetzt. Es sind russische Tanks vom Typ T 54.
Map hindert uns am Filmen, und unsere Proteste nutzen
nichts. Sogar der umgängliche Hauptmann brummt achselzukkend: »Wissen Sie, wenn es nicht unsere eigenen wären ...«.
Auf der Rückfahrt halten wir bei dem Dorf Tan Khai, einer
Pionier-Siedlung der »Neuen Wirtschafts-Zone«. Genau an
dieser Stelle hatten wir im Frühjahr 1972 beobachtet, wie die
Gegenoffensive der Saigon-Armee trotz ungeheuren Materialaufwandes im sporadischen Feuer von ein paar Dutzend Nordvietnamesen steckenblieb. Auch hier hat das »amerikanische
Gras« die Krater und Trichter zugedeckt, aber die Minen sind
immer noch da und fordern Opfer unter den neuen Siedlern.
Der Vorsitzende des Revolutionären Ortskomitees – das Wort
»revolutionär« darf wohl nirgends fehlen – erklärt das Prinzip
dieser neugegründeten Ortschaften. Etwa 5800 Menschen –
1100 Familien – sind aus Saigon in diese trostlose, minenver-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
279
seuchte und unfruchtbare Gegend verpflanzt worden. Keiner
von ihnen ist freiwillig gekommen, sondern man hat sie eines
Tages auf Lastwagen gepackt, mit dem Entzug der Lebensmittelrationen gedroht und sie dann vor einer Reihe von
Behelfshütten abgesetzt, die lediglich aus vier Pfosten und
einem Strohdach bestanden. Die Städter, die noch nie in der
Landwirtschaft gearbeitet hatten, mußten wohl oder übel mit
der Bewässerung des spröden Lateritbodens beginnen, das
Dickicht abholzen und ihre Behausungen ausbauen. Gegen
das Prinzip der Aussiedlung von eineinhalb Millionen Menschen aus der hoffnungslos aufgeblähten Metropole am Saigon-Fluß ist gewiß nichts einzuwenden, und auch die Urbarmachung der bisher nicht genutzten Landstriche war ein positiver Entschluß der neuen Behörden. Aber die Durchführung
dieser gewaltigen Operation, die zahlreiche andere Städte und
Provinzen von Südvietnam erfaßt, erscheint schlampig, chaotisch, ja kriminell.
Den Neusiedlern fehlt es an landwirtschaftlicher Schulung,
an Geräten, an Düngemitteln, an Saatgut, an allem. Theoretisch sollen sie im ersten halben Jahr nach der Zwangsverschickung 16 Kilo Reis pro Person und pro Monat sowie ein
halbes Kilo Salz kostenlos erhalten. Aber diese Versprechen
wurden in den seltensten Fällen eingehalten. Die Malaria grassiert und Medikamente gibt es nicht. Offenbar sind in Tan
Khai auch Cholera-Fälle aufgetreten, denn naive Zeichnungen
geben Anleitungen zur Verhütung dieser Seuche. Im Krankenrevier, das uns der Ortsvorsitzende zeigt und das eindeutig
nach dem Potemkinschen Prinzip installiert ist, befinden sich
nur ein asthmatischer Greis und eine Schwangere. Immerhin
haben unser Besuch und die damit verbundenen Filmaufnahmen den Einwohnern von Tan Khai – unter denen sich
sechshundert Chinesen und sechs Cham befinden – zu einer
ungewöhnlich reichhaltigen und spektakulären Reisverteilung
verholfen. Ein wenig erinnern die Szenerie und die trostlose
Landschaft an die Transmigrasi-Dörfer von Sumatra.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
280
Drei Kilometer südlich von Tan Khai wimmelte es auf beiden
Seiten der Straße 13 von schwarz gekleideten Jugendlichen. Sie
waren überwiegend mit Erdarbeiten beschäftigt. Die jungen
Männer und die Mädchen lebten nach Geschlechtern getrennt
in großen Baracken, die wesentlich stabiler wirkten als die
armseligen Hütten der Umsiedler. Es war bereits später Nachmittag. Verschiedene Gruppen, die ihr Tagespensum beendet
hatten, spielten Fußball oder Volleyball. Die jungen Leute
stammten sämtlich aus dem achten Bezirk von Saigon. Angeblich hatten sie sich freiwillig gemeldet. Viele Sprößlinge der
cochinchinesischen Bourgeoisie waren darunter, die – wie Map
behauptete – in der Feldarbeit die Läuterung von den korrupten Gewohnheiten ihrer Klasse suchten. In Wirklichkeit
handelte es sich auch hier um eine Zwangsverschickung, und
die Verpflichtung zum Wiederaufbau erstreckte sich über eine
Periode von drei Jahren. Danach sollte – je nach Leistung und
ideologischem Eifer – von den zuständigen Revolutionsorganen entschieden werden, welcher beruflichen Tätigkeit die einzelnen Jugendlichen sich zuwenden könnten. Die Stimmung
bei diesem »freiwilligen« Arbeitsdienst war im Vergleich zu
den Dörfern der »Neuen Wirtschaftszone« beinahe fröhlich.
Die jungen Leute, die 18 Kilo Reis und vier Dong pro Monat
– das sind umgerechnet etwa drei Mark – erhielten, wirkten
gut genährt. Sie hatten intelligente Gesichter. Unsere KameraArbeit beobachteten sie mit offenkundigem Widerwillen. Sie
hielten uns zweifellos für ein Fernsehteam aus dem Ostblock,
und ich hörte mehrfach das Wort »Lien Xo«, was Sowjetunion
bedeutet. War es schon im Zweiten Indochina-Krieg lästig
gewesen, als Europäer immer wieder für einen Amerikaner
gehalten zu werden, so erschien es uns jetzt unerträglich, mit
den Russen verwechselt zu sein. Jedenfalls trugen die »freiwilligen Arbeitskräfte« des achten Bezirks eine Stimmung geballter und trotziger Opposition gegen die neuen, sozialistischen
Zwangsmethoden zur Schau. Demnächst würden die Kommissare aus Hanoi wohl versuchen, diesen passiven Widerstand
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281
durch Eingliederung der jungen rebellischen Südisten in die
kommunistischen Streitkräfte zu brechen.
Im Dorf Chon Tanh hielten wir neben einem zerschossenen
Reiterstandbild. Dort teilte uns unser Begleiter mit, daß
meinem Wunsch, nach Tay Ninh zu fahren und mit den Caodaisten zu reden, nicht entsprochen werden könne. Es gebe keine
Probleme mit dieser Sekte mehr. Der Grundbesitz des Cao
Dai-Klerus sei auf eine Art Vatikanstaat von hundert Hektar
eingeengt worden und sein politischer Einfluß sei kaum noch
spürbar. Dennoch wäre ein ausländischer Besuch zu diesem
Zeitpunkt nicht opportun. Ob ich wohl auch beabsichtige,
zu den Hoa Hao zu reisen, fragte Map lauernd. Jedermann
wußte, daß diese kriegerische Buddhisten-Gruppe am Rande
der großen Schilfebene einen aussichtslosen Partisanenkrieg
gegen die Eroberer aus dem Norden führte. So konnte ich nur
aus der Ferne einen Blick auf den düsteren Kegel der »Schwarzen Jungfrau« werfen. Der gewittrige Horizont hinter ihr war
von Blitzen gepeitscht. Der Donner grollte wie Schlachtenlärm
zu uns herüber.
In Wirklichkeit war das vietnamesische Oberkommando in
diesem Sommer 1976 schon dabei, seine Divisionen längs der
kambodschanischen Grenze aufmarschieren zu lassen. Selbst
die strengen Kommunisten von Hanoi waren verstört über
die wirren Nachrichten, die sie aus dem Land der Khmer
erreichten. Nordvietnam hatte offenbar jeden Einfluß auf seine
früheren kambodschanischen Schützlinge verloren. Mit Müh
und Not war es gelungen, eine Delegation vietnamesischer
Journalisten in die Gespensterstadt Phnom Penh einzuschleusen. Sie waren mit allen Zeichen des Entsetzens zurückgekehrt.
Ein revolutionäres Delirium hatte sich der »Roten Khmer«
bemächtigt. Sie wüteten wie Wiedertäufer nicht nur unter
ihren früheren Gegnern des Lon Nol-Regimes; jeder, der nicht
aktiv auf ihrer Seite gekämpft hatte, war suspekt und von Ausmerzung bedroht. »Das Blut befreit uns von Sklaverei«, so lau-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
282
tete angeblich die neue Nationalhymne des »Demokratischen
Kampuchea« und das Blut floß in Strömen. Nach dem Massaker der proamerikanischen Streitkräfte wurden auch die Intellektuellen, die Lehrer, die Studenten systematisch liquidiert,
obwohl sie meist aktiv gegen Prinz Sihanuk und später gegen
Lon Nol opponiert hatten. In Kambodscha wurde tabula rasa
gemacht. An der Spitze des schrecklichen Staates der »Roten
Khmer« stand die geheime Kommandozentrale »Ankar«, deren
Zusammensetzung unbekannt blieb und deren mörderische
Beschlüsse unwiderruflich waren. Die entsetzten Beobachter
sprachen von »Steinzeit-Kommunismus«. Das Geld war in
Kambodscha abgeschafft. In pausenlosem Einsatz arbeitete die
gesamte Bevölkerung in den Reisfeldern, rodete den Dschungel, grub Kanäle. Es schien, als wollten die wahnwitzigen Ideologen, die die Macht an sich gerissen hatten, die Sklavengesellschaft des großen mittelalterlichen Imperiums von Angkor
unter pseudomarxistischen Vorzeichen neu erstehen lassen.
Aber sie schufen nur Elend, Verzweiflung und wirtschaftliches Desaster. Die Pagoden wurden entweiht, die Bonzen
zur Fronarbeit eingesetzt und beim geringsten Anlaß umgebracht. Religion und Astrologie, aber auch Tanz und Vergnügen
waren untersagt. Das Geschlechtsleben wurde auf reine
Reproduktionstätigkeit unter der puritanischen Aufsicht der
roten Kommissare beschränkt. Umerziehungslager gab es in
Kambodscha nicht. Für Regimegegner und Verdächtige gab
es nur den Tod. Die Bücher wurden verbrannt. Die wenigen
Fabriken, die mit chinesischer Hilfe wieder in Gang gebracht
worden waren, kamen schnell zum Stillstand. Die Maschinen
wurden nämlich jugendlichen Aktivisten im Alter von zwölf bis
fünfzehn Jahren ausgeliefert. Die Fischereiflotte wurde regimetreuen Fanatikern aus dem Binnenland anvertraut, die noch
nie das Meer gesehen hatten und sich wunderten, daß Seewasser salzig schmeckte. Die Krankenhäuser waren geschlossen,
und die Ärzte arbeiteten als Kulis im Reisfeld. Die Zahl der
Toten während der US-Intervention und des Bürgerkriegs in
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Kambodscha war auf rund 500000 Menschen geschätzt worden.
Ein paar Monate »Frieden« unter den Roten Khmer hatten
offenbar genügt, um die Million vollzumachen.
Mit diesen Schreckensnachrichten waren die vietnamesischen Journalisten aus Kambodscha zurückgekehrt. Die wenigen Diplomaten, die in Phnom Penh akkreditiert waren, durften einen Radius von zweihundert Metern rund um ihre Botschaft ohne Sondergenehmigung nicht verlassen. Auch sie
mußten sich teilweise in den kollektiven Volksküchen ernähren.
Eine kambodschanische Währung gab es nicht, und so mußten
Benzin oder Zigaretten mit grünen US-Dollars bezahlt werden.
Die einzigen privilegierten Ausländer waren die Experten
und Ratgeber aus Peking. Doch sie hatten nicht verhindern
können – wie die Vietnamesen schadenfroh berichteten –,
daß die in Kambodscha lebenden Auslandschinesen das Opfer
eines förmlichen Pogroms wurden. An der Spitze des Staates,
im düsteren Machtgefüge von »Ankar«, wurden angeblich
mörderische Einfluß- und Fraktionskämpfe ausgetragen. Als
starker Mann und Regierungschef dieses finsteren Regimes
fungierte ein gewisser Pol Pot, der den Gästen aus Hanoi als
einziger politischer Gesprächspartner begegnet war. Pol Pot
hatte zugegeben, daß achtzig Prozent der Bevölkerung Kambodschas an Malaria erkrankt seien und an Unterernährung
litten. Bei unserer Ankunft auf dem Flugplatz von Ho Tschi
Minh-Stadt waren wir einer kambodschanischen Frauendelegation begegnet, die sich auf dem Weg nach Hanoi befand.
Damals gab es noch solche Kontakte. Bei ihrem Anblick
empörte sich unsere Dolmetscherin Madame Tu: »Sehen Sie
sich diese Frauen an!«, sagte sie. »Sie haben alle auf höchsten
Befehl ihre langen Haare abschneiden müssen. Wenn man von
uns Vietnamesinnen das gleiche verlangte, käme es zu einem
Aufstand.«
Die Gesellschaft der Madame Tu war einer der wenigen Lichtblicke während dieses deprimierenden Aufenthalts in Saigon.
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Sie war eine Tochter des Nordens, entstammte einer kleinen
Intellektuellenfamilie, die sich frühzeitig der Revolution angeschlossen hatte. Während des Krieges gegen die Franzosen war
sie im tonkinesischen Aufstandsgebiet bei Tay Nguyen aufgewachsen. Später hatte sie in der DDR Elektronik studiert.
Sie war eine heitere Frau und, wie so viele Vietnamesinnen,
mit unverwüstlicher Energie ausgestattet. Ihr Mann arbeitete
als Ingenieur. Ihre hübsche kleine Tochter trug das Halstuch
der roten Pioniere. Unsere Dolmetscherin hatte in Saigon die
Familie eines Onkels besucht, der im Gegensatz zu ihrem Vater
auf Seiten der bürgerlichen Nationalisten gestanden hatte und
im Gefolge der französischen Niederlage nach Süden ausgewandert war. Sie kam sehr deprimiert von diesem Ausflug
zurück.
Doch am späten Abend – als wir auf den Rundbänken
des Staatszirkus von Hanoi saßen – strahlten ihre Augen
schon wieder vor Spaß. Dabei waren die Darbietungen, die
sich natürlich nach dem sowjetischen Modell streckten, recht
bescheiden. Die Tiernummern amüsierten uns am meisten.
Ein Elefant schoß einen Fußball auf einen hurtigen Affen, der
als Torwächter dressiert war und seine Rolle außerordentlich
ernst nahm. Mit cholerischem Eifer schnappte er den Ball, den
der gewaltige Dickhäuter mit souveränem Phlegma auf ihn
abfeuerte. Aus den Augen des kleinen Schimpansen sprach die
Angst des Tormanns beim Elfmeter. Eine Gruppe Bonzen, die
ebenfalls in der ersten Zuschauerreihe saßen, schüttelte sich
vor Lachen. Einen Moment lang vergaßen wir, daß das Zirkuszelt – obwohl mitten in Ho Tschi Minh-Stadt aufgeschlagen – von schwer bewaffneten Bo Doi wie ein gefährdetes
Militärgebiet abgesichert war. Sogar Stacheldraht hatten sie
gezogen, und jeder Zuschauer mußte sich umständlich ausweisen. Die Revolutionsbehörden fühlten sich offenbar immer
noch nicht sicher in dieser Stadt Saigon, die sie vor fast eineinhalb Jahren kampflos besetzt hatten. Immerhin hob sich
die Veranstaltung der Gaukler aus Hanoi wohltuend von jenem
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hochpolitischen Kinderfest ab, das wir drei Tage zuvor gefilmt
hatten. Der Park des Doc Lap-Palastes, des früheren Amtssitzes Präsident Thieus, war wie zu einer großen Kirmes
dekoriert worden. Die blauroten Fahnen der »Befreiungsfront
für Südvietnam« waren schon überall durch die knallrote
Flagge des siegreichen Nordens ersetzt worden. Die Lautsprecher plärrten Militärmärsche und revolutionäre Hymnen.
Spruchbänder feierten die Wiedervereinigung Vietnams, die
durch eine Abstimmungsfarce bereits beschlossen war und
deren offizielle Proklamation nicht auf sich warten lassen
würde. Überall thronte das Porträt Ho Tschi Minhs. Der
alte Revolutionär mit dem schütteren Bart war in rosa und
hellblauen Bonbon-Farben gemalt. Er trug stets ein gütiges
väterliches Lächeln zur Schau. Onkel Ho war zum Devotionalienobjekt seiner triumphierenden Ideologie geworden. Er
war das Opfer eines revolutionären Kitsches, der seine Anregungen im platten Realismus sowjetischer Kunst, in den HerzJesu-Motiven der sulpizianischen Schule und in der bizarren
Tradition der taoistischen Heiligenwelt suchte. Als »atheistische Theokratie« würde eines Tages der »neue Philosoph«
Bernard Henri Lévy die Pseudo-Religiosität des Marxismus
bezeichnen. In Vietnam hätte er eine zusätzliche Bestätigung
seiner Thesen gefunden. Am unerträglichsten erschienen uns
jene politischen Funktionäre und »Can Bo«, die die Kinderschar von Saigon im neuen Glauben und in dessen
Liturgie einzuweisen suchten. Sie entblödeten sich nicht –
obwohl ihre Schläfen oft grau waren –, das rote Halstuch
der »Jungen Pioniere« umzubinden, und lächelten fast so
süßlich wie ihr allgegenwärtiger Prophet. Die Kinder, deren
Familienangehörige noch in den Umerziehungslagern verkamen, setzten oft störrische Mienen auf. Aber das machte die
selbstgerechten Erzieher, die Missionare der Weltrevolution,
nicht irre. Sie waren die neuen, die erfolgreichen Caodaisten
des dialektischen Materialismus, die den Bart Victor Hugos
durch den Bart des Karl Marx ersetzt hatten. Sie hätten am
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liebsten ganz Südvietnam in einen riesigen Kindergarten verwandelt, der pausenlos das Lob und die Glorie des Onkel Ho
sang. Sie waren die asiatischen Priester des Marxismus, und
wie eine Litanei erklang der jugendliche Chor: »Vietnam, Ho
Tschi Minh!... Vietnam, Ho Tschi Minh! ...«
Am frühen Morgen schlenderten wir durch Cholon, die
Chinesenstadt Saigons. Der Sozialismus tat sich schwer mit
diesen Söhnen des Himmels, die den Vietnamesen als Kaufleute und Organisatoren weit überlegen waren. Während der
französischen Kolonisation hatten die Chinesen das Monopol
des Reishandels an sich gerissen. Für die Politischen Kommissare aus Hanoi waren sie eine unverbesserliche Kaste von
Schmarotzern, Kapitalisten und Compradores. Aber auch in
den Augen der übrigen vietnamesischen Nationalisten stellten
die Chinesen einen unerträglichen Fremdkörper und einen
Unsicherheitsfaktor dar. Die schlauen Kaufleute von Cholon
hatten bei Ankunft der Revolutionsarmee die Fahne Mao Tsetungs gehißt. Aber das nutzte ihnen wenig, ja, es schadete
ihnen bald, denn der alte chinesisch-vietnamesische Gegensatz war in den Kriegsjahren durch das Gefasel vom »proletarischen Internationalismus« nur mühsam überkleistert worden.
Nun brach er wieder auf. Noch herrschte reges Leben und Treiben in Cholon. Aber jedermann wußte, daß die totale Nationalisierung des Handels längst beschlossen war. Die Ladenbesitzer
saßen mit undurchdringlichen Gesichtern hinter ihren Theken
mit den hölzernen Rechenmaschinen. Das bewaffnete Sicherheitsaufgebot der Vietnamesen war spektakulär und bedrohlich. Jedermann wußte, daß nur ein Aufschub gewährt war,
daß die Vorräte in den Geschäften zu Ende gingen, daß immer
mehr Familien in die Wildnis der Pionierzonen verschickt
wurden, daß die Magnaten der Reisspekulation in den Verliesen der Wirtschaftspolizei pausenlosen Verhören unterzogen wurden. Sobald sie uns als westliche Ausländer identifizierten und mit uns allein waren, sprachen die Chinesen von
Cholon offenherzig über ihre Sorgen und Ängste. Während ich
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eine kleine Lackmalerei kaufte, servierte mir der Ladenbesitzer Tee. »Das frühere Regime war nicht gut, Monsieur«,
sagte er. »Aber was heute auf uns zukommt, ist schrecklich. Es
bleibt uns wohl nur die Ausreise, aber wohin? Man redet
so viel von sozialer Gerechtigkeit. Doch betrachten Sie diese
neuen Profiteure aus dem Norden, wie sie sich auf die
Güter der geschmähten Konsumgesellschaft stürzen, wie
sie sich durch Erpressung und reinen Diebstahl unseren
Besitz aneignen. Früher hat es Reich und Arm gegeben in
Südvietnam, demnächst gibt es nur noch Arme. Bedenken Sie
nur zwei Zahlen: in Nordvietnam gab es bei Kriegsende 30000
Fernsehgeräte, in Südvietnam zwei Millionen. Es muß also
damals im Süden zwei Millionen Familien – das sind mindestens zehn Millionen Menschen – nicht ganz schlecht gegangen
sein.«
Durch einen puren Zufall haben wir einen Zipfel des vietnamesischen Gulag-Archipels entdeckt. Man hatte uns in Ho Tschi
Minh-Stadt vorgeschlagen, die Urbarmachung der riesigen
und trostlosen Schilfebene zu filmen, die im Westen durch das
fruchtbare Reisland des Mekong-Deltas und im Osten durch
den kambodschanischen Kautschuk-Gürtel begrenzt wird. Die
Plaine des Joncs, wie die Franzosen sie nannten, war stets
ein unsicheres Gebiet gewesen und hatte den Partisanen aller
Schattierungen Zuflucht geboten. Während des Monsuns verwandelte sich dieser Sumpf in eine endlose Wasserfläche, und
die bauschigen Wolken der Regenzeit verzerrten sich darin wie
in einem fleckigen, schlammverkrusteten Spiegel. In der Trokkenzeit erstarrte die Schilfebene zu einer grünlich-schwarzen
Masse aus Fäulnis und Morast. Die Amerikaner hatten dieses
Gebiet während ihres Krieges zur »freien Feuerzone« erklärt,
wo nach Belieben auf alles geschossen werden durfte, was sich
bewegte.
In My Tho hatten wir übernachtet. Nach Einbruch der Dunkelheit waren wir zum rötlichen Licht der Öllampen durch
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die Straßen dieser Provinzhauptstadt am nördlichen Rand des
Mekong-Deltas spaziert. Wir waren von schwerbewaffneten
Soldaten begleitet. Überall lastete die Drohung von Widerstand und Attentaten. Die Revolutionsbehörden von My Tho
hatten uns zwei ehemalige Offiziere der Saigoner Nationalarmee zum Interview vorgeführt. Es war keine geglückte
Veranstaltung, und in den Augen der Befragten spiegelten
sich Verschüchterung und Angst. Über die Zahl der inhaftierten Regime-Gegner oder Verdächtigen war keine auch nur
annähernde Zahl zu erfahren. So blieb die Vermutung unwiderlegt, daß immer noch ein paar hunderttausend politische
Gefangene in den Umerziehungslagern – »Hoc Tap« genannt
– eingesperrt waren. Die ehemaligen Sympathisanten, Angestellten und Agenten der Amerikaner – insbesondere die vietnamesischen Mitarbeiter des CIA – hatten keine Chance,
den Politischen Kommissaren Hanois zu entkommen. Bei der
überstürzten Räumung ihrer Saigoner Dienststellen hatten
die Amerikaner zwar die Ergebnisse ihrer Erdöl-Prospektionen längs der indochinesischen Küste mitgenommen, jedoch
sämtliche Listen ihrer vietnamesischen Freunde und Kollaborateure in die Hände des Feindes fallen lassen.
Wir ließen die satten, grünen Farben der Reisfelder, das
pulsierende Leben der Kanäle, die lieblichen Dörfer mit den
Bambusstauden hinter uns. Die Schilfebene empfing uns mit
Wolken von Moskitos und Verwesungsgestank. Unsere Ankunft
in dem Flecken Phuoc Tay löste Verwirrung aus. Wir waren auf
eine kleine Einheit ehemaliger Vietkong-Partisanen gestoßen,
die nicht die grüne Uniform der Armee trug, sondern das gelbe
Khakituch der Polizei. Aber ihre Aufgaben erschienen – an der
Bewaffnung gemessen – durchaus militärisch. Ursprünglich
sollten wir einen Abschnitt der Schilfebene besichtigen, wo
ein reguläres Regiment im Dienste des sozialistischen Aufbaus
durch Graben von Kanälen die Entsalzung der Schilfwüste
und ihre spätere landwirtschaftliche Nutzung in Angriff nahm.
Aber die Verständigung hatte offenbar nicht geklappt, oder
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man hatte sich im Tag geirrt. Nach längerem Palaver mit einem
unwirschen Polizeioffizier, der uns feindselig musterte, schulterten seine ehemaligen Partisanen Schaufeln und Hacken und
machten sich irgendwo im Schlamm an die Arbeit. Ihre saubere helle Khaki-Uniform eignete sich in keiner Weise für diese
Verrichtung und starrte bald vor Schmutz. Nachdem wir ein
paar dürftige Bilder gedreht hatten, tauschten die Polizisten
wieder das Arbeitsgerät gegen die AK 47 aus. Die Gesichter
dieser Männer wirkten hart und fast grausam. Sie waren
durch die Hölle eines jahrelangen Partisanenkrieges in diesem
gnadenlosen Sumpf gegangen. Sogar der übereifrige Spitzel
Map war durch das Auftreten dieser verbiesterten Veteranen
eingeschüchtert. Wir wollten schon nach Aufnahme einer
Landschafts-Totalen das Unternehmen abbrechen, da entdeckten wir vom Dach unseres Volkswagen-Busses einen ganzen
Ameisenhaufen arbeitender Menschen. Sie waren – wie wir
durch das Kameraobjektiv erkannten – mit dem Ausschachten eines breiten Kanals beschäftigt. Diese emsigen Männer
trugen zerfetztes Drillichzeug und waren so sehr mit Schlamm
verkrustet, daß sie gewissermaßen zum lebenden Bestandteil
der Schilfebene wurden. Sie bewegten sich wie Krabben im
Schlick, und wurden von einer Vielzahl schwerbewaffneter
Posten bewacht. Unsere Begleiter waren peinlich berührt. Es
handle sich um Bauern aus der Umgebung, die sich zur freiwilligen Kollektivarbeit in der Plaine des Joncs gemeldet hätten,
erklärten sie uns umständlich. Wir bestanden darauf, diese
ungewöhnlichen Bauern zu filmen und konnten uns ihnen
nähern. Mit primitivem Gerät waren die Männer – es war
keine einzige Frau darunter – damit beschäftigt, den Schlamm
aufzuwühlen und mit ein paar alten Schubkarren mühsam
abzuräumen. Die meisten schaufelten die Erde in zwei Körbe,
schulterten eine lange, wiegende Bambusstange und schleppten die Last beiseite. Die Arbeiter mochten zwischen zwanzig
und vierzig Jahre alt sein. Sie wirkten ausgemergelt und
erschöpft. Sie nahmen uns kaum zur Kenntnis und standen
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offenbar unter hartem Leistungszwang. Sie hatten gar keine
bäuerlichen Gesichter. »Das sind doch Söldner«, entfuhr es
Madame Tu. Als »Söldner« bezeichneten die Kommunisten
die früheren Angehörigen der vietnamesischen Nationalarmee.
Wir waren auf ein Gefangenenlager gestoßen. Es mußte sich
im wesentlichen um ehemalige Offiziere der ARVN handeln.
Vor unseren Augen schufteten und litten die »Moorsoldaten«
des sozialistischen Vietnam. Von nun an redeten wir kein Wort
mehr. Die Dreharbeiten wurden bald durch eine gebieterische
Geste des Polizeioffiziers abgebrochen. Auf der Rückfahrt nach
Phuoc Tay machten wir eine zusätzliche Entdeckung. Eine
geschwungene Holzbrücke, die das dunkelbraune Wasser eines
stinkenden »Arroyo« überspannte, gab uns den Blick auf das
Lager frei. Alle Requisiten des KZ’s und des Gulag waren hier
vorhanden: Stacheldrahtverhaue, Scheinwerfer, Wachttürme
mit eingebauten Maschinengewehren und – innerhalb der
Umzäunung – armselige Schilfhütten, vor denen sich ein paar
zerlumpte Gestalten im Zeitlupentempo bewegten, sofern sie
nicht regungslos im Sumpffieber dahindämmerten.
Wir hatten es jetzt eilig, Ho Tschi Minh-Stadt zu verlassen. In
der Nacht wurden wir mehrfach von Unbekannten angerufen,
die uns Briefe und Botschaften für Angehörige in Europa mitgeben wollten. Wir lehnten das ab, weil wir befürchten mußten,
einem agent provocateur auf den Leim zu gehen.
Die Abfertigung am Saigoner Flugplatz Tan Son Nhut
zog sich in die Länge. Jeder Passagier nach Hanoi wurde
einer umständlichen Identitätskontrolle unterzogen. Hingegen hatten die roten Funktionäre offenbar kein Problem mit
der Verfrachtung des umfangreichen Beutegutes – Transistoren, Nähmaschinen, Fernsehgeräte, Photoapparate, alle nur
erdenkliche Produkte des vielgeschmähten kapitalistischen
Konsumsumpfes –, das sie nach Norden mitnahmen. Die besten
Sitze in der Iljuschin-Maschine waren für eine Delegation
aus Ost-Timor reserviert. Es handelte sich um Repräsentanten
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der Fretilin, der »Befreiungsfront von Timor«, die nach dem
Zusammenbruch der portugiesischen Kolonialherrschaft versucht hatte, eine marxistische Volksdemokratie auf dieser
Inselhälfte zu proklamieren. Aber die Armee von Jakarta war
ihnen zuvorgekommen und in der Hauptstadt Dilli gelandet.
Die Indonesier hatten die Fretilin-Partisanen in die Berge
gejagt. Offenbar protegierte Hanoi neuerdings die Widerstandsbewegung ihrer ideologischen Verbündeten auf dieser fernen
Sunda-Insel. Die halb malaiisch, halb melanesisch wirkenden
Delegierten aus Timor wurden im vietnamesischen Exil mit
größtem Entgegenkommen behandelt. Hohe Militärs begleiteten sie. Die dunkelhäutigen Männer aus Insulinde – vor zwei
Jahren waren sie noch katholische Priester oder Seminaristen
gewesen – genossen offenbar diese Eingliederung in die große
Front der asiatischen Revolution. Beim Abflug waren sie reich
mit Blumen geschmückt worden. Sie trugen schwarzrote Fretilin-Abzeichen und altmodische Kommissarsmützen. Sechzehn Monate nach der Eroberung Saigons profilierte sich
das sozialistische Vietnam bereits als militante Vorhut der
»Völkerbefreiung« in ganz Südostasien.
Zwischenlandung in Da Nang. Wo einmal die monströse
Maschine der amerikanischen Kriegstechnik gedröhnt hat,
ist Schweigen und Verlassenheit eingekehrt. Die grünen Bo
Doi erscheinen noch winziger vor dieser endlosen Kulisse aus
Beton und Wellblech. Einen Friedhof der Macht hat Amerika
hier hinterlassen. Wie lange werden die Landebahnen und die
Schutzbunker von Da Nang noch ungenutzt bleiben? Schon
munkelt man in den westlichen Botschaften, daß die Russen
sich für diese einmalige Luft- und Flottenbasis Indochinas
interessieren. Ob die Bucht von Da Nang jedoch für die Erfordernisse des modernen Seekrieges, insbesondere der U-BootStrategie geeignet ist, wird bei den Experten lebhaft debattiert. Ganz ohne böse Vorahnungen sollten die Russen sich in
diesem Naturhafen nicht installieren. Da Nang war zur Zeit
der französischen Kolonisation unter dem Namen Tourane
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bekannt gewesen. In Tourane hatte im Jahre 1905 die Flotte
des Zaren zum letzten Mal Kohle gebunkert, ehe sie zum Einsatz gegen Japan nach Norden weiterdampfte und in der Meerenge von Tsushima durch die belächelten gelben Matrosen des
Reiches der Aufgehenden Sonne versenkt wurde.
Sparta am Roten Fluß
Hanoi, im August 1976
Wie ist dieser Sieg möglich gewesen? Wie konnte dieses geteilte
und um seine reichsten Provinzen verstümmelte Land einen
dreißigjährigen Krieg durchstehen und gewinnen? Wie ist es
diesem ausgemergelten, mittellosen Zwerg Nordvietnam gelungen, die amerikanische Kolossalmacht schachmatt zu setzen?
Bei jedem Schritt durch die Straßen von Hanoi drängen sich
diese Fragen auf, und es gibt keine Antwort. Alles ist hier heruntergekommen, abgenutzt, verschlampt. Seit 1954, seit dem
Abzug der Franzosen, hat sich im Stadtkern nichts verändert.
Noch rattern die Straßenbahnen, die zur Zeit der Dritten
Republik von irgendeiner französischen Provinz-Municipalité
ausrangiert und dann nach Fernost verfrachtet wurden, über
die verbeulten Schienen des Zentrums rund um den »Kleinen
See«. Noch bestimmt der französische Baustil ohne jede erneuernde Zutat das Weichbild Hanois. Das Chinesenviertel wimmelt von Menschen. Die schattigen Alleen im Umkreis der
Zitadelle geben späte Kunde vom urbanistischen Talent des
Kolonisators. Aber die Gebäude sind verwahrlost, im MonsunRegen vermodert. Hanoi ist ohne jede Wartung und Pflege
geblieben. An die Stelle der französischen Kaufhäuser, der indischen Basare, der chinesischen Zunftgassen sind die trostlosen
Filialen des Staatshandels gerückt. Das Angebot ist spärlich,
schäbig und teuer. Die Menschen sind mager und scheinbar
resigniert. Ihre gelbe Haut wirkt wie verbrauchtes Pergament.
Nur die Kinder lachen aus runden Backen. Der Verkehr wird
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vor allem durch Kolonnen von Radfahrern bestritten, durch
die sich die Lastwagen chinesischer Bauart mit ununterbrochenem Hupen einen Weg bahnen. Von Zeit zu Zeit fährt auch
ein hoher Funktionär in einem schwarzen Wolga vorbei. Wie
in der Sowjetunion ist der rote Potentat vor den Blicken des
gemeinen Volkes durch weiße Gardinen geschützt. Das einzige
Viertel, das seine alte Pracht restauriert hat, ist das frühere
Verwaltungszentrum des französischen Generalgouverneurs.
Dort haben sich die Ministerien der Sozialistischen Republik
Vietnam installiert. Dort wurde auch das Mausoleum des toten
Ho Tschi Minh errichtet. Die Russen haben sich mit einer
überdimensionalen Botschaft, einer Art Verbotenen Stadt, in
dieser exklusiven Gegend niedergelassen.
Vergeblich sucht der Neuankömmling nach den Spuren
amerikanischer Bombardierungen. Hanoi ist durch die US-Air
Force verschont geblieben bis auf eine einzige Straße, die Rue
Thu Kien, über der im Dezember 1972 eine B 52 – vermutlich
weil sie durch die Abwehr getroffen war – ihre Bombenlast
abkippte und eine schreckliche Schneise hinterließ. Auch die
französische Botschaft war zu einem früheren Zeitpunkt mit
verdächtiger Präzision getroffen worden, und die Diplomaten
des Quai d’Orsay sind immer noch nicht zu überzeugen, daß
dahinter keine teuflische Absicht gesteckt habe. Ansonsten
muß man die Stadt verlassen, die alte Doumer-Brücke und den
Roten Fluß überqueren, wo der Verkehr noch schwieriger und
chaotischer ist als zur französischen Zeit, um auf Trümmer und
Verwüstung zu stoßen. Es gehörte wohl zum stillschweigenden
sowjetisch-amerikanischen Einverständnis, daß der Bombenkrieg, der fast sämtliche Provinzen Nordvietnams heimgesucht
hat, an den Toren der Hauptstadt haltmachte.
Der August ist unerträglich heiß und feucht in Tonking.
Die Luft klebt an der Haut. Die Siegesbegeisterung der ersten
Stunde ist offenbar einer heimlichen Enttäuschung und Resignation gewichen. Aber die jungen Männer sterben nicht mehr
im Süden. Das tägliche Leben ist nicht leichter, die Lebens-
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mittelversorgung eher noch kümmerlicher geworden. Lange
Schlangen bilden sich vor den Verkaufsstellen für Bedarfsgüter.
Vor allem das Kerosin, das zur Beleuchtung vieler Wohnungen
und Hütten sowie zum Kochen unentbehrlich ist, bleibt Mangelware. Nur die bombastischen Propagandaplakate, die ganze
Häuserfronten verdecken, verkünden sozialistischen Wohlstand und dynamischen Wirtschaftsfortschritt. Statt dieser
Utopie hat man sich immerhin die nationale Wiedervereinigung erfochten, und der patriotische Stolz dieser darbenden, am Rand der Erschöpfung lebenden Bevölkerung ist oft
ärgerlich, aber stets imponierend.
An der Peripherie ersteht das Hanoi von morgen. Die kommunistische Führung Gesamt-Vietnams möchte sich endlich
aus dem Schatten der französischen Bauherren lösen. Die von
der Kolonialmacht hinterlassenen Stadtviertel sollen nach und
nach abgerissen, der Schwerpunkt der Metropole am Roten
Fluß verlagert werden. Das Chinesenviertel dürfte schon bald
der Spitzhacke zum Opfer fallen. Aber die modernen Wohnsilos, auf die das Regime so stolz ist, die rechteckigen Zivilkasernen, in denen der sozialistische Mensch von morgen gezüchtet
werden soll, wachsen nur langsam aus dem Boden. Die einfallslose Architektur erinnert bestenfalls an Nowosibirsk. Die
Bauqualität ist erbärmlich. Hier ist etwas am Entstehen, das
die angelsächsischen Kenner des Ostblocks als instant slums
bezeichnen. Die Voraussetzungen eines trübseligen Termitenstaates werden geschaffen. Für Lebensfreude und individuelle
Entfaltung ist kein Raum. Selbst die Bau-Experten aus der
DDR, die von ihren kommunistischen Brüdern zur Beratung
zugezogen wurden, raufen sich die Haare. Einer von ihnen gab
uns sein persönliches Erlebnis in der total zerstörten Stadt
Vinh preis. Dort wollten die roten Funktionäre um jeden Preis
und gegen jede Vernunft zehnstöckige Wohntürme errichten,
eine Wolkenkratzer-Siedlung für vietnamesische Begriffe. Kein
Gegenargument der ostdeutschen Architekten konnte die vietnamesische Verwaltung umstimmen. Da fiel den DDR-Exper-
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ten schließlich ein, daß kein arbeitender Vietnamese sich je
von seinem Fahrrad, seinem höchsten Besitz, trennt, daß er das
Veloziped sogar nachts über seinem Bett aufhängt, damit es
nicht gestohlen wird, denn bei aller revolutionärer Moral ist der
Fahrraddiebstahl im siegreichen Nordvietnam fast ebenso verbreitet wie im korrupten Nachkriegs-Italien Vittorio de Sicas.
Wie sollten nun die Bewohner der geplanten zehnstöckigen
Mietskasernen ihre Räder in die oberen Etagen schaffen, wo
ohnehin jedermann wußte, daß die Fahrstühle nie funktionieren würden? Mit diesem Einwand hatten die Ostdeutschen
ins Schwarze getroffen, und den Einwohnern von Vinh blieb
dieser Schildbürgerstreich erspart.
Auf den Baustellen der neuen Wohnprojekte, bei der
Verstärkung der stets bedrohten Dämme des Roten Flusses,
die das Delta vor Überschwemmung schützen, bei jeder
Straßenreparatur sind es die Frauen, die die Hauptarbeit leisten, die schwersten Lasten tragen, sich nie unterkriegen
lassen. Die Gleichberechtigung der vietnamesischen Frau
wird in diesem seit zwanzig Jahren kommunistischen Landesteil dadurch demonstriert, daß sie zu den härtesten und
schmutzigsten Aufgaben herangezogen wird. Gewiß, in den
Führungskreisen von Partei, Armee und Staat haben die weiblichen Funktionäre oft ein gewichtiges Wort mitzureden und
sie zeichnen sich durch Linientreue und Fanatismus aus. Aber
in der breiten Volksmasse ist die überlieferte konfuzianische
Unterordnung der Frau lediglich durch marxistische Propagandaphrasen vertuscht oder auch verschlimmert worden.
In jedem Bereich des täglichen Lebens herrscht eben penetrante Heuchelei. Man beobachte nur das unscheinbare graue
Gebäude am »Kleinen See«, dessen Fenster mit weißer Farbe
verschmiert sind, damit man nicht hineinblicken kann. Dort
gibt es Sonderrationen, seltene Konsumgüter und manchmal
Importartikel aus dem »befreiten« Süden für die Privilegierten des Regimes und für die in Nordvietnam akkreditierten
Ausländer. Der einfache Genosse wagt es kaum, einen Blick
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auf den Eingang dieses Exklusiv-Geschäftes zu werfen. Die
westlichen Diplomaten verschmähen das dortige Angebot, weil
es für ihre Begriffe minderwertig ist, aber die Russen haben
hier ein Konsumparadies entdeckt und räumen die Regale
leer. Sehr schnell haben die Sowjetbürger mit ihren schlecht
gekleideten Frauen im vereinigten Vietnam die Nachfolge des
»häßlichen Amerikaners« angetreten. Sie sind auch im Norden
zutiefst unbeliebt, mit Ausnahme vielleicht bei der vietnamesischen Volksarmee, die die enge und herzliche Bindung an
den großen Waffenbruder im fernen Norden aus plausiblen
Gründen pflegt.
Dennoch ist in Hanoi die Atmosphäre weit weniger beklemmend als in Saigon. Der pausenlose Krieg hatte die Bevölkerung
zusammengeschweißt. Die harten Tonkinesen haben stets unter
Entbehrung gelitten und verachten ein wenig die Genußsucht
ihrer Landsleute des Südens. Der Nationalstolz ist hier die
oberste Triebfeder. Ein südostasiatisches Sparta ist an den
Ufern des Roten Flusses entstanden, und die marxistische
Ideologie, die seit zwanzig Jahren einer anspruchslosen Bauernmasse eingetrichtert wird, beflügelt den revolutionären
Eifer wie eine Heilslehre. Materielle Rückschläge werden in
Kauf genommen, weil dieser winzige, unansehnliche Staat ja
bisher Sieg um Sieg an seine roten Fahnen heften konnte.
Das unerbittliche Regime, das die Bauernrevolte der Jahre
1954-1956 kurzerhand zusammenschießen ließ, hatte sich den
Ruf puritanischer Reinheit erworben. Erst seit der Eroberung
des Südens schleicht sich die Korruption ein, und neuerdings
scheinen in den verkalkten Parteistrukturen des »Lao Dong«,
der »Arbeiterpartei«, die sich demnächst mit offenem Visier
als »Kommunistische Partei Vietnams« deklarieren wird,
die Dämme der Wohlanständigkeit gebrochen zu sein. Das
Politbüro beklagt zwar immer wieder diese Mißstände, die
wachsende Bestechlichkeit, die Bürokratie, die Arroganz,
die Inkompetenz der Apparatschiks, aber diese Mahnungen
scheinen nicht zu fruchten. Die Nordvietnamesen haben mit
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übermenschlicher Anstrengung den Sieg davongetragen, aber
nun sind sie plötzlich erlahmt. Den Aufgaben des Wiederaufbaus sind sie nicht gewachsen. Die Landwirtschaft
stagniert. Die industriellen Projekte ersticken im administrativen Schlendrian. Überall wird gepfuscht, und jede Anstrengung wird zerredet. Die unaufhörlichen Sicherheitskontrollen,
gepaart mit einer bornierten Planungsmanie, ersticken jede
Initiative. Die ausländischen Experten aus West und Ost verzweifeln an der technischen und wirtschaftlichen Inkompetenz
eines Volkes, dessen kriegerische Tugenden noch vor kurzem
der ganzen Welt Bewunderung abnötigten. Die Vietnamesen
haben in Industrie und Landwirtschaft für Moskau optiert und
das sowjetische Modell des Sozialismus übernommen. Nun
leiden sie an der russischen Krankheit.
An diesen Mißständen gemessen, bildet die Armee einen
Staat im Staate, eine Kaste der Effizienz und der vorbildlichen Disziplin. Als die Zivilbehörden nicht in der Lage waren,
die lebenswichtige Bahnlinie Saigon-Hanoi wieder in Gang zu
bringen, sprangen die Pioniere der Volksarmee ein. Im Hafen
von Haiphong herrschten chaotische Zustände. Hochwertige
Importgüter häuften sich auf den Kais und verfaulten im Monsun-Regen. Die ankernden Schiffe, wie die »Karl Marx-Stadt«
aus der DDR, lagen mindestens zehn Wochen vor Reede,
ehe sie gelöscht wurden. Auch hier mußten die grünen Soldaten einspringen. Sogar bei der Reisernte kommt man neuerdings ohne die Bo Doi nicht mehr aus. General Vo Nguyen
Giap gehörte seit Beginn der Revolution zu den mächtigsten
Männern im Politbüro. Seine Parteidisziplin hatte den Verdacht des Bonapartismus nie aufkommen lassen. Nun ist der
Oberbefehlshaber zu einer Schlüsselfigur geworden. Giap galt
in jenen Tagen bereits – im Verbund mit Generalsekretär Le
Duan – als eingeschworener Parteigänger der russischen Linie
und als deklarierter Gegner einer engen Zusammenarbeit mit
China. Da Partei und Zivilverwaltung versagten, steuerte Vietnam unvermeidlich auf eine gewisse Militarisierung hin. Im
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Krieg hatte Hanoi auf die allgemeine Wehrpflicht verzichtet.
Die Dorfgemeinschaften und die Betriebsgruppen der Fabriken hatten – unter Anleitung der Politischen Kommissare
natürlich – die Auswahl getroffen, wer zu den Streitkräften eingezogen und der Ehre teilhaftig würde, für das sozialistische
Vaterland zu kämpfen. Paradoxerweise wurde der dreijährige
Waffendienst für alle jungen Vietnamesen erst eineinhalb Jahre
nach dem Sieg über Saigon verfügt. Der Staatsführung ging
es darum, über ein unerschöpfliches, dynamisches und billiges Arbeitsreservoir für den Wiederaufbau des Landes zu
verfügen. Vor allem aber sollten auch sämtliche Söhne des
Südens, diese unsicheren Kantonisten, die immer noch der
westlichen Konsumgesellschaft nachtrauerten, in das eiserne
Korsett des marxistischen Staates und seiner Gebote eingespannt werden. Schließlich munkelte man bereits, daß diese
permanente Mobilisierung die Sozialistische Republik von
Hanoi gegen den chinesischen Erbfeind im Norden absichern
solle. Die Blüten der vietnamesisch-chinesischen Freundschaft
waren schnell verwelkt.
Es fehlte nicht an ergreifenden Szenen in Hanoi. Wir waren
in die alte Französische Oper zu einem Konzert von Kriegsverletzten eingeladen worden. Zwei blinde Soldaten eröffneten die
Veranstaltung mit einem Violin-Duo. Die Augen waren durch
Sonnenbrillen verdeckt, und die vernarbten Gesichter waren
reglos. Der Saal war mit ärmlich gekleideten Menschen, meist
Verwandten der Verwundeten, gefüllt. Die Oper befand sich in
einem jämmerlichen Zustand. Hier hatte einst die Creme der
französischen Kolonialadministration, der Bank von Indochina
und der französischen Fernostarmee den Schauspielern der
Comédie Française Beifall gespendet. Hier waren die feierlichen Verse Corneilles deklamiert und die Libertinage Marivaux’ war mit Seiden-Frou Frou und weißer Perücke in Szene
gesetzt worden. Jetzt standen hier, auf Krücken und weiße
Blindenstäbe gestützt, die Bauernsoldaten der siegreichen
asiatischen Revolution. Der Stuck bröckelte von den Wänden,
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und der rote Samt der Bänke war zerschlissen. In den Kronleuchtern brannten nur noch ein paar Birnen. Über der Bühne
war immer noch die Zahl 1911 zu erkennen, das Jahr der
Einweihung, als der Generalgouverneur von Hanoi den unterworfenen Völkern Indochinas diesen Tempel gallischer Kultur
gesetzt hatte.
Die beiden Blinden wurden durch Gesangsgruppen abgelöst.
Es waren auch drei beinamputierte Frauen darunter. Sie
traten in ihren grünen Uniformen an, verbeugten sich knapp
vor den Zuschauern und sangen selbstkomponierte Lieder.
»Unsere Kraft ist nicht erschöpft« hieß das eine. Besonderen
Beifall fand eine Ballade: »Vier Brüder in einem Panzer«, eine
zeitgenössische und fernöstliche Wiedergabe des alten Heldenthemas von den Haimonskindern. Ein Solist wurde an die
Rampe geleitet. Ehe er sein melancholisches Gitarrenstück
begann, verkündete die Ansagerin, daß sein Instrument von
amerikanischen »Friedenskämpfern« gestiftet worden sei. Am
Ende kamen die Verletzten und Krüppel zu einem machtvollen
Chor zusammen, und durch die abgetakelte Französische Oper
hallte der Refrain: »Vietnam, Ho Tschi Minh ...«. In den Augen
der verhärmten und unterernährten Zuschauer leuchtete jetzt
Rührung und Begeisterung.
Am Vortag hatten Staat und Partei der Toten gedacht. Am
Rande der Hauptstadt präsentierte die Ehrenformation in
weißer Uniform, breiten Epauletten und steifen Tellermützen
das Gewehr. Da waren sie alle versammelt, die legendären
Figuren der vietnamesischen Revolution. Mit unendlich langsamen Schritten kamen sie auf die Urne zu, in der eine
Flamme loderte. Das Tempo ihres Ganges wurde durch den
neunzigjährigen Staatspräsidenten Ton Duc Thang bestimmt,
der von seinen Nachbarn gestützt werden mußte. In der ersten
Reihe defilierte die Troika von Hanoi: Ministerpräsident Pham
Van Dong mit dem in sich gekehrten Asketenausdruck; General Vo Nguyen Giap, der immer noch – trotz hartnäckiger
Krankheitsgerüchte – vor Energie zu platzen schien; und
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der Generalsekretär der Partei, Le Duan, mit glattem Funktionärsgesicht. Im zweiten Glied bewegten sich der Präsident
der Nationalversammlung, Truong Chinh, der nach 1954
mit äußerster Brutalität gegen die dortigen »Kulaken« vorgegangen war und dem man immer noch unterstellte, er
habe den vietnamesischen Kommunismus auf eine maoistische Linie bringen wollen. Weit dahinter entdeckten wir die
Verhandlungsführer von Paris, Le Duc Tho und Xuan Thuy. Es
waren fast nur alte Männer vor dem Totenmal angetreten. Sie
bildeten eine Garde von machtbewußten Greisen. Eine Gerontokratie hatte die Jugend Nordvietnams in den Krieg und zum
Sieg getrieben. Diese Berufsrevolutionäre waren noch durch
die Schule des Stalinismus gegangen. Der französische Botschafter in Hanoi, ein Linkssozialist, der im tiefsten Herzen mit
dem gesellschaftlichen Umsturz in Indochina sympathisiert
hatte, verzweifelte neuerdings an diesen altersstarren Ideologen, die den Marxismus zur Theologie erhoben hatten und die
er als Agrégés du Komintern bezeichnete.
Die Uniformen der Garde, das Exerzierreglement der Soldaten waren vom russischen Vorbild geprägt. An solchen
Einzelheiten merkte der Außenstehende, daß die Sozialistische Republik Vietnam – aus welchen Gründen auch immer
– eine prosowjetische Wendung vollzog und damit unweigerlich auf Kollisionskurs mit Peking geriet. Noch vor wenigen Monaten hatte die Spitze der Lao Dong-Partei und vor
allem Ministerpräsident Pham Van Dong eifersüchtig darüber
gewacht, daß im Verhältnis zu den beiden kommunistischen
Großmächten und Verbündeten eine absolute Parität und
Äquidistanz gewahrt wurde. Das ging so weit, daß die Parteizeitung Nhan Dan – wenn sie der Russischen Oktoberrevolution einen Artikel von 1475 Worten gewidmet hatte –
unverzüglich einen anderen Beitrag veröffentlichte, der den
»Langen Marsch« Mao Tse-tungs ebenfalls mit 1475 Worten
würdigte. Zu offiziellen Veranstaltungen waren sowjetische
und chinesische Gäste stets in gleicher Zahl und in der gleichen
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Rangordnung eingeladen. Bei festlichen Empfängen wurden
Wodka und Mao Tai in gleichen Mengen serviert. Diese peinliche Balance war neuerdings offenbar aus den Fugen geraten.
In der Kulturpolitik lagen die Russen eindeutig vorn. In
den Kinos wurden überwiegend heldische sowjetische Filme
gezeigt. Auch die Drehbücher des vietnamesischen Staatsfernsehens stammten zum größten Teil aus Moskau. Wir wohnten
den Aufnahmen zu dem Stück »Nila« bei, das die verworrene
Tragödie einer patriotischen Doppelagentin gleichen Namens
während des Zweiten Weltkrieges schilderte. Nila entlarvte –
unter Aufopferung ihrer Tugend – einen deutschen Spion, der
in sowjetischer Uniform hinter den Linien operierte. Am Ende
erschießt Nila ihren feindlichen Liebhaber, wird aber selbst
dabei tödlich getroffen. Als wir den Aufnahmeleiter auf die Verwechslungsgefahren und die Konfusion in diesem komplizierten Spiel hinwiesen, antwortete er mit jener entwaffnenden
Liebenswürdigkeit, die auch die Nordvietnamesen nicht ganz
verlernt haben: »Das macht nichts, denn für uns – wissen Sie –
sind alle Europäer gleich.«
Der Feind aus dem Norden
Im nördlichen Grenzgebiet Vietnams, August 1976
Die antichinesische Stimmung war unterschwellig im Wachsen. Jedesmal, wenn wir den alten, verrosteten Pont Doumer
überquerten, schimpfte Hong auf diese Chinesen, die immer
noch nicht ihr Versprechen eingelöst hatten, eine neue moderne
Steinbrücke über den Roten Fluß zu bauen. Frau Tu variierte
ihre alte vietnamesische Weisheit: »Wenn der Feind aus dem
Süden abgewehrt ist, droht der schlimme Feind aus dem
Norden.« Als wir zum Wochenende längs der nördlichen Küste
Tonkings zur Halong-Bucht fuhren, erblickten wir zahllose
Soldatenfriedhöfe, die stets um eine weiße Pagode mit rotem
Stern gruppiert waren. Ich traf auch die ominösen Bunker jener
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Maginot-Linie wieder an, die der General de Lattre de Tassigny
rings um das Delta hatte bauen lassen und die jetzt mühselig
mit Spitzhacke und Preßluftbohrer abgetragen wurden. Vor
allem fielen uns die vietnamesischen Militärkonvois auf, die –
teilweise mit Artillerie bestückt – gen Norden, in Richtung auf
die chinesischen Provinzen Kwang Si und Kwantung rollten.
Dieses Mal konnte ich die Halong-Bucht als Tourist genießen,
mit dem Ausflugsboot um die bizarren Felsinseln kurven und
im suppenwarmen Wasser des Südchinesischen Meeres baden.
Das alte französische Kolonialhotel war überwiegend mit
sowjetischen Urlaubern und Touristen aus Wladiwostok belegt.
Am späten Abend stimmten sie traurige russische Lieder an,
ehe sie ihre slawische Schwermut in Wodka ersäuften. Bedenklicher aus chinesischer Sicht war wohl das starke Aufgebot
russischer und kubanischer Frachter, die in der Halong-Bucht
ankerten. Die Schiffe löschten Maschinenteile für die Gruben
von Hongay und luden die Kohle dieses nordvietnamesischen
Reviers zum Transport in die sowjetische Fernostprovinz. Für
die getarnte Radar-Flotte der russischen Seemacht bot die
Halong-Bucht einen idealen Vorposten zur Beobachtung der
südchinesischen Küsten. Unsere offiziellen Begleiter verheimlichten uns nicht länger, daß sich an der vietnamesischen
Grenze die Zwischenfälle häuften. Grenzsteine wurden versetzt. Chinesische Streifen drangen angeblich in vietnamesisches Territorium ein. Es war zu Handgreiflichkeiten zwischen
Grenzposten und Milizen gekommen. Man war mit Stöcken
aufeinander losgegangen, ja es war geschossen worden. Über
die Lautsprecher sei ein unentwegter Propagandakrieg im
Gang. Unlängst hatte es noch in Peking geheißen: China und
Vietnam seien in der Abwehr des Imperialismus so eng verbunden wie »Lippen und Zähne«. Etwa vierundzwanzig Prozent der vietnamesischen Ausrüstung und Versorgung waren
während des Krieges aus dem Reich der Mitte gekommen. Die
Mehrzahl der Lastwagen, die uns begegneten, trug chinesische
Schrift- und Markenzeichen. Aber das schien bereits verges-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
303
sen. Die nationale Erbfeindschaft war stärker als das ideologische Zweckbündnis.
Auf der Rückfahrt nach Haiphong mußten wir am Bach
Dang-Fluß eine Weile auf die Fähre warten. »Mit diesem Fluß
hat es eine besondere Bewandtnis«, erklärte unser Fernsehkollege Hong, der vor zwei Jahren noch als Frontoffizier gedient
hatte. »An dieser Stelle sind die Chinesen zweimal besiegt
worden, als sie in ferner Vergangenheit versucht haben, das
vietnamesische Volk zu unterjochen. Im Jahre 938 war es ein
Herrscher der Tang-Dynastie, der Vietnam dem Reich der
Mitte einverleiben wollte und an dieser Stelle von dem Volkshelden Ngo Quyen geschlagen wurde. Doch die große Entscheidung am Bach Dang fiel im Jahre 1288, als der Mongolenkaiser Kublai Khan seine Heere zur Eroberung nach Süden
schickte. Der vietnamesische Feldherr Trang Hung Dao hatte
spitze Pfähle in den seichten Bach Dang rammen lassen. Die
Wasser standen hoch, als die Kriegsdschunken Kublai Khans
mit einer weit überlegenen Invasionsarmee den Fluß heraufruderten und ankerten. Aber bei Nacht kam die Ebbe. Das
Wasser zog sich zurück, und die Schiffe der Chinesen wurden
durch die Pfähle gerammt und zerbarsten. In diesem Augenblick ließ Trang Hung Dao die Hörner blasen zum Gegenangriff und zum Überfall. Die feindlichen Eroberer wurden
besiegt. Am Heldenmut der Vietnamesen war sogar der weltweite Machtanspruch des großen Kublai Khan gescheitert.«
Hong führte uns unweit der Anlegestelle zu einer großen Steinwand, auf der die Schlacht am Bach Dang in bunter naiver
Malerei dargestellt war. Da brannten und sanken die Dschunken der Chinesen, während die Krieger Kublai Khans in ihren
schweren Rüstungen ertranken. Da triumphierte das vietnamesische Bauern- und Fischerheer, und Trang Hung Dao hatte
den Arm zur sieghaften Geste erhoben.
In den westlichen Botschaften Hanois war man sich nicht
einig über das Ausmaß der Abkühlung oder Verfeindung zwischen Vietnam und China. Aber die Ostblock-Repräsentanten
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
304
waren besser informiert. Der ständige Korrespondent der Ostberliner Nachrichtenagentur ADN hatte mich zum Kaffee
eingeladen. Günter Wagner war ein ganz anderer Typ als
jener mysteriöse K., der mich durch die Nachtbars von
Phnom Penh geschleppt hatte. Bei Wagners gab es sächsischen
Blümchenkaffee und selbstgebackenen Kuchen. »Ich hätte Sie
nicht zu uns gebeten, wenn ich nicht wüßte, daß Sie ein Freund
des vietnamesischen Volkes sind«, begann der ADN-Korrespondent die Unterhaltung, die sofort ins Politische abglitt und
dort steckenblieb. Denn Günter Wagner und seine ebenfalls als
Journalistin tätige Frau machten aus ihrem kommunistischen
Engagement kein Hehl. Es war seltsam, im fernen wiedervereinigten Vietnam über die Verhältnisse im geteilten Deutschland zu sprechen. Das Thema führte nicht weit. Hingegen war
Wagner sehr gut über die Spannungen zwischen Hanoi und
Peking unterrichtet. »Sie haben sicher gemerkt, wie schwer es
zur Zeit hier ist, selbst für ganz offizielle Zwecke Benzin zu
finden«, begann er. »Die Chinesen haben ihre Erdöllieferungen
eingestellt.« Dann holte er eine Karte des Südchinesischen
Meeres aus einer Schublade: »Das ist der akuteste Krisenpunkt: die Paracel- und die Spratly-Inseln. Zur Zeit der
Kolonisation hatten diese winzigen Archipele, deren Eilande
über Hunderte von Kilometer verstreut sind, theoretisch
zu Französisch-Indochina gehört. Die Saigoner Regierung
hatte ein paar Marines dort stationiert, um ihre Souveränität
zu demonstrieren. Doch in der letzten Phase des Zweiten
Indochina-Krieges waren Sturmtruppen der Volksrepublik
China auf der Paracel-Gruppe, die in den Atlanten Pekings
›Shi Sha‹ hießen, gelandet und hatten die Vietnamesen vertrieben. Sehr viel komplizierter ist die Situation auf den weiter
südlich gelegenen Spratly – auch »Nan Sha« genannt. Dort
war die kleine Marine Hanois den Soldaten Mao Tse-tungs
zuvorgekommen, und ein paar Inselchen waren in aller Stille
von den Nationalchinesen aus Taiwan sowie durch ein symbolisches Kontingent aus den Philippinen besetzt worden.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
305
Nun erhob der schnaubende chinesische Festlandsdrache
Anspruch auf diese weit verzettelten Archipele und deren
Hoheitsgewässer, die bis in die unmittelbare Nachbarschaft
Borneos im Süden und der Philippineninsel Luzon im
Osten vorgreifen. Die strategische Bedeutung dieser umstrittenen Sandbänke, von denen aus der gesamte Schiffsverkehr
Südostasiens kontrolliert werden könnte, war gewaltig. Hinzu
kam die Vermutung, daß im Umkreis der Paracel und Spratly
reiche Off Shore-Vorkommen an Erdöl auf ihre Erschließung
warteten.« Mit unverhohlener Genugtuung kündigten die Wagners, die sich natürlich mit der Ostasienpolitik der Sowjetunion
identifizierten, die unvermeidliche, ja dramatische Verhärtung
des vietnamesisch-chinesischen Gegensatzes an.
Im Hotel »Thong Nhat« warteten Hong und Madame Tu mit
Ungeduld auf meine Rückkehr. Wir sollten unverzüglich nach
Thai Nguyen, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Bac Thai,
aufbrechen, wo wir noch am gleichen Abend von einer hohen
Persönlichkeit empfangen würden. Die Programmierung unserer Dreharbeiten war stets von Geheimnis umgeben, und
die Mitteilungen erfolgten in letzter Minute. Während ich
aufs Zimmer eilte, mußte ich einen Bogen um eine Gruppe
kubanischer Experten machen, die zum Klang der Gitarre
revolutionäre Lieder ihrer Zuckerinsel sangen. Sie brachten
lateinamerikanischen Rhythmus in diesen eleganten weißen
Hotelkomplex, den Fidel Castro den Vietnamesen zum Sieg
über die amerikanischen Imperialisten in einer Geste sozialistischer Solidarität geschenkt hatte. Die modernen Einrichtungen und die Möbel des »Thong Nhat« stammten jedoch
aus Skandinavien oder aus Japan. Die Zimmer blickten auf
den »Großen See« von Hanoi. Die späte Sonne vergoldete das
schlammige Wasser, auf dem Seerosen und Lotos zu schwarzen
Schatten erstarrten. Fischerboote wurden von alten Männern
im Zeitlupentempo bewegt. Der »Große See« wimmelte von
Karpfen, aber noch zahlreicher waren die Ratten, die im
Schlamm des Ufers hausten und auch vom Hotel »Thong
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
306
Nhat« Besitz ergriffen hatten. Wir hatten uns schnell an die
ungenierte Präsenz dieser fetten Nagetiere gewöhnt, die vor
allem in der Nachbarschaft der Küche ihr Unwesen trieben.
Ein betrunkener Russe hatte am Vortag spontanen Beifall von
allen anwesenden Ausländern geerntet, als er im Speisesaal
seine Bierflasche nach einem besonders kräftigen Exemplar
dieser widerlichen Tiergattung warf.
Der Chauffeur unseres Minibusses fuhr wie ein Besessener.
Von Hanoi bis Thai Nguyen hupte er ununterbrochen und
überholte endlose Lastwagenkolonnen chinesischer Bauart,
die Munition nach Norden transportierten. Er erzählte uns, daß
er drei Jahre lang auf der Ho Tschi Minh-Piste eingesetzt gewesen sei. Seine Fahrkunst ließ jedoch viel zu wünschen übrig,
von Schaltung hielt er nichts und quälte seinen LKW stets im
vierten Gang. Nach diesem Veteranen zu schließen, müßten die
nordvietnamesischen Streitkräfte mindestens ebensoviel Materialverluste durch unzureichende Wartung und technisches
Unvermögen erlitten haben wie durch die Einwirkung der
amerikanischen Luftwaffe. Als die Sonne unterging, erreichten wir die Hügelzone. Das Delta lag hinter uns. Wir hatten das
strategische Dreieck verlassen, das die Franzosen im Ersten
Indochina-Krieg wie ein Bollwerk verteidigt hatten.
Ehe wir in Thai Nguyen eintrafen, entdeckten wir durch
das Bambusdickicht der Straßenböschung einen gewaltigen
Industriekomplex, der in der Dämmerung bereits von Scheinwerfern angestrahlt war. Das Stahlwerk von Thai Nguyen, das
unsere Begleiter mit keinem Wort erwähnten, war einmal, zu
Lebzeiten Ho Tschi Minhs, das stolze Schaustück des nordvietnamesischen Aufbaus gewesen. Jede Ausländerdelegation
mußte diesem Monument sozialistischen Fortschritts einen
Besuch abstatten. Hier sollte demonstriert werden, daß die
Vietnamesen unter dem roten Fanal der Revolution den Sprung
vom Bauernvolk zur Industrienation bereits vollzogen hatten.
Die US-Air Force hatte seinerzeit dieses technische Prunkstück
in Klump und Asche bombardiert, und der Wiederaufbau
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
307
stieß jetzt auf unzählige Schwierigkeiten und Pannen. Das
Stahlwerk Thai Nguyen war für die Propagandisten Hanois
tabu geworden, denn wer wollte schon zugestehen, daß die
Inkompetenz und Rivalität russischer und chinesischer Ingenieure sich für die Wiederaufnahme der Stahlproduktion
ebenso verhängnisvoll ausgewirkt hatte wie die Zerstörungswut
der amerikanischen Piloten? Die DDR-Techniker, die man
schließlich zu Rate gezogen hatte, stellten mit Verzweiflung
fest, daß kostbare und unentbehrliche Maschinenteile seit
Monaten auf den Kais von Haiphong rosteten.
General Chu Van Tan erwartete uns auf der obersten Stufe
der Treppe des Gästehauses. Er trug seine Gala-Uniform mit
den breiten goldenen Achselstücken und der reich verzierten
Tellermütze. Die Brust war – wie bei einem sowjetischen Marschall – über und über mit Orden bedeckt. Er war wegen
unserer Verspätung nicht ungehalten, sondern empfing uns
mit einer rauhen Herzlichkeit, die wir bisher in den hohen
Sphären des kommunistischen Vietnam noch nie angetroffen
hatten. Chu Van Tan war Sechsundsechzig Jahre alt, so hieß
es wenigstens in seinem Lebenslauf. Er gehörte zu den Vaterfiguren der vietnamesischen Revolution, obwohl er einer rassischen Minderheit, dem Volk der Tay, angehörte, das in verschiedenen Verästelungen und Untergruppen über weite Gebiete
Südostasiens und auch Südchinas verstreut lebt. Als Knabe
war er nur in eine Dorfschule gegangen, aber sehr früh war er
wohl mit den französischen Kolonialbehörden und den vietnamesischen Mandarinen in Konflikt geraten. Vielleicht führte er
wie ein tonkinesischer »Robin Hood« seinen Privatkrieg gegen
die Willkür der annamitischen Grundbesitzer, als er auf die
ersten kommunistischen Agitatoren, einen gewissen Ho Tschi
Minh und dessen Gefolgsleute Pham Van Dong und Vo Nguyen
Giap, stieß. Jedenfalls stellte er ihnen 1941 seine kleine Partisanengruppe zur Verfügung, die sich fast nur aus Angehörigen
der Gebirgsstämme zusammensetzte und sich gegen die Bevormundung und Übervorteilung durch Franzosen und Anna-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
308
miten zusammengerottet hatte. Was lag näher, als sich jener
Handvoll vietnamesischer Intellektueller und Revolutionäre
anzuschließen, die nicht nur den Sieg des Proletariats, sondern auch die Gleichberechtigung der unterdrückten rassischen Minderheiten auf ihr Panier geschrieben hatten. Die
Stunde war günstig, denn Frankreich war in Europa geschlagen worden, die Japaner waren in Indochina einmarschiert,
von den Kuomintang-Chinesen kam zaghafte Unterstützung
für die Aufständischen, und der amerikanische Geheimdienst
OSS hatte in Jünan – gemeinsam mit den »Fliegenden Tigern«
des Generals Chennault – seine ersten Antennen errichtet.
Unversehens war der Bandenführer Chu Van Tan zu einem
politischen Machtfaktor geworden. Auf Grund seiner Tapferkeit und seiner militärischen Begabung hieß er bei seinen
Landsleuten »Der graue Tiger«. Von 1941 an wurde er ein
treuer und unentbehrlicher Gefährte der roten Aufstandsbewegung. Im September 1945 stand er an der Seite Ho Tschi
Minhs in Hanoi, als die Unabhängigkeit Vietnams proklamiert
wurde. Aus dem War Lord wurde ein hochkarätiger Genosse.
Als Chu Van Tan uns an jenem Abend in Thai Nguyen die Hand
schüttelte, wurde er von dem Provinzbeauftragten für Propaganda als politischer Kommandeur der Militärregion Viet Bac,
als Vizepräsident der Nationalversammlung, Mitglied des Zentralkomitees der Lao Dong-Partei und Vorsitzender des Ausschusses für nationale Minderheiten vorgestellt.
Der General war für einen Asiaten breit und mächtig
gewachsen. Er bewegte sich weniger wie ein Tiger als wie ein
alternder Elefant. Das Gesicht war offen, bullig und gutmütig.
Ein vietnamesischer Hindenburg stand uns gegenüber, und
dann erinnerte er mich wieder an jenen greisen Marschall
Budjonnyi, den ich im Georgssaal des Kreml einmal gesichtet
hatte. Der »graue Tiger« hätte ebensogut unter die Veteranen
des »Langen Marsches« Mao Tse-tungs gepaßt. Jedenfalls war
Chu Van Tan eine eindrucksvolle und auf den ersten Blick
gewinnende Persönlichkeit. Es haftete ihm jene fröhliche Ein-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
309
falt an, die den Umgang mit alternden Militärs oft so erquicklich macht. Hätte er ein Jahrhundert früher gelebt, würde er
vermutlich auf Seiten der Flußpiraten von Tonking, der Pavillons Noirs gekämpft haben. Als ich ihn beim Essen – weil
das Gespräch nicht gleich in Gang kam – nach den sanitären
Verhältnissen während der langen Jahre des Partisanenkrieges fragte, antwortete er mit einem schallenden, sehr asiatischen Gelächter. »Wenn Sie die Malaria meinen, die haben wir
im Gebirge alle schon im Mutterleib aufgeschnappt.«
In einer Kaderschule für junge politische Funktionäre führte
das Ballett der vietnamesischen Volksarmee am gleichen
Abend Tänze der rassischen Minderheiten vor. Die Trachten
und Kostüme waren funkelnagelneu und kitschig imitiert. Die
Ausführenden waren samt und sonders Angehörige des vietnamesischen Staatsvolks. Sie sangen den Polit-Choral »Der
Sieg ist unser«, ein Gedicht, das Ho Tschi Minh anläßlich der
Neujahrsoffensive von 1968 verfaßt hatte. Sie waren teilweise
als Meo-Krieger verkleidet und tanzten zu dem Thema »Neue
Freude«. Irgend etwas stimmte nicht, und auf unsere Frage
mußte der Provinzbeauftragte zugeben, daß die ursprünglichen
Tanz- und Gesangsgruppen der verschiedenen Nationalitäten
– Tay, Meo, Lolo, Yao, Nung und andere – aufgelöst worden
waren. Die anfangs liberale Linie Hanois gegenüber den rassischen Minderheiten war seit 1975 offenbar in eine unverblümte
Assimilationspolitik umgeschlagen. Die autonome Region Viet
Bac, die früher fünf Provinzen umfaßte und vor allem von
den Angehörigen des Tay- und des Nung-Volkes bevölkert war,
hatte dem kulturellen Zentralismus der Vietnamesen weichen
müssen und wurde abgeschafft. Ähnlich war es der autonomen Region Tay Bac im äußersten Nordwesten und den dort
lebenden Thai- und Meo-Stämmen ergangen. Die drei Provinzen von Tay Bac mit der früheren Föderationshauptstadt
Lai Tschau, die ich 1951 zu Pferde bereist hatte, waren ebenfalls gleichgeschaltet worden. Eine befriedigende Erklärung für
diese administrative Straffung wurde uns nicht gegeben, aber
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
310
sie lag auf der Hand. Die Regierung von Hanoi, die von den
Franzosen den Hang zum jakobinischen Einheitsstaat geerbt
hatte, wollte an ihrer Grenze gegenüber dem gewaltigen Reich
der Mitte kein Risiko eingehen. Jede Form von Partikularismus war den vietnamesischen Zentralisten suspekt, zumal die
allogenen Gebirgsvölker von Viet Bac und Tay Bac auch in
Südchina stark vertreten waren. So verfügten die Tay – unter
der Bezeichnung Chuang – über eine riesige autonome Region
in der chinesischen Südprovinz Kwang Si.
Das Revolutions-Museum war zu später Stunde speziell
für uns geöffnet worden. Die Region Viet Bac war im ersten
Indochina-Krieg die Hochburg des Vietminh-Widerstandes
gegen die Franzosen gewesen. Hier hatte bereits im Jahr 1939
die Kommunistische Partei Indochinas militante Zellen organisiert. In der zerklüfteten Felslandschaft von Cao Bang hatte 1943
der bis dahin unbekannte vietnamesische Berufsrevolutionär
Ho Tschi Minh in der Höhle von Pac Bo seinen Befehlsstand
aufgeschlagen. In Zusammenarbeit mit dem »grauen Tiger«
Chu Van Tan hatte er den Aufstand der Bergvölker, der
ursprünglich gegen die vietnamesischen Mandarine und Landlords gerichtet war, in eine breite Revolution umfunktioniert.
Der große Befreiungskrieg gegen die Kolonialmacht und
gegen jene japanischen Besatzungstruppen, die nach der
französischen Niederlage in Europa mit Zustimmung Vichys
in Indochina eingerückt waren, hatte begonnen. Das erste
bescheidene Hauptquartier Ho Tschi Minhs war im Museum
von Thai Nguyen auf einer Makette säuberlich rekonstruiert.
Onkel Ho, der 1920 bereits bei der Gründung der Kommunistischen Partei Frankreichs in Tours zugegen gewesen und
inzwischen durch die Moskauer Schule des Komintern gegangen war, hatte die Landschaft rund um sein Hauptquartier
mit neuen revolutionären Namen versehen. So hieß auf der
Makette die Höhe, in der sich seine Höhle befand, »Karl MarxBerg«. In der vietnamesischen Sprache wurde Karl Marx aus
phonetischen Gründen »Kac Mac« geschrieben und auch aus-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
311
gesprochen, was bei uns eine gewisse Heiterkeit auslöste. Ein
Flüßchen, in dem der Vater der vietnamesischen Revolution
regelmäßig badete, wurde nach Lenin umgetauft, »Le Nin«
auf vietnamesisch. Die Etappen der kommunistischen Erhebung Indochinas waren in vergilbten Bildern festgehalten.
Zwei faszinierten mich besonders. Das eine stammte aus
dem Jahr 1945 und zeigte den heutigen Verteidigungsminister
Vo Nguyen Giap, den Sieger von Dien Bien Phu, bei einer
Inspektion seiner kleinen Truppe. Die Buschkrieger waren wie
Banditen buntscheckig uniformiert und bewaffnet. Aber am
prächtigsten wirkte der Oberbefehlshaber Giap selbst. Er trug
Räuberzivil, hatte einen schweren Revolver im Gürtel hängen
und trug dazu einen schwarzen »Homburg«, einen »Arbeitgeberhut«, wie man in der Bundesrepublik sagen würde.
Das zweite Photo zeigte Ho Tschi Minh im Jahre 1950 bei
der Belagerung der französischen Grenzfestung Cao Bang. Das
war nicht der liebe und etwas senile Onkel Ho, dieser taoistische Pseudo-Heilige, der so gern die kleinen Kinder tätschelte
und sich von ihnen am Bart zupfen ließ. Da saß auf einem Felsvorsprung ein hagerer Mann in der Fülle seiner Kraft. Den Tropenhelm hatte er ins Genick geschoben, und mit einem kühlen
Feldherrnblick prüfte er die Befestigungen der französischen
Gegner im Tal zu seinen Füßen, ein Bild gebündelter Energie
und stahlharten Willens. Frau Tu hatte inzwischen eine andere
Entdeckung gemacht. Sie stand vor einem Photo französischer
Gefangener, die 1950 zwischen Cao Bang und Lang Son in
einen Hinterhalt der Viet Minh-Partisanen geraten waren. Frau
Tu brach in helles Gelächter aus. Als ich zu ihr trat, spürte ich
einen Schock. Der französische Hauptmann, der von zwei vietnamesischen Partisanen flankiert war, glich mir zum Verwechseln. »Das sind doch Sie«, kicherte unsere Dolmetscherin, und
alle Hinweise, daß ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht in Ostasien geweilt hatte und es sich um einen wesentlich älteren
Doppelgänger handeln mußte, fruchteten nichts. Sie zwinkerte
mir wie eine Komplizin zu.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
312
Über die völlig vereinsamte Hauptstraße von Thai Nguyen
verließen wir das Museum. Im Rückspiegel sah ich noch einmal
den hohen Eingang. Die weiße Kolossalstatue Ho Tschi Minhs
war vor rotem Hintergrund durch Scheinwerfer angestrahlt.
Neuerdings sagte man nicht mehr »Onkel« Ho, sondern Vorsitzender Ho. Der Vater der vietnamesischen Revolution erschien
mir plötzlich wie ein ostasiatischer Pharao. Die Wallfahrt nach
Pak Bo, zur ersten Befehlshöhle Ho Tschi Minhs war uns nicht
gestattet worden. Dem Getuschel unserer Begleiter entnahm
ich, daß die Situation so nahe der chinesischen Grenze nicht
sicher genug sei und daß dort Befestigungsarbeiten im Gang
waren, die man vor unseren Kameras verheimlichen wollte.
Statt dessen lud uns General Chu Van Tan zu einem Besuch
in seinem ehemaligen Widerstandszentrum von Tan Trao ein.
Wir fuhren etwa zwei Stunden in nordöstlicher Richtung durch
eine zerklüftete Landschaft. Der Horizont war durch felsige
Zuckerhüte verstellt, die vom Dschungel überwuchert waren.
Die Reisfelder wurden seltener und kleiner. Ursprünglich war
Tan Trao ein winziges Yao-Dorf gewesen, ehe der »graue
Tiger« dort mit seinen Partisanen eintraf. Aber 1945 errichtete
Ho Tschi Minh in diesem schwer zugänglichen Tal sein Hauptquartier, und dorthin kehrte er auch zurück, nachdem das
französische Expeditionskorps des Generals Leclerc den Vietminh aus dem Delta des Roten Flusses vertrieben hatte. Noch
im Jahr 1947 hatten französische Fallschirmjäger im Handstreich versucht, Tan Trao zu überrumpeln und die rote Revolutionsregierung gefangenzunehmen. Das Unternehmen war
ein Fehlschlag.
Chu Van Tan zeigte uns mit sichtbarem Stolz die Stätten
seiner großen Vergangenheit. Er trug jetzt einen grünen Tropenhelm und die leichte Felduniform seiner Armee. Wir rasteten unter den zwei riesigen Bäumen, die bereits den frühen
Verschwörungen der Bergvölker und später der ersten Delegiertenversammlung des kommunistischen Vietnam Schatten
gespendet hatten. Chu Van Tan führte uns schließlich zu einer
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
313
bescheidenen Bambushütte an einem klaren Bach. Von hier
aus hatte Ho Tschi Minh den Widerstand gegen Frankreich
zwischen 1946 und 1954 geführt. Es war die Behausung eines
Eremiten. Chu Van Tan und die übrigen Vietnamesen bewegten sich behutsam und ehrfürchtig, als beträten sie eine Kathedrale. »Hier wurde der Reis für Ho Tschi Minh gekocht«,
erklärte der »graue Tiger«. »Vor der Küche hat Onkel Ho
jeden Abend gesessen und über die Landschaft geblickt. Auf
dieser Pritsche hat er geschlafen. Besucher hat er stets im
Freien empfangen. Er hatte viel Sinn für Ordnung und war
sehr pünktlich, vor allem bei der Arbeit. Morgens machte er
Frühgymnastik und dann badete er im Bach.« Die Umgebung
von Tan Trao stellte für die vietnamesischen Kommunisten ein
ähnliches Heiligtum, eine revolutionäre Besinnungsstätte dar,
wie die Felsenhöhlen von Jenan für das maoistische China.
Der General hatte uns bei der Verabschiedung versichert,
daß wir auf der Rückfahrt nach Thai Nguyen aufnehmen
dürften, was wir wollten. Als wir uns jedoch anschickten,
eine besonders malerische Szene zu filmen – Bauern mit
ihren Büffeln beim Pflügen, die sich als schwarze Schatten in
einem überfluteten goldgelben Reisfeld spiegelten, das bevorzugte Motiv vietnamesischer Lackmalerei – widersetzten sich
die mißmutigen Sicherheitsbeauftragten. Sie hatten unsere
fröhliche Plauderei mit Chu Van Tan mit offensichtlichem Argwohn verfolgt. Die Reisbauern seien nicht ordentlich angezogen, und deswegen dürften wir keine Bilder von ihnen
machen. Alle Proteste nutzten nichts, und wir hatten plötzlich
das Gefühl, daß die Autorität des »grauen Tigers« in Viet
Bac nicht mehr ganz unumstritten war. Wir passierten die
Kreuzung einer Allwetterstraße, die während des letzten Krieges von Pionieren der Pekinger Volksbefreiungsarmee gebaut
worden war, wie ein Schild in chinesischen Schriftzeichen
verkündete. Am Wegrand entdeckten wir ein paar armselige
Lehmhütten. Die Frauen trugen die wohlbekannte Tracht des
Meo-Volkes. Die Dorfgemeinschaft hatte ursprünglich nahe der
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314
chinesischen Grenze oberhalb von Cao Bang gesiedelt. Sie
war jedoch von den vietnamesischen Behörden zwangsevakuiert worden. Die Meo wirkten apathisch in dieser fremden
Umgebung und waren ohne Begeisterung mit dem Pflanzen
von Maniok beschäftigt. Offenbar mißtrauten die Vietnamesen dieser rassischen Minderheit und fürchteten ihre Komplizenschaft mit dem gigantischen chinesischen Nachbarn.
Wieder einmal, so schien mir, kündigten die Prüfungen und
Leiden dieses störrischen und harten Volkes der Meo, das über
die Gebirgswelt ganz Hinterindiens verzettelt lebt, eine neue
Phase der Konfrontation und drohenden Kriegsgefahr an. Auf
der Straße kam es mehrfach zu Auseinandersetzungen zwischen den Funktionären unserer Eskorte. »Es ist alles etwas
schwierig hier«, antwortete Hong verlegen auf unsere Frage.
»Einige dieser Genossen gehören der Tay-Nationalität an. Sie
sind zur Stunde besonders empfindlich und geraten manchmal mit den Funktionären aus Hanoi in Widerspruch.« Nach
Einbruch der Dunkelheit erlaubte man uns in Thai Nguyen
nicht, die schwülen Hotelzimmer zu verlassen. Als wir auf der
baumbestandenen Allee etwas Kühle suchen wollten, wiesen
uns die Polizisten zurück. Wir schieden mit einem Gefühl der
Verärgerung von der Region Viet Bac. Damals konnten wir
noch nicht ahnen, daß der sympathische General Chu Van
Tan ein halbes Jahr später in Ungnade fallen würde. Der
»graue Tiger« habe sich in seinem Herrschaftsbereich wie ein
»König«, wie ein War Lord, aufgeführt, hieß es dann in Hanoi.
In Wirklichkeit verkörperte er ein letztes Stück Selbständigkeit
jener rassischen Minderheiten, denen er angehörte, und vielleicht schreckte er, als guter Kenner der Grenzverhältnisse, vor
dem Zusammenprall mit China zurück, der sich langsam, aber
unerbittlich ankündigte.
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Skorpione in einer Flasche
Hanoi, im August 1976
Das Mausoleum Ho Tschi Minhs war ein Geschenk der Sowjetunion an den vietnamesischen Verbündeten. Das kubistische
Gebäude war im Stil der Lenin-Gruft am Roten Platz von
Moskau errichtet. Aber die Dimensionen waren größer, und
der Marmor war grau in Hanoi. Der tote Onkel Ho lag mit
leicht geschminkten Wangen wie eine Wachspuppe im Kristallsarg. Vor dem Grabmal stauten sich lange Kolonnen. Die »atheistische Theokratie« konnte auch hier auf den Reliquienkult
nicht verzichten. Wie ich in dem eiskalten Gebäude an den
zu Stein erstarrten Gardesoldaten vorbei auf den Nationalhelden Vietnams blickte, mußte ich an das Museum von Tschang
Tscha in der südchinesischen Geburtsprovinz Hunan des Vorsitzenden Mao Tse-tung denken. Dort waren die Mumien eines
viertausend Jahre alten Königspaares ausgestellt. Seitdem war
die Menschheit, auch wenn sie sich in die rote Fahne des
dialektischen Materialismus hüllte, mit dem unerträglichen
Geheimnis ihrer eigenen Vergänglichkeit offenbar immer noch
nicht fertiggeworden. Im kommunistischen Hanoi errichtete
man dem toten Propheten der vietnamesischen Wiedergeburt
eine Wallfahrtsstätte, verwandelte ihn in pharaonischem Kult
zum ewig lebendigen Symbol der Nation. »Tod, wo ist dein
Sieg?« hätte in den grauen Marmor gemeißelt sein können.
An der langen Reihe der wartenden Andächtigen vorbei marschierte die Wachablösung im Stechschritt und mit den Gesten
von Robotern. Die Gesichter der vietnamesischen Pilger waren
ergriffen und fromm.
Vor zwei Wochen war auch eine offizielle thailändische Delegation unter der Führung ihres Außenministers Bhichai Rattakun an dem Leichnam Ho Tschi Minhs vorbeidefiliert und hatte
einen Kranz niedergelegt. Seit die vietnamesische Armee in
Laos den Mekong und somit die thailändische Grenze erreicht
hatte und Bangkok nicht mehr auf amerikanischen Beistand
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
316
zählen konnte, bemühten sich die Siamesen – in Schaukelpolitik seit zweihundert Jahren geübt – um eine Normalisierung
ihres Verhältnisses zu Hanoi. Im internationalen Gästehaus von
Hanoi, auch ein Relikt der französischen Kolonialherrschaft,
hatte man das Protokoll unterzeichnet und Trinksprüche ausgetauscht. Der kleine vietnamesische Außenminister Nguyen
Dui Trinh, der angeblich zum härtesten Flügel der Lao DongPartei gehörte und der sich unter den Stuckwänden des Festsaales in seinem schlechtgeschnittenen Anzug wie ein grimmiger Verschwörer bewegte, knurrte seine Ansprache auf
vietnamesisch. Sein thailändischer Kollege, elegant gekleidet
und professoral, antwortete auf englisch, was die wenigen
Ausländer verdutzt aufhorchen ließ. Der Siamese hatte neben
seinen diplomatischen Experten auch ein paar Sicherheitsbeamte mitgebracht. Die Gorillas aus Bangkok trugen bunte
Hawaiihemden und wirkten wie Gangster. Bhichai Rattakun
beglückwünschte die Vietnamesen zu ihrem Sieg und bezeichnete den Mekong zwischen Indochina und Thailand als die
neue Friedensgrenze Südostasiens. Zuvor hatte er im Namen
seiner Regierung versprochen, keine ausländischen Basen in
Thailand mehr zuzulassen und den 60000 vietnamesischen
Flüchtlingen, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs in den Nordostprovinzen lebten, weitgehende Toleranz zuzugestehen. Es
war wohl auch zu Gesprächen über jene kommunistischen Partisanenbewegungen gekommen, die die thailändischen Grenzprovinzen gegenüber Laos verunsicherten. Man konnte sicher
sein, daß die Vietnamesen bei aller Beteuerung ihres Respekts
vor fremder Souveränität auf die ideologische Solidarität mit
den roten Revolutionären Siams niemals verzichten würden.
Die beiden Delegationen kamen halbherzig überein, daß sie
im Falle des offenen Dissens auf Gewaltanwendung verzichten würden. Bei allen Freundschaftsbeteuerungen, das war
beinahe physisch zu spüren, standen sich hier Todfeinde
gegenüber und prosteten sich zu. Der weiße Imperialismus war
verdrängt worden, hatte Südostasien sich selbst überlassen,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
317
und schon begegneten sich die von fremder Einmischung
befreiten unabhängigen Staaten Hinterindiens wie Skorpione
in einer Flasche.
Diplomaten und Journalisten waren zu sehr früher Stunde
in den ehemaligen Palast des französischen Generalgouverneurs geladen worden. Der Himmel war grau über Hanoi,
die feuchte Hitze schon unerträglich. Das Diplomatische
Corps war im Tropenhemd mit kurzen Ärmeln angetreten.
Der große Saal wurde von einer Büste Ho Tschi Minhs
beherrscht. Ministerpräsident Pham Van Dong kam auf die
Minute pünktlich. Er sollte unmittelbar nach dem Empfang zur
Konferenz der blockfreien Staaten nach Colombo abfliegen.
Hanoi hatte es mit einem Kunstgriff fertiggebracht, in diesen
Club der angeblich Neutralen trotz seines vollen kommunistischen Engagements auf Seiten Moskaus hineinzuschlüpfen.
Pham Van Dong würde in Colombo kurzerhand die Nachfolge
der »Nationalen Befreiungsfront für Südvietnam« antreten,
die infolge des nordvietnamesischen Sieges über Saigon von
der Bildfläche verschwunden war, aber bei den Blockfreien
immer noch über einen leeren Sessel verfügte.
Pham Van Dong war mit seiner Gefolgschaft von ehrwürdigen
Greisen des Zentralkomitees und jüngeren Funktionären in
die Mitte des Saales getreten. Sein viel zu weiter Tropenanzug war schon am frühen Morgen verbeult. Er musterte die
Ausländer mit einem ungeheuer intensiven Blick. Sein Asketenkopf wirkte mönchisch und streng. Ich entdeckte plötzlich
eine gewisse Ähnlichkeit mit jenem Bischof Le Huu Tu, der
mich im Jahr 1951 in der Diözese Phat Diem an der Spitze
seiner katholischen Milizen beeindruckt hatte. Pham Van Dong
verstand zu lächeln wie ein asiatischer heiliger Franziskus.
Wenn er sich erregte, erinnerte er hingegen an den florentinischen Fanatiker Savonarola. An diesem Morgen trug er
gute Laune, fast Ausgelassenheit zur Schau. Er wandte sich
an Madame Binh, die früher einmal als Außenministerin des
Vietkong bei den Pariser Verhandlungen fungiert hatte, nach
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
318
dem Sieg Erziehungsminister für ganz Vietnam geworden war
und als einzige Repräsentantin der südlichen Befreiungsfront
noch einen nennenswerten Posten in Hanoi bekleidete. »Ich
bin eingeschüchtert vor dem großen internationalen Treffen,
zu dem ich fliege«, zierte sich der Regierungschef und wandte
sich schäkernd an Madame Binh: »Wenn du in Colombo dabei
wärst, würde ich mich viel wohler fühlen, denn du kennst dich
auf dem diplomatischen Parkett aus.« Ein obligates Gelächter
und Klatschen ging durch die Reihen der Funktionäre und
Diplomaten. Das vornehme Gesicht der Madame Binh, die
einen dunkelblauen Ao Dai trug, verschönte sich durch ein
breites Lächeln. Pham Van Dong ging die Reihe der Geladenen ab und schüttelte jedem die Hand. Mich sah er mit seinen
brennenden Augen eindringlich an: »Ob Sie es glauben oder
nicht«, sagte er und hielt meine Hand sehr fest, »wir sind ein
blockfreies Land – nous sommes un pays non-aligné.«
Auf der Konferenz von Colombo würde Pham Van Dong im
streng buddhistischen Sri Lanka auf die Duldung hinweisen,
die die Religion Gautamas im sozialistischen Vietnam genoß.
Zum Beispiel wurden auch wir zum Besuch der Quan SuPagode von Hanoi eingeladen, wo sich am Abend größere
Menschenmengen zur Feier des buddhistischen Totenfestes
trafen. Meist waren es alte Leute, die sich vor der goldenen
Statue des kontemplativen Erlösers aus Indien verneigten,
Weihrauchstäbchen anzündeten und den Bonzen bescheidene
Gaben brachten. Das Ganze erinnerte an das Kloster Zagorsk
in der nördlichen Nachbarschaft Moskaus, wo die atheistische
Sowjetunion eine ähnliche Museumspflege der spärlichen Reste
der russischen Orthodoxie unternimmt. Immerhin wurden
vierzig junge Bonzen in Hanoi ausgebildet, und die Behörden
verwiesen auf die Gründung eines »Buddhistischen Bundes«
für den wiedervereinigten vietnamesischen Staat. Der Verdacht drängte sich auf, daß die Lehre Gautamas von den
kommunistischen Kommissaren, die schon einmal erfolgreich
ihre Agenten in die Pagoden Saigons und Hues eingeschleust
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
319
hatten, nun auch zur politisch-ideologischen Unterwanderung
der streng buddhistischen Länder Südostasiens mißbraucht
werden könnte. Das Politbüro von Hanoi war sehr viel klüger
als die rasenden roten Fanatiker von Phnom Penh, die die
zahllosen Klöster Kambodschas verwüsteten und die keine
Sekunde zögerten, die goldgewandeten Mönche zu versklaven
oder umzubringen. Im Gegensatz zu Kambodscha, Laos, Thailand und Burma, wo die straffe Übung des »Kleinen Fahrzeuges«, des Hinayana oder Theravada-Buddhismus vorherrschte,
hatte sich Vietnam dem Mahayana, dem »Großen Fahrzeug«
zugewendet. Letztere Interpretation der Lehre Gautamas entbehrte der allzu strikten Regeln und war sogar auf einen
universalen Synkretismus ausgerichtet. Im alten China hatte
dieser Buddhismus des »Großen Fahrzeugs« reibungslos mit
der konfuzianischen Sittenlehre und den extravaganten Vorstellungen des Taoismus kohabitiert. Im Reich der Aufgehenden Sonne hatte sich diese Religion der Gewaltlosigkeit
und der Duldung sogar mit dem kriegerischen Bushido-Kodex
der japanischen Samurai akkommodiert. Alles sprach jetzt
dafür, daß der vietnamesische Kommunismus sich pragmatisch genug erweisen würde, um mit den Resten des Mahayana ein ungleiches Auskommen zu finden. Den Kommissaren
würde es schon gelingen, den Yogi in den Dienst der Revolution zu gängeln bis zu dem Tag, an dem auch eine solche Tarnung überflüssig würde.
Bei den Katholiken Vietnams hingegen stießen die kommunistischen Apparatschiks auf Stein, besser gesagt, auf den Fels
Petri. Zwanzig Jahre lang hatte der Machtapparat Hanois versucht, die Christen Nordvietnams durch unaufhörliche Schikanen an ihrem Glauben irrezumachen. Das Unternehmen war
fehlgeschlagen. Die Katholiken von Tonking und Nord-Annam
blieben mit 1,2 Millionen Menschen ebenso zahlreich wie die
Mitglieder der Kommunistischen Partei. Zur Ehre der vietnamesischen Marxisten muß festgehalten werden, daß ihre atheistische Kampagne gegen die Kirche Roms längst nicht so
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
320
brutal und konsequent durchgeführt wurde wie im China Mao
Tse-tungs. Zum Fest Mariä Himmelfahrt hatten wir die Erlaubnis erhalten, einen Gottesdienst in der St. Joseph-Kathedrale
von Hanoi zu filmen. Vor dem mächtigen Portal in neugotischem Stil beherrschte immer noch eine Statue der Jungfrau Maria den runden Vorplatz, der sich jeden Weihnachtsabend, wie unsere Begleiter versicherten, mit Tausenden von
Gläubigen füllte.
Ein seltsamer Modus vivendi hatte sich zwischen Staat und
Kirche nach der Machtübernahme des Vietminh im Jahre
1954 eingependelt. Vier katholische Kirchen durften in Hanoi
geöffnet bleiben. Drei Messen pro Woche durften in der Kathedrale gelesen werden, und am Sonntag wurde morgens und
abends ein Gottesdienst abgehalten. Seit 1973 wurden wieder
ein paar Seminaristen ausgebildet. Dem Katechismus-Unterricht für Kinder war eine Stunde am Sonntag innerhalb der
Gotteshäuser zugestanden.
Jedenfalls war es ein seltsames Gefühl, in dieser Hauptstadt der siegreichen marxistischen Revolution die Glocken
mächtig läuten zu hören zu Ehren einer Himmelskönigin,
die an diesem Tag zu ihrem göttlichen Sohn aufgefahren
war. An jenem Abend im August knieten die Andächtigen in
dicht gedrängten Reihen. Vom Altar und von den Säulen blickten sulpizianische Heilige in Rosa und Himmelblau auf diese
inbrünstige Gemeinde herab, die sich trotz der widerwilligen
Duldung der Behörden in der Stimmung der Katakomben
traf. Die Herz Jesu-Statue und die Jungfrau von Fatima
lächelten süßlich. Die Orgelmusik intonierte seichte Kirchenlieder, die einmal von französischen Missionaren importiert
worden waren und nun in der quäkenden vietnamesischen
Übersetzung auch nicht schöner klangen. Dennoch ging eine
überwältigende Faszination von dieser ärmlich gekleideten,
unterernährten Menge aus. Hier bekreuzigten sich nicht nur
alte Frauen. Alle Altersklassen waren vertreten. Sie beteten mit
ernsten, feierlichen, entsagungsvollen und entrückten Gesich-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
321
tern. In den Augen der Männer spiegelten sich Gottergebenheit und frommer Trotz. Die Gesichter der Frauen waren von
Entbehrung und Trauer gezeichnet, als stünden sie unter dem
Kreuz auf einem asiatischen Golgatha. Die Nonnen trugen
noch ihre strengen schwarzen Hauben. Die jungen Schwestern
erblühten im Gebet, während die alten mit faltigen Pergamentgesichtern wie Mumien zum Altar aufschauten und sich nach
der Abberufung in eine bessere Welt sehnten. Am ergreifendsten waren die Kinder. Sie folgten der eucharistischen Feier
mit todernster Aufmerksamkeit. Sie brachten das größte Opfer.
Sie würden nie das rote Halstuch der Jungen Pioniere tragen
dürfen. Im späteren Leben würden sie von den Verantwortungsposten und von allen begehrenswerten Berufen ausgeschlossen bleiben. Ich konnte mich vom Anblick dieser exotischen Cherubine nicht lösen. Während das Kamerateam arbeitete, war auch ich in einer Seitenbank niedergekniet und
hatte mich bekreuzigt, um den Anwesenden mitzuteilen, daß
ich einer der Ihren war, daß ich nicht zu jenen gottlosen Fremden gehörte, die aus den feindseligen Steppen und Tundren
des Antichristen kamen. Ich empfand es schmerzlich, daß die
Römische Kirche auf die alte lateinische Meßliturgie verzichtet hatte. Hier riefen die Christen Vietnams »de profundis«,
aus der Tiefe zu Gott. »Quare me repulisti et quare tristis
incedo, dum affligit me inimicus.« Die Gemeinde von St. Joseph
gehörte gewiß zur Kirche des Schweigens, aber im Flackern
der wenigen Kerzen erschien sie mir als die tatsächliche
»ecclesia triumphans«. Aus der goldbeladenen Internatskirche
meiner Kindheit kam mir die Erinnerung an einen Vers des
»Te Deum«: »Martyrum candidatus exercitus – das strahlende
Heer der Märtyrer«.
Die Kirche Vietnams faßte in jenen Tagen eine neue, zaghafte Zuversicht. Der Erzbischof von Hanoi, Monseigneur
Trinh Nhu Khue, hatte wider alle Erwartung die Erlaubnis
erhalten, nach Rom zu reisen, und dort war ihm von Papst
Paul VI. die Kardinalswürde verliehen worden. Am Fest Mariä
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
322
Himmelfahrt ahnte in St. Joseph niemand, daß das kommunistische Regime den Bischof am 2. September 1976, zur Zelebration des vietnamesischen Nationalfeiertages, zum großen
Gedenktag der Roten Revolution, der in diesem Jahr endlich
die Wiedervereinigung von Nord und Süd besiegelte, auf die
Ehrentribüne laden würde. So filmten wir ihn später: Am
äußersten Rande der Prominentengarde, die von der Balustrade des Ho Tschi Minh-Mausoleums den regimetreuen
Werktätigen huldvoll zuwinkte, hoch über einem Meer von
roten Fahnen und dem endlosen Festzug kommunistischer
Begeisterung stand ein schmächtiger, unscheinbarer Mann in
abgewetzter schwarzer Soutane, Mgr. Trinh Nhu Khue, der
Kardinal von Hanoi.
Meine Abreise rückte näher. Es war zu schwierigen Verhandlungen gekommen, weil ich den Wunsch geäußert hatte,
mit der Eisenbahn von Hanoi nach Peking zu fahren. Den Vietnamesen paßte es offenbar nicht, daß ich die kritische Grenzzone passierte. Über die Zwischenfälle im Umkreis von Lang
Son gingen inzwischen die wildesten Gerüchte um. »Sind Sie
sicher, daß die Chinesen Ihnen überhaupt ein Visum erteilen?«
fragte mich Hong. »Sie haben doch gelesen, daß die Mandschurei und sogar Peking und Tsientsin von schweren Erdbeben
heimgesucht wurden. Da werden Sie voraussichtlich gar nicht
willkommen sein.« Aber das chinesische Generalkonsulat von
Hanoi hatte das Visum schon bereitliegen, und es wurde mir
von einem lässigen Beamten der Volksrepublik überreicht, der
für diese Amtshandlung nicht einmal eine Mao-Jacke über das
weiße Unterhemd streifte. Der Sohn des Himmels schüttelte
mir mit herzlichem Grinsen die Hand. Meinen vietnamesischen Begleiter und Aufpasser beachtete er gar nicht.
Am vorletzten Abend in Hanoi wurde ich zu später Stunde
zu einer wichtigen Besprechung gerufen. Der Wagen setzte
mich in dem Garten einer stattlichen Kolonialvilla ab. An der
Tür erwartete mich ein grauhaariger Vietnamese mit hagerem
Intellektuellenkopf. Der Chefredakteur der offiziellen Partei-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
323
zeitung »Nhan Dan«, Mitglied des Zentralkomitees und Vorsitzender des Propaganda-Ausschusses der Kommunistischen
Partei, hatte mich zu einem ideologischen Abschiedsgespräch
gebeten. Hoang Tung gehörte, nach Aussagen der diplomatischen Beobachter, dem stahlharten Führungskern an. Manche
bezeichneten ihn als den »Großinquisitor« der Revolution.
Zumindest galt er als Chefideologe der Partei, als eine Art
Suslow Hanois. Hoang Tung nahm mich mit demonstrativer
Freundlichkeit am Arm und geleitete mich die Treppe hinauf
in einen großen Raum, der mit den obligaten breiten Sesseln
versehen war. Wir setzten uns auf den weißen Schutzüberzug
des Sofas vor einen niedrigen Tisch. Tee und Bier wurden serviert. Über uns hing ein großes Porträt Ho Tschi Minhs. In den
Parteibüros der Dörfer Tonkings waren wir stets noch auf die
Quadriga des Weltkommunismus gestoßen: Karl Marx, Friedrich Engels, Josef Stalin und Ho Tschi Minh. Mit Rücksicht auf
die russischen Freunde wurde die Verehrung für den Georgier
neuerdings in Hanoi unter den Scheffel gestellt. Mao Tse-tung
war bei den vietnamesischen Revolutionären ohnehin nie auf
den Altar gehoben worden.
Er wolle ganz offen mit mir sprechen, begann der Vorsitzende des Propaganda-Ausschusses. Die Deutschen genössen
bei den Vietnamesen ein besonderes Ansehen. Schließlich
seien die Väter des dialektischen Materialismus und der marxistischen Philosophie Deutsche gewesen. Das nationale Schicksal der Deutschen sei in mancher Hinsicht exemplarisch.
Ein tragischer Fehllauf der Geschichte habe bewirkt, daß
ein intellektueller und ideologischer Höhenflug ohnegleichen,
der bereits mit der bürgerlichen Aufklärung eingesetzt und
zu den Gipfeln sozialistischen Denkens im 19. Jahrhundert
geführt habe, durch Erscheinungen wie Nietzsche, Bismarck
und Hitler pervertiert worden sei. Er hege übrigens nicht nur
Verehrung für Hegel und Marx, sondern sei ein Bewunderer
Goethes. Die übrigen Europäer und vor allem die Franzosen
sollten sich nichts vormachen, Deutschland sei immer noch
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
324
die erste Macht Europas, selbst wenn es geteilt sei. Er wich
dem Gespräch über die Perspektiven der deutschen Einheit
im Lichte der eben vollzogenen Wiedervereinigung Vietnams
nicht aus. Aber er war nicht bereit, der Sowjetunion irgendeine
Verantwortung am Zustand der deutschen Spaltung anzulasten. Schnell artete die Diskussion in höfliches Schattenboxen
aus. Das Gesicht des alten Ideologen verlor, wenn es um prinzipielle Fragen ging, jede Verbindlichkeit. Hoang Tung wirkte
dann wie ein altes Krokodil.
»Wir wissen, daß in unserem Land vieles unvollkommen
bleibt und daß gerade in dieser Stunde der Wiedervereinigung
schwere Fehler begangen werden«, schaltete er die Konversation um. Vietnam stehe vor schrecklichen Problemen. Jedes
Jahr vermehre sich die Bevölkerung um 1,2 Millionen Menschen. Im Jahr 2000 werde Vietnam 90 Millionen Einwohner
zählen. Durch den Anschluß des sittlich verwüsteten Südens
seien auch gewisse Funktionäre aus dem Norden der dort
gängigen Korruption erlegen. Auf dem nächsten Parteikongreß
werde man sich intensiv mit dem Verfall der sozialistischen
Moral und dem bürokratischen Schlendrian befassen müssen.
Generalsekretär Le Duan habe die politischen Funktionäre
bereits gewarnt und wissen lassen, daß Methoden der
Einschüchterung gegenüber dem Volk nicht geduldet würden.
Doch die Aufgaben im Süden seien gigantisch. Hoang Tung
sprach von den drei Armeen des heimtückischen Widerstandes gegen die wahre revolutionäre Erneuerung. Da gebe es
zunächst mehr als eine Million ehemaliger Söldner des ThieuRegimes, die umerzogen werden müßten. Neunzig Prozent von
ihnen, so behauptete er, genössen wieder volle Bürgerrechte,
und lediglich die Generale und Obersten der »Marionettenregierung«, der fantoches, sollten noch auf längere Zeit in
den Lagern festgehalten werden. Die zweite Armee setze sich
aus jenen Angehörigen des »schönen Geschlechts« zusammen, die zu Hunderttausenden der Prostitution nachgegangen seien und nun mit allen Waffen ihres Charmes versuchten,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
325
die tugendhaften Bo Doi zu verführen. In der dritten Armee
schließlich befänden sich jene bürgerlichen Intellektuellen, die
den Vorstellungen der Partei und den klassenkämpferischen
Prinzipien des Arbeiter- und Bauernstaates mit Dünkel oder
Kasuistik begegneten.
Wie lange die ideologische Umschulung einer ganzen Landeshälfte denn noch dauern solle, fragte ich. Der »Großinquisitor«
nickte bedeutsam. »Um Karl Marx zu erforschen und zu begreifen, muß man ihn sehr lange studieren.« Karl Marx war in
Hanoi offenbar zum Kirchenvater, zum Propheten geworden.
Hoang Tung schwieg eine Weile vor sich hin. »Es gilt ja nicht
nur, die importierten Laster des französischen Kolonialismus
und des amerikanischen Imperialismus auszumerzen«, fuhr er
dann fort. »Der Konfuzianismus ist vielleicht unsere größte
Belastung auf dem Weg zur neuen Gesellschaft. Sie fahren
doch übermorgen nach China. Blicken Sie nach Peking, wie
schwer sich die dortigen Kommunisten tun. Ihre Anti-Konfuzius-Kampagne – Pi Lin – Pi Kong – ist in den Anfängen stekkengeblieben.« Die Zukunft der vietnamesisch-chinesischen
Beziehungen bereitete ihm große Sorgen. Ho Tschi Minh habe
bis zuletzt von der Einheit des sozialistischen Lagers geträumt
und mit allen Mitteln versucht, die Reibungen zwischen Peking
und Moskau zu schlichten. Aber die neueste Entwicklung in
China stimme bedenklich. Er wußte natürlich, daß Mao Tsetung im Sterben lag. Was würde hinterher kommen? Würde
das Reich der Mitte unter verschiedenen mächtigen Provinz-Satrapen aufgespalten werden und seine Einheit zerfallen, wie manche sowjetischen Experten voraussagten? Ein
listiges Lächeln huschte über sein asketisches Priestergesicht:
»Sie kennen doch die Meinung der Kuomintang-Clique auf
Taiwan?« fragte er. »Sie bezeichnen Mao Tse-tung als den
neuen Chin Shih Huang Ti. Sie wissen, wer gemeint ist,
jener erste Kaiser der Chin-Dynastie – er hatte nur einen
schwächlichen Nachfolger – der vor mehr als 2000 Jahren die
erste tatsächliche Einigung des Reiches der Mitte mit strenger
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
326
Autorität vollzog. Er wollte die Lehren des Meisters Kong
auslöschen und seine zentralistische Staatslehre mit Hilfe der
ihm ergebenen Legalisten durchsetzen. Der erste Chin-Kaiser
ließ die konfuzianischen Gelehrten lebendig begraben und
ihre Bücher verbrennen. Er war in mancher Hinsicht ein sehr
moderner Mann. Aber er ist gescheitert, und der Konfuzianismus hat zwei weitere Jahrtausende das kulturelle und politische Gesicht Chinas geprägt. Zweifellos sind diese Taiwan-Chinesen bösartige Verleumder, wenn sie den Vorsitzenden Mao
Tse-tung mit Chin Shih Huang Ti vergleichen und dem Maoismus eine ähnliche Kurzlebigkeit voraussagen wie dem Experiment der frühen Legalisten.«
Erdbeben in China
Peking, Ende August 1976
Der Zug quälte sich schnaufend aus den Niederungen des
Deltas der chinesischen Grenze und dem Hochland von
Kwangsi entgegen. Der Schweiß lief den Passagieren in Bächen
vom Körper. Ich hielt vergeblich Ausschau nach militärischen
Vorbereitungen. Nur einmal überholten wir an einer Rangierstation eine lange Reihe von Waggons, die Raketenwerfer geladen hatten. Der Abschied von Hanoi war ergreifend gewesen.
Madame Tu und Hong hatten mich zum Bahnhof gebracht.
Die Schäden eines präzisen amerikanischen Bombenangriffs
aus dem Dezember 1972 waren immer noch nicht behoben.
Dem Bahnhof gegenüber hatte sich zur französischen Zeit
ein mehrstöckiges Bordell befunden. Das Gebäude stand
noch, aber seine frühere Nutzung mutete jetzt wie ein Stück
Prähistorie an.
Frau Tu und Hong überreichten einen großen Strauß Feldblumen. Durch ihre Hilfsbereitschaft, ihre menschliche Wärme,
die sie uns unter voller Wahrung der ideologischen Parteitreue
entgegenbrachten, hatten sie erfolgreicher für ihr Land gewor-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
327
ben als alle Funktionäre und Prediger. Besonders hatten wir
ihren Sinn für Humor geschätzt. Wir schieden – wie ich hoffe –
als Freunde, und sie winkten mir lange nach. In der glühenden
Mittagshitze hielt der Zug in Lang Son. Der Bahnhof trug
ebenfalls noch die Narben des amerikanischen Kriegs. In
Lang Son war Ende des 19. Jahrhunderts ein détachement der
französischen Kolonialinfanterie in einer chinesischen Umzingelung aufgerieben worden, und darauf mußte der damalige
Regierungschef Jules Ferry, von seinen politischen Gegnern
als le Tonkinois beschimpft, zurücktreten. Die überstürzte
Räumung Lang Sons durch das französische Expeditionskorps
im Herbst 1950 hatte das erste Signal der unabänderlichen Niederlage gesetzt. Die Provinzhauptstadt war und blieb die strategische Schlüsselstellung zwischen Vietnam und dem Reich
der Mitte. Eine kleine Ortschaft, die den possierlichen Namen
Dong Dang trug, huschte vorbei und machte einer kahlen
Hügellandschaft Platz. Die Sonne brannte unerbittlich auf
eine Schlucht, die von Chinesen und Vietnamesen zur Zeit
der engen Waffenbrüderschaft »Freundschafts-Paß« getauft
worden war. Unter den Franzosen hatte sie den prosaischen
und treffenden Namen Porte de Chine getragen. Auf beiden
Seiten der Schienen standen jetzt bewaffnete vietnamesische
Posten in grünen Uniformen, als müßten sie die Bahnstrecke
gegen mögliche Überfälle abschirmen. Die Bunker und Artilleriestellungen auf den umliegenden Höhen waren jedoch perfekt getarnt.
Unmittelbar an der Grenze mußten wir die Züge wechseln.
Auf der anderen Seite des Kais warteten die geräumigen chinesischen Waggons nach Peking. Die vietnamesischen Grenzbeamten, denen meine Durchreise bestimmt gemeldet war,
zeigten sich von ihrer freundlichsten Seite. Auf einmal fiel
mir eine Bemerkung der Madame Tu ein: »Ihr Europäer steht
uns näher als die Chinesen.« Auf dem Bahnsteig lief eine
junge Vietnamesin in der obligaten grünen Uniform zwischen
den Zügen hin und her und gab mit der Trillerpfeife dem
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
328
Lokomotivführer Signale. Unter dem Tropenhelm fielen ihre
rabenschwarzen Haare bis zum Gürtel. Im Halfter steckte
eine schwerkalibrige Pistole. Das Mädchen strahlte vor Heiterkeit und Energie, scherzte mit den Zöllnern und war
bildhübsch. Wieder einmal nahm ich Abschied von Vietnam.
Den Blumenstrauß aus Hanoi hatte ich schon im Abteil liegenlassen, da eilte ich zurück, holte ihn und überreichte ihn der
jungen Vietnamesin, die mich fassungslos ansah und dann in
ein fröhliches Gelächter ausbrach.
Zwei Tage dauerte die Strecke von der chinesischen Grenzstation Ping-Hsiang bis Peking. Die bizarren Kalkfelsen von
Kwangsi, die fruchtbare Reisebene von Tschang Tscha, das
Industrierevier von Wuhan am Jang Tse kiang zogen in
brütender Hitze vorbei. Die Menschen waren hier besser
genährt und gekleidet als in Vietnam.
Das Versorgungsangebot selbst in den Bahnhofskiosken war
sehr viel reichhaltiger als in Hanoi. Am dritten Morgen der
Reise wurde die Luft plötzlich trocken, und die Landschaft
färbte sich gelb. Drei Lastkamele zogen auf einer Lehmstraße
daher. Wir näherten uns der Hauptstadt der Volksrepublik
China und ahnten bereits die Nähe der Steppen und Wüsten
Zentralasiens.
Im Kreis der Ausländer von Peking gab es nur ein Gesprächsthema: das Erdbeben. Nicht nur die große mandschurische
Industriestadt Tang Shan war durch eine fürchterliche und
völlig unerwartete tektonische Bewegung dem Erdboden
gleichgemacht worden – man sprach von hunderttausend Toten
– auch Peking war mit Trümmern übersät. Die Bevölkerung
hatte auf Weisung der Behörden ihre Ziegelbauten verlassen
und kampierte unter Zelten, Kisten und Nylontüchern auf den
Straßen. Millionen Menschen waren vorübergehend obdachlos geworden, aber nirgendwo war es zu Chaos oder Panik
gekommen. Die gewaltigen Ausschachtungen im Zentrum der
Metropole, die dem Bau der Untergrundbahn und vor allem
der Anlage eines atomsicheren Tunnelsystems dienten, lagen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
329
für jedes fremde Auge offen, seit die »Squatter« die hohen
Bretterzäune zur Errichtung von Behelfshütten abgerissen
hatten.
Über der alten Kaiserstadt lastete – selbst für den Ausländer
spürbar – eine Art Untergangsstimmung. Eine australische
Presseagentur hatte am Morgen den Tod Mao Tse-tungs gemeldet, was prompt dementiert worden war. Aber jedermann
wußte, daß die Tage des großen Steuermannes zu Ende gingen.
Geheimnisvolle Beratungen und Versammlungen fanden statt.
Am Mittag war unser Fahrzeug unweit des Tien An Men-Platzes gestoppt worden, um einer endlosen Kolonne von Autobussen den Vorrang zu lassen. Die Bus-Insassen – Soldaten der
Volksarmee und Grubenarbeiter – waren mit roten Papierblumen geschmückt und erwiderten das Händeklatschen der neugierigen Passanten mit eigenem Applaus. Offensichtlich handelte es sich um verdiente Katastrophenhelfer aus Tang Shan,
die zu einer Ehrung nach Peking geholt worden waren. Gegen
Abend staute sich zwischen dem Bahnhof und dem Platz des
Himmlischen Friedens eine gewaltige, schweigende Masse.
Milizangehörige, an ihren weißen Brustschildern zu erkennen,
regelten den Verkehr und sperrten die Zugänge zum großen
Volkspalast ab. Soldaten der Volksbefreiungsarmee kamen im
Laufschritt aus ihren Unterkünften. Sie trugen Klappsitze
unter dem Arm. Nach und nach sickerte durch, daß die Spitzen von Staat und Partei nahezu vollzählig versammelt waren,
um den Erdbeben-Helfern von Tang Shan in feierlichstem
Rahmen zu danken. Aber die Menschen von Peking ließen sich
nicht irreführen. Sie starrten gebannt auf jenen geschwungenen Eingang der Verbotenen Stadt, wo zwei Gardesoldaten der
Volksbefreiungsarmee regungslos auf Posten standen. Hinter
diesem Portal und der roten Sperrmauer mit dem Leitspruch
»Dem Volke dienen« befanden sich die Gemächer Mao Tsetungs. Jedermann fragte sich, ob für den Vater der Volksrepublik China die Stunde gekommen sei, »zu Karl Marx zu
gehen«, wie er in besseren Zeiten mit vielschichtiger Ironie
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
330
zu sagen pflegte. Der Abendhimmel war von violettem Licht
erhellt. Alles wirkte unwirklich und irgendwie unheimlich. Jenseits der blutroten Mauern und gelben Dächer der Verbotenen
Stadt, wo das Porträt des Sterbenden sich über den sukzessiven Torbögen wie ein Echo wiederholte, hob sich das Tempelchen auf dem »Kohlenhügel« von einer schwefelgelben Wolke
ab. An dieser Stelle hatte sich der letzte Kaiser der MingDynastie erhängt, als sein Reich unter den Schlägen der barbarischen Mandschu-Eroberer zusammenbrach, als deutlich
geworden war, daß ihm der Auftrag des Himmels entzogen
war.
Hinter der grauen Ziegelmauer eines winzigen Hauses
der Altstadt, das der Erschütterung widerstanden hatte,
traf ich an jenem denkwürdigen Abend einen seltsamen
Gesprächspartner. Pater S. empfing mich in seinem Gärtchen.
Der frühere deutsche Missionar war vom Strudel der großen
asiatischen Revolution fast zermalmt worden. Er hatte Jahre
im Gefängnis und im Straflager verbracht. In seiner grenzenlosen Einsamkeit und Not hatte der katholische Priester eine
chinesische Nonne geheiratet. Sie hatten zwei Töchter gemeinsam. Die eine hatte nach Australien auswandern dürfen. Die
andere paßte sich der chinesischen Wirklichkeit voll an und
weigerte sich, eine fremde Sprache zu lernen. Sie begrüßte
uns freundlich, aber flüchtig mit »Ni hao« und entfernte sich,
als unser Gespräch begann. Pater S. war von den Jahren der
Haft gezeichnet. Mit seiner chinesischen Frau bildete er ein
sehr harmonisches – man möchte sagen frommes – Paar. Beide
waren vorzeitig gealtert. Auf dem Tisch der kleinen Stube
stand ein Kruzifix zwischen zwei Heiligenbildern. Der greise
Mann wirkte weiterhin priesterlich: »Sacerdos es in aeternam«.
Er wußte natürlich besser als jeder andere Ausländer um
die Stimmung des Volkes. Die Naturkatastrophe war ein böses
Zeichen. »Sie kennen doch jene geomantischen Regeln, die im
alten China bei jedem Neubau und bei jeder Ausschachtung
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
331
berücksichtigt werden mußten, wenn man sich nicht den Zorn
des Himmels zuziehen, wenn man nicht die glückbringenden
Drachen in ihren Höhlen stören will. Nicht umsonst haben
die Propagandastäbe der Partei in diesen Tagen zu einer heftigen Kampagne gegen jede Form von Aberglauben ausgeholt.
An viel zu vielen Stellen seien völlig wahllos tiefe Stellen in
den Boden der Hauptstadt getrieben worden, so hört man
bei den kleinen Leuten von Peking. Die Gesetze und Regeln
der überlieferten Ordnung seien verletzt worden.« Aus dem
Katastrophen-Zentrum der Mandschurei wurden böse Zeichen
gemeldet. Dort, wo die Erde aufbrach, sei schwarzes Wasser,
das Blut der Drachen, an die Oberfläche gequollen. Die Natur
kündigte an, daß das Ende einer Herrschaft gekommen war.
Die Chinesen fragten sich mit banger Ahnung, ob für den
großen Mao Tse-tung der Auftrag des Himmels erloschen sei.
Mein Durchreisevisum war kurz befristet, und ich fuhr zum
Flugplatz von Peking, während der große Steuermann bereits
dem Tod verfallen war. Sein Porträt mit der Kinnwarze blickte
riesengroß über die leere Rollbahn. Ich war fast allein in der
viermotorigen Maschine. An Bord kontrollierte ein jugendlicher chinesischer Beamter in Uniform noch einmal die Ausweise. Er sprach ein wenig Englisch. Beim Anblick meines
deutschen Passes, in dem auch das vietnamesische Visum vermerkt war, fragte er mich nach der Stärke der Bundeswehr
und legte unaufgefordert ein Bekenntnis zur deutschen Wiedervereinigung ab. Wir seien doch gewissermaßen Verbündete
gegen einen gemeinsamen Feind. Er hatte beinahe den Ausgang erreicht, da kam er noch einmal zurück: »Sie waren doch
in Hanoi?« fragte er, »are there many Russians in Vietnam? –
Gibt es viele Russen in Vietnam?« Die Maschine rollte an. Aus
dem Lautsprecher tönte die Hymne »Der Osten ist rot«. Aber
es war Abend, und die Sonne ging mit blutrotem Schein im
Westen unter.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
332
Der Stellvertreter-Krieg in Kambodscha
Kambodschanisch-thailändische Grenze, im Februar 1979
Das also ist der Dritte Indochina-Krieg. Der glatte AsphaltHighway, der die kambodschanische Grenze bei Aranya Prathet mit Bangkok verbindet, ist knapp fünfzehn Kilometer entfernt. Aber hier umfängt uns der Dschungel mit tief grüner
Aquariumsbeleuchtung, mit dem stickig heißen Atem ewiger
Verwesung und ewiger Zeugung. Wieder einmal folgen wir
kleinen, schlitzäugigen Männern mit brauner Haut und welligem Haar. Sie sind trotz der Nähe des siamesischen Konsum-Paradieses in Lumpen gehüllt und laufen barfuß. Auf
der Schulter tragen sie veraltete Gewehre aus dem Zweiten
Weltkrieg. Manche sind nur mit Schrotflinten bewaffnet. Aus
ihrem roten Betel-Mund mit den häßlichen Zahnstummeln
kommen die gutturalen Laute eines kambodschanischen Dialektes. Denn diese Dorf-Partisanen zwischen den neuen Fronten Südostasiens, die die Regierung von Thailand mit ein paar
Bath entlohnt, sind Angehörige des Khmer-Volkes, auch wenn
sie auf der siamesischen Seite der Grenze siedeln.
Am frühen Morgen hatten wir an einem thailändischen
Gebietsvorsprung südlich Anranya Prathet, den wir – in Erinnerung an den vietnamesischen Grenzverlauf weit im Osten
– »Papageienschnabel« getauft hatten, die Chancen eines
Übertritts nach Kambodscha abgetastet. Zu nächtlicher Stunde
waren wir aus dem Luxus-Hotel in Bangkok im klimatisierten
Mercedes gestartet. Seit zehn Jahren arbeitete ich nun schon
mit »Joe« Prasat, einem athletisch gewachsenen Chauffeur des
»Oriental« zusammen. Er hatte uns zur laotischen MekongGrenze bei Vientiane und ins »Goldene Dreieck« begleitet. In
Wirklichkeit hieß er natürlich nicht Joe, sondern hatte sich
diesen Namen für seine ausländischen Touristen zugelegt. Joe
hatte einen Mittelsmann in Aranya Prathet aufgetrieben, einen
thailändischen Gelegenheitsjournalisten namens Seksan, der
angeblich die Grenze, die Übergänge und die Situation auf der
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
333
anderen Seite wie seine Tasche kannte. Aber Seksan, der kein
Wort Englisch sprach und uns mit sorgenvoller Miene in einer
chinesischen Garküche erwartete, hatte uns enttäuscht. Wir
waren in einer gelben Staubwolke über einen holprigen Lehmweg – es war Trockenzeit – in den besagten »Papageienschnabel« gefahren und standen dort vor den verkohlten
Resten eines thailändischen Dorfes. Die trockenen Reisfelder
waren verwahrlost und bereits mit Schilf überwachsen. In den
hohen Baumkronen am Rande der Lichtung flatterten kleine
blauweißrote Thai-Fahnen. »Das ist die Grenzlinie«, flüsterte
Seksan. »Dahinter beginnt Kambodscha. Aber es ist nicht
ratsam, hier einen Übergang zu versuchen. Die Kemelusch
haben überall Minen gelegt und vergiftete Bambus-Spieße
gepflanzt.« Ich brauchte eine Weile, ehe ich begriff, daß mit
Kemelusch die »Khmers Rouges«, die »Roten Khmer« gemeint
waren.
Die Kemelusch waren verantwortlich für die Verwüstungen
auf thailändischer Seite. Sie waren sengend und mordend eingefallen, und die Zivilbevölkerung war seit langem geflüchtet.
Es hatte sich meist um reine Willkürakte der kommunistischen Kambodschaner, aber manchmal auch um gezielte
Vergeltungsschläge gehandelt, denn in diesem Raum südlich
Aranya Prathet hatten sich letzte Anhänger des besiegten Marschall Lon Nol und sogenannte »Khmer Serei« oder »Freie
Khmer« zu kümmerlichen Banden zusammengeschlossen. In
Wirklichkeit besaßen diese Desperados keine Chance gegen
die blutrünstigen Roboter des Pol Pot-Regimes von Phnom
Penh.
Seit der Jahreswende war die gesamte strategische Situation in Südostasien in Bewegung geraten und umgekrempelt
worden. Die kampferprobten Divisionen Hanois, die seit der
Beendigung des Zweiten Indochina-Krieges der ständigen
Grenzguerilla der »Roten Khmer« ausgesetzt waren und sich
ihrerseits angewöhnt hatten, tief in kambodschanisches Territorium vorzustoßen, hatten plötzlich ernst gemacht und die Tarn-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
334
kappe der kommunistischen Brüderlichkeit aller indochinesischen Völker brutal heruntergerissen. Dahinter offenbarte sich
das nackte Antlitz des vietnamesischen Führungsanspruchs
über das gesamte, ehemals französische Indochina. Mit
verblüffender Selbstverständlichkeit waren die vietnamesischen Kolonisierten von gestern – wie so manches andere
Volk Afrikas und Asiens – in die Fußstapfen des Kolonisators
getreten und beanspruchten die von den verhaßten Fremdherren willkürlich gezogenen Grenzen als heiliges nationales
Erbrecht. Schon am 9. Januar waren die Panzerspitzen des vietnamesischen Generalstabschefs Van Tien Dung, eines Schülers
Vo Nguyen Giaps, in der menschenleeren Geisterstadt Phnom
Penh eingerollt. Ministerpräsident Pham Van Dong hatte keine
Zeit verloren. Er hob eine kambodschanische Marionettenregierung unter einem gewissen Heng Samrin in den Sattel, von
dem man nur wußte, daß er aus Kompong Cham stammte
und dort einmal eine Division der »Khmers Rouges« befehligt
hatte, ehe er sich mit der Pol Pot-Clique überwarf. Nach
Überwindung sporadischen Widerstandes näherten sich die
vietnamesischen Elitetruppen der 5. Division der Grenze Thailands.
Wir folgten Seksan im Gänsemarsch und standen plötzlich
am steilen Ufer eines ziemlich breiten Klong. Das Wasser des
Flüßchens war auf der kambodschanischen Seite von dichtem
Bambusgehölz überhangen. »Hier müßten wir übersetzen«,
meinte Seksan. Er hatte allen siamesischen Gewohnheiten zum
Trotz noch kein einziges Mal gelächelt oder gescherzt. Gegen
Bezahlung sei ein Nachen zu beschaffen. Auf dem Gegenufer
müßten wir uns allerdings allein zurechtfinden. Es sei kein
örtlicher Kundschafter bereit, uns in ein Gebiet zu begleiten,
das noch von den Kemelusch verunsichert sei. Wir sollten
beim Vordringen auf dem Dschungelpfad auf Minen und
Fallen achten. Nach sieben Kilometer Fußmarsch würden wir
die alte Kolonialstraße nahe der Ortschaft Nimit erreichen.
Dort ständen sich zur Zeit Vietnamesen und »Rote Khmer«
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
335
kämpfend gegenüber. Regelmäßig käme es zu Gefechten: Bei
Tage würden die Vietnamesen schießen, bei Nacht die Kambodschaner.
Wir hatten uns mit der Absicht getragen, die zersprengten
Verbände der »Khmers Rouges« aufzusuchen in der Hoffnung,
daß die Niederlage und die Zwangslage, in der sie sich befanden, ihre blinde Mordsucht zumindest gegenüber westlichen
Ausländern etwas gemildert hätten. Keinem fremden Journalisten war bisher ein befriedigender Kontakt mit dieser Geisterarmee gelungen, die sich im wesentlichen aus Jugendlichen
zwischen 12 und 18 Jahren zusammensetzte und laut Angaben der Militärattachés in Bangkok noch über mindestens
30000 Mann verfügte. Während Seksan seine ernüchternden
Angaben mit tonloser Stimme machte, drang aus westlicher
Richtung Gefechtslärm zu uns herüber. Erst ratterten Infanteriewaffen, dann mischten sich Panzerkanonen ein. Es wäre
selbstmörderisch gewesen, mit einem vollausgerüsteten Kamerateam in dieser Richtung ins Blinde zu tappen. Unsere
Gegenwart schien sich herumgesprochen zu haben, denn
plötzlich trafen – aus Aranya Prathet kommend – ein halbes
Dutzend thailändischer Photoreporter und Kameraleute mit
ihren Hondas auf unserer Lichtung ein. Offenbar wollten sie
unseren Grenzübergang und – wer weiß – unseren Untergang
filmen, denn vom höchsten Grenzbaum aus, so versicherte
Seksan, könne man weit in die kambodschanische Provinz
Battambang spähen. Eine Woche später las ich übrigens in der
»Bangkok Post«, daß sich eine kleine Gruppe thailändischer
Journalisten doch noch aufgerafft hatte, an dieser Stelle
überzusetzen. Sie hatten aus der Ferne sogar ein paar
schwarzgekleidete Khmer-Partisanen entdeckt, waren von den
Freischärlern jedoch sofort unter Feuer genommen worden
und mußten sich in wilder Hast über den Klong nach Thailand
retten. Ein Photograph war bei diesem überstürzten Rückzug
auf eine Mine getreten.
Die Vietnamesen hatten Kambodscha im Blitzkrieg über-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
336
rannt. Die grünen Soldaten des Generals Van Tien Dung waren
auf russischen Tanks und amerikanischen Beutepanzern nach
Westen geprescht, und ich konnte mir vorstellen, mit welcher
Genugtuung diese Armee, die dreißig Jahre lang in ihren
Maulwurflöchern gehockt hatte, das Abenteuer des offenen
Bewegungskrieges auskostete. Aber schon raunten die Skeptiker, daß Verteidigungsminister Vo Nguyen Giap, der nun endlich seine stählerne Kavallerie einsetzen konnte wie sein Vorbild Napoleon die Husaren Murats in die Flanken des Feindes
warf, mit fortschreitender Vergreisung offenbar den Sinn für
strategische Analyse verloren habe, daß sein Stellvertreter
Dung allzu konventionell durch das sowjetische Modell geprägt
sei. Mit zehn bis fünfzehn Elitedivisionen und fast 150000 Mann
hatten die Vietnamesen das Kambodscha Pol Pots erobert.
Was fanden sie vor? Menschenleere Städte, verwaiste Ortschaften, gesprengte Brücken, unbefahrbare Straßen, ein Land
ohne Wirtschaft, ohne Industrie, ohne Währung. Die »Khmers
Rouges« waren vor der Dampfwalze Hanois in den Dschungel
und in die Berge ausgewichen. Die vom Terror-Regime Pol Pots
dezimierte, gequälte und verstörte Bevölkerung betrachtete
gewiß die Ankunft der vietnamesischen Okkupationsarmee als
das geringere Übel, gemessen an den unsagbaren Leiden, die
ihnen die eigenen Landsleute im Namen ihres Steinzeit-Kommunismus zugefügt hatten. Aber Sympathie für den erobernden Erbfeind aus dem Osten brachten die Kambodschaner
nicht auf, und sie blieben weiterhin ziemlich schutzlos der
schrecklichen Vergeltung ausgesetzt, die die schwarzgekleideten Partisanen Pol Pots nunmehr im Namen des nationalen
Befreiungskampfes an allen Kollaborateuren übten. Die Vietnamesen hatten sich in Kambodscha paradoxerweise auf eine
Art amerikanische Kriegführung eingelassen und die Rollen
vertauscht. Sie besetzten die Ortschaften, kontrollierten die
großen Verkehrsachsen. Sie zerschlugen jeden organisierten
Widerstand mit Napalm, Bomben und Artillerie. Ihre isolierten
Vorposten und Panzerspitzen verstärkten sie mit Hubschrau-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
337
bern. Ihnen gegenüber befand sich eine zerzauste Truppe
beweglicher, anspruchsloser Buschkrieger, die zur Bekämpfung
der mechanisierten Divisionen des General Dung auf die Taktik
des Vietkong zurückgriffen.
Der rote Tyrann Pol Pot hatte sich mit dem harten Kern
seiner Anhänger in das Cardamom-Gebirge zurückgezogen,
dessen Dschungel sich fast bis zur thailändischen Grenze
verlängert und auf Sichtweite an die Küste des Golfs von Siam
heranreicht. Die chinesischen Berater und Techniker waren
den vietnamesischen Invasoren mit knapper Mühe entkommen. Peking wurde in Kambodscha in unerträglicher Weise
herausgefordert. Sein einziger Verbündeter in Südostasien
war durch den vietnamesischen Hegemonial-Willen in ein paar
Tagen auf die Knie gezwungen worden. Für das Reich der
Mitte drohte peinlicher Gesichtsverlust. Nun kam es für die
Agenten Pekings darauf an, den Widerstand der Roten Khmer
durch Versorgung und Waffenlieferung am Leben zu halten.
Denn die Vietnamesen wären kaum in der Lage, in Kambodscha auf unbeschränkte Zeit jenen Abnutzungskrieg oder protracted war zu führen, an dem sich die Großmacht USA in Vietnam zermürbt hatte. Die meisten Pressekommentare in Europa
und Amerika beschrieben in jenen Tagen die gewaltige materielle Überlegenheit Hanois und erwähnten die unermeßliche
Waffenbeute, die den Nordvietnamesen 1975 in die Hände gefallen war. Aber die wenigsten sprachen von der Unzulänglichkeit
der vietnamesischen Materialpflege oder maintenance, vom
Mangel an Ersatzteilen, von der zerstörerischen Wirkung der
Lateritstraßen und des Monsun-Klimas. Soweit das eroberte
amerikanische Rüstungsgut nicht schön vor dem KambodschaEinsatz untauglich geworden war, verwandelte es sich nun auf
den Pisten zwischen Svay Rieng, Kratie und Battambang zu
Schrott. Es kamen nur noch die Russen als einzige und unentbehrliche Waffenlieferanten in Frage. Die amerikanische CIAAntenne in Bangkok konnte mit Genugtuung beobachten, wie
zwischen Vietnamesen und Kambodschanern ein neuer Stell-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
338
vertreterkrieg – war by proxies – in Gang gekommen war.
Moskau und Peking zählten die Punkte. »Die Khmers Rouges
hätten alle Chancen auf ihrer Seite«, sagte mir ein Geheimdienstler in Bangkok, »wenn sie – nach maoistischem Prinzip
– wie der Fisch im Wasser in der Bevölkerung leben würden.
Aber« – und hier lachte der spook schallend – »diese roten
Fanatiker haben durch ihre blinden Massaker unter den eigenen Landsleuten das Wasser ausgeschüttet, in dem sie heute
schwimmen müßten.«
Die Schießerei in der Gegend von Nimit setzte sich mit
kurzen Unterbrechungen fort. Es fehle den kämpfenden Parteien wohl nicht an Munition, fragte ich Seksan. Er antwortete, daß die Freischärler Pol Pots äußerst sparsam mit ihren
Patronen umgingen. Bei den Massenhinrichtungen hätten die
Roten Khmer mit Knüppeln und Schaufeln gewütet, ja sie
hätten eine neue Exekutionsmethode erfunden: Sie stülpten
ihren Opfern Plastiktüten über den Kopf, die sie am Hals luftdicht zuschnürten. Nur in Sonderfällen sei auch geschossen
worden. So habe ein alter muselmanischer Flüchtling vom
Volk der Cham dieser Tage von einem besonders grauenhaften Vorfall berichtet. Als Pol Pot noch regierte, habe eine
Delegation von kambodschanischen Moslems die Bitte an die
Revolutionsbehörden gerichtet, daß man ihnen – wenn schon
die Ausübung jeder Religion streng untersagt sei – doch wenigstens gewisse rituelle Gewohnheiten lasse. In der Volksrepublik
China, so hätten die Cham argumentiert, sei es den Muselmanen, »Hui« genannt, weiterhin gestattet, ihre eigenen Speisevorschriften zu beachten. Ähnliches strebten die kambodschanischen Moslems ebenfalls an. Die roten Kommissare hatten
sie aufgefordert, sich zur Diskussion auf einer weiträumigen
Lichtung zu versammeln. Etwa 1500 muselmanische Cham
waren zusammengekommen. Sie wurden aus dem Hinterhalt
durch Maschinengewehre niedergemäht.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
339
Ein Land des Grauens begann dort hinter den Baumwipfeln
mit den Thai-Wimpeln. Die Gegend war mir wohlbekannt. Im
Herbst 1972 war ich im Leihwagen bis Aranya Prathet gefahren, hatte ohne jede Begleitung zu Fuß die Grenze passiert und
mich in der kambodschanischen Ortschaft Poipet nach weiterer Beförderung umgesehen. Mindestens zwei Dutzend Taxis
– sämtlich vom Typ Peugeot 404 – warteten dort auf Kunden.
Ich suchte mir ein fahrtüchtiges Fahrzeug mit einem vertrauenerweckenden Chauffeur aus. Die anschließende Fahrt
über Sisophon nach Battambang war eine Tortur. Die schlechteste Schotterpiste wäre den metertiefen Schlaglöchern dieser
ausgebeulten Asphaltstrecke vorzuziehen gewesen. Zwischen
Poipet und Battambang herrschte regster Verkehr. Immer
wieder lagen riesige Tankwagen, die Benzin auf dem Landweg von Thailand nach Phnom Penh transportieren sollten, im
Straßengraben. Mein Fahrer, der ein halsbrecherischer Akrobat und verhinderter Rennfahrer war, vermied mehrere Male
um Haaresbreite den fatalen Zusammenstoß. Soldaten der Lon
Nol-Armee und Sicherheitsvorkehrungen sah man kaum. Die
Provinz Battambang, wo schon zu Zeiten Sihanuks kommunistisch inspirierte Bauernrevolten stattgefunden hatten, stand
zwar im Ruf, mit den »Roten Khmer« zu sympathisieren.
Doch diese reiche Grenzregion, die auch von Thailand beansprucht und von Sihanuk deshalb als »unser Elsaß-Lothringen« bezeichnet wurde, lieferte ihren Reis wohl an beide
Bürgerkriegsparteien und genoß deshalb eine befristete Waffenruhe.
Das schmucke Städtchen Battambang bot ein Bild des Friedens und der tropischen Langweile. Ich war dort mit zwei
französischen Archäologen verabredet, die nach der Besetzung Angkor Wats durch die roten Revolutionäre nach Battambang ausgewichen waren, um die nahen Khmer-Tempel
und Hindugötter von Prasat Sneng vor weiterem Verfall zu
bewahren. Nach langem Suchen fand ich sie am Rande des
Waldes in einem typisch kambodschanischen Pfahldorf. Die
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Dämmerung war hereingebrochen. Die beiden jungen Wissenschaftler zündeten Karbidlampen an, denn Elektrizität
hatten sie nicht. Sie wollten offenbar im Zustand paradiesischer Unschuld leben, waren nur mit einem Sarong, dem
landesüblichen Sampot bekleidet, ernährten sich wie die Eingeborenen, deren Sprache sie fließend beherrschten. Im Umkreis
ihres Kompong hatten sie eine Art Zoo, besser gesagt eine
Arche Noah angelegt, mit herrlichen bunten Vögeln, seltsamen
Affen und einigen Reptilien des Dschungels. Sie hatten sich
mit drei oder vier kambodschanischen Großfamilien umgeben
und bei ihnen ihre Gefährtinnen ausgesucht, braune bäurische
Mädchen mit schönen Gesichtszügen und kräftigen Waden.
Jean und Antoine machten sich keine Illusionen. »Das Land
der Khmer steht vor dem Untergang«, begann der eine. »Wir
wissen, daß uns in unserem exotischen Eden nur noch eine
kurze Frist gewährt ist«, fuhr der andre fort. »Bei unseren
Kollegen in Paris stehen wir im Ruf, finstere Kolonialisten,
nostalgische Idioten zu sein, die die Anspruchslosigkeit dieser
Exoten mit Zufriedenheit verwechseln«, sagte Antoine. »Aber
wir glauben die Khmer besser zu kennen, als jeder andere
Weiße, und wir versichern Ihnen, sie lebten vor dem Krieg so
glücklich wie ein Volk dieser Erde nur leben kann. Doch jetzt
kommt das große Entsetzen auf uns zu.« Jean hätte am liebsten Henry Kissinger als Kriegsverbrecher verurteilt gesehen.
»Daß die Amerikaner in den Vietnamkonflikt hineinstolperten, kann man vielleicht noch entschuldigen«, sagte er, »aber
für den Überfall auf Kambodscha gibt es keine mildernden
Umstände. Das war der blanke Zynismus Kissingers.« Ob der
Buddhismus nicht einen letzten Ausweg böte, fragte ich. Aber
da wehrten sie beide ab. »Woran ist denn das große Reich
von Angkor zugrunde gegangen? Wie kam es, daß die kriegerische und staatsbildende Kraft der Khmer im Mittelalter
erlahmte? Das war doch eine Folge der buddhistischen Entsagungsphilosophie und Weltabgewandtheit. Die Lehre Gautamas ist eine Religion der egozentrischen Selbsterlösung ohne
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341
Verantwortungsgefühl gegenüber dem Nächsten. Einige Jahrhunderte Buddhismus, und jedes Imperium ist reif für den
Zerfall. Vielleicht werden die Siamesen in absehbarer Zeit eine
ähnliche Erfahrung machen. In Zeiten des Friedens mag es
angehen, seine Sutren zu murmeln, Weihrauch zu brennen, die
Bonzen zu füttern und im Nirwana die ewige Befreiung von
den Schrecken der Wiedergeburt zu suchen. Aber wenn harte,
feindliche, ganz auf die Auslöschung des Individuums zugunsten der kollektivistischen Gemeinschaft angelegte Kräfte zum
Sturm ansetzen, dann gibt sich der Buddhismus als das zu
erkennen, was er ist: ›Opium für das Volk‹ in einem anderen
Sinne vielleicht, als Lenin das verstand.« – »Aus eigener Kraft«,
so erklärte Jean, »hätten die kambodschanischen Kommunisten nie an die Macht kommen können. Gott-König Sihanuk
und die buddhistische Lethargie hätten das verhindert. Aber
die kombinierte Aktion der Amerikaner und der Nordvietnamesen hat die brutale Entstabilisierung dieses verschlafenen hinterindischen Königreichs bewirkt. Beide sind an ihrem
Unternehmen nicht froh geworden. Sie haben jene Kräfte
nach oben gespült, die bis dahin nur unbedeutende oder finstere Randgruppen waren: ein paar wirre Intellektuelle einerseits, die im Quartier Latin jeden Sinn für die Realitäten
ihres Landes verloren hatten, die bereit waren, ihre blutroten
Utopien auf einem Berg von Schädeln zu errichten; auf
der anderen Seite die primitiven Waldvölker, jene Urrassen,
die schon vor Jahrhunderten von den Khmer-Eroberern in
die Wildnis verdrängt worden waren und sich nur noch in
den Außenprovinzen Ratanakiri und Mondulkiri behaupteten; hinzu kamen jene kambodschanischen Hinterwäldler, die
im Bannkreis des Dschungels lebten, die ihre primitiven und
furchterregenden Buddha-Statuen aus Lehm bildeten und wie
Fetische verehrten. Diese Kombination von pseudomarxistischer Verblendung, wie sie auf dem linken Seine-Ufer gedeiht,
und urweltlicher sauvagerie, das ist das Geheimnis der ›Roten
Khmer‹.«
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Bevor die beiden Archäologen mich ins Hotel zurückbegleiteten, hatte Antoine ein Mädchen aus dem nahen Kompong
kommen lassen. »Das gehört hier zur Gastfreundschaft«, sagte
er. »Wollen Sie darauf verzichten, das lebendige Abbild einer
klassischen Khmer-Göttin aus der besten Chen La-Periode im
Bett zu haben? Sehen Sie sich den quadratischen Schädel
an, die gerade Stirn, die Mandelaugen, die runden Schultern.
Wirkt diese Haut nicht wie schwarze Bronze? Nur das Lächeln
stimmt nicht ganz. Es ist zu harmlos.«
Sieben Jahre waren seitdem vergangen, eine Ewigkeit. Auf dem
Rückweg nach Aranya Prathet begegneten wir zwei bewaffneten Zivilisten auf Fahrrädern. Sie wiesen uns einen neuen
Pfad in südlicher Richtung. Zum ersten Mal stießen wir jetzt
auf eine Wegsperre der thailändischen Armee. Die Soldaten
waren amerikanisch bewaffnet und uniformiert wie seinerzeit
die Männer des General Thieu oder des Marschall Lon Nol.
Sie winkten uns lässig durch. Wir mußten das Auto bald
stehen lassen, weil das Unterholz von beiden Seiten den Pfad
einschnürte. Nach zwei Kilometern Marsch wuchsen ein paar
Hütten aus dem Dickicht. Ein Dutzend kambodschanischer
Partisanen, die mehr oder minder im Dienste der siamesischen
Behörden standen und vermutlich den antikommunistischen
»Khmer Serei« zuzurechnen waren, begrüßten uns zutraulich.
Ein paar hundert Bath verwandelten sie in willige Hilfskräfte.
Sie schulterten unser Kameramaterial, ließen dabei jedoch die
Flinten und Buschmesser nicht aus der Hand. Diese ausgemergelten kleinen Männer würden niemals in der Lage sein, den
wölfischen »Roten Khmer« oder den kampferprobten Vietnamesen standzuhalten.
Wir näherten uns wieder der Grenze Kambodschas. Das
letzte Dorf und die geräumigen Holzpagoden eines buddhistischen Klosters waren verlassen. Die Bonzen waren
geflüchtet. In dem verstaubten Wat waren der Altar und die
Kultgegenstände beiseite geräumt wie Bühnenrequisiten. Es
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roch nach Moder. Ein Zauberer, so schien es, hatte seinen
Plunder liegen lassen. In einer Ecke verharrte ein großer
hölzerner Buddha. Es war eine häßliche Schnitzerei mit einer
übergroßen Spitznase, mit der Fratze eines Farang, wie die
Thai alle westlichen Ausländer nennen. Mit dem steil auslaufenden Schädel wirkte diese vergessene Statue wie ein
bösartiger Bajazzo.
Die Grenze war hier ebenfalls durch einen Klong markiert,
aber das Wasser floß nicht dunkelgrün und klar wie bei unserer ersten Station. Der gelbe Tümpel verbreitete Verwesungsgeruch. Der faulige Urwald ringsum war verfilzt. Prozessionen großer roter Ameisen zogen zielstrebig über mürbe Äste.
Wir versanken bis zu den Knöcheln im Schlamm und ekelten
uns vor einer Unzahl von Würmern und Insekten. Auf einem
querliegenden, glitschigen Baumstamm balancierten wir auf
die andere Seite des Klong. Wir befanden uns auf kambodschanischem Boden.
Einer der Partisanen – er mochte der Anführer sein, obwohl
er ebenso ärmlich gekleidet war wie seine Gefährten – holte
grinsend ein Bündel spitzer Bambuspfeile aus seiner Tragetasche. »Davor müssen Sie sich jetzt am meisten in acht
nehmen«, übersetzte Joe. »Die ›Roten Khmer‹ haben ihre
früheren Stellungen mit diesen messerscharfen Spitzen wie
den Rücken eines Stachelschweins gespickt. Oft sind sie mit
Leichengift beschmiert. Passen Sie auf, wohin Sie Ihre Füße
setzen.« Im grünlichen Zwielicht des Dschungels erkannten
wir jetzt Laufgräben und Erdbunker. Von hier aus hatten die
Kemelusch ihre Einfälle nach Thailand unternommen. Unter
dem Druck der vietnamesischen Eroberer hatten sie sich in
der undurchdringlichen Wildnis, die nur ihnen vertraut war,
aufgelöst. Wir empfanden alle eine seltsame Beklemmung. Die
Zwangsvorstellung vom einsamen Tod im Dschungel drängte
sich auf. Myriaden von Insekten und Larven würden sich des
sterbenden Fleisches bemächtigen, und das Verenden wäre
entsetzlich.
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Als wir Aranya Prathet erreichten, stand die Sonne schon
tief im Westen. Am schmucken thailändischen Zollgebäude
vorbei fuhren wir in Richtung Poipet weiter. Aber der Schlagbaum war gesenkt. Ein Leutnant der Thai-Armee hielt uns an.
»Wenn es an uns läge, könnten Sie ruhig zu Fuß bis zur kambodschanischen Grenzstation vordringen und filmen. Die Vietnamesen und ihre kambodschanischen Hilfstruppen haben
Poipet noch nicht besetzt. Wie Sie sehen, weht nicht mal eine
Fahne auf dem Mast gegenüber. Aber die letzten hundert Meter
werden von unserer Border Patrol Police kontrolliert, und die
dulden keine Neugierigen. Sie wissen ja, wie schwierig das
mit der B. P. P. ist.« In der Tat hatten wir von den ständigen
Querelen zwischen der Armee und der Grenzpolizei Thailands
gehört. Die Soldaten, die ihr Königreich gegen die Gefahr aus
dem Osten abschirmen sollten, waren mehr als relaxed. Ihre
Uniformen hatten sie gegen T-Shirts und Shorts ausgetauscht.
Sie spielten Volleyball oder kochten Reis. Nicht einmal in dem
verwahrlosten Sandsackbunker war ein bewaffneter Posten
zu sehen. Bei der Border Patrol Police ging es kaum martialischer zu. Es war fünf Uhr nachmittags, und somit war auch
für sie der Dienst zu Ende. Sie kamen zu sechs Mann in
gescheckten Tarnuniformen mit M 16-Gewehren auf uns zu,
winkten freundlich und verschwanden in ihren rückwärtigen
Unterkünften.
Wußten die thailändischen Militärs überhaupt, was sich im
Osten zusammenbraute? Ihre Sorglosigkeit grenzte an Wahnwitz. Es war jetzt zu spät, um noch das Flüchtlingslager von
Ta Phraya aufzusuchen, wo zwei- bis dreitausend Kambodschaner ein sehr provisorisches Asyl hinter Stacheldraht
gefunden hatten. Wer unter diesen refugees war ein Sympathisant der Kemelusch und wer ein Opfer dieser Mörderbanden?
Die siamesischen Immigrationsoffiziere sortierten sie recht
und schlecht aus und versuchten, die Todfeinde voneinander
zu trennen. Wenn bewaffnete Gruppen schwarzuniformierter
Partisanen aus dem Grenzdickicht auftauchten, forderten sie
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345
schnell eine bewaffnete Eskorte der B. P. P. an, die die Eindringlinge ein paar Dutzend Kilometer nach Nord oder Süd weitergeleiteten und dort wieder nach Kambodscha abschoben, an
Übergangsstellen, die die Vietnamesen noch nicht kontrollierten. Die Situation wurde in dem Maße immer heikler, wie die
Soldaten Hanois ihre mopping up-Operation in den Provinzen
Battambang und Siem Reap vorantrieben. Würde das vietnamesische Oberkommando noch lange tatenlos hinnehmen, daß
den versprengten Pol Pot-Partisanen in Thailand Unterschlupf
und Freistatt geboten wurde? Auch hier waren die Nordvietnamesen plötzlich in die Rolle ihrer früheren amerikanischen
Gegner gedrängt, die jahrelang wutschnaubend beobachten
mußten, wie der Vietkong im ostkambodschanischen Grenzraum unverletzliche sanctuaries benutzte.
Joe drängte zur Heimfahrt nach Bangkok. War die Gegend
ab Einbruch der Dunkelheit tatsächlich unsicher, oder wollte
er nur rechtzeitig bei seiner Frau oder Freundin sein? Die
Strecke bis Bangkok war flach und langweilig. Nur einmal
säumten felsige Hügel die schnurgerade Asphaltbahn. Sonst
lösten sich Reisfelder, Lotos-Teiche und reliefloses Ödland ab.
Die Städte und Dörfer glichen sich wie ein Ei dem anderen.
Die siamesischen Holzhäuser waren häßlichen, einfallslosen
Betonklötzen gewichen. Die schreiend bunte Reklame einer
hektischen Konsumgesellschaft war allgegenwärtig und flimmerte in der Dämmerung mit Neonröhren. Die Tankstellen
waren wohl das wichtigste Merkmal dieser Hinwendung Siams
zum westlichen Modernismus. Je näher wir der Hauptstadt
kamen, desto hoffnungsloser keilten uns die Auto- und Lastwagenkolonnen ein. Das Zentrum einer jeden Ortschaft hatte
sich zur Mainstreet Thailand herausgeputzt, und nur die abstrusen Architektur-Einfälle der reichen chinesischen Kaufleute,
die den Beton mit Schnörkeln verzierten, schufen bizarre
Abwechslung. Überall hatte der Staat neue Pagoden errichten
lassen. Diese Kultstätten des Buddhismus waren stets nach
dem gleichen Modell in Zement gegossen. Der Giebel war mit
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schillernden Glassplittern dekoriert. Die Fabeltiere – auch sie
kamen aus der Retorte – wurden mit grünem und rotem Neon
in die Beleuchtung eines Jahrmarkts getaucht. Sogar die frommen Statuen des Erlösers Gautama – ihre Vervielfältigung entsprach einer gezielten Religionsförderung durch Thron und
Regierung – waren fast so anspruchslos und genormt, wie die
Lenin-Denkmäler in der Sowjetunion.
Es ließ sich gut reisen in dem klimatisierten Mietwagen.
Aus dem Autoradio klangen süßliche siamesische Schlager.
Wir hatten die Stadtgrenze von Bangkok erreicht, und die
Fahrt wurde immer langsamer. An den Straßenecken brannten Kerzen und Ölfunzeln vor den Kultstätten hinduistischer
Gottheiten, die mit der toleranten Lehre Buddhas seit Jahrhunderten kohabitierten und kindliche Verehrung beim Volk
genossen. Aber diese bescheidenen Symbole althergebrachter
Frömmigkeit wurden erschlagen durch die überdimensionale
und gebieterische Aufforderung zum Konsum, zur Geldausgabe, zum materiellen Statuserwerb in der Gesellschaft der
Reichen. Auf riesigen Plakaten wurden Pepsi und Coca-Cola
zu Elixieren moderner Glückseligkeit, wie strahlende ThaiFamilien in Großformat – Urahne bis Kleinkind – mit der
Flasche in der Hand an einem idyllischen Strand demonstrierten. Die Kinosäle warben mit Brutalität und Sex. Immer
häufiger leuchteten die Glasfronten der Massagesalons auf.
Aus den Nachtbars dröhnte Disco-Musik. Die Fahrzeuge standen Stoßstange an Stoßstange. An Vorwärtskommen war kaum
noch zu denken. »Wenn die Vietnamesen eines Tages mit ihren
Panzerdivisionen nach Thailand einfallen sollten«, so lautete
ein Party-Scherz, »dann werden sie erst durch das Verkehrschaos von Bangkok gestoppt werden.«
Das kühle Zimmer und die Stereomusik im Hotel »Oriental«
versetzten mich am Ende dieses heißen Tages in eine euphorische Stimmung. Tief unten spiegelten sich die Lichter der
Stadt in der dunklen Strömung des Menam. Der Schlaf kam
schnell. Im ersten Morgenlicht wurde ich jäh durch das Telefon
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geweckt. Rolf Schreiner, ein ehemaliger Fremdenlegionär, der
es als Kaufmann in Thailand zu Geld und Ansehen gebracht
hatte und mit einer reizenden Thai aus guter Familie verheiratet war, meldete sich am Ende der Leitung. »Haben Sie
die Radio-Nachrichten gehört?« fragte er. »Seit heute morgen
haben die Chinesen eine Grenzoffensive gegen Vietnam gestartet in einem Abschnitt, den wir beide gut kennen. Es scheint
sich um eine größere Aktion zu handeln.«
»China packt die vietnamesische Schlange
am Schwanz«
Bangkok, im Februar 1979
Die Hotelterrasse des »Oriental« war einer der wenigen Plätze
in Bangkok, wo man noch dem alten Siam nachtrauern konnte.
Fast überall waren die malerischen Klongs zubetoniert worden
und hatten trostlosen Asphaltschluchten Platz gemacht. Die
Terrasse war dem Menam zugewandt. Die dickbauchigen
Lastkähne ragten hoch aus dem Strom, wenn es flußaufwärts
ging. Auf dem Rückweg zum Ozean hingegen drückte die
schwere Reisfracht sie fast unter den Wasserspiegel. Unermüdlich kreuzten die Motorfähren. Zwischen der PapageienBuntheit der übrigen Passagiere leuchtete das feierliche Gold
der Bonzentracht. In der Ferne – zwischen Hochhäusern und
Schornsteinen – verschmolzen die phallischen Kacheltürme
und Stupas der Königspagode Wat-Phra-Keo mit dem milchigen Morgenhimmel.
Seit dem amerikanischen Vietnam-Debakel war Bangkok
zur Drehscheibe der südostasiatischen Intrigen des neuen
Domino-Spiels, zum Tummelplatz der Geheimdienste geworden. Die Nachricht von der chinesischen Grenzoffensive gegen
Vietnam wirkte sich hier wie ein Tritt in einen Ameisenhaufen
aus. Angeblich war das neue Kampfgebiet zwischen Tonking,
Jünan und Kwangsi durch eine so dichte Wolkendecke ver-
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deckt, daß selbst die perfektionierten US-Satelliten nur unbefriedigende Beobachtungsergebnisse lieferten. Um so hektischer und widersprüchlicher kursierten die Gerüchte an der
Nachrichtenbörse am Menam. Nach außen hin war die Hauptstadt Thailands – die fast zehn Jahre lang den amerikanischen
Kurzurlaubern aus Indochina als »rest and recreation«-Zentrum, schnöde gesagt als Monster-Bordell, gedient hatte – in
einen riesigen Rummelplatz für Touristen aus der westlichen
Wohlstandssphäre umfunktioniert worden. Sie landeten mit
ihren Charter-Jumbos in Bataillonsstärke auf dem Flugplatz
Don-Muang. Ihr erster Gang führte sie in die Massagesalons
und Go Go-Bars des Pat Pong-Viertels. Die Deutschen aus der
Bundesrepublik waren besonders zahlreich vertreten, als gälte
es noch einmal in Fernost dem Appell aus dem chinesischen
Boxerkrieg nachzukommen: »The Germans to the front!« Es
gab natürlich auch sittsame Vergnügungs- und Bildungsreisende, die keine Pagode von Chiang Mai ausließen, den Elefanten-Zirkus von Surin absolvierten und in Mei Sai, im Herzen
des Goldenen Opium-Dreiecks einen Hauch von Abenteuer
suchten. Sie begegneten braunen, kichernden, freundlichen
und – wie es schien – recht einfältigen Menschen. Sie wußten
nicht, daß die Siamesen zu den verschlossensten und unberechenbarsten Völkern Hinterindiens zählen, sehr viel undurchdringlicher jedenfalls als beispielsweise die Vietnamesen, denen
die intensive französische Kolonisation gewisse abendländische
Reflexe anerzogen hat. Seit der Film »Emmanuelle« in den
Kinosälen Europas die Kassen füllte, hatte sich auch das weibliche Touristenkontingent vermehrt. Ob diese Nachahmerinnen der Silvia Kristel in Bangkok auf ihre Kosten kamen, war
eine andere Frage.
Das Oberkommando der chinesischen Volksbefreiungsarmee hatte feierlich bekanntgegeben, daß es mit seiner Grenzoffensive gegen Vietnam keinen dauerhaften Geländegewinn
anstrebe. Es handle sich lediglich um eine räumlich und zeitlich limitierte Strafaktion gegen die »Revisionisten« und »Pro-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
349
vokateure« von Hanoi. Sobald den vietnamesischen Kriegstreibern ein gehöriger Denkzettel verpaßt sei, würden sich die
Soldaten Pekings auf ihre Ausgangsstellungen zurückziehen.
Auf keinen Fall beabsichtige die Volksbefreiungsarmee gegen
das Herzland von Tonking, das Delta des Roten Flusses oder
gar gegen die Hauptstadt Hanoi vorzurücken. In vieler Hinsicht
erinnerte die chinesische Strategie in den nördlichen Randzonen Indochinas an den Himalaja-Feldzug des Jahres 1962, der
mit einer schmerzlichen Demütigung der indischen Streitkräfte
ausgegangen war. Wo hatten die Chinesen tatsächlich angegriffen? Wo standen sie bereits? Wie erfolgreich behauptete sich
die vietnamesische Verteidigung? Darüber lag keine präzise
Information vor. Selbst die Amerikaner tasteten offenbar im
dunkeln, gingen jedoch in einer instinktiven Reaktion der
Selbstrechtfertigung davon aus, daß die Armee Hanois, die den
US-Streitkräften erfolgreich getrotzt hatte, auch den Heerscharen Pekings gewachsen wäre.
Wir schlenderten häufig durch die Straßen und Gassen des
Chinesenviertels Sampeng. Vor dem Hintergrund konfuzianischer Ahnentempel formulierte ich aktuelle Fernsehkommentare zur Lage, die sich auf Grund der Entfernung von der
Front auf Mutmaßungen stützen mußten. Die Söhne des Himmels trugen in Bangkok Gelassenheit zur Schau, aber in Wirklichkeit sahen sie der Zukunft mit Sorge entgegen. Über ihre
Landsleute von Vietnam – die Hoa, wie man sie jetzt überall
in der internationalen Presse nannte – war die Katastrophe
bereits hereingebrochen. Die totale Verstaatlichung des Einzelhandels, die die Behörden von Ho Tschi Minh-Stadt im
März 1978 verfügt hatten, war in eine systematische Drangsalierung aller in Südvietnam ansässigen Chinesen ausgeartet. Gewiß, die meisten Hoa waren Kaufleute oder zumindest
kleine Händler. Sie ließen sich schwer in den neuen sozialistischen Staat integrieren und sträubten sich verständlicherweise
gegen die Verschickung in das Ödland der »Neuen Wirtschaftszonen«. Doch auch in Nordvietnam betrieb die Regierung von
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
350
Hanoi mit systematischen Schikanen, ja Pogromen die Vertreibung der dort ansässigen Chinesen. Selbst wenn sie lange
in Verwaltung und Armee des sozialistischen Regimes von
Hanoi gedient hatten, fanden sie keine Gnade vor dem xenophoben Nationalismus eines Systems, das das Argument des
Klassenkampfes oft nur als Vorwand benutzte. In den chinesischen Zeitungen von Bangkok wurde ausführlich über diese
unglücklichen Rassegenossen berichtet, die wochenlang an der
Grenze zwischen Vietnam und China kampiert hatten, ehe die
Regierung von Peking ihnen widerstrebend Einlaß gewährte.
Viel tragischer war das Schicksal jener Angehörigen des chinesischen Mittelstandes von Cholon, die sich mit einigen Tael
Gold das Ausreiserecht erkauften und erschlichen, um dann
auf schiffbrüchigen Kuttern und Seelenverkäufern dem Taifun,
den Piraten und den Haien der Südchina-See ausgesetzt zu
sein.
In der Demokratischen Volksrepublik Laos waren die Dinge
weniger dramatisch verlaufen. Die dortigen Auslandschinesen
hatten ohne große Mühe den Mekong überquert. Sie fanden in
Thailand Unterschlupf bei ihren Sippen und Landsmannschaften. Aber aus Kambodscha kam grausige Kunde. Dort hatte
das Bündnis Pol Pots mit Peking nicht verhindern können,
daß die Söhne des Himmels zu den bevorzugten Opfern des
Fremdenhasses und des Blutrausches der »Khmers Rouges«
wurden. Würde sich diese antichinesische Welle im übrigen
Südostasien fortpflanzen? Im Chinesenviertel Sampeng wußte
man natürlich, warum das mächtige Reich der Mitte zur Errettung der bedrängten Hoa in Indochina kaum einen Finger
rührte. Nur eine verschwindende Minderheit der Vertriebenen hatte den Wunsch geäußert, sich auf die Dauer in der
großen heimischen Volksrepublik niederzulassen. Die Masse
strebte nach den USA, nach Kanada, Australien, eventuell nach
Europa. Ihnen stand der Sinn nicht nach einem neuen kommunistischen Experiment. Im übrigen drohte das Schicksal
der Hoa von Indochina zu einem bedrohlichen Präzedenzfall
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
351
für sämtliche Übersee-Chinesen zu werden. Die Geschäftsleute
erinnerten sich sehr wohl an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Indonesien nach dem mißglückten Putsch der
linksradikalen Offiziere im Jahre 1965. Was würde passieren,
wenn auch die Republik von Jakarta mit der Ausweisung ihrer
vier Millionen Chinesen begänne, wenn die Föderation Malaysia, die die erschöpften boat people Vietnams mit äußerster
Härte in den Ozean zurückstieß, auf den Gedanken käme, das
brennende und unlösbare Problem ihrer chinesischen Minderheit, die fast 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte,
durch Entrechtung und Zwangsverschickung zu lösen.
Schließlich lebten auch im Königreich Thailand mindestens drei Millionen Söhne des Himmels. Im Gegensatz zu
den malayischen Staatsvölkern, den »Bumiputra« Indonesiens und Malaysias, deren muselmanische Religion jede Akkulturation mit den konfuzianischen Einwanderern verhinderte,
hatten die Siamesen den massiven Zudrang aus dem Reich
der Mitte relativ gut verdaut. Mischehen waren geschlossen
worden, Thai-Namen wurden adoptiert. Es herrschte ein
geschmeidiger Modus vivendi. Doch unterschwellig gärten
die Gegensätze weiter. Jeder Thai wußte, daß der Reichtum
seines Landes von den Söhnen des Himmels gemehrt und
gehortet wurde. Die Führungsschicht des Landes war stark
mit chinesischem Blut durchsetzt. Wer einem besonders dynamischen und kompetenten thailändischen Gesprächs- oder
Geschäftspartner gegenübersaß, konnte mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß er es zumindest mit einem Halbchinesen zu tun hatte. Die herrschende Chakri-Dynastie des
Königs Bumiphol verdankte ihren Thron dem reinen FukienChinesen Tak-sin, dem es im 18. Jahrhundert gelungen war, den
Brandschatzungen und Einfällen der Burmesen im AyuthyaReich ein Ende zu setzen.
Langsam rührten sich Gegenkräfte. Niemand wunderte sich,
daß der Präsident von Singapur, Lee Kwang Yew, der rein
chinesische Staatschef einer überwiegend chinesischen Stadt-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
352
republik, die Methoden der vietnamesischen Kommunisten
am leidenschaftlichsten geißelte. Hanoi war mit seiner brutalen Politik der Chinesenausweisung dabei, ganz Hinterindien,
den gesamten ASEAN-Verband zu entstabilisieren. Zwischen
Hongkong und Jakarta, zwischen Rangun und Manila berieten sich die chinesischen Geheimbünde, die weitverzweigten
Verschwörerzellen der »Triade«. Die Emissäre Pekings stießen
hier neuerdings auf fruchtbaren Boden und bereitwillige
Kooperation. Die allzu forschen Revolutionäre von Hanoi
hatten ein vielarmiges Ungeheuer, eine Art Krake der Tiefsee zu
erbitterter Notwehr, zum Kampf auf Leben und Tod gereizt.
In diesen Tagen tauchten viele altbekannte Gesichter in
Bangkok auf. Der offene Konflikt zwischen China und Vietnam
zog alle Experten, Beobachter und Veteranen der IndochinaSzene an wie eine Lampe die Motten. Hanoi und Peking hatten
ihre Grenzen weitgehend dicht gemacht. Da war die Metropole am Menam mit ihrem Ausblick auf Kambodscha und
Laos immer noch der günstigste Platz, um über einen Zusammenprall zu berichten, der durch ganz Asien dröhnte. Die
Militärattachés und Residenten der Geheimdienste trafen sich
zu regelmäßigen Besprechungen. Die Kontakte fanden in
den französischen Gourmet-Restaurants der internationalen
Luxushotels oder in den verschwiegenen Nebenzimmern chinesischer Speisepaläste statt. Die umworbensten Mitglieder
solcher Runden waren die lächelnden chinesischen Diplomaten. Diese Abgesandten Pekings, die nur noch selten in der
Mao-Jacke auftraten, hatten sich seit der Bestätigung des
pragmatischen Deng Xiaoping-Kurses – den Leitsatz beherzigend, daß es gleich sei, ob eine Katze schwarz oder weiß ist,
Hauptsache sie fange Mäuse – ganz neue Allüren angeeignet.
Selbst wenn sie offizielle Lügen verbreiteten, taten sie das mit
verblüffender Direktheit. Der chinesischen Botschaft in Bangkok fiel offenbar die geheime Aufgabe zu, den Widerstand der
»Roten Khmer« gegen die vietnamesische Besatzungsarmee
nach Kräften zu stützen. Als logistisches Element stand ihnen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
353
die chinesische Kaufmannsgilde von Bangkok zur Verfügung,
die natürlich auch das gesamte zivile Transportwesen zu Lande
und zu Meer beherrschte. Die Männer aus Peking gaben ganz
offen zu verstehen, daß weder das traurige Schicksal der
Hoa noch die Zwischenfälle im vietnamesischen Grenzgebiet,
die in letzter Zeit wohl häufig von beiden Seiten in Form
von Stoßtrupp-Unternehmen ausgetragen wurden, die massive militärische »Strafexpedition« zwischen Lang Son und Lai
Tschau ausgelöst hatten. In Wirklichkeit ging es darum, Hanoi
zur Räumung Kambodschas zu zwingen. Der Freundschaftsund Beistandspakt, der zwischen der Sozialistischen Republik
Vietnam und der Sowjetunion im November 1978 unterzeichnet worden war, hatte den Divisionen Hanois für ihr Kambodscha-Unternehmen grünes Licht gegeben, auch wenn ein paar
amerikanische Kreml-Analytiker immer noch mutmaßten, die
Russen seien von den Vietnamesen durch eine vollendete Tatsache überrumpelt worden. Jedenfalls mußte das Bündnis zwischen Moskau und Hanoi den Erben Mao Tse-tungs als eine
tödliche Herausforderung und als aggressives Instrument der
sowjetischen Einkreisungspolitik erscheinen.
Die Repräsentanten der Volksrepublik China in Bangkok
suchten fleißig den Kontakt zu ihren westlichen Kollegen. Für
den Geschmack mancher Diplomaten plakatierten sie dabei
allzu deutlich eine weltweite Solidarität mit der Atlantischen
Allianz. Deng Xiao-ping war erst vor wenigen Tagen von
seiner Reise nach Amerika zurückgekehrt. Er hatte dort den
breitkrempigen Texashut aufgesetzt und alle Public-RelationsMarotten der Amerikaner über sich ergehen lassen. Während
er die Normalisierung der Beziehungen zwischen Washington
und Peking perfektmachte, hatte er wie ein ceterum censeo
immer wieder betont, daß die Volksrepublik China nicht umhin
könne, den aggressiven Vietnamesen eine blutige Lektion zu
erteilen. Washington hatte diese Mahnungen nicht ernstgenommen, und die Experten des State Department entdeckten
jetzt nachträglich, daß der chinesische Vize-Premierminister
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
354
durch die ständige Wiederholung seiner Drohungen an die
Adresse Hanois auf amerikanischem Boden bei den russischen
Fernostspezialisten den Eindruck erwecken wollte, als sei die
bewaffnete Aktion der Volksbefreiungsarmee im voraus mit
den USA abgekartet oder zumindest abgesprochen worden.
Es dauerte nicht lange, bis auch ich Verbindung zu einem
hochgestellten chinesischen Gewährsmann aufnehmen konnte.
Wir trafen uns wie üblich beim Essen, blickten zusammen
aus dem Normandy-Grill des »Oriental« über das graue
Häusermeer jenseits des Stroms oder ließen uns im rot
lackierten Séparé eines Kanton-Restaurants südchinesische
Spezialitäten servieren. Mr. Q. – wie ich ihn nennen werde – war
dreiundfünfzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich jünger. Für
einen Chinesen war er kräftig gewachsen. Die roten Backen
verliehen ihm etwas Lausbubenhaftes. Im Korea-Krieg gegen
die Amerikaner hatte er bereits als Bataillonskommandeur
gekämpft. Jedenfalls war Q. alles andere als ein Mandarin, und
bei aller List, die aus seinen schmalen Äuglein blinzelte, waren
seine Aussagen direkt, klar und unbefangen. Beim Gespräch
schlug er mir mit einer typischen Geste der Herzlichkeit immer
wieder auf den Schenkel. Die eingeborenen Kellner verneigten sich tief vor diesem einflußreichen Mann, der an den Ufern
des Menam eine wichtige Branche des chinesischen Machtapparats vertrat. Sie hatten noch nicht vergessen, daß die Könige
von Siam als ferne Vasallen dem Reich der Mitte gehuldigt
und dem Sohn des Drachens in Peking bis ins 19. Jahrhundert
einen symbolischen Tribut entrichtet hatten.
Mr. Q. gab ganz unumwunden zu, daß für die chinesischen
Strategen an der Nordgrenze Vietnams nicht alles nach Wunsch
verlaufen sei. Peking hatte wohl gehofft, das vietnamesische
Oberkommando werde seine in Tonking verbleibenden vier
Divisionen sofort in die Schlacht werfen, was der Volksbefreiungsarmee erlaubt hätte, die strategischen Reserven General Giaps systematisch zu zermalmen, während das Gros
der vietnamesischen Armee auf Grund ihres Kambodscha-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
355
Engagements im Süden verzettelt blieb. Aber General Giap
war ein zu erfahrener Fuchs, um in eine solche Falle zu
rennen. Er versuchte, den chinesischen Ansturm mit seinen
Regionalstreitkräften und Milizen aufzufangen, wobei ihm
zugute kam, daß Peking die Begrenzung der chinesischen
Offensiv-Absichten auf den äußersten Gebirgsgürtel nördlich
des Tonking-Deltas selbst publik gemacht hatte. Dennoch
waren schon in den ersten Tagen die Städte Lao Cay, Cao Bang
und Dong Dang in die Hände der Angreifer gefallen. Das waren
entscheidende Positionen, wie die Franzosen aus schmerzlicher Erfahrung wußten. »Wir mußten endlich handeln«, sagte
Mr. Q., »wir konnten die vietnamesischen Provokationen nicht
länger hinnehmen. Gewiß, es sind schwere Kämpfe im Gange,
und wir unterschätzen den Gegner nicht. Aber wenn wir es
wirklich wollten, könnten wir innerhalb einer Woche in Hanoi
einmarschieren. Was uns behindert, ist die Bekanntgabe der
selbst auferlegten strategischen Kurzziele. Andererseits tut es
unserer Volksbefreiungsarmee gut, endlich wieder konkrete
kriegerische Erfahrungen zu sammeln. Seit Korea, seit dreißig
Jahren haben wir nicht mehr im Feld gestanden. Was sich im
Norden Vietnams abspielt, ist für uns ein nützliches Manöver.
Wir lernen dabei, und – glauben Sie mir – wir halten die vietnamesische Schlange, deren Kopf sich in Kambodscha festgebissen hat, am Schwanze fest.« Der Vergleich gefiel ihm offenbar sehr, denn Mr. Q. stimmte ein schallendes Gelächter an.
Natürlich, so räumte der Gewährsmann in der weiteren Diskussion ein, habe man in Peking mit einer sowjetischen Reaktion, mit einer Intervention der Russen zugunsten der vietnamesischen Verbündeten rechnen müssen. Aber man solle diese
Gefahren nicht überbewerten. Er kenne die »Sozial-Imperialisten«. Er habe vier Jahre lang bei ihnen gelebt. Wenn man
ihnen die Zähne zeige, wichen sie zurück. Auf mein Bohren, wo
die chinesische Führung am ehesten mit einem Vergeltungsschlag der sowjetischen Streitkräfte gerechnet habe, nannte
er die Provinz Sinkiang, die große autonome Westregion der
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
356
Uiguren, die sich zwischen der Gobi-Wüste und dem Karakorum-Gebirge, dem »Dach der Welt«, erstreckt. Ob er unserem Kamerateam nicht einen Freipaß zu den »Roten Khmer«
besorgen könne, über deren Widerstand wir gern berichten
würden, schlug ich vor. Mr. Q. schüttelte bedenklich den Kopf.
Das sei viel zu unsicher und gefährlich. Die Verantwortung
könne er nicht auf sich nehmen. Im übrigen sei er im Hinblick
auf die Lage in Kambodscha recht optimistisch. Die Regierung
Pol Pot habe zweifellos schwere Fehler begangen, aber die Versorgung der kambodschanischen Patrioten, die gegen die Vietnamesen weiterkämpften, könne gewährleistet werden. Vietnam sei in einen hoffnungslosen Abnutzungskrieg verwickelt.
Ob ich nicht Lust hätte, Prinz Sihanuk zu interviewen, der
wieder in Peking residiere, fragte Q. unvermittelt. »Wenn Sie
mir ein Visum beschaffen«, fragte ich zurück. Mr. Q. setzte eine
schelmische Maske auf und klopfte mir auf den Schenkel.
In ihrer Beurteilung der ersten chinesischen Offensiv-Ergebnisse waren Franzosen und Amerikaner – wie konnte es anders
sein – unterschiedlicher Meinung. Die amerikanischen Diplomaten sprachen schon am zweiten Tag der Kämpfe von einer
totalen Fehlplanung und von einem schweren Gesichtsverlust
Pekings. Sie konnten es wohl schlecht verwinden, diese neue
Konfrontation in Südostasien nicht vorausgesehen zu haben.
Der chinesischen Volksbefreiungsarmee legten sie immer noch
die Maßstäbe ihrer eigenen überzüchteten Kriegsmaschinerie
an und hatten offenbar aus der eigenen Vietnam-Erfahrung
wenig gelernt. Daß hier ein asiatischer Konflikt ausgetragen
wurde, dessen Spielregeln in keiner Weise in die Schablonen
westlicher Hast und efficiency paßten, kam den US-Experten
nicht in den Sinn. Die französischen Beobachter – Colonels, die
sich vor dreißig Jahren ihre ersten Offiziers-Galons in Tonking
verdient hatten, oder jüngere Nachrichtenspezialisten, deren
Gesichter mir aus dem Saigon des Zweiten Indochina-Krieges
vertraut waren – gaben den Vietnamesen keine langfristige
Chance gegen das chinesische Riesenreich. »Zum ersten Mal
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
357
ist General Giap auf einen Gegner gestoßen, der ihn mit seinen
eigenen Methoden bekämpft«, meinte ein französischer Botschaftsrat, der sein kühles Geschäft hinter den Allüren eines
unbekümmerten Playboy verbarg. »Jedermann weiß, daß die
Volksbefreiungsarmee unzureichend und altertümlich bewaffnet ist, aber das waren die Nordvietnamesen bis 1975 auch.
Die chinesischen Soldaten sind mindestens ebenso anspruchslos, verbissen und todesmutig wie ihre südlichen Gegner. Bei
ihnen spielen Menschenverluste keine Rolle. Der Generalität
Pekings sitzt kein Congress und keine Assemblée Nationale im
Nacken, um Rechenschaft über das Leben der jungen Soldaten
zu verlangen. Im Gegensatz zu Paris und Washington verfügt
Peking in Indochina über den Vorteil der inneren Linie. Es sind
900 Millionen Chinesen gegen 50 Millionen Vietnamesen angetreten, von denen zudem noch die südliche Hälfte in passiver
Opposition zum Regime von Hanoi steht. Vor allem darf man
die Ausdauer, die grenzenlose Geduld des Reichs der Mitte
nicht unterschätzen. Dort denkt man in ganz anderen Zeitbegriffen als im schnellebigen Westen. Die Vietnamesen sind
Opfer ihrer eigenen Hybris. Schon müssen sie in aller Eile mit
Hilfe sowjetischer Antonow-Maschinen ihre Eliteverbände aus
Kambodscha abziehen und nach Norden werfen. Sie haben
sich übernommen. Die Chinesen spekulieren auf die physische Auszehrung Hanois. Haben Sie vorhin im Radio gehört,
daß die japanische Agentur Kyodo den Fall von Lang Son meldete? Wenn sich diese Nachricht bestätigt, dann hat die Volksbefreiungsarmee binnen kürzester Frist und in schwierigstem
Gebirgsterrain nach Überwindung eines unvorstellbaren Bunker- und Tunnelsystems die entscheidende Schlüsselstellung
erobert. Von Lang Son aus steht den Chinesen – unter Inkaufnahme hoher Verluste natürlich – der Weg in die Niederungen des Tonking-Deltas und nach Hanoi offen. Den Chinesen sind sicherlich schwere Fehler unterlaufen. Sie haben
keine nennenswerten Teile der vietnamesischen Streitkräfte in
ihren Würgegriff bekommen. Aber stellen Sie sich vor, welchen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
358
Effekt es bei uns in Frankreich hätte, wenn im Rahmen einer
peripheren Grenzaktion der Feind die Städte Lille, Metz und
Straßburg besetzen würde.«
Kam es in Südostasien wirklich noch auf die Meinung der
Franzosen und Amerikaner an? Frankreich war in Fernost
zur quantité négligeable geworden. Amerika hatte seit seinem
Vietnam-Fiasko das aktive Mitspracherecht verwirkt. Was die
Asiaten selbst vom Eingreifen Pekings dachten, das war ausschlaggebend. Die Thai hatten die chinesische »Strafaktion«
mit einem Seufzer der Erleichterung quittiert. Natürlich hielt
man sich in den Ministerien von Bangkok diskret und vorsichtig zurück, aber in den regierungsfreundlichen Gazetten nahm
man kein Blatt vor den Mund. Die Siamesen hatten ernsthaft
befürchtet, daß die Berufsrevolutionäre von Hanoi auch an
ihren Grenzen nicht haltmachen würden. Schon regten sich
rote Aufstandszellen in fast allen Außenprovinzen. Seit das
Reich der Mitte dem vietnamesischen Hegemonialstreben auf
so spektakuläre Weise einen Riegel vorgeschoben hatte, hofften die Thai schon wieder, daß das traditionelle Schaukelspiel,
dem sie ihre Unabhängigkeit von Franzosen und Engländern
im 19. Jahrhundert, ihr Überleben im Zweiten Weltkrieg zwischen Japanern und Amerikanern verdankten, in der aktuellen
Situation zwischen Peking und Hanoi sich aufs neue bewähren
würde. Die Südostasiaten spürten instinktiv, daß der chinesische Drache dem vietnamesischen Tiger am Ende überlegen
war. 200 Jahre lang hatte der technische Vorsprung des Westens
das Reich der Mitte zu Rückständigkeit und Unterwerfung verurteilt. Diese Periode neigte sich ihrem Ende zu. Wessen die
Tüchtigkeit und Intelligenz der Han-Rasse fähig waren, das
zeigten bereits die kapitalistischen chinesischen Außenposten
in Taiwan, Singapur und Hongkong. Die Siamesen bedurften
nicht eines Napoleon-Zitats, um zu wissen, daß die Welt am
Tage des chinesischen Erwachens erbeben würde.
Am runden Siegesplatz von Bangkok, wo ein klotziges
Denkmal den siamesischen »Waffenerfolg« von 1940 über die
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
359
französischen Truppen des Vichy-Regimes feiert – Marschall
Pibul Songram hatte damals mit japanischer Begünstigung die
kambodschanischen Provinzen Battambang und Siem Reap
annektiert – zog ein überdimensionales Kinoplakat die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich. Hubschrauber spuckten
Feuer, Bomben explodierten über flüchtenden Vietnamesen,
und ein riesengroßer amerikanischer Filmheld – mit einem
roten Stirnband angetan – drückte den Revolver an seine
Schläfen. Ich reihte mich in die Warteschlange ein, denn der
Film »Deer-Hunter« – so hieß es auch in der örtlichen Kritik
– erbringe den Beweis, daß Amerika endlich sein VietnamTrauma überwunden habe. Die Enttäuschung war groß. Als
die Filmszene von den Stahlwerken der Alleghenies nach
Indochina überblendete, als die Gefangenschaft der Hauptdarsteller beim Vietkong geschildert wurde, hätte ich es beinahe
der russischen Delegation beim Internationalen Berlin-Festival gleichgetan und aus Protest den Saal verlassen. Die Vietkong-Partisanen waren nicht zart mit ihren Gefangenen umgesprungen, und es war bestimmt gefoltert worden. Aber zum
Russischen Roulette hatten die Soldaten Ho Tschi Minhs mit
Sicherheit niemanden gezwungen, und schon gar nicht hatten
sie um Geld gespielt. Was immer man von den vietnamesischen
Kommunisten halten mochte, diese plumpe Verunglimpfung
war unwürdig und empörend. Peter Arnett, der mir in den
Jahren des Vietnam-Krieges als einer der draufgängerischsten
US-Korrespondenten aufgefallen war, hatte zu »Deer-Hunter«
einen treffenden Kommentar abgegeben. Vielleicht handle es
sich um einen künstlerisch und technisch bedeutenden Film,
meinte er, aber die ganze Story sei eine verdammte Lüge, a
bloody lie. Auch die chaotischen Szenen aus den letzten Tagen
von Saigon – wenn man von den Fluchtbildern auf dem Dach
der US-Botschaft absieht – waren ein Produkt ausschweifender Phantasie. In Saigon gab es keine Spelunken, in denen
Russisch Roulette geübt wurde. Dazu waren die Vietnamesen
ein viel zu gesittetes Volk. Nicht einmal die Piraten der Binh
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
360
Xuyen hatten sich auf solche Spiele eingelassen.
Trotz der späten Stunde wimmelte die Hotelhalle von italienischen und deutschen Gästen. Die Touristen waren gerade
sonnenverbrannt aus Pataya angereist. Am Empfangsbüro
wurde mir eine message überreicht. Wilfred Burchett, so las ich
darauf, erwartete mich auf der Hotelterrasse. Der Name war in
ganz Ostasien ein Begriff. Wilfred Burchett war Australier und
hatte von Jugend an – zuerst als Holzfäller, wie es hieß – in der
radikalen Gewerkschaftsbewegung und der kommunistischen
Partei seines Landes militiert. Später hatte er sich als Journalist einen Namen gemacht, stets auf der Seite der Weltrevolution. Ich selbst hatte ihn zum ersten Mal im Sommer 1952 in
Korea vor der Verhandlungsbaracke von Pan Mun Jom getroffen, aber daran erinnerte er sich wohl nicht mehr. Alle westlichen Korrespondenten hatten damals fasziniert auf diesen einzigen Journalisten aus einem Land der »Freien Welt« geblickt,
der sich nicht scheute, die Ballonmütze und die grüne Uniform
der chinesischen Volksbefreiungsarmee zu tragen. Im Gegensatz zu den Kriegsberichtern der osteuropäischen Satellitenstaaten, die damals noch voll unter dem eisernen Zwang des
Stalinismus standen und jedem Gespräch mit den westlichen
Kollegen auswichen, suchte Burchett unseren Kontakt. Bei
den Angelsachsen traf er dabei als »Renegat, Überläufer und
Verräter« auf Ablehnung, Spott und – von Seiten der US-Provinzpresse – auf blanken Haß, als sei er eine Ausgeburt der
Hölle. Ein wenig unheimlich war der kommunistische Propagandist Burchett damals schon gewesen. Er war nicht davor
zurückgeschreckt, die Greuelmärchen vom amerikanischen
Mikrobenkrieg in Korea nachzubeten. Aber Konsequenz und
Mut konnte man ihm nicht absprechen. Als der zweite Vietnam-Krieg ausbrach, befand er sich automatisch auf Seiten des
Vietkong. Schon in den ersten Jahren des US-Engagements
nahm er das Risiko auf sich, im Geleit seiner kommunistischen
Freunde bis in die Nachbarschaft Saigons heranzuschleichen
und darüber zu berichten. Der neue Fernostkrieg zwischen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
361
China und Vietnam hatte ihn blitzschnell wieder mobilisiert.
Ich traf einen weißhaarigen, brillentragenden Mann mit stark
gerötetem Teint, der trotz des fortgeschrittenen Alters seine
ungebrochene Vitalität bewahrt hatte. Wilfred Burchett war
auf dem Weg nach Hanoi. Im Gegensatz zu so vielen anderen
hatte er sofort ein Einreisevisum in die Sozialistische Republik Vietnam erhalten. Er hatte gehört, daß ich mich um vietnamesisches Filmmaterial bemühte, erinnerte sich daran, mir
einmal auf einem nordvietnamesischen Cocktail in Paris begegnet zu sein und schlug mir den Verkauf seiner nächsten Produktion vor. Wir wurden uns schnell einig, und das Gespräch
schweifte ab. Der australische Agitator des Weltkommunismus entpuppte sich als jovialer alter Herr. In regelmäßigen
Abständen stieß er ein dröhnendes angelsächsisches Lachen
aus. Obwohl er unter diversen Krankheiten zu leiden angab,
sprach er dem Alkohol kräftig zu. Wir gerieten schnell in eine
leutselige Veteranenstimmung. »Ich hatte gar nicht mehr die
Absicht, nach Asien zu kommen«, nahm der Australier den
Faden wieder auf; »ich hatte geglaubt, mit der Befreiung Saigons sei das Kapitel endgültig umgeblättert. Aber Sie sehen,
es geht immer weiter.« Er hatte sich in den letzten Jahren
vor allem der afrikanischen Revolution zugewandt, hatte
aus Angola, Mozambique, Äthiopien berichtet. Am nächsten
Morgen würde er nach Hanoi starten und die Mitglieder des
Politbüros wie alte Freunde und Komplizen begrüßen. Pham
Van Dong hatte ihm ein Interview zugesagt, und auch General
Giap würde er treffen, der allen anderslautenden Meldungen
zum Trotz kerngesund sei. Auch von dem amtierenden Generalstabschef Van Tien Dung, den die westlichen Nachrichtendienste als phantasielosen militärischen Routinier einschätzten,
zeigte Burchett sich beeindruckt. Daß seine chinesischen
Waffengefährten aus dem Korea-Krieg, denen er damals treue
Propagandadienste geleistet hatte, nunmehr zu den Todfeinden Hanois und Moskaus geworden waren, trug er mit
verblüffendem und etwas zynischem Gleichmut. Im Sommer
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
362
1950 war es Josef Stalin gewesen, der dem Nordkoreaner
Kim Il Sung den Freibrief für die Eroberung Seouls erteilt
hatte. In jenen Tagen bildeten China und die Sowjetunion –
nach außen zumindest – noch einen festgefügten ideologischen
Block. Selbst in chinesischer Uniform und im Gefolge der Soldaten Mao Tse-tungs hatte Wilfred Burchett sich damals wohl
in erster Linie als eingeschworener Anwalt der sowjetischen
Parteilinie gefühlt. Heute stand er ganz selbstverständlich
im russischen und somit im vietnamesischen Lager. Sein
kämpferisches Temperament, sein Engagement waren ungebrochen. Weiß der Teufel, wie er das fertigbrachte und dazu
noch sympathisch wirkte. Wie sehr unterschied sich dieser
urwüchsige Angelsachse doch von jenem polnischen Journalisten, dem ich vor einem Monat in Paris begegnet war und
der den Auftrag seiner Warschauer Redaktion, für eine neue
Reportage nach Hanoi zu reisen, abgelehnt hatte. »Wissen Sie
warum?« hatte der Pole mich gefragt. »Ich bin zu alt, um zu
lügen.«
Nachschub für die »Roten Khmer«
Kyon Yai, Ende Februar 1979
Um vier Uhr morgens wurden wir im chinesischen Hotel von
Trat durch den Bootsbesitzer geweckt, den wir am Vorabend
angeheuert hatten. Er sollte während der Nacht mit seinem
Schiff bis Kyon Yai tuckern, war aber durch den dichten Nebel
verhindert worden. Die Verzögerung war ärgerlich, denn wir
hatten beabsichtigt, in aller Frühe mit dem Wagen nach Kyon
Yai zu fahren, um dort unauffällig an Bord zu gehen. Nun
waren wir gezwungen, in diesem äußersten thailändischen
Fischerhafen, der unmittelbar an Kambodscha grenzte, nach
einem neuen Boot zu suchen und bei hellichtem Tage in See
zu stechen. Zuerst verdächtigten wir den Schiffer von Trat, er
sei aus Angst vor der Grenzpolizei von unserer Vereinbarung
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
363
zurückgetreten. Aber er gab uns auf den letzten Bath unsere
Anzahlung zurück und führte uns zu einer Straßenbiegung, wo
wir die dichten Nebelschwaden sehen konnten. Der Fluß, der
sich in den Golf von Siam ergoß, war wie mit Watte zugepackt.
Trat war eine jener stillosen Ortschaften, die die Provinzen
Thailands in schneller Folge verunzieren. Am Abend unserer
Ankunft waren wir durch die Betonkulisse der Hauptstraße
geirrt. Natürlich gab es einen Massagesalon, der durch grüne
und rosa Neonbeleuchtung die Kundschaft anlockte. Im Inneren saßen Masseusen im weißen Minikittel wie Affen in einem
grün angestrahlten Glaskäfig – ein tristes Aufgebot. Schließlich
fanden wir dank Joe doch noch ein akzeptables Thai-Restaurant, das seinen Gästen sogar ein paar Varieté-Nummern
bot. Mit grellen Katzenstimmen sangen zwei Thai-Mädchen,
die sich für ihren Auftritt grotesk herausgeputzt hatten. Sie
trugen winzige Röckchen und steckten bis zu den Oberschenkeln in knallroten Schnürstiefeln. Die Gesichter waren grell
geschminkt. In ihre schrillen Chansons, die auch den soliden
Joe zu Protestäußerungen veranlaßten, mischte sich die dunklere Stimme eines männlichen Interpreten. Der Mann faszinierte uns. Er war ein asiatischer Albino mit schneeweißem
Haar und bleicher Haut. Das Gesicht war selbst am späten
Abend durch eine Sonnenbrille halb verdeckt. Dazu trug er
einen gut geschneiderten schwarzen Anzug. Er wirkte wie ein
Gespenst aus einem science fiction-Roman. Eines der Mädchen
hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt. Sie sprach ein putziges
Englisch. Es herrschte in dem Lokal, wo wohlhabende ThaiKaufleute genußvoll tafelten, eine aufgeräumte Stimmung,
obwohl die kambodschanische Grenze knappe fünf Kilometer
von Trat entfernt verläuft. Plötzlich unterbrach die Sängerin
ihr Geplapper. Ihr drolliges baby-face wurde beinah ernst und
sie fragte leise: »Glauben Sie wirklich, daß der Krieg auch zu
uns kommt? Wir haben so viel Angst.« Gleich darauf ging sie
wieder auf ihr Podium und miaute ein anderes neckisches Liebeslied.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Auf dem Weg nach Kyon Yai passierten wir ein kambodschanisches Flüchtlingslager. Ein détachement von Thai-Marines
bewachte den Camp. Der Posten ließ uns nach längerem Verhandeln und unter bewaffneter Eskorte durch das Drahtgitter
zum Kommandanten fahren. Der gab sich liebenswürdig und
lächelnd, aber jeden Kontakt mit den Khmer, die Schutz vor
den Pol Pot-Banden gesucht hatten, verweigerte er uns strikt.
Auch im Divisionsquartier der Marines in Chanthaburi waren
wir – trotz eines hochoffiziellen Empfehlungsschreibens – bei
dem diensthabenden Oberst auf ebenso höfliche wie lächelnde
Ablehnung gestoßen, als wir seine Truppe filmen wollten. Man
trank bei diesen Gesprächen Tee, grinste sich zu, hütete sich,
die Stimme zu erheben, denn wer bei den Siamesen laut
wurde, verlor das Gesicht. Die Freundlichkeit der Eingeborenen konnte wie eine Gummimauer sein. Wenn wirklich einmal
in Thailand ein Asiate in Rage geriet und zu zetern und zu
schreien begann, konnte man sicher sein, daß man es mit
einem Chinesen zu tun hatte.
In Kyon Yai setzte uns Joe bei einem chinesischen Suppenhändler ab, während er unsere Seereise mit fernöstlicher
Diskretion organisierte. Von unserem Tisch hatten wir einen
prächtigen Blick auf den schmalen Klong, in dem sich die
Fischkutter wie Sardinen in einer Büchse drängten. Der kleine
Hafen quirlte vor Leben. In den Läden beiderseits des Klong
waren alle nur erdenklichen Konsumgüter, vom Eisschrank
über den TV-Apparat bis zur elektrischen Zahnbürste, gestapelt. Auf den Brettern des Anlegestegs lagen Fische und
Schalentiere in der Vielfalt eines Schöpfungstages aus. Wo
denn die kambodschanische Grenze verlaufe, fragte ich
den Suppenhändler, dessen Familie sich zutraulich um uns
drängte und uns mit besonders ausgefallenen Fischgerichten
verwöhnte. Er zeigte auf den Kamm der waldigen Höhe,
die in höchstens tausend Meter Entfernung die Bucht von
Kyon Yai nach Osten abschloß. Dort begann also das Inferno
der »Roten Khmer«, der erbarmungslose asiatische Bruder-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
365
mord, der Hunger, das Elend, die Folter und das Grauen.
Und hier – im Blickfeld der vorgeschobenen Posten dieser
roten Amokläufer – spielten sich die bescheidenen Szenen
fernöstlichen Familienglücks und geschäftiger Zufriedenheit
ab. Die Kinder lachten aus pausbäckigen Gesichtern, zupften
uns heimlich an den Haaren der Vorderarme und gruselten
sich ein wenig vor dem Fell dieser langnäsigen Barbaren. Die
Alten waren mit dem Entschuppen und Ausnehmen der Fische
beschäftigt. Der Gefahr, die in Reichweite lauerte, begegneten
die Menschen von Kyon Yai mit Schicksalsergebenheit und
Weisheit. Sie taten so, als nähmen sie sie gar nicht zur Kenntnis.
Eine militärische Absicherung gab es so gut wie nicht. Die
äußerste thailändische Landspitze, die nach Kambodscha hineinragte, endete mit einer Schranke und zehn Sandsäcken.
Dort döste ein Zug Marines in Hängematten unter schattigen
Bäumen. Im Klong lag ein verrostetes Polizeiboot, dessen Bordkanone seit Jahren keinen Schuß abgegeben hatte. Dennoch
legten wir uns flach auf den Boden des Kutters, den Joe für uns
aufgetrieben hatte, ehe wir uns nach endlosem Stochern und
Schieben aus der Umklammerung der übrigen Boote gelöst
und das Patrouillenschiff passiert hatten. Bald tuckerten wir
auf freier See. Der Golf von Siam lag glatt wie eine Silberplatte zu unseren Füßen. Unser Fischerboot zog eine sanfte
Furche hinter sich her. Der Besitzer, der mit Frau und kleinem
Sohn an Bord lebte, ging an den Bug und entzündete zwei
Weihrauchstäbchen. »Die sind für den Geist des Schiffes
bestimmt«, erklärte Joe, »denn jedes Boot hat seinen eigenen
Beschützer.«
Der Fischer Prem war ein grauhaariger, gesetzter Mann. Er
hatte nur widerstrebend und gegen gute Bezahlung unserem
Plan zugestimmt. Wir wollten bis zu den kambodschanischen
Hoheitsgewässern vordringen und vor allem einen Blick
auf jene Insel Ko Kong werfen, die immer noch von den
»Khmers Rouges« gehalten wurde und die angeblich dem chi-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
366
nesischen Nachschub für den kambodschanischen Widerstand
als Umschlagplatz diente. Prem kannte die Küste durch und
durch. Seit die Behörden von Phnom Penh nicht mehr in
der Lage waren, ihre Souveränitätsrechte in diesem äußersten
Randgebiet auszuüben, waren die Thai-Fischer in ganzen
Rudeln in die kambodschanischen Buchten eingedrungen, wo
der Fang ergiebiger war als auf der siamesischen Seite. Es war
schon später Vormittag. Die Hitze hatte einen Dunstschleier
über das Meer gebreitet. In etwa drei Kilometer Entfernung
wurde jetzt das kambodschanische Festland sichtbar. Jenseits
des weißen Strandes begann der Dschungel, und gleich hob
sich die Landschaft zu unwirtlichen Gebirgszügen. »Prem
wird Sie nicht zu nah an die Insel Ko Kong heransteuern«,
übersetzte Joe. »Es heißt, die Kemelusch verfügten dort über
Artillerie, zumindest über Granatwerfer, und man weiß nie,
wie sie reagieren. Noch mehr Angst hat er vor den Korvetten
der vietnamesischen Marine, die hier regelmäßig patrouillieren. Sie führen zwar die neue Flagge der kambodschanischen
Regierung Heng Samrin, die von Hanoi eingesetzt wurde,
aber an Bord sind reine Vietnamesen. Vergangene Woche ist
Prem von einem solchen Kriegsschiff aufgebracht worden.
Sie haben alles nach Waffen und Schmuggelgut durchsucht,
sogar die Pritschen der Wohnkabine herausgerissen. Dann
haben sie ihn mit einer strengen Verwarnung nach Kyon
Yai zurückgeschickt. Das nächste Mal würden sie das Boot
beschlagnahmen. Stellen Sie sich vor, die Vietnamesen würden
heute Farangs an Bord entdecken!«
In der Ferne wuchs ein dunkelgrüner Kegel aus dem Meer.
»Das ist Ko Kong«, erklärte Prem. Die Thai-Fischer waren weit
ausgeschwärmt und zogen die Netze ein, die sie in der Nacht
ausgeworfen hatten. Die Beute war reich. Wenn sie in der Dunkelheit operierten, so erklärte unser Bootsbesitzer, begegneten
sie manchmal diskreten Motorschiffen, die jedes Licht gelöscht
hatten. Das waren wohl die geheimnisvollen Transporteure,
die im Auftrag der chinesischen Mittelsmänner aus Chantha-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
367
buri und Trat Munition und Waffen nach Ko Kong brachten.
Das Manöver wurde immer riskanter, seit die Vietnamesen
nach heftigen Kämpfen den Hafen Kompong Som, das frühere
Sihanoukville erobert hatten. Uns wurde klar, daß die Insel Ko
Kong nicht das große Transitlager war, wie die thailändischen
Behörden immer wieder behaupteten. Die wirkliche Versorgung der noch kämpfenden Pol Pot-Partisanen wickelte sich
auf dem Landweg mit stillschweigender Komplizenschaft der
thailändischen Border-Police ab. Aber das wollte in Bangkok
natürlich niemand zugeben. Hanoi hatte das Spiel längst
durchschaut und drohte mit Repressalien. Auch das Angebot
einer Sonderprämie konnte Prem nicht bewegen, näher an
das Dschungeldreieck von Ko Kong heranzufahren. In einer
großen Schleife drehte er ab.
Bei Einbruch der Dunkelheit trafen wir in Pataya ein. Die
plumpe erotische Kirmes-Atmosphäre dieses weltbekannten
thailändischen Strandes traf uns wie ein Faustschlag. Pataya
war höchstens 200 Kilometer Luftlinie von den »Roten Khmer«
und den Panzerspitzen der vietnamesischen Volksarmee entfernt. Doch hier dachte niemand an Krieg und Tod und Elend
im Nachbarland der anderen. Das Gewühl in der einzigen
Straße des Ferienortes wurde durch ein verblüffendes Aufgebot käuflicher thailändischer Weiblichkeit beherrscht. Diese
Amazonen schreckten vor nichts zurück, um in den Augen der
europäischen, amerikanischen und japanischen Kundschaft
sexy zu erscheinen. Sie hatten sich einiges einfallen lassen:
Hot-pants und hohe Kürassierstiefel, handbreite Miniröcke und
Dekolletés, die tiefer als der Rücken reichten. Die eine ging im
Lolita-look, die andere hatte sich mit Ringelsocken und Sportschuhen als Fußballer verkleidet. Eine weißgewandete Königin
der Nacht kam uns mit dem Turban einer Maharani entgegen.
»Achten Sie auf die besonders stark geschminkten Mädchen in
langen Abendkleidern«, warnte Joe, »das sind Transvestiten.
She is a he.« Die männlichen Touristen stauten sich vor miserablen Fischrestaurants und brüllenden Diskotheken. Dieses
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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massive Sexualangebot verschlug ihnen den Atem, und sie
waren bald in braunhäutiger Gesellschaft. »Haben Sie schon
gemerkt, daß es hier zwei Kategorien europäischer Feriengäste
gibt«, bemerkte Josef Kaufmann, der auf dieser Reise wieder
die Kamera führte. »Die einen sind als Junggesellen gekommen
und haben schon mit verklärtem Lächeln ein Thai-Mädchen
im Arm. Die anderen sind mit ihren weißen Ehefrauen angereist und beobachten jetzt frustriert und neidisch das muntere
Treiben der anderen.« Die Freude der liebestollen Eroberer, so
meinte der Toningenieur Steve lachend, werde in den meisten
Fällen nicht länger als drei Tage dauern; dann würden sie nach
dem Arzt und der Penicillinspritze rufen.
»Denken Sie nur, heute mittag blickten wir noch auf Ko
Kong«, mischte sich Joe ein, der sonst kein Kind von Traurigkeit war, der aber das Treiben der Ausländer mit Kopfschütteln
beobachtete. »Erinnern Sie sich noch an die Amerikaner aus
Vietnam, Sir«, fragte er, »an die Urlauber des R. and R.-Programms? Mir wird bange vor der Zukunft, wenn ich den
Rummel hier sehe.« Er machte eine Pause und grübelte vor
sich hin. »Gewiß, man kann es heute in Thailand zu etwas
bringen, wenn man fleißig und tüchtig ist«, räumte er ein.
»Seit Ihrem letzten Besuch bin ich Besitzer meines Mietwagens geworden. Aber diese Farang, die sich mit unseren
Mädchen vergnügen, ahnen wohl nicht, daß die armen Bauern
im Norden und Nordosten ihre Töchter für Geld in die Bordelle des Südens verkaufen. Sie sehen uns immer lächeln, aber
wissen nicht, daß ein Kuli in Bangkok höchstens 40 Bath pro
Tag verdient.« Das war der Gegenwert von vier D-Mark. Ich
fragte ihn nach der roten Aufstandsbewegung in den Grenzprovinzen. Die Rebellen der Kommunistischen Partei Thailands seien durch den chinesisch-vietnamesischen Gegensatz
geschwächt und gespalten worden, meinte Joe. Aber die Unsicherheit in der Hauptstadt und auf dem Lande sei dadurch
nicht behoben. »In Thailand können Sie für ein paar tausend
Bath« – ein paar hundert D-Mark – »einen Mörder dingen, um
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einen Geschäftsrivalen oder einen politischen Gegner aus dem
Feld zu räumen. Und glauben Sie mir, das Gewerbe blüht.«
Hinter der verklärten Erhabenheit der buddhistischen Staatsreligion, hinter dem steifen viktorianischen Hofzeremoniell der
Monarchie verbargen sich Abgründe. »In Kambodscha, Sir«,
so endete Joe seine ungewöhnliche Meditation, »wirkten die
Menschen ebenso friedlich und glücklich, und dann kamen die
›Roten Khmer‹.«
Im Hotel »Royal Cliff« erwartete uns eine telefonische Mitteilung der deutschen Botschaft in Bangkok. Die Demokratische Volksrepublik Laos hatte uns ein Sammelvisum und
eine Filmgenehmigung erteilt. In drei Tagen sollten wir, wenn
irgend möglich, in Vientiane eintreffen.
Cocktails und Bonzen im roten Laos
Vientiane, im März 1979
In der laotischen Hauptstadt Vientiane vergeht fast kein
Abend ohne Empfang oder Cocktail des Diplomatischen Corps.
Natürlich dreht man sich im Kreise und begegnet immer
wieder den gleichen Gesichtern. Die Asiaten sind bei weitem
in der Überzahl, und sie geben den Ton an. Bei meiner letzten
Durchreise in Vientiane im Sommer 1976, auf dem Weg nach
Hanoi, hatte am Mekong noch ein französischer Botschafter
mit den Allüren eines entmachteten Prokonsuls der roten
Revolution getrotzt. Aber heute ist der Quai d’Orsay nicht
mehr in der Demokratischen Volksrepublik Laos vertreten. Die
Arroganz eines Botschaftsrats allein hat die Schließung der
französischen Vertretung wohl nicht bewirkt. Die Funktionäre
der »Revolutionären Volkspartei«, unter diesem Namen agiert
die Kommunistische Partei von Laos, waren offenbar gewillt,
der immer noch wirksamen französischen Kulturpräsenz ein
Ende zu setzen. Ausgerechnet im provinziellen Perpignan hatte
sich ein schemenhaftes Nationalkomitee für die Befreiung des
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
370
ehemaligen Königreichs der Million Elefanten etabliert und
bestätigte den Argwohn der roten Machthaber, daß jede Art
reaktionärer Verschwörung von Paris begünstigt würde. In
letzter Instanz war wohl aus Hanoi der gebieterische Wink
gekommen, der ehemaligen Kolonialmacht die Tür zu weisen.
Das gesellschaftliche Leben in der Hauptstadt des kommunistischen Laos wird neuerdings von den Diplomaten der
südostasiatischen ASEAN-Gruppe bestimmt, in der neben
Thailand, Malaysia und Singapur auch Indonesien und die
Philippinen vertreten sind. Es ist bemerkenswert, wie in dieser
lockeren Staaten-Assoziation ein Instinkt der selbsterhaltenden Solidarität gewachsen ist, seit die Drohung einer vietnamesischen Hegemonie über ganz Hinterindien lastet. Die
Ministerien von Bangkok, Kuala Lumpur, Jakarta und Manila
haben nicht ihre schlechtesten Leute in dieses verlorene
Nest am Mekong geschickt. Laos okkupiert eine strategische
Schlüsselstellung im vielzitierten Domino-Spiel dieser Region.
An diesem Abend fällt mir ein schnurrbärtiger Thai auf, der
auf Grund der rassischen und sprachlichen Verwandtschaft
der beiden Nachbarvölker in Laos fast zu Hause ist und über
die besten Informationen verfügt. An seiner Geschmeidigkeit prallen alle Fragen ab. Eindrucksvoll ist auch ein hochgewachsener burmesischer Oberst, der aus eigener nationaler Erfahrung
besser als jeder andere die Gefahren von Bürgerkrieg und Stammesaufruhr in dieser Gewitterecke Asiens beurteilen kann. Er
soll ein persönlicher Vertrauter seines Staatspräsidenten, General Ne Win, sein. Sein Urteil über die chinesische Militäraktion
an der nordvietnamesischen Grenze ist eher negativ. Insgeheim sympathisiert der Burmese offenbar mit Hanoi, weniger
aus ideologischer Verwandtschaft als aus einem Abwehrinstinkt gegenüber dem gewaltigen Reich der Mitte. Hatten nicht
auch die letzten Könige von Mandalay bis ins 19. Jahrhundert
den Kaiser von China als ihren höchsten Lehnsherrn anerkennen müssen? Der indonesische Botschafter ist der Gastgeber dieses Abends. Er stellt ein paar Neuankömmlinge vor.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
371
Er genießt seine Rolle auf dem internationalen Parkett. Einen
holländischen Botschaftssekretär, der eben eingetroffen ist,
begrüßt er auf niederländisch, und seine laute Jovialität wirkt
ein wenig batavisch, so absurd das bei diesem kleinen braunen
Malayen auch klingen mag. Jeder der Anwesenden ist bis zu
einem gewissen Grad vom früheren Kolonisator geprägt. Dem
Malaysier merkt man den Aufenthalt in Sandhurst an. Die Filipinos dämpfen ihr lärmendes Yankee-Benehmen durch spanische Allüren.
Die US-Botschaft hat sich wider Erwarten in Vientiane
behauptet. Hanoi bemüht sich eifrig um diplomatische Normalisierung mit Washington. Da wäre es töricht, den schmalen
Kontakt, der auf dem Umweg über Laos noch existiert, total
abzubrechen. Der Councelor aus USA, der von den laotischen
Sicherheitsbehörden sehr aufmerksam beobachtet wird, ist ein
ehemaliger Offizier der Marines, der lange in Vietnam gedient
hat und mit einer überaus neugierigen Vietnamesin verheiratet ist. Die Engländer haben einen Spezialisten delegiert,
der seinen bescheidenen Rang auf der Protokolliste durch
profunde Kenntnis asiatischer Zusammenhänge kompensiert.
Wichtiger als der Botschafter von Saint James erscheint hier
der Missionschef aus Canberra. Das weiße Australien ist ein
geachteter Partner und ein wichtiger Machtfaktor am Rande
– man möchte fast meinen – im Verbund der ASEAN-Gruppe.
Eine Sonderstellung nehmen auch hier die Schweden ein. Der
Geschäftsträger aus Stockholm ist eben erst eingetroffen und
trägt bereits bei jeder offiziellen Gelegenheit die laotische Landestracht, eine hochgeknüpfte, kleidsame Bluse aus weißer
Seide. Er ist ein Repräsentant jener für Schweden typischen
Bemühung, in der farbigen Welt stets auf Seiten der »progressiven Kräfte« zu stehen, auch wenn das mit einem Quant Charakterlosigkeit bezahlt werden muß. In Vientiane empören sich
die westlichen Diplomaten, daß die Regierung Olof Palme als
eine ihrer letzten Taten den roten Laoten mit entscheidender
finanzieller und technischer Hilfe zur Seite gesprungen ist,
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372
um die Landverbindung zwischen dem Mekong und der vietnamesischen Küste am Südchinesischen Meer auszubauen.
Dies trug zur Abhängigkeit Vientianes von Hanoi und zur
zusätzlichen Satellisierung der Laoten bei. Aber auch der
Schwede täuscht mit seinen Anbiederungsbemühungen nicht
darüber hinweg, daß die Rolle des Westens fast bis zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft ist. Die Bürde des weißen Mannes,
von der Kipling einst erzählte, ist am Mekong federleicht
geworden. Die neuen Groß- und Mittelmächte Asiens haben die
Nachfolge bereits angetreten. Die Japaner können es sich leisten, in Vientiane einen leutseligen jungen Mann nach vorn zu
schieben, der an der Sorbonne akzentfrei Französisch gelernt
und eine für seine Inselnation ungewöhnliche Affinität zur
douceur de vivre entwickelt hat. Jedermann weiß, daß die
»Großostasiatische Wohlstandssphäre«, die die Armeen des
Tenno während des Zweiten Weltkrieges vergeblich mit Waffengewalt zu gründen suchten, nunmehr auf dem diskreten
Wege des Handelsaustauschs und des Wirtschaftsdiktats zur
Realität wird. Sogar im sozialistischen Vietnam liegen die japanischen Kaufleute vorn. Den Asiaten ist nicht entgangen, daß
das gewaltige industrielle Potential Nippons jederzeit die Voraussetzungen für eine schwindelerregende Remilitarisierung
des Reiches der Aufgehenden Sonne in sich birgt. Natürlich
verfügen auch die Inder über Ansehen und Einfluß in Laos.
Dieses ist ein hinduistisch geprägtes Land. Die Religion Gautamas wurzelt am Ganges. Die laotische Schrift stammt aus
den großen Zeiten des Mahabaratha. Delhi bildet das einzige
demographische Gegengewicht zum chinesischen Giganten. In
den Samtaugen der indischen Beamten spiegelt sich – bei
aller gesellschaftlichen Wendigkeit – die wissende Traurigkeit
der Jahrtausende und die abwehrende Arroganz tief verwurzelten Kastenbewußtseins. Zwischen Indern und Chinesen
gibt es so gut wie keinen Kontakt. Als die Soldaten Mao Tsetungs die Elite-Regimenter Jawaharlal Nehrus im Himalaja
überwanden, schäumte die Presse des Subkontinents gegen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
373
die barbarischen Horden aus dem Reich der Mitte. Nicht erst
seit dem Ausbruch des Grenzkonflikts mit Hanoi suchen die
Diplomaten Pekings das Gespräch und die Gesellschaft ihrer
westlichen Kollegen. Ich gerate beinah automatisch an den
Tisch des chinesischen Militärattachés, eines alten Herrn mit
schütteren grauen Haaren und einem sympathischen Pferdegesicht. Er ist hochgewachsen und überragt die Laoten um
Kopfeslänge. Der Militärattaché soll im Rang eines Generals
stehen. Er spricht kein Wort einer fremden Sprache. Als englische Dolmetscherin ist ihm seine Frau behilflich. Sie ist in
einer bunt geblümten Bluse erschienen. Ihre Augen leuchten
vor Intelligenz. Die feinen Gesichtszüge und die Sicherheit
ihres Auftretens weisen sie als eine Tochter der früheren chinesischen Oberschicht aus. Der General spielt mit Erfolg die
Rolle des einfältigen alten Haudegen. »Er kann sich nur über
das Wetter unterhalten«, klagt eine Botschaftsdame. An diesem
Abend ist bekannt geworden, daß die Volksbefreiungsarmee
nach der Einnahme der Festung Lang Son ihren Vormarsch
eingestellt hat und demnächst ihren planmäßigen Rückzug
nach China antreten wird. Als ich ihn danach frage, legt sich
das Gesicht des Militärattachés in tausend Lachfalten: »Sie
dürfen unsere Strafaktion nicht mißverstehen. Das war ein
begrenztes und relativ bescheidenes Unternehmen. Aber wir
konnten die Nadelstiche und Schikanen Hanois doch nicht auf
alle Zeit passiv hinnehmen. Die Vietnamesen, diese ›Kubaner‹
Asiens, brauchten einen Denkzettel. Den haben sie jetzt. Glauben Sie mir, hier in Südostasien behauptet niemand mehr, daß
wir Papiertiger sind.«
Zu den jüngsten Spannungen zwischen Laos und China
schweigt er sich aus. Die Position der chinesischen Botschaft
in Laos ist in diesen Tagen nicht einfach. Die kommunistische
Regierung von Vientiane hat sich rückhaltlos auf die Seite Vietnams gestellt und Peking aufgefordert, die noch im Norden des
Landes befindlichen Straßenbaupioniere unverzüglich abzuziehen. Auch das chinesische Verbindungsbüro von Oudom-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
374
say ist abrupt geschlossen worden. Im Gefolge der vietnamesischen Führungsmacht steuert die Demokratische Volksrepublik Laos auf Kollisionskurs gegen die Volksrepublik China.
Ein Pufferstaat von drei Millionen Menschen fordert das Reich
der Mitte und seine 900 Millionen Söhne des Himmels heraus.
Von Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Statistiken scheint
man in Vientiane nicht viel zu halten.
Es sei denn die laotischen Kommunisten, deren Generalsekretär Kaysone Phomvihane seit der totalen Machtergreifung auch das Amt des Regierungschefs ausübt, verließen sich
auf das strategische Übergewicht der Sowjetunion. Das Land
der Million Elefanten steht im Begriff, nicht nur eine Satrapie
Hanois, sondern auch ein militärisches Sprungbrett Moskaus
in Südostasien zu werden. Neben den Vietnamesen, die auf
keinem Gesellschaftsabend westlicher oder neutraler Staaten
anzutreffen sind – Hanoi tarnt seinen Einfluß – gebärden sich
die Russen als neue Schutzherren. Auch sie begeben sich
nicht gern auf das glatte Parkett der Cocktails und Tanzparties, schicken allenfalls einen abgebrühten KGB-Beauftragten
zu solchen Übungen und lassen sich durch die gewandteren
Kubaner vertreten, denen die bescheidene Mondänität dieser
Provinzfeste offenbar Spaß macht. Auch die Ungarn fühlen
sich in dieser lockeren Atmosphäre wohl, während die DDR
eine besonders farblose und verklemmte Mannschaft nach
Vientiane delegiert hat, die gegenüber der Bonner Vertretung
ins Abseits geraten ist. Das liegt an dem unkonventionellen
Botschafter Wasserberg aus Bonn, der sich von ideologischen
Querelen nicht anfechten läßt und durch die Wahrnehmung
der französischen Interessen in Laos ein erhebliches Zusatzgewicht gewonnen hat. Das liegt auch an seiner schönen Frau,
die eine fast provozierende Eleganz mit rheinischer Ausgelassenheit verbindet. Eva ist der begehrteste Party-Gast in Vientiane und gewinnt jedes Tennisturnier im Australischen Club.
Natürlich hat das laotische Außenamt ein paar Beamte auf
die Einladung des Indonesiers abkommandiert. Sie sprechen
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375
einwandfreies Französisch und kopieren unbewußt das Auftreten ihrer früheren Kolonisatoren. Der eine ist sogar mit einer
Französin verheiratet, und seine Kinder leben bei Paris. Man
sieht diesen Männern nicht an, daß sie ein paar Jahre als Partisanen in den Höhlen von Vieng Xai verbracht haben. Die hohen
Sahai – so nennt man die »Genossen« auf laotisch – halten sich
bei den Plaudereien am Büfett streng an die offizielle Sprachregelung der Partei, aber sie möchten den Ausländern wohl zu
verstehen geben, daß das hiesige Gesicht des Marxismus verbindlicher und lächelnder ist als das rüde vietnamesische Vorbild.
In den schläfrigen Straßen von Vientiane ist mir schon bei der
Ankunft aufgefallen, daß die buddhistischen Mönche immer
noch zahlreich in ihrer feierlichen Toga von Wat zu Wat wandern. In der Pagode Ong Tu ist die größte Schule der Hauptstadt untergebracht, und die Bonzen sind am Unterricht beteiligt. Ist es den Kommunisten wirklich geglückt, die Lehre
Gautamas in den Dienst der marxistischen Indoktrination
zu stellen? Der gesteuerte ideologische Synkretismus läuft
offenbar darauf hinaus, die Begriffswelt des Buddhismus im
revolutionären Sinne umzufunktionieren. Ein französisches
Lehrerehepaar hat in der Zeitschrift »Le Nouvel Observateur«
nach seiner Ausweisung eine ganze Theorie darüber ausgearbeitet. Demnach wird die geistliche Erbauung »Kaona« in
den politischen Seminaren mit der Verinnerlichung der Parteiparolen gleichgesetzt. Die Meditation »Sati«, die ursprünglich
die dem Menschen innewohnenden Widersprüche überwinden
sollte, dient nunmehr der Entwicklung ideologischer Gewissenserforschung, der Selbstkritik und der revolutionären Wachsamkeit. Einst bezeichnete der Begriff des »Dhamma« die
Harmonie des Menschen mit seinem Schicksal. Im roten
Buddhismus-Ersatz von heute ist »Dhamma« das Kennzeichen der Erleuchteten, die die neue wahre Lehre erfaßt
haben und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wissen.
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»Adhamma« sind gewissermaßen die Verdammten, die Feinde
des menschheitsbeglückenden neuen Regimes. Der große
Gautama, so versuchen die Kommissare der »Revolutionären
Volkspartei«, die zum Teil in einer früheren Lebensphase
das safrangelbe Gewand der Bonzen getragen hatten, dem
tumben Volk beizubringen, offenbare sich in diesen Tagen als
neue Wiedergeburt unter den Erscheinungsformen des materiellen Fortschritts und der menschlichen Solidarität. Ob diese
Verstümmelung der Religion tatsächlich bei den Gläubigen
verfängt, ist höchst ungewiß. Immerhin ist ein Drittel der
Mönche über den Mekong geflüchtet, und unmittelbar vor
meiner Ankunft war einer der höchsten Würdenträger, ein
uralter Abt aus dem Norden, nach Thailand übergewechselt.
Ansonsten erscheint mir die Atmosphäre in Vientiane entspannt und entkrampft im Vergleich zu meiner eintägigen
Durchreisestation im Sommer 1976. Damals war sogar der CDWagen der deutschen Botschaft zwischen Hotel und Flugplatz
durch Banden bewaffneter Halbwüchsiger mit roten Armbinden angehalten und durchsucht worden. Die Insassen wurden
von diesen revolutionären Kindern, denen die neue Milizfunktion großes Vergnügen bereitete, nach Waffen durchsucht.
Auch die Versorgung der Hauptstadt mit Lebensmitteln und
den notwendigsten Konsumgütern klappt jetzt offenbar weit
besser als vor drei Jahren. Das Geheimnis ist in der Konterbande aus Thailand zu suchen, die den Mekong fast ungestört
überquert. Das Regime hat gewisse pragmatische Konzessionen gemacht, indem es für alle Transaktionen mit Ausländern
– ob es sich um den Erwerb eines Flugtickets auf den inneren
Luftlinien oder den Kauf einer Flasche Bier im Hotel »Lane
Xang« handelt – den US-Dollar neben dem landesüblichen
Kip zur quasi offiziellen Zweitwährung deklarierte. Wie die.
Bevölkerung dabei zurechtkommt, ist für den Außenstehenden
nicht zu durchschauen. Der Reis kostet in den offiziellen Verteilungsstellen des Staates 45 Kip das Kilo. Auf dem unentbehrlichen Schwarzmarkt werden 500 Kip dafür bezahlt. Wer
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Benzin haben will – es gibt immer noch viele Hondas und ein
paar Privatautos in Vientiane – wendet sich am besten auf
Umwegen an die laotische Volksarmee, die durch den Brennstoffverkauf ihr unzureichendes Budget systematisch aufbessert.
Der große Zentralmarkt in Nachbarschaft jenes wuchtigen
asiatischen Triumphbogens, der von den Royalisten einmal als
Gefallenendenkmal errichtet wurde, hat sich wieder belebt.
Gemüse und Hühner werden reichlich angeboten. Das ehemalige Geschäftszentrum an der Rue Samsenethai hingegen
ist menschenleer und verwaist. Vor den meisten Läden sind
die Gitter geschlossen. Die chinesischen Kaufleute haben sich
abgesetzt. Geblieben sind ein paar geschäftstüchtige Vietnamesen, die altes Meo-Silber, ein paar Bronze-Buddhas und
ganze Haufen scheußlichen Talmi-Schmucks an die Ausländer
verramschen. Dieser wertlose Plunder findet bei den Russen
gierige Abnahme, wie überhaupt das ausgepowerte Vientiane
für die Experten aus der Sowjetunion und ihre Familien immer
noch ein Konsumparadies zu sein scheint. Während die vietnamesischen Ratgeber und Drahtzieher, die in jedem Ministerium
installiert sind, äußerste Diskretion üben und die Interventionseinheiten Hanois am Rande der Hauptstadt in streng abgesonderten Quartieren heimlich bereitstehen, sind die Russen
auf Schritt und Tritt anzutreffen und zu erkennen. Die Aeroflot
hat die Air France verdrängt und wirbt für illusorische Erholungsreisen ans Schwarze Meer. Das weibliche Aufgebot der
russischen Experten-Gemeinde, die vorwiegend in einer Reihe
vergammelter Appartement-Häuser auf der Straße zum Flugplatz untergebracht ist, zeichnet sich durch Uneleganz und
Plumpheit aus. Niemand registriert das aufmerksamer als
die koketten Laotinnen, denen das marxistisch-puritanische
Regime das Tragen von Jeans verboten und die Einheitstracht
des »Sin«, des Laotenrocks mit der bunten Borte am unteren
Saum, zur Pflicht gemacht hat. Im Gegensatz zu den Kambodschanerinnen des Pol Pot-Regimes, denen man zwangs-
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weise die schwarze Haarpracht in Ohrenhöhe stutzte, ist es
den Laotinnen untersagt, Bubikopf oder Pony zu tragen. So
unterschiedlich sind die Facetten und Launen der großen asiatischen Revolution.
Die laotischen Kommunisten haben für Sittenstrenge
gesorgt. Die Laster- und Opiumhöhlen von einst sind geschlossen. In einer traurigen Unterhaltungsbude am Stadtrand, die
zu Unrecht den Titel Night-Club beansprucht, werden Bier
und Limonade unter einem großen roten Stern mit Hammer
und Sichel ausgeschenkt. Den lebenslustigen Lao-Mädchen ist
unter Androhung der Einweisung ins Arbeitslager verboten
worden, mit verheirateten Männern zu »spielen«, wie man hier
sagt. Die jungen Burschen werden kurzerhand verhaftet, wenn
sie ihre Haare lang wachsen lassen oder bei Tanz zu westlicher Musik überrascht werden. Beim zweiten Mal droht auch
ihnen das Umerziehungslager. Im Unterschied zu Vietnam ist
die Flucht aus dem roten Laos ein Kinderspiel. Es genügt,
den Mekong zu überqueren, im Boot oder schwimmend. Das
Wasser des großen Stromes steht so niedrig, daß man dazu kein
Athlet sein muß. Die Flußgrenze mit Thailand erstreckt sich
über Hunderte von Kilometern und ist gar nicht zu sperren.
Auf der anderen Seite leben Menschen, die die gleiche Sprache sprechen und der gleichen Rasse angehören. 130000
Laoten seien in den Refugee-Camps Siams untergebracht, heißt
es offiziell in Bangkok. In Wirklichkeit ist ein Zehntel der
Gesamtbevölkerung von etwa drei Millionen Menschen bereits
ins Ausland entkommen und zur Hälfte untergetaucht. Im
Sommer 1976 hallten fast jede Nacht die Schüsse der Grenzpatrouillen über den Quai Fa Ngum und die ruhigen Fluten des
Mekong. Es wurde auf Flüchtlinge geschossen, und sogar ein
australischer Diplomat wurde beim Wasser-Ski durch eine AK
47-Kugel im Bein verletzt. Ein einfältiger Kha-Soldat wußte
mit diesem exzentrischen Sport offenbar nichts anzufangen.
Aber in diesen frühen Märztagen 1979 scheinen die Behörden
resigniert zu haben. »Sollen die Kapitalisten, Compradores und
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alle Feinde der sozialistischen Revolution doch das Land verlassen, wenn sie wollen«, hört man in den Amtsstuben. Bedenklicher ist, daß auch die einfache Landbevölkerung flüchtet, seit
die laotischen Kommunisten, angestachelt von ihren vietnamesischen Zuchtmeistern, die ohnehin in traditioneller Dorfund Sippengemeinschaft lebenden Bauern in ihre Kolchosen
und Sowchosen hineinpressen wollen.
Wir haben darauf verzichtet, im »Tarn Dao Vien«, dem letzten chinesischen Restaurant, wo angeblich noch genießbare
Speisen bereitet werden, zu essen. Automatisch haben wir uns
dem Rhythmus unseres Ausländer-Ghettos, des verstaatlichten
»Lane Xang«-Hotels angepaßt, wo der Service noch recht und
schlecht funktioniert. Der swimming-pool ist sogar neu dekoriert und gesäubert worden. An Stelle der CIA-Agenten von
einst sitzen jetzt Russen in Badehosen unter den Bäumen rund
um das Becken und spielen Schach wie in einem heimischen
»Park für Kultur und Erholung«. In der Bar des »Lane Xang«,
die meist leersteht, hängt hinter der Theke immer noch ein
idiotischer Spruch aus der französischen Kolonialzeit: »L’alcool
tue lentement, mais qu’importe, nous ne sommes pas pressés.
– Der Alkohol bringt langsamen Tod, aber was soll’s, wir haben
es nicht eilig.« Am Abend sind wir mit dem Taxi zur Tat LuangPagode gefahren. Sie ist weiß und frisch getüncht, ihre goldene Spitze leuchtet von fern. Daneben ist den revolutionären
Toten ein keilförmiges, häßliches Monument erstellt worden
mit rotem Stern über weißem Gips. Neben dem Kriegsmuseum, das kein westlicher Ausländer betreten darf, wacht ein
Doppelposten vor einem kitschigen Siegesdenkmal. Ein triumphierendes Paar, Soldat und Bauer, setzt den Fuß auf
eine Bombe, die mit den Buchstaben US gezeichnet ist. Um
17 Uhr ist rush-hour. Dann leeren sich die Regierungsbüros,
und die breite Allee, die am zweckentfremdeten Triumphbogen der Königlich-laotischen Streitkräfte vorbeiführt, wimmelt
plötzlich von Fahrrädern und Motorrollern. Schnell erstirbt
das Leben wieder. Die Wasserbüffel grasen neben einem
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
380
zerbröckelnden Stupa in unmittelbarer Nachbarschaft des
Außenministeriums. In den buddhistischen Klöstern, im Wat
In Peng, das gerade restauriert wird, und im Wat Bi Sai
hängen die Mönche ihre gelbroten Tücher zum Trocknen aus.
Die Sonne sinkt schnell über dem Mekong. Zwischen den
Sandbänken leuchten die Rinnsale des sonst so mächtigen
Stroms wie flüssiges, rotglühendes Eisen auf. Drüben ist ganz
deutlich das thailändische Zollhaus von Nong Khai zu erkennen. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es für einen Laoten
nicht ratsam, seine Heimstätte zu verlassen, und die Ausländer
sind auf die Autos und Privilegien des Diplomatischen Corps
angewiesen.
Unsere Hoffnung, in den Norden reisen zu können, mußten
wir schon am zweiten Tag begraben. Sogar die »Ebene der
Tonkrüge«, die im Vorjahr noch von westlichen Journalisten
besucht wurde, ist seit dem Ausbruch des chinesisch-vietnamesischen Grenzkonflikts zum Sperrgebiet erklärt worden. Man
sprach von Truppenkonzentrationen Hanois im Umkreis dieser
strategischen Drehscheibe. Den widerstreitenden Berichten
der Diplomaten zufolge, hatte Hanoi zwischen zwanzig- und
fünfunddreißigtausend Soldaten im Land der Million Elefanten
stationiert. Die Bo Doi hatten in den vergangenen drei Jahren
die Widerstandszentren der Meo systematisch durchkämmt
und ihre Dörfer mit Napalm ausgeräuchert. Sogar Giftgase
seien verwendet worden, behaupteten thailändische Quellen.
Jedenfalls waren die Meo-Krieger und ihre Familien nach
einem letzten heroischen Aufbäumen in ihrer Hochburg Phou
Bia zu Paaren getrieben worden und versuchten nun verzweifelt, die Thai-Grenze zu erreichen, wohl wissend, daß sie auch
dort nicht gut gelitten wären, denn die siamesische Armee
führte seit Jahren einen erbitterten Kleinkrieg gegen die
in der Nan-Provinz nomadisierenden Splittergruppen dieser
aufsässigen Gebirgsrasse.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
381
Das Außenministerium hatte uns als äußerstes Ausflugsziel
längs der Straße nach Luang Prabang den Staudamm von
Nam Ngum zugewiesen. Wir starteten am frühen Morgen
und beglückwünschten uns zu dem offiziellen Reisebegleiter,
den man uns zugeteilt hatte. Mongkhul war ein recht
ungewöhnlicher Fremdenführer und Dolmetscher. Man merkte
seinem runden, hellhäutigen Gesicht, seinem vornehmen
Phlegma an, daß er der Aristokratie des Landes angehörte.
Erst ein paar Tage später erzählte er mir, daß sein Vater unter
König Sisang Vatthana in den fünfziger Jahren vorübergehend
als Premierminister amtiert hatte. Mongkhul selbst hatte es
vor dem Umsturz zum Dekan der juristischen Fakultät von
Vientiane gebracht. Sein Studium hatte er in Paris absolviert.
In der Fondation Nationale des Sciences Politiques hatte er trotz
des Altersunterschiedes teilweise noch bei den gleichen Professoren Vorlesungen gehört wie ich. Diese Sciences-Po-Erinnerungen aus der Rue Saint-Guillaume schufen zwischen uns
ein spontanes Gefühl brüderlicher Verbundenheit. Ein Intellektueller, der bei André Siegfried, Raymond Aron, Maurice
Duverger und Pierre Renouvin in die Schule gegangen war,
mußte vom liberalen Geist geprägt, konnte kein sturer Apparatschik sein.
Nach etwa hundert Kilometer Fahrt und mehreren Militärkontrollen erreichten wir den Nam Ngum-Staudamm, der teilweise mit Mitteln der Bundesrepublik gebaut worden war.
Auf den Hügeln standen Flak-Batterien in Bereitschaft. Als
Feind kam hier nur die Luftwaffe der Volksrepublik China in
Frage. Der Stausee, den wir 1973 unter so widrigen Umständen
überflogen hatten, glänzte nun silbrig und schön in der prallen Sonne. Die Baumstümpfe, die immer noch aus den stillen
Fluten ragten, wirkten gar nicht mehr unheimlich, sondern
erhöhten den romantischen Liebreiz dieser Landschaft. Leider
wurden wir wieder einmal zum Besuch von Umerziehungslagern für Prostituierte, Drogensüchtige und Landstreicher
auf einem Fährboot verfrachtet. Wir absolvierten das obligate
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
382
Pensum trauriger Mädchen und abgestumpfter junger Männer.
Grausam wurden sie offenbar nicht behandelt, und der Lagerkommissar wirkte nicht wie ein Unmensch. Im Prinzip würden
die Häftlinge ein Jahr lang auf den Inseln festgehalten, bis sie
in die sozialistische Gesellschaft integriert werden könnten. Als
ich ihn fragte, ob auf den anderen Inseln, die wir am Horizont
flimmern sahen, auch politische Gefangene interniert seien,
wich der Lagerkommandant aus. Er wisse das nicht. Dafür
sei er nicht kompetent, sondern die Armee und die Staatspolizei. Die Zahl der prisonniers politiques war in Vientiane nicht
zu erfahren. Die Schätzungen unter den ausländischen Beobachtern klafften weit auseinander. Die Mehrzahl der Regimefeinde, hohe Beamte des früheren Regimes, Stabsoffiziere
und Generale der Königlich-laotischen Streitkräfte, unverbesserliche Kapitalisten, waren hoffentlich rechtzeitig über den
Mekong entkommen. Diejenigen, die geblieben waren, wurden
in die nebligen Nordprovinzen verschickt, wo sie wie arme
Gebirgsbauern leben und Maniok pflanzen mußten. Sogar den
friedlichen König von Laos, Sisang Vatthana, hatten die roten
Schergen eines Tages überraschend in seiner verträumten
Residenz von Luang Prabang festgenommen und in die unwirtlichen Randzonen der »Ebene der Tonkrüge« verschleppt.
Angeblich hatte eine Widerstandsgruppe seine Evasion nach
Thailand vorbereitet, wo er zweifellos zur Sammelfigur aller
oppositionellen Kräfte geworden wäre. In Vieng Xai, der
früheren Hochburg des roten Pathet Lao, stand der Monarch
unter strengem Arrest, und niemand wußte, ob er weiterhin
im kalten Crachin Muße fand, seinen literarischen Neigungen,
seinen Proust-Studien, der »Suche nach der verlorenen Zeit«
nachzugehen. In Vieng Xai, so hieß es, sei der »Neo Lao
Haksat«, die rote »Nationale Front von Laos«, die sich vor
kurzem in »Front für den Nationalen Aufbau« umbenannt
hatte, schon wieder damit beschäftigt, das kilometerlange Verteidigungssystem von Höhlen und Tunneln im schroffen Kalksteingebirge für alle kriegerischen Eventualitäten zu perfektio-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
383
nieren. Der Schatten Chinas lastete über dem allzu gefügigen
Verbündeten Hanois.
Auf der sogenannten »Insel des Friedens« hat der sozialistische Staat ein Hotel für ausländische Besucher von den
Sträflingen erbauen lassen. Wir aßen dort zu Mittag. Im
Januar war hier der thailändische Regierungschef Kriangsak
Chovanan zu Gast gewesen. Damals rechnete noch niemand
mit dem bewaffneten Zusammenprall zwischen Peking und
Hanoi. In General Kriangsak besaß Bangkok endlich einen
Ministerpräsidenten, der seinem Amt gewachsen war, Achtung
einflößte und Energie aufbrachte. Der dunkelhäutige, elegante
Mann mit dem leicht gewellten Haar unterschied sich vorteilhaft von seinen Vorgängern, Militärs wie Zivilisten. Die Vietnamesen hatten die roten Laoten aus zwingenden wirtschaftlichen und strategischen Gründen nach Beginn ihrer Offensive in Kambodscha ermutigt, gegenüber dem thailändischen
Nachbarn auf Entspannungskurs zu gehen. Davon erhoffte
sich Hanoi eine Entlastung seiner kritischen Position in Phnom
Penh und vielleicht auch eine Stärkung des neutralistischen
Trends in Bangkok. General Kriangsak hatte das Spiel damals
geschmeidig und klug mitgemacht. Er hatte sich von einer
Gruppe siamesischer Tänzerinnen auf die Friedensinsel begleiten lassen. Unter dem Einfluß des Alkohols und der rassischen
Gemeinsamkeit sei es fast zu Verbrüderungsszenen gekommen,
hörte man damals. Doch als ich ein paar Wochen später den
Regierungschef von Laos anläßlich seines offiziellen Gegenbesuches bei Kriangsak im Hotel »Eravan« in Bangkok ansprach,
wurde mir klar, daß diese Aussöhnung nur oberflächlich sein
konnte. Der starke Mann von Vientiane, Ministerpräsident
und KP-Chef Kaysone Phomvihane, bewegte sich verloren
und verklemmt in dem protzigen und schillernden Rahmen
siamesischer Gastlichkeit. Er trug einen mausgrauen Anzug
mit Uniformtaschen, lächelte gezwungen und prostete dem
souveränen Kriangsak linkisch zu. Ungewollt gab sich Kaysone an den Ufern des Menam als ein Fremder, als der Sohn
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eines vietnamesischen Vaters zu erkennen. Von den Journalisten ließ sich der Statthalter Hanois in Vientiane durch eine
Gruppe robuster Schlägertypen abschirmen.
Die Friedensinsel, so versicherte man uns, solle eines Tages
internationalen Tourismus anlocken. Bis dahin müsse man
wohl die beiden Umerziehungslager auf der »Insel der Produktion« und der »Insel der Unabhängigkeit« tunlichst auflösen.
Wir hegten den Verdacht, daß sich die Kerker für politische
Gefangene auf einer »Insel der Freiheit« befänden. Der laotische Gulag-Archipel im Nam Ngum-See gefiel sich offenbar
in einer Orwellschen Nomenklatur. Da waren die Bagnos
der kapitalistischen Welt doch viel ehrlicher gewesen. In
Französisch-Guayana hatte man zur Zeit des Capitaine Dreyfus und des Sträflings Papillon die Dinge beim Namen genannt
und die renitentesten Häftlinge auf die »Teufelsinsel« verschickt. Während der Rückfahrt machte uns Mongkhul am
Kilometer 50 auf quadratische Strohhütten aufmerksam, die im
Gegensatz zu den laotischen Behausungen nicht auf Pfählen
standen. »In dieser Ebene ist eine Gruppe Meo aus dem Gebirge
ansässig geworden«, erklärte er. »Nicht alle Angehörigen dieser
Rasse haben während des Krieges auf Seiten des CIA gekämpft.
Der Vizepräsident der ›Front für den Nationalen Wiederaufbau‹, Fay Dang, ist ein einflußreicher Meo-Häuptling aus der
Gegend von Xien Kuang.« Er schwieg eine Weile. »Stimmt es
eigentlich, daß die Franzosen ein paar hundert Meo – oder
Hmong, wie die Ethnologen heute sagen – in Französisch-Guayana mitten im Urwald angesiedelt haben?« fragte er dann.
Ich bejahte. Die besagten Hmong hatten sich als Holzfäller und
Pflanzer im französischen Übersee-Departement Guayana hervorragend bewährt. Ihre Tüchtigkeit und ihr Arbeitseifer standen in schroffem Kontrast zur Trägheit der alteingesessenen
»Kreolen« von Cayenne, in der Überzahl Mulatten und Neger,
die ihre Tage als Frührentner eines allzu freizügigen Staates
und als Tagediebe verbrachten. So wie ich Guayana und seine
schmarotzerische Gesellschaftsstruktur in Erinnerung hatte,
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wäre es ein Segen gewesen, wenn die Pariser Regierung die
Proteste der 30000 Kreolen ignoriert und die Urwälder von
Guayana zur Kolonisierung durch die Indochina-Flüchtlinge
freigegeben hätte.
Am Stadtrand von Vientiane passierten wir einen Autobus,
der mitsamt Warenladung und Menschenfracht in den
Straßengraben gekippt war. Sämtliche Passagiere – Männer,
Frauen und Kinder – mühten sich, das Fahrzeug wieder auf die
Chaussee zu zerren. Nur zwei junge, kräftige Bonzen in safrangelben Togen standen abseits und sahen der Geschäftigkeit
ihrer Mitreisenden hoheitsvoll und untätig zu. Bei den beiden
hatte sich offenbar noch nicht herumgesprochen, daß die
jüngste Wiedergeburt Buddhas sich im Zeichen aktiver menschlicher Solidarität und strammer Aufbauarbeit vollzogen hatte.
Beim abendlichen Whisky im Haus des deutschen Botschafters erfuhren wir, daß der »Rote Prinz« Souphanouvong, der
seit der Absetzung des Königs zum republikanischen Staatschef avanciert war, in den kommenden Tagen nach Phnom
Penh fliegen würde, um mit dem provietnamesischen Regierungschef Kambodschas, Heng Samrin, ein ähnliches Freundschafts- und Beistandsabkommen zu unterzeichnen, wie es
bereits zwischen Hanoi und Vientiane sowie zwischen Hanoi
und Phnom Penh bestand. Der Ring schloß sich. Die indochinesische Union unter Führung des revolutionären Vietnam war
Wirklichkeit geworden. Die Ehren, mit denen Souphanouvong
überhäuft wurde, täuschten nicht darüber hinweg, daß der
»Rote Prinz« zugunsten einer kleinen Verschwörergruppe
anonymer und hemmungsloser Apparatschiks entmachtet
worden war. Er hatte einst als Symbol und Aushängeschild für
die revolutionäre Front des »Pathet Lao« herhalten müssen.
Jetzt hatte er seine Schuldigkeit getan. »Wollen Sie nicht Souvanna Phouma aufsuchen«, fragte Günter Wasserberg. »Vielleicht lädt er Sie zum Bridge ein.« Tatsächlich lebte der ehemalige Ministerpräsident und Halbbruder des »Roten Prinzen«,
der einst als Neutralist, dann als Verbündeter Amerikas eine
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386
entscheidende Rolle gespielt hatte, unbehelligt in seiner weißen
Villa am Mekong, erging sich in listigen Loyalitätserklärungen
gegenüber dem neuen Regime, hofierte die vietnamesischen
und sowjetischen Freunde und wartete vielleicht in aller Heimlichkeit auf eine Wendung zum Besseren, an die außer ihm
niemand mehr zu glauben wagte. Prinz Souvanna Phouma
stellte seinen patriotischen Opportunismus in den Dienst des
laotischen Volkes. Er ließ sich Bitterkeit und Enttäuschung
nicht anmerken. Vielleicht war er zu alt und verbraucht, um
die Sicherheitsdienste des Halbvietnamesen Kaysone Phomvihane noch ernsthaft zu beschäftigen.
Der verlassene Königsweg
Pakse, im März 1979
Statt nach Norden ging es nach Süden. Es war erstaunlich
genug, daß das Außenministerium uns einlud, die Provinz
Champassak zu besuchen. Diese Gegend war seit 1975 als Hort
antikommunistischen Widerstandes bekannt. Der Einfluß der
großen laotischen Feudalfamilien, der Boun Oum und Sananikone, schien an dieser Dreiländerecke zwischen Laos, Thailand und Kambodscha immer noch lebendig. Die Patikan,
die »Reaktionäre«, wie die laotischen Genossen ihre Gegner
bezeichneten, waren in den ersten Jahren nach der Machtergreifung des roten »Pathet Lao« von Siam aus diskret
unterstützt worden. Aber ihre Reihen hatten sich schnell
gelichtet, seit reguläre vietnamesische Regimenter Jagd auf
sie machten. Man sprach von einem Überbleibsel von etwa
1 500 aktiven Patikan, und die verfügten angeblich auch nur
über 300 Gewehre. Bei einem Versuch, sich dieser Resttruppe
anzuschließen, war der französische Autor Lartéguy, der über
beide Indochina-Kriege berichtet hatte, in eine Bambusspitze
gestürzt und schleunigst umgekehrt.
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Die Provinzhauptstadt Pakse, die ich im Herbst 1966 zum
letzten Mal gesehen hatte, war nur noch der Schatten ihrer
selbst. Von der ursprünglichen Bevölkerung waren zwei Drittel
geflüchtet. Etwa 10000 Menschen blieben zurück. Wir wurden
am Rand der Stadt in einem Gästehaus der Regierung untergebracht, das unter schärfster Bewachung der »Pathet Lao«-Soldaten stand. Bei jedem Ausflug begleiteten uns diese freundlichen Männer vom dunkelhäutigen gedrungenen Volk der
Kha. Man rechnete offenbar immer noch mit Überfällen der
Patikan. Am Nachmittag besichtigten wir die Arbeiten an
einem Bewässerungssystem, das den kollektivierten Bauern
im Umkreis von Pakse erlauben sollte, in Zukunft zwei Reisernten pro Jahr einzubringen. Die Männer und Frauen, unter
die wir uns während der Dreharbeiten zwanglos mischten,
machten sich nicht müde, schwatzten, lachten untereinander.
Schlagartig um siebzehn Uhr ließen sie die Geräte fallen, um
nach Hause zu gehen. Die »Roten Khmer« hatten Gott sei
Dank in Laos nicht Schule gemacht. Später bummelten wir –
stets von den Ballonmützen und den AK 47 unserer Schutzengel begleitet – durch die staubigen Straßen von Pakse.
Viele Häuser waren verlassen und verfielen bereits. Die meisten Geschäfte waren verriegelt. Die Hauptstraße war von
Autowracks gesäumt. Aber die imposanteste Ruine war das
gigantische Schloß des Prinzen Boun Oum, dessen weiße
Betonstreben und geschwungenen Dächer die ganze MekongEbene von Champassak wie eine Dracula-Burg überragten. Der
Prinz, der zu Beginn der sechziger Jahre im Verbund mit CIA
und thailändischem Geheimdienst gegen Ministerpräsident
Souvanna Phouma intrigiert und ihn vorübergehend sogar
gestürzt hatte, mußte unter Größenwahn gelitten haben,
als er dieses architektonische Monstrum der harmonischen
Flußlandschaft überstülpte. Wir kletterten durch Mörtel und
leere Hallen bis zu den obersten Zinnen und genossen eine
grandiose Aussicht. Im Westen zeichneten sich die Hügel
der thailändischen Grenze ab. Zu unseren Füßen zogen die
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Fischerkähne glitzernde Kurven im dunkelgrünen Wasser des
Senone-Flusses. An einem Pfeiler entzifferten wir mühsam
eine ungelenke Schrift in französischer Sprache: Es war von
amour, dêpart und tristesse die Rede. Der Prinz Boun Oum
hatte sich rechtzeitig als Emigrant in Paris niedergelassen. Er
hatte tatsächlich wohl den größten Teil seines Vermögens in
diesen unsinnigen Palastbau investiert; denn in Frankreich
lebte er auf kleinem Fuß. Die kommunistischen Behörden
trugen sich, wie Mongkhul uns versicherte, mit der Absicht,
dieses Symbol des Feudalismus in einen Kulturpalast für das
Volk umzuwandeln, was angesichts der Verödung der Stadt
Pakse nicht gerade sinnvoll klang.
Die Hitze war unerträglich, und auch der Abend brachte
keine Kühle. Das breite Band des Mekong zog träg nach
Süden. An dieser Stelle bildete der Fluß nicht die Grenze
gegenüber Thailand. Ein waldiger Streifen auf dem westlichen
Ufer gehörte noch zur Provinz Champassak. In diesen Dschungeln, so hieß es, hätten die Vietnamesen eines ihrer großen
Ausbildungslager für die thailändischen Kommunisten versteckt. Ein anderer vergleichbarer Trainings-Camp für angehende Partisanen der »Communist Party of Thailand« war
in der Provinz Sayaburi nördlich von Luang Prabang und
ebenfalls auf dem westlichen Mekong-Ufer eingerichtet. In
den letzten Verhandlungen mit Ministerpräsident Kriangsak
von Bangkok hatte der Laote Kaysone sich verpflichtet –
unter Zusicherung der Gegenseitigkeit natürlich –, den roten
Bandenkämpfern, die seit Jahren den Nordosten Thailands
verunsicherten, jede Unterstützung zu entziehen. Dieses Versprechen fiel ihm um so leichter, als es sich bei den Kommunisten Siams im wesentlichen um Angehörige der maoistischen
Linie handelte. Im chinesischen Kunming, der Hauptstadt von
Jünan, befand sich damals noch die »Stimme des Thai-Volkes«, ein Radiosender, der die Siamesen zum Aufstand gegen
die Herrschaft der Militärs und die Willkür der kapitalistischen Ausbeuter aufrief. Der chinesisch-vietnamesische Kon-
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389
flikt hatte die rote Thai-Guerilla in eine aussichtslose Situation manövriert. Hanoi war an den Maoisten in den siamesischen Ostprovinzen, die sich teilweise sogar mit dem Pol
Pot-Regime solidarisiert hatten, nicht interessiert, wünschte
sogar ihre Vernichtung. Schon lange vor dem Ausbruch des
Krieges an der vietnamesischen Nordgrenze hatte Hanoi
die laotischen Verbündeten angewiesen, sämtliche Waffentransporte, die über die neuen Allwetterstraßen aus China
nach Thailand einsickerten, nach Kräften zu blockieren. Den
Chinesen ihrerseits war neuerdings an einer Stärkung der
thailändischen Monarchie gegenüber dem vietnamesischen
Expansionswillen gelegen. Die Eroberung Kambodschas war
eine allzu deutliche Warnung. Man wußte in Peking, daß das
vietnamesische Projekt der »Indochinesischen Föderation«
auch die Integrität Thailands bedrohte, und man unterstellte
den Expansionisten in Hanoi, daß sie ganze sechzehn Nordostprovinzen, die überwiegend laotisch bevölkert waren, der
Demokratischen Volksrepublik Laos zuschlagen wollten. Auf
dem Höhepunkt der Kambodscha-Krise, während die Panzerdivisionen General Dungs sich der Thai-Grenze näherten,
hatte die Volksrepublik China der Regierung Kriangsak ein
formelles Hilfsversprechen für den Fall einer vietnamesischen
Aggression gegeben.
Den Thai-Kommunisten war nunmehr das Wasser abgegraben. Die meisten armen Bauern-Partisanen würden nach und
nach zur Feldarbeit zurückkehren. Die Mehrzahl der Intellektuellen aus Bangkok, die nach dem Fehlschlag der großen Studentenrevolte von 1976 in den Dschungel gegangen waren,
würden von der Amnestie Gebrauch machen, die ihnen Kriangsak gewährte. Ein harter Kern war jedoch – vom Maoismus und seinen Erben zutiefst enttäuscht – den Lockungen
der Vietnamesen gefolgt. Diese Gruppe fand sich sogar zur
verbalen Anerkennung des vietnamesischen Marionettenregimes Heng Samrin in Phnom Penh bereit. Nun warteten
sie in ihren Guerilla-Lagern von Champassak und Sayaburi
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im Schutze des gelben Sternes der indochinesischen Revolution auf eine günstigere Konjunktur und auf die Wiederaufnahme ihres Kampfes gegen die Imperialisten jeder Schattierung, wozu neuerdings auch die chinesischen »Reaktionäre«
gezählt wurden.
Mongkhul machte uns auf ein bewaffnetes Patrouillenboot
im Mekong aufmerksam, das auf uns zusteuerte. »Es wird Sie
sicher interessieren, daß Offiziere und Mannschaft der laotischen Flußpolizei vor dem Sieg der revolutionären Kräfte bei
der Rheinflottille der französischen Kriegsmarine in Straßburg
ausgebildet wurden.« Der Tag ging früh zu Ende in Pakse. Die
Ausgangssperre begann um 21 Uhr. Die breitgesichtigen, pummeligen Kha-Mädchen, die uns bedienten, machten die Lichter aus und verschwanden in ihrem Gesindehaus. Wir schliefen
unter Moskitonetzen und schwitzten.
Wieder unter bewaffnetem Schutz erreichten wir am
nächsten Tag das Boloven-Plateau. Hier war es angeblich
vor ein paar Wochen noch zu Schießereien gekommen. Aber
wir fuhren ohne Zwischenfall durch hohes Elefantengras
bis zur Ortschaft Paksong, die durch die amerikanischen
Bombardierungen dem Erdboden gleichgemacht worden war.
Ein paar armselige Hütten gruppierten sich um ein aufwendiges Gästehaus für Funktionäre und andere Privilegierte des
Regimes. Der Himmel hatte sich bewölkt. Plötzlich wurde
es empfindlich kühl auf der hoch gelegenen Boloven-Ebene.
Offenbar hatte man uns hierhin geführt, um an Ort und Stelle
von westlichen Ausländern feststellen zu lassen, daß der Widerstand der Patikan zusammengebrochen sei. Das landwirtschaftliche Aufbauprogramm, das unsere Begleiter uns vorführten,
war nämlich in keiner Weise sehenswert. Wo die französischen
Plantagenbesitzer einst den besten Kaffee und Tee Indochinas gezüchtet hatten, war den sozialistischen Kooperativen mit
Müh und Not die Bepflanzung von ein paar Beeten gelungen.
Wir begegneten einer kleinen Gruppe früherer Beamter und
Offiziere des Königlich-laotischen Regimes, die auf Weisung
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der Revolutionsbehörden in der Einsamkeit des Boloven-Plateaus eine neue Existenz als Teepflanzer gefunden hatten. Im
Staatsgut von Long Hien kümmerten sich 65 Personen um
400 magere Kühe. Im Zeichen des Sozialismus verzeichnete
die Landwirtschaft der Demokratischen Volksrepublik Laos
einen skandalösen Ertragsrückgang. In einem Schuppen, der
die Schule von Long Hien beherbergte, saßen zwei Dutzend
Kha-Kinder vor der Wandtafel. Zu unserer Begrüßung sangen
sie mit piepsiger Stimme ein Lied. Ich ließ mir den Text
übersetzen: »Die Miliz schützt uns, damit wir am Aufbau des
Landes mitwirken können; gemeinsam mit der Miliz kämpfen
wir gegen die Reaktionäre und Imperialisten.«
In Pakse wurde uns mitgeteilt, daß der ursprünglich geplante
Hubschrauberflug zur Insel Khong, die unmittelbar an Kambodscha grenzt, aus technischen Gründen abgesagt worden
sei. So lud man uns zum »Tag der Frau« ein, der gerade in der Provinz Champassak mit größerem Aufwand gefeiert wurde. Im
Stadion von Pakse waren 3 200 Frauen und Mädchen zusammengekommen. Wir wurden durch freundliches Klatschen
begrüßt. Die revolutionären Frauen lasen Resolutionen und
Ansprachen vom Blatt. Darin war vom sozialistischen Aufbau
und mehr noch von der Bedrohung durch die chinesischen
»Reaktionäre« im Norden die Rede. Die Propagandistinnen
betonten mit devotem Augenaufschlag die unentbehrliche
Rolle, die das starke, verbündete Vietnam als Schützer der
Errungenschaften der laotischen Revolution spiele, ähnlich wie
die SED-Funktionäre in der DDR der »glorreichen Sowjetunion« ihren Lippentribut entrichten. Die vietnamesischen Einwohner von Pakse waren durch eine kleine Frauendelegation
im Ao Dai vertreten. Die vornehme, etwas strenge Schönheit
der jungen Vietnamesinnen kontrastierte mit dem puppigen
Liebreiz der laotischen Tänzerinnen, die zur Freude der Anwesenden den Schwall der Ansprachen endlich mit Gesang und
anmutigen Schritten unterbrachen. Die Chinesen von Pakse
hingegen – sie stellten früher die stärkste fremdrassige Gruppe
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dar – fehlten im Stadion. Sie standen außerhalb der indochinesischen Gemeinschaft. Bevor wir gingen, wurden wir von
dem Organisator des Festes, dem stellvertretenden Provinzchef von Champassak, mit vielen Verbeugungen verabschiedet. Ich hatte diesen Mann im dunklen Anzug und strengen
schwarzen Schlips, der den Namen Koni trug, aufmerksam
beobachtet. Mit seinem hageren Kopf, den schmalen Lippen
und dem durchgeistigten Gesicht wirkte er irgendwie klerikal.
Mongkhul bestätigte, daß Koni, bevor er sich in einer frühen
Phase des Krieges auf Seiten des roten »Pathet Lao« engagierte, zwölf Jahre in einem buddhistischen Kloster verbracht
hatte. In seiner Rede vor den Frauen hatte Koni drei Forderungen erhoben: Erhöhung der Produktion, Beschleunigung der
Kollektivierung, rücksichtsloser Kampf gegen die Patikan und
die »Internationalen Reaktionäre«, womit wiederum die chinesischen Kommunisten gemeint waren.
Statt der Insel Khong durften wir etwa hundert Kilometer
südlich von Pakse auf dem westlichen Mekong-Ufer die Ruinen
von Wat Phou besichtigen. Der Tempel stammte aus dem
7. Jahrhundert und war bereits im reinen Stil jener großen
Khmer-Kultur gebaut, die fünfhundert Jahre später im Imperium von Angkor ihre höchste Blüte feierte. Die dunkelroten
Mauern und Säulen von Wat Phou waren teilweise von den
Wurzeln und Lianen des Urwaldes gesprengt. Um so eindrucksvoller war der Aufstieg über die monumentale Steintreppe, die nicht enden wollte. Die oberste Kultstätte war
mit Skulpturen und Reliefs geschmückt. Die Gottheiten des
Hinduismus huldigten dem Zerstörer Schiwa. Sie waren von
Moos überwuchert. Die üppigen Formen der Aspara-Nymphen
waren im heiligen Tanz erstarrt. Mit hieratischer Geste – fast
assyrisch wirkend – bewachte die Bildsäule des königlichen
Erbauers von Wat Phou die steile Treppenkaskade. Der Kopf
der linken Naga-Schlange zu seinen Füßen war perfekt erhalten. Diese Kunstwerke des Chen La-Reiches verrieten noch
eine gewisse Plumpheit des Anfangs. Im Innenhof des rein hin-
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duistischen Heiligtums triumphierte die siegreiche Botschaft
Gautamas. Ein unförmiger, gelb bemalter Buddha hatte das
Lingam-Symbol ewiger Zeugung und Fruchtbarkeit mit seiner
kontemplativen Pose verdrängt. Gleich nebenan hausten sogar
ein paar Bonzen, die sich auf unsere Bitte zum Gebet verneigten und dabei filmen ließen. Mongkhul war hier in seinem Element. »In Wat Phou ahnt man die gewaltige Ausdehnung des
mittelalterlichen Khmer-Imperiums, das weit über die Grenzen des heutigen Kambodscha hinaus den größten Teil Hinterindiens beherrschte«, dozierte er. »Das heutige Champassak
befand sich wohl in einer Mischzone, wo die Rassen der Khmer
Mon und Cham aufeinanderstießen. Von den Vietnamesen, von
den Thai oder Laoten fehlte damals noch jede Spur. Sie lebten
weit im Norden.«
Mongkhul nahm einen behauenen Stein auf, der sich von der
Tempelmauer gelöst hatte. »Wissen Sie, daß wir uns hier am
nördlichen Ausläufer der Voie Royale des Königsweges befinden, den André Malraux beschrieben hat. In diese Gegend von
Laos wollte sich der Romanheld Malraux’, der Deutsch-Däne
Perken, zurückziehen. Im Umkreis von Wat Phou träumte er
davon, seine eigene Herrschaft zu errichten. Auf dem Weg hierhin ist er seiner Verletzung durch die schrecklichen Wilden
vom Stamme der Stieng erlegen.«
Wir gedachten des rastlosen Malraux, der als junger Mann
– von seinem Genie und seiner mythomanischen Veranlagung
geplagt – als Tempelplünderer durch die nördlichen Dschungel
Kambodschas geirrt war. »Es ist doch ein seltsamer Hang der
Europäer, daß sie überall ihre eigenen Reiche gründen wollen.
Sind Sie Pierre Schoendorffer begegnet, und haben Sie sein
Buch ›L’Adieu au Roi‹ gelesen?« Ich hatte diesen ehemaligen
Kriegsberichter der französischen Armee nur flüchtig getroffen, aber sein Buch, das auf Borneo spielt, kannte ich. Schoendorffer sei nur ein Glied in einer langen Kette, wandte ich
ein und erinnerte Mongkhul an die Kiplingsche Novelle »Der
Mann, der König sein wollte« aus dem afghanischen Kafiristan.
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Er selbst erwähnte Joseph Conrad und seine beklemmende
Kongo-Erzählung »Das Herz der Finsternis«. – »Die Amerikaner haben die Joseph-Conrad-Gestalt des Elfenbeinjägers
Kurtz, der im düstersten Winkel Afrikas von den schwarzen
Steinzeitmenschen als weißer Häuptling und Zauberer verehrt
wird, in einen zeitgenössischen Filmhelden verwandelt, den
Marlon Brando spielt«, sagte ich. Ich schilderte in ein paar
Sätzen das Drehbuch: »Der Colonel Kurtz hat in einem abgelegenen Sumpfgebiet Indochinas – umgeben von primitiven
Eingeborenen – sein eigenes Herrschaftsreservat errichtet und
regiert dort durch Grausamkeit und weiße Magie. Bis das
US-Kommando in Saigon sich entschließt, den unheimlichen
Sonderling, der offenbar in die sauvagerie zurückgefallen ist,
zur Strecke zu bringen. Ein CIA-Offizier wird mit dieser Aufgabe betraut und tötet schließlich den Colonel Kurtz, der im
Dschungel von Indochina zu einer Art ›Moby Dick‹ in Menschengestalt geworden war. ›Apocalypse Now‹ heißt der Film.«
– »Sie brauchen keine Sorgen zu haben«, fuhr ich fort, »der
Königsweg, der früher von Europa nach Asien und Afrika
führte, ist heute verwaist.«
In den drei Tagen unseres Aufenthaltes in Champassak
hatten wir vergeblich nach vietnamesischen Soldaten Ausschau
gehalten. Offenbar hatten sie Weisung erhalten, während der
Anwesenheit eines westlichen Fernsehteams in ihren Kasernen und Unterkünften zu bleiben. Am Tage unserer Abreise
versagte offenbar die Koordination. Wir waren schon auf dem
Weg zum Flugplatz von Pakse, da begegneten wir einer ganzen
vietnamesischen Kompanie, die auf Lastwagen transportiert
wurde. Die Bo Doi waren an ihren grünen Stahlhelmen, an
der roten Kokarde mit dem gelben Stern eindeutig zu erkennen. Wir verzichteten aus verständlichen Gründen darauf, die
Kameras auf sie zu richten.
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Krisenstimmung am Mekong
Vientiane, im März 1979
Die Stimmung in Vientiane hatte sich in den drei Tagen
unserer Abwesenheit gründlich gewandelt. Die bewaffneten
Militärs waren im Stadtzentrum wieder zahlreich geworden.
Am Mekong-Ufer wurde auf Flüchtlinge geschossen. Alle
Schichten der Bevölkerung wurden für Massen-meetings mobilisiert, bei denen die chinesische »Aggression« gegen Vietnam
angeprangert wurde. Die »Revolutionäre Volkspartei von Laos«
hatte unter der straffen Hand Kaysone Phomvihanes die letzten Brücken zu Peking abgebrochen. Ich wurde gleich nach
der Rückkehr zu einem Interview mit dem Informationsminister Sisane Sisana gerufen. Ein eigenartiger, schwer definierbarer Mann empfing mich in seinem nüchternen Büro. Der
Minister wirkte kein bißchen laotisch. Ich suchte vergeblich,
seinen rassischen Typus zu situieren. Ein Kha war er bestimmt
auch nicht. Sisane Sisana gab sich jovial. Er führte mich an
eine Landkarte und zeigte mir einen Flecken an der Grenze
zwischen den Provinzen Phong Saly und Jünan, wo die Volksbefreiungsarmee angeblich ein laotisches Dorf bombardiert
hatte. »Die Chinesen konzentrieren Truppen in diesem Raum«,
sagte der Minister, »wir müssen täglich mit einem Angriff
rechnen. Unter dem Druck unserer vietnamesischen Freunde
haben die Pekinger Reaktionäre ihren Rückzug aus dem vietnamesischen Grenzgebiet angetreten. Sie suchen jetzt nach
einer neuen Front.« Er hatte ein ganzes Bündel von Anklagen
gegen die »Pekinger Clique« bereit, die er sogar als »Faschisten« bezeichnete. Sie würden Spione nach Laos einschleusen
und die Minderheiten aufwiegeln. Das Volk sei zum Kampf für
seine Unabhängigkeit und die Unverletzlichkeit seines Territoriums bereit. Tatsächlich waren in Vientiane die ersten Einberufungen von jungen Soldaten publik geworden. Die kleine
»Pathet Lao«-Armee von 30000 Soldaten sollte um 15 000 Mann
verstärkt werden. Es bestätigte sich auch, daß ein laotisches
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Kontingent auf Seiten der Vietnamesen gegen die »Khmers
Rouges« in Kambodscha eingesetzt war. Kein Wunder, daß sich
unter den jungen Leuten der Hauptstadt, die sich keineswegs
danach sehnten, für diese sozialistische Vasallenrepublik zu
sterben, eine neue Fluchtwelle nach Thailand anbahnte.
Sisane Sisana war für den französischen Geheimdienst kein
unbeschriebenes Blatt. Schon ab 1945 hatte er auf Seiten der
»Lao Issara« gegen die ehemalige Kolonialmacht gekämpft.
Im Zweiten Indochina-Krieg hatte er lange Jahre mit seinen
Sahai in den Höhlen von Vieng Xai ausgeharrt und die amerikanischen Bombardierungen überlebt. Plötzlich fiel mir ein,
was mir in Bangkok vertraulich mitgeteilt worden war: Der
Großvater dieses laotischen Revolutionärs war ein am Mekong
lebender Korse gewesen. Daher stammte vielleicht sein Ressentiment gegen die anmaßenden Fremdherren von einst. Bei
näherem Zusehen kam Sisane mir jetzt beinahe vertraut vor.
Seine Physiognomie hätte in jene Union Corse gepaßt, die
in Paris mit einiger Übertreibung als Mafia der NapoleonsInsel geschildert wird und die im Algerien-Krieg eine wichtige
Untergrundrolle gespielt hatte.
In den Botschaften der westlichen Allianz und der ASEANStaaten war man besorgt. Die Sozialistische Republik Vietnam
hatte für alle Männer zwischen 15 und 45 Jahren die Generalmobilmachung verkündet. Ein martialischer Lebensrhythmus war der Bevölkerung von Hanoi auferlegt worden: Acht
Stunden Arbeit, acht Stunden militärische Ausbildung, acht
Stunden Ruhe. In Wirklichkeit, so berichtete die französische
Presseagentur aus Tonking, sei das alles nicht so dramatisch
und effizient, wie es von außen scheinen mochte. Aber die Auswirkungen auf die politische Atmosphäre in Vientiane waren
verheerend. Der kurze Frühling der kleinen laotischen Freiheiten war schon verblüht. Aller Wahrscheinlichkeit nach war die
Meldung von dem chinesischen Überfall auf laotisches Gebiet
frei erfunden. Die Nachricht war ohnehin erst in Moskau und
Hanoi veröffentlicht worden, ehe sie in Vientiane wiederholt
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wurde. Aber die Geheimdienste rechneten im Falle eines neuen
Aufflackerns des Grenzkonfliktes mit einem energischen chinesischen Vorstoß auf Lai Tschau, dem Verwaltungssitz jener
vietnamesischen Militärregion Viet Tay, die unmittelbar an
Laos grenzt. Die rassischen Minderheiten in diesem Raum
waren, wie sich bei der jüngsten Aktion der Volksbefreiungsarmee gezeigt hatte, gegenüber Hanoi von höchst zweifelhafter
Loyalität. In den ersten Tagen ihrer Offensive waren die Chinesen bis auf zwanzig Kilometer an Lai Tschau herangerückt
und hatten das Thai-Dorf Phong To, mein Schangri-La aus
dem Frühjahr 1951, zum zweiten Mal überrannt.
Ich mußte an meine Gespräche mit Mr. Q., dem chinesischen Gewährsmann in Bangkok, denken. Er hatte offen zugegeben, daß die Regierung von Laos demnächst von der Volksrepublik China ebenso feindselig behandelt würde, wie das
Regime Heng Samrin in Kambodscha. Eine Untergrundaktion
bei den rebellischen Gebirgsvölkern in Nord-Laos sei bereits
im Gange. In Vientiane sprach man von wachsender Unruhe
bei den verbleibenden Meo, aber auch bei den Yao, den Lolo
und den Khmu. 4000 Partisanen, so munkelte man auf den
Cocktails, hätten die Agenten Pekings bereits in einer sogenannten Lanna-Division zusammengefaßt. Mr. Q. hatte mich
seinerseits nach dem Meo-General Vang Pao befragt, der auf
seiten der CIA gekämpft hatte. Er war sichtlich enttäuscht, als
ich ihm mitteilte, daß der alte, korrupte Kämpe kaum bereit
sein würde, seine Rinderfarm im amerikanischen Montana
gegen ein höchst Ungewisses neues Waffenglück einzutauschen. Auch mit dem neutralistischen Oberst Kong Le, der den
Franzosen die Treue gehalten hatte und in der französischen
Provinz lebte, war kaum zu rechnen. »Dann müssen wir uns
eben andre laotische Patrioten suchen«, hatte Q. lachend geantwortet. Tatsächlich patronierte Peking jetzt eine oppositionelle
»Sozialistische Partei von Laos«.
Die Lage an der chinesisch-vietnamesischen Grenze war
weiterhin in undurchdringliche Schleier gehüllt. Die Infor-
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mationen sickerten äußerst spärlich in Vientiane ein. Der
unermüdliche Josef Kaufmann telefonierte täglich mit der vietnamesischen Botschaft in Bangkok, wo wir ein Visum nach
Hanoi beantragt hatten. An die diplomatische Vertretung Vietnams in der laotischen Hauptstadt war kaum heranzukommen. Lediglich ein Schaukasten neben dem Eingangstor zeigte
zerstörte chinesische Panzer und siegreich vorstürmende Bo
Doi. In Wirklichkeit hatte die Volksbefreiungsarmee mit der
Eroberung von Lang Son, die nach erbittertem Nahkampf
erfolgte, das geographische Ziel ihres Feldzuges erreicht und
hatte – für alle Kenner dieser Region ersichtlich – ihre Fähigkeit
demonstriert, auch bis Hanoi vorzurücken. Der erhoffte psychologische Erfolg, der sich als Folge der Einkesselung und
Gefangennahme größerer vietnamesischer Eliteverbände ergeben hätte, blieb den Chinesen jedoch versagt. Jetzt rückten
die Soldaten Hua Guofengs wie versprochen planmäßig aus
ihren eroberten Stellungen nach Norden ab, und die Vietnamesen hüteten sich wohlweislich, ihnen allzu energisch
nachzudrängen. Schon hatte die Pekinger Führung »urbi et
orbi« verkündet, daß eine zweite militärische Runde gegen
Vietnam fällig würde, wenn Hanoi sich nicht zu einer grundlegenden Revision seiner Haltung entschlösse. Deng Xiaoping,
dessen Drohungen seit seiner Amerikareise ernstgenommen
wurden, hatte dem Generalsekretär der Vereinten Nationen,
Kurt Waldheim, eine ähnliche Mahnung zukommen lassen.
Unsere Reportage im roten Laos war zu Ende. Aus Bangkok hatten wir die verschlüsselte Nachricht erhalten, daß die
chinesischen Behörden uns ein Visum erteilt hatten. Für den
kommenden Montag war ich bei Prinz Sihanuk in Peking zum
Diner eingeladen. Bis dahin waren noch vier Tage. Den letzten Abend feierten wir in der deutschen Residenz. Karneval
war in Europa seit zwei Wochen vorbei. Aber wir holten bei
Wasserbergs das närrische Fest in den Grenzen des Möglichen
nach. Josef Kaufmann erzählte die Geschichte eines Kollegen
vom Westdeutschen Rundfunk, der einst den Besuch Walter
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Ulbrichts am Assuan-Staudamm in eine karnevalistische Veranstaltung hatte ausarten lassen. Er hatte den Fellachen Gamal
Abdel Nassers, die zum offiziellen Jubel aufgereiht waren, das
Lied »Humba humba tätärä« unter dem Vorwand beigebracht,
dieses sei die Nationalhymne der DDR. Tatsächlich wurde der
Vater der DDR von den Galabieh-Trägern mit einem rhythmischen »Humba humba« begrüßt. Nun war Steve dabei, das
laotische Personal der deutschen Botschaft, das an dem Fest
voll beteiligt war, in rheinischer Fröhlichkeit zu unterrichten.
»Humba humba tätärä« klang es aus der Küche. Ein anderes
Lied, aus einem anderen Fasnachtsjahr wäre angebrachter
gewesen: »Ein Besuch im Zoo«, denn hinter der Scheibe des
Eßzimmers tobte das Kapuzineräffchen Willy, den Eva Wasserberg aus Südamerika mitgebracht hatte, wie ein echter Jeck
und hätte beinahe das Fenster zerschmettert.
Bilanz eines begrenzten Krieges
Hongkong, im März 1979
Hongkong war eine unangenehme Zwischenstation. Die Hügel
der New Territories verschwanden im Nebel. Über den AsphaltGrüften der Innenstadt tröpfelte kalter Regen herunter. Die
jungen Chinesen von Hongkong wurden immer unerträglicher,
und selbst die gespielte, übertriebene Höflichkeit des Hotelpersonals lief auf permanente Verhöhnung des weißen Gastes
hinaus. Mit der älteren Generation ließ sich besser auskommen. »Wir sind ja so froh, daß unsere Landsleute auf dem Festland anfangen, vernünftig zu werden«, sagte der unvermeidliche Schneider, bei dem ich mir in aller Eile eine Wintergarnitur bestellen mußte, denn in Peking sollte die Temperatur noch
unter Null liegen.
Der Generalkonsul empfing mich zum Abendessen und
hatte einige der angesehensten China-Watcher an seinen Tisch
gebeten. Der Victoria-Peek, auf dem die Residenz lag, bot bei
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schönem Wetter einen traumhaften Ausblick. Aber jetzt war
alles in grauen Dunst gepackt, die Atmosphäre jener Spionageromane, die so gern Hongkong als Schauplatz ihrer Intrigen wählen. Außer mir waren drei Journalisten gekommen,
ein Holländer, der perfekt Chinesisch sprach und mit einer Taiwan-Chinesin verheiratet war; ein Amerikaner, der über eine
intime Kenntnis der »Söhne des Himmels« verfügte – beide
sah ich zum ersten Mal – und ein englischer Veteran der Fernost-Berichterstattung, Russell Spurr, mit dem ich das letzte
Mal vor sechs Jahren in Phnom Penh zu Abend gegessen hatte.
In den vergangenen Tagen hatte die Central Chinese Television, die Fernsehstation der kontinentalen Volksrepublik, aktuelle Filmstreifen über die Kämpfe an der Südgrenze ausgestrahlt. Die kommerzielle TV-Anstalt von Hongkong hatte diese
Berichte kurzerhand aufgezeichnet und ihrerseits gesendet.
Die Meinungen bei Tisch waren geteilt. Besonders hatten sich
die rührenden Szenen der Verbrüderung zwischen den abziehenden chinesischen Truppen und der örtlichen vietnamesischen Bevölkerung eingeprägt. Die Soldaten der Volksbefreiungsarmee trugen die Alten und Gebrechlichen auf ihren
Rücken, sie verteilten Reis an die Familien, reparierten die
Strohdächer, fütterten die Hühner und fegten sogar die Straße
vor ihrem Abzug. Den Zivilisten in der besetzten Grenzzone
– es handelte sich im wesentlichen um Angehörige rassischer
Minderheiten – standen vor so viel Güte die Tränen in den
Augen, und die scheidenden Soldaten Pekings wurden aufs
herzlichste umarmt. Wenn es nach den Propagandaaufnahmen
gegangen wäre, hätten die Unterworfenen ihre Eroberer am
liebsten gar nicht gehen lassen. »In unseren Augen erscheinen diese Bilder grotesk und verlogen«, meinte der Holländer.
»So dick kann man nicht auftragen. Aber wir sollten nicht mit
unseren europäischen Vorstellungen kommen. Meine chinesische Frau ist bestimmt keine Maoistin, aber sie war durch diese
Filmszenen bewegt und fand dieses Theater ganz normal.«
Die Konversation berührte das Thema der chinesischen
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Minderheiten-Politik in den Südprovinzen des Reiches der
Mitte. »In Peking wird man noch umlernen müssen«, sagte der
Amerikaner und zog mächtig an seiner Pfeife, »wenn man die
Meo, die Yao, die Gebirgs-Thai und alle anderen als vollwertige
Verbündete gegen den vietnamesischen Chauvinismus gewinnen will. Dieser Annäherung steht die uralte kulturelle Arroganz des chinesischen Staatsvolkes der Han entgegen.« Auch
mir war aufgefallen, daß die Stammesnamen der Meo oder
Man – in China Miao gesprochen – eine enge phonetische Verwandtschaft zu dem Wort »Moi« aufwies, mit dem die Annamiten ihre primitiven Gebirgsrassen als »Wilde« diskriminieren.
In den chinesischen Schriftzeichen, die die Angehörigen dieser
angeblich tibeto-birmanischen Rassen bezeichneten, war das
Element einer tierischen Abkunft angedeutet. Bei meinem Ritt
durch die Thai-Föderation von Lai Tschau hatte ich ja 1951
schon bemerkt, daß die Meo sich auf die Katze als eine Art
Totem bezogen, während die Yao ihre Herkunft von einem
legendären Hund ableiteten. »Die Funktionäre im Ministerium für Minderheiten in Peking«, wußte der Amerikaner,
»haben neue Ideogramme zur Beschreibung der Minderheiten eingeführt, aber damit ist es natürlich nicht getan. Hier
geht es um einen hohen Einsatz. Südlich des Jang Tse kiang
leben mindestens drei Millionen Miao – sie sind zahlreicher als
die Tibeter – und mit diesem Aufgebot könnte man Hanoi und
Vientiane das Fürchten lehren.«
Die Sprache kam natürlich auf das Ausbleiben einer energischen sowjetischen Reaktion. Die Vietnamesen waren –
allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz – durch die
russische Reserviertheit zutiefst enttäuscht. Moskau hatte
zwar ein beträchtliches Aufgebot seiner Fernost-Flotte ins
Südchinesische Meer geschickt. Mit riesigen Antonow-Maschinen war eine Luftbrücke zwischen Wladiwostok und Hanoi
eingerichtet worden. Perfektionierte Waffen wurden geliefert
und Militärberater eingeflogen. Auch die eilige Verlagerung der
nordvietnamesischen Eliteverbände aus Kambodscha an die
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chinesische Grenze konnte nur mit Hilfe der russischen Flugzeuge bewältigt werden. Aber Hanoi hatte zumindest erhofft,
daß die sowjetischen Marine-Kommandos auf den umstrittenen Paracel-Inseln landen würden, um den Chinesen ihrerseits eine Lektion zu erteilen. Nicht nur in Vietnam, in ganz
Südostasien hatte Moskau auf Grund seiner Zurückhaltung
Prestige eingebüßt. Wenn auch niemand auf den Gedanken
kam, die Russen als »Papiertiger« zu bezeichnen, erschienen
sie in den Augen der gelben Völker doch plötzlich als eine weiße
Supermacht, die auf Grund allzu vieler internationaler Verpflichtungen und Verantwortungen in ihrer Reaktionsfähigkeit
gelähmt und behindert war. Kurzum, die Russen waren zu
»roten Amerikanern« geworden.
»Man hüte sich vor überstürzten Folgerungen«, fuhr der
amerikanische Kollege fort. »Wir gehen heute felsenfest davon
aus, daß zwischen Peking und Moskau für alle Zeiten ein
Klima der Todfeindschaft und der Vorbereitung eines unausweichlichen Vernichtungskrieges herrscht. Ich wäre vorsichtiger. Gibt es wirklich einen so abgrundtiefen Russenhaß in
Peking? Nach unseren Informationen wird es schon sehr bald
wieder zu Gesprächen zwischen den beiden großen kommunistischen Nachbarn kommen. Gewiß könnte das auch ein
Scheinmanöver Deng Xiaopings sein nach dem uralten Prinzip
›talk, talk – fight, fight‹. Aber zumindest haben die Chinesen
gegenüber der amerikanischen Diplomatie einen mächtigen
Hebel in der Hand. Wenn Washington seine wirtschaftliche
Zusammenarbeit mit dem Reich der Mitte durch zu viele
Vorbedingungen belastet, dann könnte die neue Führung in
Peking eines Tages auf den Gedanken kommen, mit dem Ziel
der Aufwertung ihrer eigenen Position auch einen Flirt mit
dem Kreml ins Auge zu fassen. Vergessen Sie nicht den StalinRibbentrop-Pakt. Auf lange Sicht ist die fundamentale Auseinandersetzung zwischen Weißen und Gelben in Nordasien wohl
unausweichlich, aber unsere Zeitbegriffe und Fristen stimmen
mit denen der Chinesen in keiner Weise überein.« Ich meldete
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mich mit einem Zitat de Gaulles: Schon im Februar 1964 hatte
der General auf einer seiner Pressekonferenzen vom zerschlissenen Mantel der ideologischen Einheit gesprochen, unter dem
die fundamentalen nationalen Gegensätze zwischen Moskau
und Peking sichtbar würden. Vom Hindukusch bis Wladiwostok sei Rußland auf Beharrung und Erhaltung seines Besitzstandes bedacht, China hingegen zum Wachstum und zum
Erwerb verurteilt.
Die Tafelrunde kam überein, daß die neue gemäßigte Linie
Deng Xiaopings noch vor unendlichen Schwierigkeiten stand.
Der Holländer, der mit seiner Frau von einer Reise in entlegene
Provinzen der Volksrepublik zurückkam, hatte dort entsetzliches Elend bei der Landbevölkerung vorgefunden. »Was halten
Sie von der Greuelpropaganda der Vietnamesen?« fragte Russell Spurr. Radio Hanoi zufolge hatten die chinesischen Soldaten wie Berserker gewütet. Sie hatten die Dörfer niedergebrannt, die Frauen vergewaltigt, die Kinder erschlagen, die
Männer gefoltert und den gefangenen vietnamesischen Milizsoldaten das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen. Alle
waren sich einig , daß es sich um haarsträubende Lügen handelte. »Es gehört zu den geheiligten Prinzipien der Volksbefreiungsarmee, daß die feindliche Bevölkerung überaus
zuvorkommend behandelt und propagandistisch umgestimmt
wird«, sagte der Amerikaner. »Daran hat sich bestimmt nichts
geändert. Was die Vergewaltigungen betrifft, so darf man
nicht vergessen, daß die chinesischen Soldaten seit dreißig
Jahren zur Prüderie, zur sozialistischen Schamhaftigkeit erzogen worden sind. Vergewaltigungen? Sie wüßten vermutlich
gar nicht mehr, wie man das macht.« Glaubwürdig war hingegen von zwei französischen Augenzeugen der AFP aus
Hanoi berichtet worden, daß die Armeen Pekings die gesamte
Infrastruktur in den eroberten Gebieten – Straßen, Brücken,
Industrieanlagen und Gemeinschaftseinrichtungen – vor der
Räumung in die Luft gejagt hatten. Sogar die funkelnagelneue
Pernod-Fabrik, die die Franzosen in Lang Son erbaut hatten,
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weil nur in dieser Gegend die unentbehrliche Badian-Pflanze
wuchs, war gesprengt worden. Ähnlich sollte es der EremitenGrotte Ho Tschi Minhs am Kac Mac-Berg bei Pak Bo ergangen sein, die von den Vietnamesen als revolutionäres Heiligtum betrachtet wird. Natürlich waren alle Bunker und Befestigungen geschleift worden. Die Verwüstungen der gesamten
Grenzregion auf einer Breite von 500 km stellte den vietnamesischen Staat vor ein zusätzliches und unlösbares Wiederaufbauproblem.
Beim Abschied drückte Russell Spurr mir eine schriftliche
Botschaft an Prinz Sihanuk in die Hand.
Der Drache und der Polarbär
Peking, im März 1979
Über Peking steht eine blasse, klare Frühlingssonne, und der
Himmel ist zartblau. Es ist Sonntag, die Menschen drängen
sich – immer noch winterlich blau die Zivilisten, grün die
Soldaten – vor den Eingängen des alten Kaiserpalastes. Der
Krieg ist hier unendlich weit, zweitausend Kilometer entfernt,
irgendwo im Süden. Nur am Flugplatz waren mir die zahlreichen Militärs aufgefallen. Auch ohne Rangabzeichen waren die
hohen Offiziere am selbstbewußten Auftreten und oft an der
mächtigeren Statur zu erkennen. Jedesmal wenn ich die Verbotene Stadt, ihre gelben Ziegel, ihre blutroten Mauern, die
gewaltigen Ausmaße ihrer unverständlichen und berückenden
Harmonie wiederentdecke, empfinde ich einen Schock. Wer
hier herrscht, muß das Gefühl haben, Zentrum der Welt, Sohn
des Drachens zu sein. Dem Kaiser von China oblag es, reglos
nach Süden zu blicken und die Strahlungen des »Yang«, der
männlichen, schöpferischen, lichten Kraft auf sich einwirken
zu lassen. Von diesem Platz aus gewinnt der aktuelle Grenzkonflikt mit Vietnam eine ganz andere Perspektive. Hier ist
der Mittelpunkt des Universums, das Spiegelbild der himmli-
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schen Ordnung, ein Imperium, das keiner äußeren Bestätigung
bedarf und auf diesem Erdball keinen gleichberechtigten Partner gelten läßt. Und dort unten, tief im Süden, an den Grenzen der Barbarei, bäumt sich ein kleiner Vasallenstaat auf, der
sich selbst durch die erworbene Gesittung und sogar durch
die Namensgebung – Vietnam gleich »Land des Südens« – als
Außenposten des Reiches der Mitte definiert.
»Die Vietnamesen hatten wohl ernsthaft geglaubt, sie seien
unbesiegbar. Sie traten auf, als seien sie nach den Amerikanern und Russen die dritte Militärmacht der Welt«, sagten
die Herren vom chinesischen Fernsehen, die mich gleich am
ersten Morgen im »Nationalitäten-Hotel«, im Min Zu, besuchten. »Wir haben sie eines Besseren belehrt, und die ›Sozialimperialisten‹ im Norden haben sich nicht gerührt. Sie sind wie
bellende Hunde, die man mit Steinwürfen verscheucht.« Die
dienstlichen Kontakte spielten sich in China meist im Hotelzimmer ab. Daß das Bett noch nicht gemacht war, störte die offiziellen Gesprächspartner nicht im geringsten. Sie bestätigten,
daß ich mich bei Prinz Sihanuk am Montag abend um 18 Uhr
– man aß früh in Peking – einfinden sollte. In bezug auf unser
Arbeits- und Drehprogramm in der Hauptstadt ließen sie uns
freie Hand. Die Atmosphäre war herzlicher und offener als bei
meinen früheren China-Aufenthalten, als Madame Tschiang
Tsching die Kulturpolitik noch maßgeblich beeinflußte. Der
Grenzkrieg gegen Vietnam war – wie die Fernsehfunktionäre
versicherten – mit einem großartigen Sieg der Volksbefreiungsarmee zu Ende gegangen. Die Soldaten hätten ihre
Bewährungsprobe bestanden und befänden sich alle wieder
auf heimischem Boden. »Wenn es nötig wird, wenn die HanoiClique uns weiter herausfordern sollte, werden wir erneut
zuschlagen, bis die Vietnamesen Vernunft annehmen.« Es war
klar, daß die Volksrepublik China den südlichen Nachbarn
bis zur Auszehrung und Erschöpfung in den Schraubstock
nehmen wollte. Für diese Abtrünnigen gab es kein Pardon. Vor
allem der »Undank« Hanois löste in Peking Entrüstung aus.
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300 000 Mann der Volksbefreiungsarmee – so hörten wir zum
ersten Mal –, überwiegend Pioniere und Trainsoldaten hätten
während des französischen und des amerikanischen Krieges
auf Seiten der Vietnamesen gefochten. 1 000 Chinesen seien
dabei gefallen, 10000 verwundet worden. Sogar der Sieg von
Dien Bien Phu über die Franzosen wäre ohne aktive Mitwirkung Chinas nie zustande gekommen.
Die offiziellen Gesprächspartner äußerten sich nur zögernd
zu dem brennenden Thema der Vietnam-Flüchtlinge, das in
der westlichen Presse Schlagzeilen zu machen begann. Rund
200000 »Hoa«, die aus Nordvietnam vertrieben worden waren,
sei Asyl gewährt worden, und damit hatte sich die humanitäre
Pflicht des Reichs der Mitte offenbar erschöpft. Wo käme man
hin, so hörte ich mehrfach, wenn das Beispiel Vietnams in
der übrigen Welt Schule machen würde, wenn alle anderen
Staaten, die rassische Minderheiten oder politische Dissidenten beherbergten, deren brutale Austreibung forcierten. Die
Briten hätten davon vielleicht einen Vorgeschmack gehabt, als
Idi Amin von Uganda die indischen Kaufleute seines Landes
peinigte und ins Exil zwang.
In den westlichen Botschaften amüsierte man sich immer
noch über eine Anekdote, die anläßlich des Besuchs Deng
Xiaopings in USA kolportiert worden war. Als Präsident Carter
seinen Gast aus Peking befragte, wie man es denn dort mit
den Menschenrechten halte und ob man Andersdenkenden die
Genehmigung zur Ausreise erteilen würde, hatte der chinesische Vizepremier mit undurchdringlichem Poker-face geantwortet: »Wir werden in dieser Hinsicht nicht die geringsten
Schwierigkeiten bereiten; wenn Sie sie haben wollen und sie
unterbringen können, schicke ich Ihnen morgen zehn Millionen Chinesen.«
Da die Kampfhandlungen beendet waren und die Behörden
geringe Neigung zeigten, uns an die südliche »Front« reisen
zu lassen, führten sie uns wenigstens die Filme ihrer Kriegsberichterstatter vor. Wir saßen in einem eiskalten Kinosaal.
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Nach kurzem Frühlingserwachen war der Winter wieder über
Peking hereingebrochen. Die Temperaturen lagen unter Null,
und der endlose Chang An-Boulevard war mit matschigem
Schnee bedeckt. Unsere Begleiter, darunter der Dolmetscher
Fang, der sich durch perfektes Deutsch, Hilfsbereitschaft und
Intelligenz auszeichnete, trugen unter den dicken Wattejacken
mindestens drei Pullover. Wir schnatterten vor Kälte, während
die Schlachtenbilder im Projektionsraum abrollten. Das waren
keine Scharmützel oder Geplänkel, das war ein richtiger Krieg
gewesen. Die chinesischen Divisionen waren nicht wie seinerzeit in Korea gegen die Amerikaner als menschliche Brandung nach vorn gestürmt, sondern hatten oft bei Nacht die
Bunker und Stellungen in gezielten Kommando-Unternehmen mit Bazookas und geballten Ladungen geknackt. Immer
wieder war es zu mörderischen Nahkämpfen gekommen.
Nicht alles war nach Wunsch verlaufen, und zwei Divisionskommandeure waren, wie man aus amerikanischen Quellen
erfuhr – wegen Unfähigkeit degradiert worden. Wir sahen
auch jene kitschigen Verbrüderungsszenen mit der örtlichen
Zivilbevölkerung, die unsere Kollegen von Hongkong so erheitert hatten. Am Ende wurde die Heimkehr der siegreichen
Truppen in die Provinz Kwangsi gezeigt. Panzer und Artillerie, Lastwagen mit Soldaten und sogar ein erbeuteter vietnamesischer Tank vom Typ T 34 rollten vorbei. Die Soldaten
der Volksbefreiungsarmee waren mit riesigen roten Papierblumen geschmückt und marschierten in tadelloser Formation.
Sie zogen unter jenem gewaltigen grauen Steinbogen durch,
der zur Zeit der vietnamesisch-chinesischen Harmonie »Tor
der Freundschaft« genannt wurde, von den Franzosen prosaisch als »Porte de Chine« bezeichnet worden war und vor der
Machtergreifung des Maoismus den Namen »Tor der Beherrschung des Südens« getragen hatte. Auf beiden Seiten der
Straße jubelte die Menge, reichte den Heimkehrern Blumen,
Getränke und Süßigkeiten. Die Kinder wickelten ihre roten
Pionierhalstücher um die Panzerkanonen. Gongs, Zimbeln
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und Feuerwerk veranstalteten mörderischen Lärm. Zwischen
bunten Tanzgruppen in den Trachten der Minderheiten
hüpften die überlebensgroßen Masken kahlköpfiger, lachender
Greise mit rosafarbenen Wangen: glückbringende Symbole des
langen Lebens. In China war man noch zu Sedan-Feiern aufgelegt. In den stolzen Gesichtern der Soldaten drückte sich ein
asiatischer Langemarck-Geist aus. Für diese Armee proletarischer Samurai, die mit der konfuzianischen Tradition der Verachtung alles Kriegerischen radikal gebrochen hatte, spielte
es offenbar keine Rolle, wieviel Genossen und Freunde im
Feuer des Feindes liegengeblieben waren. Die vietnamesischen
Grenztruppen und Milizen der Nordfront waren weitgehend
aufgerieben worden, aber auch die chinesischen Opfer waren
unverhältnismäßig schwer. In Peking sprach man unter der
Hand von Verlusten der Volksbefreiungsarmee in Höhe von
12000 Mann. Die Amerikaner kolportierten sogar die Gesamtziffer von 50 000 Toten auf beiden Seiten.
Den Botschafter der Bundesrepublik Erwin Wickert hatte
ich schon vor drei Jahren in Peking getroffen. Aber dieses Mal
hatte ich sein Buch »Der Auftrag des Himmels« über die Taiping-Revolte gelesen, das eine seltene Einfühlungsgabe in die
ostasiatische Mentalität und Geschichte verriet. Der Aufstand
der Taiping unter ihrem wirren Propheten Hong Xiu Quan, der
sich als jüngerer Bruder Jesu bezeichnete, das Aufbäumen des
nationalen China gegen die mandschurischen Fremdherren auf
dem Drachenthron, die Übernahme eines mißverstandenen
Christentums und die skurrile Verzerrung dieser westlichen
Religion, all das erschien mir in mancher Hinsicht als ein
merkwürdiges Prodrom des großen kommunistischen Aufbruchs im 20. Jahrhundert. Taiping – das »himmlische Reich
des ewigen Friedens« – war ebenso wie der Maoismus und alle
früheren Umsturzbewegungen der chinesischen Geschichte im
Bauerntum gezeugt und vom asiatischen Bundschuh getragen
worden. Die Taiping-Revolte des 19. Jahrhunderts trug Züge
einer ideologischen Verwirrung, eines mystischen Wahnsinns,
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wie man sie diesem nüchternen, gewitzten Volk gar nicht zugetraut hätte. Gleichzeitig offenbarten sich in den Anweisungen
des himmlischen Kaisers und Jesu-Bruders Hong Xiu Quan,
in der quasikommunistischen Egalität, die er seinen Jüngern
auferlegte, in der Gleichberechtigung, die er den Frauen zugestand, im Zwang zur körperlichen Arbeit, die Meister Kong so
gering geachtet hatte, in der Prüderie zwischen den Geschlechtern, im Bibel-Fetischismus, der die Vergötzung des berühmten
roten Buches vorwegnahm, all jene Merkmale und Absonderlichkeiten, die hundert Jahre später die Exzesse der großen
Kulturrevolution charakterisieren sollten. Hätte der TaipingAufstand gesiegt, wäre das ganze Reich der Mitte zu einer ziemlich absurden Form des Christentums übergetreten und für den
Maoismus wäre vermutlich kein Nährboden mehr gewesen.
Nüchternen Aussagen britischer Zeitgenossen zufolge hatte
diese Bewegung und ihre Niederschlagung mindestens 30 Millionen das Leben gekostet. Der Blutrausch konnte sich nur mit
dem »Auto-Genozid« messen, das die roten Wiedertäufer von
Kambodscha im Namen ihres pervertierten Marxismus angerichtet hatten.
In der deutschen Botschaft von Peking hatte man mit einigem Kummer die Äußerungen des Bundeskanzlers vernommen, der den Russen im chinesisch-vietnamesischen Konflikt
»weise Zurückhaltung« bescheinigte. In Fernost sah man das
anders. Hier hätte man die Russen allenfalls zu ihrem gesunden Selbsterhaltungstrieb beglückwünscht. Welche strategischen Alternativen hatten der Sowjetunion tatsächlich zur
Verfügung gestanden, um ihre vietnamesischen Verbündeten
wirkungsvoll zu entlasten? Gewiß, es gab Beobachter und
Militärattachés in Peking, die sich über die altmodische Bewaffnung der Chinesen belustigten und das starre Festhalten an
den maoistischen Vorschriften des Volksbefreiungskrieges zu
Recht als obsolet empfanden. Aber die seriösesten Experten,
die amerikanischen und japanischen Sinologen, räumten dem
Kreml für die erfolgreiche Durchführung eines Blitzkrieges
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gegen China keine Chancen mehr ein. Der günstige Zeitpunkt
für einen nuklearen preemptive strike sei verflossen, seit
die Chinesen in den Wüsten und Gebirgen Zentralasiens
über so viele reale oder vorgetäuschte Raketen-Abschuß-Silos
verfügten, daß die Russen sie nicht mehr mit Sicherheit neutralisieren konnten. Das Damoklesschwert des atomaren chinesischen second strike schwebte über Sibirien. Kaum jemand
hatte in Peking ernsthaft damit gerechnet, daß die Männer
des Kreml die Verantwortung und das unkalkulierbare Risiko
eines Nuklearkrieges auf sich laden würden.
Hingegen war häufig über die Eventualität eines russischen
Einfalls in die Mandschurei spekuliert worden. In diesen
Nordostprovinzen war ein wesentlicher Teil der Wirtschaft
und der Erdölproduktion Chinas konzentriert. Nach einer
blitzschnellen Zerstörungsaktion und der damit verbundenen
Schwächung des Gegners würde es im Interesse der sowjetischen Armee liegen, schleunigst auf ihre Ausgangsstellungen
am Amur und Ussuri zurückzufallen. Das Pekinger Oberkommando hatte im Hinblick auf diese plausible Strategie massive
Heeresverbände und weittragende Geschütze in der Nachbarschaft der sowjetischen Fernostprovinz und der See-Festung
Wladiwostok konzentriert. Sie würden an dieser Stelle versuchen, den Russen ein zweites Port Arthur zu bereiten.
Waren nicht auch die hochgerüsteten Amerikaner in Korea von
der chinesischen Dampfwalze überrannt worden? Schließlich
– das war die wahrscheinlichste Annahme – hätte der
russische »Polarbär« gegen die menschenleere und riesige
Wüstenprovinz Sinkiang im äußersten Westen des Reichs
der Mitte losschlagen und dort, gewissermaßen als Faustpfand, einen Gebietsfetzen okkupieren können. Die Operation
erschien um so verlockender, als in Sinkiang überwiegend
allogene Rassen – im wesentlichen die muselmanischen
Turkvölker der Uiguren und Kasaken – siedelten, die unter der
Sinisierungspolitik und dem militanten Atheismus der HanFunktionäre von Urumtschi gelitten hatten.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
411
Sollte sich diese Hypothese bewahrheiten, so hatte das chinesische Oberkommando diskret wissen lassen, werde die
Volksbefreiungsarmee nicht Gewehr bei Fuß stehen bleiben,
sondern längs der 7000 km langen Grenze mit der Sowjetunion, die schlechthin nicht zu verteidigen ist, nach territorialen Kompensationen suchen. Kurzum, dem Kreml war signalisiert worden, daß jede bewaffnete Aktion in den Nordregionen Chinas die Sowjetunion zwangsläufig in einen unabsehbaren konventionellen Abnutzungskrieg verwickeln würde. »Bis
zum Hoang Ho können die Russen vielleicht vorrücken«, deuteten die seltenen chinesischen Kontaktpersonen an, die mit
der Unterrichtung von Ausländern beauftragt wurden. »Für
den äußersten Katastrophenfall bliebe uns noch der Rückzug
auf die Provinz Szetschuan, wo schon Tschiang Kai-schek den
Japanern standgehalten hat.«
Ob der sowjetische Generalstab sich durch solche mehr oder
minder gezielte Indiskretionen beeindrucken ließ, stand auf
einem anderen Blatt. Frühestens am Tage der nächsten chinesischen Strafexpedition gegen Vietnam würde man die Probe
aufs Exempel machen können. Beim Aufzählen dieser sehr
gewagten Kombinationen, die angesichts der undurchdringlichen chinesischen Wirklichkeit wie westliche Stammtisch-Strategie anmuteten, kam mir die Erinnerung an einen Museumsbesuch in Khabarowsk. Von Irkutsk aus war ich im Sommer
1973 drei Tage lang im Transsibirienexpreß nach Osten gerollt.
In der autonomen Region Birobidjan, wo Stalin einst die sowjetischen Juden ansiedeln wollte, waren mir noch hebräische
Inschriften auf den Bahnhöfen aufgefallen. Von der hoch gelegenen Uferpromenade der Stadt Khabarowsk hatte ich einen
langen Blick auf den Zusammenfluß von Amur und Ussuri
geworfen und ganz in der Ferne die platte Weite der Mandschurei geahnt. Im Museum von Khabarowsk hatte ich an
den Vitrinen mit Gebrauchsgegenständen und SchamanenKostümen der sibirischen Urbevölkerung verweilt, nomadisierende Rassen, die den Indianern Kanadas sehr ähnlich waren.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
412
Plötzlich stand ich vor einem riesigen Ölgemälde. Es stammte
aus dem 19. Jahrhundert und zeigte den zaristischen Admiral
Khabarow, der der Stadt den Namen gegeben hatte, einen
bärtigen Hünen mit breiten goldenen Epauletten und zahllosen Orden auf der Brust. Er hatte eine Landkarte Sibiriens
und der Mandschurei vor sich ausgebreitet. An der anderen
Tischseite duckte sich ein häßlicher kleiner Chinese in der kostbaren Tracht der hohen Mandarine des Pekinger Hofes. Der
Russe zog mit imperialer Geste und hochmütiger Miene einen
dicken roten Strich auf der Landkarte: die neue Grenze zwischen Rußland und dem Reich der Mitte. In diesem Museum
von Khabarowsk war ein Denkmal russischer Anmaßung und
chinesischer Demütigung ausgestellt. Es war wohl auch zur
Zeit der Freundschaft zwischen Stalin und Mao nicht von der
Wand abgenommen worden.
Zu Gast bei Sihanuk
Peking, im März 1979
Prinz Norodom Sihanuk empfing uns mit kahlgeschorenem
Schädel. Er habe sich buddhistischen Exerzitien gewidmet,
hieß es in Peking. Wollte er sich durch geistliche Meditationen
auf eine neue politische Rolle vorbereiten, oder handelte es
sich, wie ich vermutete, eher um eine Geste des Protestes?
Monseigneur residierte wieder in der ehemaligen französischen
Gesandtschaftsresidenz mitten im alten Ausländerviertel. Der
streng bewachte Eingang öffnete sich auf die Fom Di Lu,
die »Straße des Kampfes gegen den Imperialismus«. Dem
früheren Staatschef von Kambodscha waren die Belastungen
des dreijährigen Hausarrestes unter den »Roten Khmer« in
Phnom Penh nicht anzumerken. Er war kaum gealtert und in
keiner Weise gebrochen. Er schäumte wie eh und je vor Lebhaftigkeit und Temperament. Neben ihm stand seine Frau, Prinzessin Monique, um die wenigen Dinner-Gäste – eine Hand-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
413
voll Journalisten aus Frankreich, Amerika, Großbritannien –
zu begrüßen. Monique war immer noch eine schöne Frau.
Einst hatte die Halbitalienerin in Phnom Penh einen zweifelhaften Ruf genossen. Aber nun wirkte sie damenhaft, durch
die Prüfungen geläutert. Mit Sihanuk bildete sie offenbar
ein glückliches Paar, das vom Schicksal zusammengeschweißt
war.
Zu einem Interview war Sihanuk nicht zu bewegen, aber
bei Tisch sprudelten die politischen Aussagen aus ihm
heraus. Er war der alte Farceur geblieben; er spielte den
Spaßvogel und versteckte die tiefe Traurigkeit, die aus seinem
starren Blick sprach, hinter der Maske des Komödianten, des
unverwüstlichen Clown. »Es ist ein französisches Menü, das
ich Ihnen heute serviere, Messieurs«, begann er. »Ich habe
dem Koch höchst persönlich die Anweisungen gegeben. Ich
trenne mich nie von meinen Kochbüchern. Sogar in der Gefangenschaft in Phnom Penh habe ich sie bei mir gehabt, und
wie Sie sehen, sind die besten Gerichte eigenhändig von mir
annotiert.« Seine persönliche Sekretärin, die in den kambodschanischen Sampot gekleidet war, brachte ihm ein vergilbtes und zerfleddertes Kochbuch, das Sihanuk triumphierend
hochhielt. Jedesmal, wenn die Sekretärin sich ihrem früheren
Herrscher, dem Erben der Könige von Angkor, nahte, ging sie
demütig in die Knie.
»Sie wollen sicher wissen, was ich von der chinesischen
Politik halte«, fuhr Sihanuk unvermittelt fort. Seine Rede
wurde häufig ohne jeden Anlaß durch helles Kichern unterbrochen. »Nun, die Chinesen sind meine besten Freunde, und
Tschou En-lai war mein großer Gönner. Aber ganz einig kann
ich mit Peking natürlich nicht sein. Die Volksrepublik China
unterstützt weiterhin die ›Khmers Rouges‹ und das von den
Vietnamesen gestürzte Pol Pot-Regime. Ich hingegen habe alle
Gründe, diese Mörderbande zu hassen. Sie haben mein Volk
in unvorstellbarer Weise gequält und massakriert. Meine engsten Familienangehörigen wurden umgebracht. Zwei Söhne,
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
414
zwei Töchter und zehn meiner Enkel sind im Blutrausch der
›Khmers Rouges‹ verschwunden. Die Chinesen hingegen sind
für die Weiterführung des bewaffneten Widerstandes gegen
die vietnamesischen Besatzer auf die Partisanen Pol Pots –
es mögen noch 35 000 Mann sein – angewiesen. Ich weiß,
daß die jetzige Führung in Peking für diese blutdürstigen
Steinzeitrevolutionäre nicht viel übrig hat. Aber sie sind
nützlich, sie sind unentbehrlich. Sie werden unentwegt weiter
kämpfen. Deng Xiaoping hat mir persönlich versichert, daß
die Versorgung dieser Desperados mit Waffen und Munition
über Thailand läuft und gut funktioniert. Ich habe sogar ein
gewisses Verständnis für die chinesische Kambodscha-Strategie. Sie spielen auf zwei Ebenen, sie haben zwei Trumpfkarten in der Hand, sie treiben politische Bigamie, sie halten sich
gewissermaßen zwei Frauen: Sihanuk und Pol Pot. Wie gesagt,
ich mache keinen Vorwurf. Ich habe als Buddhist selber Vielweiberei praktiziert und alle meine Frauen geliebt. Bis ich
Monique traf und von ihr verzaubert wurde ... jusqu’à ce que
j’ai éte envoûte par Monique.« – Er tauschte mit der Prinzessin ein zärtliches Lächeln aus. »Ich habe in Phnom Penh sogar
einen Schlager für Monique komponiert.«
Dann versank er sprunghaft in Bitterkeit, und das breite
Gesicht, das in ein antikes königliches Tempelrelief gepaßt
hätte, verzerrte sich zur schmerzlichen Maske. »Als ich in New
York vor den Vereinten Nationen mein Land verteidigte, hat
Fidel Castro mich einen Operetten-Prinzen geschimpft. Wenn
das stimmt, dann ist er ein Operetten-Bart, und wir sind quitt.«
Er berichtete von den drei Jahren unter dem Regime der
»Roten Khmer«. Er sei dank der chinesischen Protektion relativ privilegiert behandelt worden. Er habe in einem Flügel
seines alten Palastes gelebt und ausreichend zu essen gehabt.
Physisch habe er kaum gelitten. Monique neigte sich zu mir.
»Psychologisch war unsere Lage unerträglich«, sagte sie leise.
Von den führenden Männern der Geheimorganisation Anker
entwarf Sihanuk kurze Porträts. Der letzte Staatschef des
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
415
»Kampuchea Démocratique«, wie die »Roten Khmer« ihr
System nannten, war der frühere Sihanuk-Minister Kieu Samphan gewesen. »Kieu Samphan ist immerhin ein Intellektueller«, räumte Monseigneur ein. »Er hat an der Sorbonne promoviert. Er zeigte sich meiner Frau und mir gegenüber am
menschlichsten. Er stellte mir sogar einen Grundig-Transistor
zur Verfügung, damit ich das internationale Geschehen verfolgen konnte.« Auf einen Wink brachte die Sekretärin das Gerät.
»Aber Kieu Samphan hatte ab 1975 nichts mehr zu sagen. Er
war eine Fassade, fast eine Puppe. Der starke Mann war Pol
Pot, ein früherer buddhistischer Mönch, der in Wirklichkeit
Saloth Sar heißt: ein revolutionärer Amokläufer, aber ein mutiger Mann, der heute an der Spitze seiner Partisanen steht.
Der weitaus schlimmste war Ieng Sary, der immer noch als
Außenminister des ›Kampuchea Démocratique‹ auftritt. Ieng
Sary, das weiß ich genau, auch wenn die Chinesen es abstreiten, lebt in Peking. Er wird sich hüten, in den Dschungel zu
gehen und zu kämpfen. Dazu ist er zu feige, zu niederträchtig.
Während meines ersten Peking-Aufenthaltes zwischen 1970
und 1975 war er mein ständiger Aufpasser, der Spitzel im Auftrag der Viererbande. Sie werden verstehen, daß ich heute
jeden Kontakt mit den »Khmers Rouges« meide.« Seine Augen
hatten sich mit blankem Haß gefüllt.
Zu einem halben Glas Champagner brachte Monseigneur
seinen Toast aus: »Ich lade Sie alle nach Phnom Penh in ein
glückliches neues Kambodscha ein!« Aber dann unterbrach
er sich. »Ich weiß natürlich, daß ich mein Versprechen nicht
halten kann.« Wieder grub sich der bittere, traurige Zug in
den Mundwinkel ein. Dann lachte er schon wieder. »Kommen
Sie zum Kaffee in den Salon, dort werde ich Ihnen Miko vorstellen.« Miko war ein kleiner weißer Pudel, der auf Monique
zuschoß und von Sihanuk gehätschelt wurde. Der Prinz nahm
zwei Flaschen in die Hand, einen Taittinger-Champagner und
einen Rheinwein. »Sie sehen, mir fehlt es an nichts«, krähte
er mit seiner Falsett-Stimme und kicherte schon wieder. Nach
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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dieser kurzen Zirkusnummer wurde er wieder ernst. »Ich
schreibe an meinen Memoiren. Vor allem der Rolle Kissingers
und Nixons bei der Zerstörung Kambodschas möchte ich ein
gründliches Kapitel widmen.« Wir fragten ihn nach der Zukunft
seines Landes, und da wurde er sehr nachdenklich. Die chinesische Grenzaktion gegen Vietnam habe an den Verhältnissen
in Kambodscha nichts geändert. Die Vietnamesen würden
sich lange in Phnom Penh behaupten können, auch wenn der
Widerstand der Pol Pot-Anhänger nicht zusammenbräche und
die neuen Rekruten aus Südvietnam nichts taugten. Nur eine
internationale Konferenz böte eine Chance des Wandels zum
Besseren. Er würde am liebsten Genf als Tagungsort vorschlagen, und dann sollten alle beteiligt sein, die Amerikaner, die
Europäer, die ASEAN-Staaten, die Chinesen natürlich, aber
auch die Vietnamesen und die Russen. Der von Hanoi eingesetzte Regierungschef Heng Siamrin sei für ihn ein Niemand
und wäre niemals in der Lage, das Volk hinter sich zu einigen.
Er, Sihanuk, sei für freie Wahlen, und dann würde er sich als
Kandidat für das höchste Amt des Mittlers und Versöhners zur
Verfügung stellen. Bis es soweit sei, müsse jedoch die internationale Staatengemeinschaft die Kambodscha-Frage energisch in die Hand nehmen. Die Vereinten Nationen dürften
sich nicht mit Resolutionen begnügen, sie müßten mit bewaffneten »Blauhelmen« intervenieren. »Jawohl«, rief er plötzlich
wieder scherzend aus, »ich plädiere für die militärische Besetzung meines Vaterlandes durch fremde UNO-Kontingente; in
jede Provinz eine andere Nationalität, nach Svay Rieng zum
Beispiel, in die Nachbarschaft Vietnams, die sozialistischen
Algerier, nach Battambang, an die Grenze des Königreichs
Thailand, die royalistischen Marokkaner. Vor allem muß darauf
geachtet werden, daß keiner – auch nicht die Vietnamesen –
das Gesicht verliert.« Unter der Narrenkappe war der Staatsmann zum Vorschein gekommen.
Norodom Sihanuk war es offenbar leid, im goldenen Käfig
von Peking zu sitzen, während die antikommunistische Emi-
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gration Kambodschas vergeblich auf eine Galionsfigur wartete. Er besaß ein Haus in Mougins, an der Côte d’Azur,
aber sonst schien er in finanzieller Bedrängnis zu leben. Der
Prinz, der einst ein Königreich als persönliches Eigentum verwaltet hatte, war zu sehr von seiner Mission besessen gewesen, als daß er wie so viele schillernde Parvenus der Politik ein
unerschöpfliches Konto in der Schweiz oder riesige Immobilien im Ausland erworben hätte. Norodom Sihanuk war kein
Pahlevi. Mit echter Verzweiflung sprach er vom Schicksal der
kambodschanischen Flüchtlinge, von denen in der westlichen
Presse viel weniger die Rede sei, als von den boat-people aus
Vietnam. »Mein Volk ist von Ausrottung bedroht«, schluchzte
er, »Hunderttausende irren im Urwald und nähren sich von
Blättern, Rinde und Würmern. Hanoi entsendet bereits seine
Wehrbauern in unsere entvölkerten Provinzen.«
Zum Abschluß gingen wir durch den Park zum Nebengebäude. Die chinesischen Betreuer hatten dem Prinzen eine
geheizte, hochmoderne Schwimmhalle eingerichtet. Daneben
war sogar ein überdachtes kleines Sportzentrum installiert,
das auch als Vorführungssaal für Filme diente. »Sie sehen, mir
fehlt es wirklich an nichts«, scherzte er. »Dennoch wäre ich
lieber bei meinen Freunden in Frankreich.« Warum er nicht
sofort nach Europa abreiste, war jedoch nicht eindeutig zu
erfahren. Wir saßen in den tiefen Kinosesseln. »Sie sehen
einen Film, den ich selbst produziert habe, und ich werde ihn
selbst kommentieren«, sagte Monseigneur, während die ersten
Bilder abliefen, die Bilder eines friedlichen, satten, glücklichen
Landes der Khmer unter der weisen und strengen Führung
seines aufgeklärten Herrschers Prinz Norodom Sihanuk. Nicht
nur den Prinzen und seine Frau, alle Anwesenden überkam die
Melancholie. Das Vorkriegs-Phnom Penh wurde auf der Leinwand wieder lebendig mit seinem geschäftigen Markt, seiner
modernen Universität, dem strotzenden Leben, der Heiterkeit
seiner Bewohner und der Schönheit seiner Tempeltänzerinnen.
Dazu erklang ein süßliches Lied: »Das ist die Huldigung, die ich
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418
für Monique komponiert habe«, flüsterte Sihanuk. Er winkte
uns lange mit seiner rundlichen Patschhand nach, und Monique stand fröstelnd an seiner Seite. Der Nachthimmel war aufgerissen und gab glasklare Sternbilder frei. Es war zehn Uhr
abends. Die »Straße des Kampfes gegen den Imperialismus«
lag menschenleer in der klirrenden Kälte. Ohne viel Worte
waren sich alle Gäste des Abends einig, daß Prinz Norodom
Sihanuk die einzige und letzte Chance für das Überleben der
kambodschanischen Nation verkörperte.
Wandzeitungen und Haute Couture
Peking, im März 1979
Ein Verkehrsknäuel bildete sich an der Kreuzung Xi Dan, nur
ein paar hundert Meter von der Verbotenen Stadt entfernt.
Der Anblick war für Peking ungewöhnlich und ungehörig.
Tausende von Radfahrern waren abgestiegen und versperrten
die gewaltige Breite des Chang An-Boulevards. Dazwischen
waren Lastwagen eingekeilt, aber die Chauffeure versuchten
gar nicht, voranzukommen. Sie hatten den starren Blick auf
eine verblüffende Szene gerichtet. Die blau uniformierten Polizisten, die ohnehin über begrenzte Autorität verfügen, mühten
sich vergeblich, mit ihren Trillerpfeifen und Lautsprecheransagen den Verkehr wieder in Gang zu bringen. Niemand
kümmerte sich um sie. Die Fußgänger hatten sich zu einem
gewaltigen Klumpen geballt, der die Chaussee zusätzlich blokkierte. Die Menschen standen eng gedrängt in ihren Wattejacken und Filzstiefeln. Sie hatten die Kappen tief über die
Ohren gezogen, denn aus dem Norden fegte ein eisiger Steppenwind. Das extravagante Schauspiel vollzog sich vor der
»Mauer der Demokratie«, wo seit Monaten bereits eine kilometerlange Folge von Wandzeitungen, Dazibao genannt, allen
möglichen Beschwerden, Verbesserungsvorschlägen und ideologischen Diskussionsthemen Ausdruck verlieh. An der Xi
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Dan-Ecke ragte noch aus der Zeit der Viererbande ein
überdimensionales Plakat mit weißen Schriftzeichen auf rotem
Grund. »In der Industrie lernen wir von Taching, in der Landwirtschaft lernen wir von Datchai; das Volk und das ganze
Land lernen von der Volksbefreiungsarmee, und die Volksbefreiungsarmee lernt vom Volk des ganzen Landes«, so lautete
das triviale Zitat des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Über die
untersten Lettern hatte ein Dissident einen Satz geklebt, der
mit einem großen Fragezeichen endete. »Ist Liu Shao-shi ein
Mensch oder ein Teufel?« lautete die Übersetzung. Liu Shaoshi war der große Rivale Mao Tse-tungs vor der Kulturrevolution gewesen und wurde seitdem als chinesischer Chruschtschow geschmäht. In dem Pamphlet unter der anklägerischen
Frage stand zu lesen: »Liu Shao-shi ist kein Teufel, und Mao
Tse-tung ist kein Gott.«
Aber nicht wegen dieser politischen Betrachtungen, die
vor einem Jahr noch blasphemisch geklungen hätten, stockten die Menschen von Peking, rissen Mund und Nasen auf,
schubsten sich neugierig wie vor einer Gauklerbühne. Die Darbietung war auch für ein westliches Auge ungewöhnlich und
überwältigend, denn vor dem Mao-Plakat und der gebündelten
Armut dieser asiatischen Menge tänzelten die Mannequins
eines großen Pariser Modehauses auf und ab, präsentierten
ihre buntesten und extravagantesten Luxuskleider. Wir waren
den Vorführmädchen Pierre Cardins schon auf der Großen
Mauer begegnet, wo diese langgliedrigen, schönen Wesen sich
beinahe nackt dem eisigen Zugwind aus der Mongolei und den
erschrockenen Blicken einer Besuchergruppe der Volksbefreiungsarmee ausgesetzt hatten. Sie waren auf ihre Art Heldinnen der Arbeit, diese burschikosen und recht frivolen Models
aus Paris, die wir mit einem Schluck Mao Tai aufzuwärmen
suchten. Was sich jetzt im Zentrum von Peking längs der Mauer
der Demokratie, in Sichtweite des Platzes des Himmlischen
Friedens vollzog, das spottete jeder Beschreibung und grenzte
an Provokation. Für die Masse der Chinesen waren es Mars-
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420
menschen, die am Xi Dan auf und ab wippten und ihre Pirouetten drehten. Sie trugen geschlitzte Röcke, die die Beine
bis zur Hüfte freigaben, Dekolletés, die den ganzen Rücken
entblößten. Die grellen Farben dieser Collection aus Seide
und Phantasie kontrastierten beinahe anstößig mit dem verwaschenen Grau, Blau und Grün der betrachtenden, erstarrten Masse. Hinter dieser Exhibition westlicher Eleganz, westlicher Anmaßung und westlicher Dekadenz, hinter diesen
überzüchteten Rassepferden einer hemmungslosen fremden
Konsumgesellschaft besagten die Zeichen an der roten Wand,
daß Liu Shao-shi kein Teufel und Mao Tse-tung kein Gott
sei. Eine surrealistische Szene, ein Frevel, der auch uns
westliche Zuschauer nach einer Minute spontaner Erheiterung nachdenklich und fast beklommen stimmte: asiatische
Götterdämmerung im Zeichen der Pariser Haute Couture.
Unser Kamerateam und ein Photograph von »Paris-Match«
wurden nicht müde zu filmen und zu knipsen. Plötzlich wurde
ich von einem älteren Mann auf englisch angesprochen. Er war
abgerissen, fast wie ein Bettler gekleidet. Das bleiche Gesicht
war von Entbehrungen gezeichnet, aber sein Englisch war
fließend. Es mußte sich um einen Intellektuellen handeln, der
einen längeren Aufenthalt in einem Arbeitslager hinter sich
hatte. Der Unbekannte scherte sich nicht um das aufregende
Treiben der Modenschau. Er wies auf die Dazibao an der Mauer
der Demokratie. »Das ist ein Fortschritt,« sagte er. »Zwar ist die
Kritik kontrolliert und kanalisiert. Aber eine gewisse Auflockerung ist in Gang gekommen. Nur dürft ihr im Westen niemals
glauben, daß China westliche Begriffe von Freiheit und Parlamentarismus verwirklichen kann. Sie sollten einmal in gewisse
Landbezirke gehen, die kein Fremder zu sehen bekommt, und
feststellen, wieviel Armut dort noch herrscht. Sie haben von
den vier Modernisierungen gehört, die dem Volk verschrieben
wurden: Modernisierung der Landwirtschaft, der Industrie,
der Forschung, der Landesverteidigung. Aber die wichtigste,
die fünfte Modernisierung haben die Männer an der Spitze ver-
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421
gessen: die Modernisierung des Geistes. In Wirklichkeit leben
wir doch in einer marxistischen Feudalgesellschaft, und die
Provinzen werden von neuen Kriegsherren und roten Mandarinen beherrscht. In zwanzig Jahren, so erzählt man uns,
könnten wir es schaffen und entscheidende Fortschritte erzielen. Glauben Sie daran? Und wie halten Sie es mit Marx und
dem Sozialismus?«
Da stand ich vor der modernen Gretchen-Frage à la chinoise. Ich wich aus und stellte eine Gegenfrage. Ob es stimme,
daß vor ein paar Tagen zwei Wandzeitungen an der Mauer der
Demokratie die chinesische Intervention gegen Vietnam verurteilt und die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen
gefordert hätten. Diese Dazibao waren, wie ich gehört hatte,
unmittelbar nach ihrem Ankleben entfernt worden. »Das weiß
ich nicht,« antwortete der Unbekannte, »doch eines kann ich
Ihnen versichern. Mit der Strafexpedition gegen die Provokateure von Hanoi waren wir alle einverstanden. Wenn wir
auch manches im heutigen China kritisieren, wir sind echte
Patrioten.« Der Mann hatte seine Bekenntnisse mit ruhiger,
etwas müder Stimme von sich gegeben. Nur selten mußte er
nach einer englischen Vokabel suchen. Während des Gesprächs
waren wir von Zuhörern dicht umdrängt. Bestimmt waren
auch Beamte des Sicherheitsdienstes darunter. Das hatte den
Unbekannten in keiner Weise gehemmt. Er reichte mir die
Hand, drehte sich um und war von der Menge verschluckt.
Der Indochina-Krieg dreht sich im Kreise
Kunming, im März 1979
Es war ein erhebendes Gefühl, durch die Straßen von Kunming zu schlendern. Das lag nicht nur am milden Wetter in
diesem Land der vier Frühlinge, wie die Chinesen ihre äußerste
Südprovinz Jünan nennen, oder an der frischen Luft, die in
1700 m Höhe wie Champagner wirkte. Diese Hochstimmung
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
422
lebte aus der Erinnerung. Ich mußte an das Frühjahr 1951
denken, als ich mit zwei französischen Offizieren und einer
Handvoll Thai-Partisanen von Lai Tschau im westlichen Hochland von Tonking aufgebrochen war, um an den extremen
Ausläufern des Reiches der Mitte den letzten versprengten
Haufen der Kuomintang-Armee Tschiang Kai-scheks zu begegnen. Damals erstreckte sich zwischen dem indochinesischen
Grenzflüßchen Nam Kum und der Elbe ein erdrückendes,
ideologisch geeintes Imperium. Stalin und Mao präsentierten
sich noch als Janus-Kopf der Weltrevolution. Die Amerikaner
waren in Korea gerade durch das Millionenheer der Volksrepublik China vom Jalu auf den 38. Breitengrad zurückgeworfen
worden. In jenen Tagen hätte ich mir nicht träumen lassen,
daß ich einmal als offizieller Gast der kommunistischen Regierung Chinas in die Hauptstadt dieser abweisenden und abgekapselten Provinz Jünan eingeladen würde und daß der Anlaß
dieser Reise ein kommunistischer Bruderzwist wäre, in dem
sich die Erben Mao Tse-tungs auf der einen, die Erben Ho
Tschi Minhs und Stalins auf der anderen Seite als Todfeinde
gegenüberstanden. Immerhin waren seitdem fast dreißig Jahre
vergangen.
Vom nahen Grenzkrieg war in Kunming, abgesehen von ein
paar Militärlastwagen, keine Spur zu merken. Auf dem riesigen Paradeplatz im Stil des Tien An Men, dessen Tribüne
von gewaltigen Porträts Mao Tse-tungs und Hua Guofengs
beherrscht war, bewegten sich nur ein paar alte Männer im
Zeitlupentempo und übten sich in einer Art Schattenboxen, in
der chinesischen Gymnastik des Tai Chi. In den Zunftstraßen
mit den braunen Ziegeldächern wimmelte es von Leben.
Immer häufiger sah man buntgekleidete Frauen. Die Gesichter der Mädchen lächelten lieblicher als im Norden. Die Grazie
der Indochinesinnen war nicht fern. Das Gewühl der Menge
strahlte eine stille Heiterkeit, südländische Lebensfreude aus.
Die Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern schien
hier besser zu funktionieren als in der ausgepowerten Millio-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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nenstadt Kanton, die wir vor zwei Wochen fröstelnd durchquert hatten. Vor allem aber lebte es sich in Kunming unendlich besser als im spartanischen Hanoi. Unser Hotel war bis
auf das letzte Bett mit amerikanischen und japanischen Touristen gefüllt. Selbst auf dem Höhepunkt des Grenzkonfliktes
war dieser Ausländerstrom nie abgebrochen.
In den Mittagsstunden besuchten wir den Westberg. Zu dem
felsigen Gipfel führten steile Treppen und enge Tunnelpassagen. An jeder Wendung waren taoistische Kultstätten eingelassen, vor denen gelegentlich Räucherstäbchen brannten.
Die Göttin der Barmherzigkeit, Kwan Yin, die hier mit rotem
Antlitz dargestellt war, schaute wohlwollend auf eine endlose
Kolonne chinesischer Ausflügler, darunter viele Angehörige der
Yi-Minderheit. Es ging fröhlich zu wie bei einem Familienfest.
Von der Höhe des Yu Feng Shan schweifte der Blick über die
sanfte Spiegelung des Tienchih-Sees. Seine Harmonie wurde
durch das Entwässerungssystem und die braune Erdfläche
eines ausgedehnten Polder gestört, den die Bilderstürmer
der Kulturrevolution seinerzeit drainiert hatten. Die »Roten
Garden« hatten der Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion den Vorrang vor dem Ästhetizismus unverbesserlicher
Mandarine eingeräumt. Tschou En-lai, so wurde uns berichtet, habe sich – an die Balustrade des Fuyen-Tempels gelehnt –
über diesen Akt der Barbarei entrüstet.
Am längsten verweilten und filmten wir im Bambustempel
Qiong Zhu Si. In einem höhlenähnlichen Gebäude waren alle
Varianten der Luohan, die Figuren von fünfhundert Erleuchteten der buddhistischen und taoistischen Mythologie, zu einem
verwirrenden und grotesken Hexensabbat in Gold vereint.
Buddhas und Bodhisattvas, Fo und Pu Su, Fabeltiere und tantristische Dämonen, Tempelwächter, Nymphen, Heilige, Philosophen und Ungeheuer, die grinsenden feisten »She« des
Reichtums und des langen Lebens bildeten einen krausen
Reigen und leuchteten aus dem Halbdunkel. Über dem Eingang der Pagode war ein rotes Transparent gespannt: »Wir
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begrüßen den großen Sieg bei unserer Aktion der Selbstverteidigung«, übersetzte Dolmetscher Fang.
Im 14. Jahrhundert hatte ein Mongolenprinz neben diesem
Tempel seine Sommerresidenz errichtet, wie überhaupt die
machtvolle Präsenz der Yüan-Dynastie der weiteren Umgebung von Kunming ihren Stempel aufgedrückt hatte. Die Sinisierung der fernen Außenprovinz Jünan war bereits durch den
großen Mongolenkaiser Kublai Khan eingeleitet worden. Er
setzte im 13. Jahrhundert der Selbständigkeit der örtlichen
Adelsfamilie vom Stamme der Bai mit eiserner Faust ein Ende.
Der gleiche Kublai Khan, der die Völkerwanderung der ThaiStämme aus Jünan nach Hinterindien ausgelöst hatte, sollte
kurz darauf bei seinem Versuch, die Vorfahren der heutigen
Vietnamesen zu unterwerfen, in der Schlacht am Bach DangFluß blutig scheitern.
Noch heute beherbergen die Gebirge von Jünan 22 rassische
Minderheiten, die etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung,
also zehn Millionen Menschen ausmachen. Unter den westlichen Journalisten, die vom Außenministerium nach Kunming
eingeladen worden waren, entspann sich eine lebhafte Diskussion über den territorialen Expansionismus des chinesischen Staatsvolkes der Han. Die Chinesen seien von Natur
aus keine Eroberer, besagt eine weitverbreitete Theorie. Die
großen Feldzüge und Reichsvermehrungen hätten stets unter
fremden Dynastien, im wesentlichen unter den Mongolen oder
auch unter den frühen Mandschu stattgefunden. Dem stand
entgegen, daß die endgültige Einbeziehung Jünans in den Kulturkreis der Han unter der rein chinesischen Ming-Dynastie
vollzogen wurde. Seit mehr als zwei Jahrtausenden waren die
Söhne des Himmels aus ihrer ursprünglichen Heimat zwischen
Hoang Ho und Jang Tse kiang ausgeschwärmt, hatten ihre
Pioniersiedlungen in alle Himmelsrichtungen verstreut und
die Fremdrassen unterwandert oder assimiliert. Wo es nötig
erschien, waren die Kaiser der Han-, der Tang- und der MingDynastie in keiner Weise vor Eroberungskriegen gegen die
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Barbaren zurückgeschreckt. Die planmäßige Gleichschaltung
der autonomen Randgebiete Mongolei, Tibet und Sinkiang, die
von der Volksrepublik in unseren Tagen betrieben wird, ist
eine zeitgenössische Illustration dieses permanenten Ausdehnungsdranges, der die Nachbarn des Reiches der Mitte mit
Existenzängsten erfüllt. Die radikale Militanz, die der Maoismus den Massen Chinas in allen Lebensbereichen einzuimpfen suchte, hatte bereits breite Breschen in das konfuzianische
Erbe und dessen dünkelhafte Ablehnung alles Kriegerischen
geschlagen. Wer konnte garantieren, daß die Nachfolger des
großen Steuermannes – von der Demütigung ausländischer
Überlegenheit endgültig befreit – keinen Geschmack an einer
imperialen Rolle fänden?
Die Provinzbehörden von Jünan hatten die Journalistengruppe zu einer Informationsrunde im Hotel eingeladen. Es
waren Engländer, Italiener, Franzosen, Deutsche und ein starkes japanisches Aufgebot anwesend, eine eigenartige Koalition.
Die amerikanischen Kollegen waren noch nicht zugelassen,
solange ihre Botschaft in Peking nicht offiziell eröffnet war. Die
Korrespondenten des Ostblocks waren natürlich ausgeschlossen. Der Propagandabeauftragte hieß Pan Chuan He. Dieser
nachdenkliche alte Herr teilte uns mit, daß wir am nächsten
Tag nach Süden aufbrechen würden, um in Pan Qi ein Lager
mit vietnamesischen Kriegsgefangenen zu besichtigen. Pan Qi
sei etwa 250 km entfernt und befinde sich auf halber Strecke
zwischen Kunming und dem vietnamesischen Grenzübergang
von Lao Kay. Pan Chuan He war von einem ganzen Stab Mitarbeiter umgeben und antwortete auf unsere Fragen. Nein,
die Situation an der Grenze mit Vietnam sei noch nicht befriedet. Es komme weiterhin zu Zwischenfällen, Geplänkeln und
sogar zu Schießereien. Trotz der eindeutigen Grenzziehung,
die Ende des 19. Jahrhunderts zwischen der französischen
Kolonialmacht und der damals herrschenden Tsching-Dynastie vereinbart und durch die sogenannte Li-Fourlier-Kommission definiert worden sei, gäbe es noch Streitigkeiten um
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diverse Gebietszipfel, die insgesamt etwa 60 Quadratkilometer
ausmachten. In welcher Entfernung die Grenzmarkierungen
gesetzt seien, fragte ich in Erinnerung an frühere Erfahrungen an Ort und Stelle. »Die Grenzsteine sind in einem Abstand
von 50 bis 60 km gesetzt«, antwortete der Propagandabeauftragte. Unter diesen Umständen wäre der Disput über 60 Quadratkilometer in Dschungel und Gebirge eine Lappalie gewesen, wenn auf beiden Seiten auch nur der geringste Wille zum
Kompromiß bestanden hätte. Pan Chuan He teilte mit, daß
zwei Delegationen des Zentralkomitees in Jünan eingetroffen
seien, um die Truppe zu beglückwünschen. Dieser Besuch
stände unter dem Motto: »Wir wollen immer bereit sein, weitere Siege zu erringen.« Im Falle neuer Provokationen würde
die Volksbefreiungsarmee nicht zögern, zu einem neuen Schlag
auszuholen. Auf die Situation in Laos angesprochen, gab er
keine befriedigende Antwort über die wirren Zustände in den
nördlichsten Gebieten von Phong Saly, Hua Pa und Nam Tha.
Die japanischen Korrespondenten hatten jedoch erfahren, daß
die Vietnamesen dabei waren, ihre Garnison in Laos auf 50 000
Mann zu erhöhen. Etwa 2000 russische Militär-Experten seien
im Land der Million Elefanten inzwischen eingetroffen. Die
frühere CIA-Festung Long Chen, wo der Meo-General Vang
Pao den Divisionen Hanois bis zuletzt widerstanden hatte, war
jetzt zu einer Intelligence-Basis der Sowjets geworden, und
eine nordvietnamesische Staffel vom Typ MiG 21 sei dort stationiert. Vor allem richtete sich das Augenmerk auf das Hochland der Schwarzen Thai auf halbem Wege zwischen Hanoi
und der laotischen Mekong-Ebene. Dort wurde eine strategisch günstige Mulde zur militärischen Drehscheibe und zentralen Interventionsbasis für die Eliteverbände Hanois ausgebaut. Der Platz trug einen ominösen Namen: Dien Bien Phu.
Der Indochina-Krieg drehte sich im Kreise, stand offenbar im
Zeichen ewiger Wiederkehr.
Von dem offiziellen chinesischen Sprecher war natürlich
keine inside-Information über die jüngsten Machtkämpfe inner-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
427
halb des Polit-Büros von Hanoi zu erhalten, über die wiederum die Japaner am besten unterrichtet schienen. Demnach war der ausgleichende Einfluß Pham Van Dongs durch
das militante prosowjetische Gespann Le Duan – Vo Nguyen
Giap zurückgedrängt worden, ja man sprach bereits von einer
partiellen Entmachtung des Ministerpräsidenten. Der aktivste
Exponent der prochinesischen Linie, das Polit-Büro-Mitglied
Hoang Van Hoan, der früher einmal als rechte Hand Ho Tschi
Minhs gegolten hatte, stand unter mißtrauischer Beobachtung. Zu meinem Kummer erfuhr ich, daß unser alter Freund
General Chu Van Tan, der »graue Tiger« von Viet Bac, verhaftet worden sei. Chu Van Tan sei zwar ein braver Kommunist, hätten sogar die Apparatschiks von Hanoi zugeben
müssen, aber als Angehöriger einer rassischen Minderheit, die
auf beiden Seiten der Grenze lebe, verfüge er über zu viele
Verbindungen nach China. Wir lauschten diesen sensationellen Enthüllungen der Kyodo-Leute mit einiger Skepsis. Später
sollten sie sich voll bestätigen.
Eine kleine Gruppe von Soldaten wurde in den Konferenzsaal eingelassen. Die Gesichter waren starr und ausdruckslos
unter der grünen Ballonmütze mit dem roten Stern. Sie stellten sich als »Helden« der Volksbefreiungsarmee vor, die sich
in der Schlacht bewährt hatten. Die Helden hatten ihre Lektion fleißig gelernt. »Die revisionistische Le Duan-Clique von
Hanoi hat behauptet«, so begann der erste, »daß ein vietnamesischer Soldat dreißig Chinesen wert sei. Wir haben den Provokateuren gezeigt, daß sie Papiertiger sind.« Nahkampfszenen wurden beschrieben. Ein Unteroffizier hatte mit der
bloßen Hand ein feuerndes Maschinengewehr aus einer feindlichen Höhle gerissen. Seine Finger waren dabei verbrannt.
Die entscheidenden Stoßtrupp-Unternehmen waren bei Nacht
geführt worden. Wie sie sich verhalten würden, falls sie in
Gefangenschaft gerieten, fragten wir. Die Antwort war prompt.
»Ich würde mit allen Mitteln versuchen auszubrechen«, trug
ein Held vor. »Wenn das unmöglich wäre, würde ich den Frei-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
428
tod suchen, aber vorher mindestens einen revisionistischen
Feind umbringen.«
In der Journalistengruppe war ich der älteste mit Ausnahme
eines Japaners von Kyodo, der wohl einmal ganz andere Zeiten
auf dem asiatischen Festland erlebt hatte. Ich konnte ihn
mir trotz der grauen Haare sehr gut in den gelben Stiefeln
und unter der hohen Schirmmütze der Soldaten des Tenno
vorstellen. Der Japaner lächelte mir häufig zu wie ein alter
Kumpan. Auch er schüttelte sicher insgeheim den Kopf über
die Umwälzungen, die sich seit dreißig Jahren vollzogen, über
die Fronten, die sich verkehrt hatten. Wir prosteten uns mit
den kleinen Weingläsern zu und kippten die süße Flüssigkeit
mit einem Zug.
Die Abendluft in Kunming war weich wie Seide. Wir promenierten über die breiten, baumbestandenen Alleen in Richtung auf das Zentrum. Sämtliche Einwohner schienen auf den
Beinen zu sein, um die sanfte Stimmung zu genießen. Auch die
Touristen hatten sich auf einen Rundgang gemacht. Die Amerikaner in ihren Hawaii-Hemden und knallbunten Kleidern
waren von Menschentrauben umlagert. Stets fand sich ein chinesischer Student, der seine englischen Sprachkenntnisse an
den Fremden erproben wollte. Wir wunderten uns, wie spontan der Funke übersprang. Beim Hinzutreten hörten wir, daß
es in den holprigen Gesprächen um höchst prosaische Themen
ging. Die Amerikaner wurden nach Lebensstandard, Löhnen
und Kosten in USA gefragt und interessierten sich ihrerseits
nur für die materiellen Aspekte des chinesischen Alltags. Die
Yankees, die noch vor ein paar Jahren als Ausgeburten der
kapitalistischen Hölle dämonisiert worden waren, genossen bei
den Einwohnern von Kunming eine spontane Sympathie. Die
Dürftigkeit des Gesprächs entsprach vielleicht besser als jede
ideologische Debatte dem nüchternen Wirklichkeitssinn der
jungen chinesischen Generation. Schon in Peking war mir
aufgefallen, daß der Ausbau und die Pflege der eben angebahnten amerikanisch-chinesischen Freundschaft Priorität
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
429
genoß. In Kunming spürten die Europäer, daß sie zweitrangige Außenstehende waren in diesem Dialog der Giganten auf
beiden Ufern des Pazifik. Die Touristen aus Missouri und Illinois wurden – ohne es zu merken – zu Missionaren des »American way of life«. Sie wandelten auf den Spuren Pearl Bucks,
deren sentimentales und oft naives Romanwerk mir plötzlich
in einem neuen Licht erschien.
Zahlreiche Liebespaare begegneten uns an diesem Abend.
Sie gingen eng umschlungen. Es schien wirklich eine neue
Zeit angebrochen zu sein. In einer Nebenstraße hörten wir
Jazz-Musik. Durch ein halbverhangenes Fenster sahen wir
junge Chinesen beider Geschlechter, die sich ungeschickt
in den neuesten Tanzschritten des Westens übten und sich
köstlich dabei amüsierten. Als sie entdeckten, daß sie beobachtet wurden, brachen sie die Party abrupt ab, und wir
gingen eilig weiter. Wir hatten jetzt ein Viertel gelber Villen im
französischen Kolonialstil erreicht, wo einmal die französischen
Ingenieure und Techniker der Bahnlinie Hanoi-Kunming
gewohnt hatten. Die Chemin de fer en dentelle, wie die Franzosen diese höchst schwierige Gebirgsstrecke wegen ihrer zahllosen Brücken und Tunnels genannt hatten, war schon vor dem
Ersten Weltkrieg gebaut worden, als die War-Lords von Jünan
ihre Unabhängigkeit gegenüber der mürben Mandschu-Dynastie in Peking betonen wollten und die Franzosen ihre indochinesische Kolonialdomäne um ein Protektorat über Kunming zu
erweitern suchten. »Sic transit gloria mundi«, kommentierte
ein französischer Kollege, der sich uns angeschlossen hatte.
Mit den gleichen Worten hatte de Gaulle einst in Rio de Janeiro
die Entmachtung Chruschtschows zur Kenntnis genommen.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
430
Gefährten seit dreißig Jahren
Pan Qi, im März 1979
Die zerklüftete Landschaft war gelb wie ein Löwenfell. Wir
hatten die Asphaltstraße verlassen, und unsere Autokolonne
wirbelte Staubwolken hinter sich her. In den Tälern waren
die Reisfelder zu grünen Tupfen geschrumpft. Die Menschen,
die uns unter schweren Lasten oder neben Büffelgespannen
begegneten, trugen eine blaue Tracht mit roten Borten. Sie
gehörten dem Volk der Yi an. In Tonking hießen sie Lolo.
Die Gegend war wild und verlassen. Die Dörfer der Han-Chinesen mit ihrer lärmenden Geschäftigkeit, den geschwungenen Giebeln ihrer Häuser, den leuchtturmähnlichen Pagoden,
den Ahnengräbern im Grün der jungen Saat, diese Szenen
eines reizvollen Bilderbuch-Asiens lagen hinter uns. Wir rollten jetzt durch ein strenges, isoliertes Gebiet, den autonomen
Kreis der Yi, den seit mindestens einer Generation kein Weißer
mehr betreten hatte. Es wäre sehr viel einfacher gewesen, die
bequeme Direktstraße zu benutzen, die von Kunming zur vietnamesischen Stadt Lao Kay führt. Aber irgendwelche Befestigungen oder Radarstellungen waren offenbar auf dieser Strecke
zu sehen, und deshalb hatten die Organisatoren unserer Reise
den Umweg gewählt. Am Rande unserer Schotterstraße verlief ein zwanzig Zentimeter dickes Rohr, die pipeline, die in
früheren Zeiten die Armee Nordvietnams mit Benzin versorgt
hatte. Jetzt floß der Brennstoff für die vorgeschobenen Panzereinheiten und Lastwagen der Volksbefreiungsarmee längs der
Tonking-Front. Nur selten begegneten uns Militärfahrzeuge,
die mit Tarnnetzen versehen waren. Der Umweg durch den
Kreis Lu Nan hatte uns erlaubt, im Gästehaus des »Steinwaldes« Shi Lin zu übernachten. Die Abendsonne ging wie ein
riesiger roter Lampion über einem unbeschreiblichen Irrgarten von Felskliffen und Steinnadeln unter, ein Bild, wie es die
kühnste Phantasie der chinesischen Paysagisten kaum zu entwerfen wagte. Anschließend hatte uns die Tanzgruppe einer
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
431
Produktionsbrigade des Yi-Volkes unterhalten. Die Tracht war
blau und schwarz mit roten Stickereien. Auf dem Kopf trugen
die kleinen, stämmigen Mädchen bunte Hauben, die mit roten
Teufelshörnchen verziert waren. Es war stets die gleiche Bewegung und derselbe kreischende Singsang. In den Liedern war
von sozialistischem Aufbau und der genialen Führung Mao
Tse-tungs die Rede. »Herzige Wilde«, kommentierte ein blasierter Engländer, und wir gingen vorzeitig zu Bett.
Die Schotterstraße fiel plötzlich steil in ein fruchtbares Tal
ab. In der Tiefe krümmte sich ein Flüßchen zwischen den Reisfeldern. Auf dem östlichen Ufer verliefen die Schienen der
alten Jünan-Bahn. Wir hatten die Kommune Pan Qi im Kreis
Huaning erreicht und wurden sofort zu einer Kaserne dirigiert, in der vor dem Krieg ein Regiment chinesischer Grenztruppen stationiert war. Jetzt diente sie als Gefangenenlager
für die Vietnamesen. Uns frappierte das geringe Bewachungsaufgebot. Die chinesischen Soldaten waren nur zum Teil mit
den unvermeidlichen AK 47-Gewehren bewaffnet. Die Kaserne
bestand aus langen, soliden Backsteinbaracken. Es war eine
geräumige und peinlich saubere Anlage. Die Kieswege wurden
von großen Bäumen überschattet. Auf den Beeten wuchs
Gemüse und Salat. Weder Wachtürme noch hohe Stacheldrahtverhaue schirmten die Anlagen nach außen ab. In der Mitte
des Camps entdeckten wir ein weites Sportfeld, das auch als
Exerzier- und Übungsplatz diente. Ohne Säumen wurden wir
zum Mittagessen geführt, denn die Pünktlichkeit der Mahlzeiten ist geheiligt im revolutionären China. Dann lud der
Kommandant des Ersten Gefangenenlagers der Grenzschutztruppen der Volksbefreiungsarmee in der Provinz Jünan die
Journalistengruppe zum Briefing ein. In einem schattigen Hof
wurden uns bequeme Rohrsessel angewiesen.
Der Politische Kommissar Wang-Yü-Qing war ein im Dienst
ergrauter Mann. Das Wetter hatte sein Gesicht gegerbt und
zahllose Falten hinterlassen. Er strahlte Ruhe, Gutmütigkeit
und List aus. »Das ist der Vater der Füchse«, meinte ein Kor-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
432
respondent. Der Kommissar machte ein paar Angaben: Es
befanden sich etwa 220 vietnamesische Gefangene in Pan Qi.
109 dienten in der regulären vietnamesischen Volksarmee, im
wesentlichen bei den Divisionen 316 A und 345. Den Grenztruppen gehörten 11 Mann und der bewaffneten Miliz 37 an.
In zwei Sonderbaracken waren 66 Verwundete unter ärztlicher
Betreuung untergebracht. Sie waren alle in der Gegend von
Lao Kay und in der Provinz Hoang Lien Son zwischen
dem 2. Februar und dem 14. März gefaßt worden. Später
erfuhren wir, daß die Chinesen insgesamt 1500 vietnamesische Gefangene gemacht hatten, eine Zahl, die keineswegs
ihren ursprünglichen Erwartungen entsprach. »Wir praktizieren die maoistischen Leitlinien der Nachsicht und Milde
gegenüber dem besiegten Gegner«, führte Kommissar Wang-YüQing weiter aus; der Dolmetscher wählte die Worte »leniency
and clemency«. – »Unser oberstes Gebot ist die revolutionäre
Humanität.« Letzterer Ausdruck wurde in der Übersetzung
zum »revolutionären Humanismus« – »Wir respektieren die
menschliche Würde unserer Gegner.« Die Vietnamesen seien
im Lager neu eingekleidet worden. Ihre Essensration – 60
Pfund Reis im Monat – sei reichhaltiger als die der chinesischen Soldaten oder Schwerarbeiter, die sich mit 45 Pfund
zufriedengäben. Fast alle Gefangenen – junge Männer zwischen 17 und 36 Jahren – hätten in Pan Qi zwei bis drei Kilo
zugenommen. Tatsächlich waren das Verpflegungssätze, von
denen im ausgehungerten Vietnam kaum jemand zu träumen
wagte. Die Vietnamesen durften Briefe an ihre Angehörigen
schreiben. Ursprünglich seien sie mißtrauisch gewesen und
hätten nicht gewagt, offen zu sprechen. Sie seien eben Opfer
der Greuelpropaganda der Revisionisten von Hanoi gewesen.
Aber nach und nach habe man sie aufgeklärt und durch objektive Information über die wahren Absichten und Beweggründe
der Volksrepublik China informiert. Die Le-Duan-Clique
in Hanoi habe zwar der bewährten Freundschaft mit der
Volksrepublik China den Rücken gekehrt, aber die beiden
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
433
Völker müßten wieder zueinanderfinden. Wir notierten mit
Interesse, daß neuerdings in den offiziellen Erklärungen
Pekings Generalsekretär Le Duan als der Hauptverantwortliche für den antichinesischen Kurs Hanois hingestellt wurde.
Ministerpräsident Pham Van Dong wurde schonender behandelt. Damit erhärteten sich die japanischen Angaben, wonach
Pham Van Dong sich der rabiaten Frontstellung gegen Peking
sowie der allzu engen Anlehnung an Moskau widersetzt habe.
Die Quadriga von Hanoi wies zum ersten Mal in 30 Jahren
Krieg innere Risse auf.
Die propagandistische Beeinflussung und ständige Berieselung war der kritische Punkt in dieser Lagerführung. Kommissar Wang antwortete ausweichend auf diesbezügliche Fragen.
»Wir zwingen niemanden, an unserer politischen Schulung,
an der Wahrheitsfindung teilzunehmen. Wir wissen, daß die
Gefangenen nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat Repressalien
ausgesetzt sein werden und wollen sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber sie hören unsere Radiosendungen in vietnamesischer Sprache und können unsere revolutionären Schriften lesen.« Bevor er uns aufforderte, die Gefangenen aufzusuchen und nach Belieben zu interviewen, erwähnte der Lagerkommandant die harten Vergeltungsmaßnahmen, mit denen
die vietnamesischen Behörden sich an angeblichen Kollaborateuren – vor allem Angehörigen der rassischen Minderheiten
– nach dem Abzug der Volksbefreiungsarmee gerächt hätten.
»Viele sind schon zu uns geflüchtet.«
Wir traten den Rundgang durch das Lager an. Wir genossen
tatsächlich volle Bewegungsfreiheit. Auf dem großen Sportfeld trafen wir blaugekleidete Vietnamesen beim Fußballspiel
und beim Volleyball. Der Anblick stimmte mich nachdenklich
und melancholisch. Zum dritten Mal in meinem Leben begegnete ich nun unter völlig verschiedenen Umständen vietnamesischen Kriegsgefangenen. Die Tragödie dieses Landes ließ
mich seit dreißig Jahren nicht mehr los. Unter ihren chinesischen Bewachern waren die Bo Doi zweifellos besser dran
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
434
als in den beiden vorhergehenden Indochina-Kriegen. Bei
den Franzosen hatten die prisonniers de guerre des Vietminh
nichts zu lachen gehabt. Die Rationen hinter Stacheldraht
waren schmal. Die Verhörmethoden waren hart. Die Amerikaner machten im Kampfeinsatz gegen die Vietkong-Partisanen wenig Gefangene. Wer dennoch überlebte, wurde den
südvietnamesischen Militärbehörden ausgeliefert, und das
bedeutete systematische Mißhandlung und Folterung. Bei den
Chinesen ging es tatsächlich sehr viel humaner zu. Die Volksbefreiungsarmee war geübt im revolutionären Krieg. Sie war
darauf aus, den Gegner ideologisch umzukrempeln. Im Gegensatz zu Franzosen und Amerikanern, die sehr bald die Aussichtslosigkeit ihres Engagements auf dem asiatischen Festland
erkannt hatten und in wütende Resignation verfielen, waren
die Chinesen von der Gerechtigkeit ihrer Sache und von ihrem
Endsieg über die Abweichler von Hanoi zutiefst überzeugt. Sie
hatten die Zeit und, wie sie meinten, das gute revolutionäre
Gewissen für sich gepachtet. Sie waren von keinem Zweifel und
schon gar nicht von jenem morbiden Defätismus angekränkelt,
der sich im Westen als Pazifismus definiert. Als Sendboten
des maoistischen Gedankenguts und Zeugen der chinesischen
Großmut sollten die Gefangenen so bald wie möglich in ihre
Familien zurückgeschickt werden. Ob sich diese Erwartungen
erfüllen würden, war keineswegs gewiß. In einem Gefangenenlager von Kwangsi, so wußte ein französischer Kollege zu
berichten, hatte ein vietnamesischer Leutnant sich in heftiger
Form gegen die »permanente propagandistische Verdummung
durch die reaktionär-imperialistische Clique von Peking« verwahrt.
In Pan Qi, so schien es, herrschten fast idyllische Zustände.
Die spontane asiatische Fähigkeit zu Anpassung und Verstellung in Notsituationen spielte dabei zweifellos eine gewichtige Rolle. Einen unglücklichen Eindruck machten diese
wohlgenährten vietnamesischen Bauernburschen jedenfalls
nicht. In ihren blitzsauberen Baracken, wo jeder über ein Feld-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
435
bett verfügte, spielten sie chinesisches Schach und eine Axt
Halma. Sie konnten ihr eigenes Essen kochen und beteuerten
auf unsere Fragen ohne Zaudern und Verlegenheit, daß sie gut
behandelt wurden. Über politische Themen äußerten sie sich
gehemmt und phrasenhaft. Dann hieß es, daß die Freundschaft
zwischen dem vietnamesischen und chinesischen Volk »immer
grün« bleiben müsse. Die Kriegsschuldfrage wurde mit dem
Hinweis auf mangelnde Kenntnis der Zusammenhänge umgangen. Am bequemsten war es, auf die enge Waffenbrüderschaft zu
verweisen, die sich zu Lebzeiten Maos und Ho Tschi Minhs zwischen Peking und Hanoi bewährt hatte. Das Kräfteverhältnis
zwischen den feindlichen Lagern kommentierte ein Unteroffizier mit den Worten: »Wir sind 50 Millionen, die Chinesen
900 Millionen.« Als wir einen Gefangenen bei der Lektüre
einer Mao-Schrift überraschten, versteckte er schnell das Buch
unter der Wolldecke. Von der Stubenwand blickten die Bilder
Mao Tse-tungs und Hua Guofengs. Beim Sport, bei den Freizeitspielen, beim politischen Unterricht, stets waren Soldaten
der Volksbefreiungsarmee in ihren grünen Uniformen, aber
ohne jede Bewaffnung dabei. Es sollte wohl eine Art Symbiose,
ein Gefühl der menschlichen Solidarität – natürlich unter ideologischen Vorzeichen – zwischen Bewachern und Bewachten
entstehen. Wir bekamen auch Protest und Klagen zu hören,
die von den chinesischen Dolmetschern getreulich übersetzt
wurden. »Was Sie hier sehen, sind nur zum geringsten Teil Soldaten unserer Volksarmee,« sagte ein zorniger junger Vietnamese. »In Wirklichkeit waren wir friedliche Bauern, die durch
den chinesischen Angriff überrascht wurden.« Er gab allerdings zu, als Miliz-Angehöriger ausgebildet worden zu sein.
Ein Unteroffizier schimpfte, man wolle die Gefangenen als propagandistische Versuchskaninchen mißbrauchen. Bei der Wiedergabe dieser ketzerischen Äußerungen verzogen die Dolmetscher keine Miene. Auf einer Barackenmauer war in vietnamesischer Sprache und lateinischer Schrift mit kalligraphischer
Sorgfalt ein Gedicht gepinselt, das der Freundschaft zwischen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
436
Chinesen und Vietnamesen gewidmet war. Sogar mit ein paar
Blümchen hatte man dieses Poem verziert. Wir notierten eine
Passage: »Was ich weiß: Wenn ich mich weigere zum Gewehr
zu greifen und gegen die Chinesen zu kämpfen, dann erhält
meine Familie keine Reisration und muß hungern.« Das Bewachungspersonal ließ uns gelegentlich mit den Gefangenen
allein. Natürlich war dann auf Grund der Sprachbarriere
an eine Verständigung nicht zu denken. So zählte ich den
jungen Burschen, die mich umringten, die Namen jener vietnamesischen Städte auf, die ich in der Vergangenheit besucht
hatte. Sie verstanden sofort und freuten sich riesig. Die biederen, breiten Bauerngesichter hatten sich erhellt, und plötzlich
glaubte ich sie wiederzuerkennen. Sie waren vom gleichen
Schlag, wie jene braven Bo Doi, mit denen wir im Sommer 1973
so manchen Abend im Dschungel nördlich von Saigon zusammengesessen hatten. Ich empfand für die gefangenen Vietnamesen eine tiefe Sympathie. Diese Soldaten – obwohl ich stets
auf der Gegenseite gestanden hatte – waren meine Gefährten
seit dreißig Jahren.
Ich konnte mir schon in Pan Qi ausmalen, wie sich die
Rückgabe und der Austausch der Gefangenen an der chinesisch-vietnamesischen Grenze vollziehen würde. Tatsächlich
sollte ich diese Szenen zwei Wochen später in einem Filmbericht der französischen Television als ferner Zuschauer miterleben. Da erstarrten auf einmal die Gesichter der vietnamesischen Gefangenen, die sich eben noch lächelnd von ihren chinesischen Bewachern verabschiedet hatten, beim Anblick der
eigenen Polit-Kommissare zu wütenden Fratzen. Sie schrien
im Chor Schmährufe gegen die Pekinger Reaktionäre, rissen
sich die blauen Monturen vom Leib und warfen die Abschiedsgeschenke der Volksbefreiungsarmee mit allen Zeichen des
Abscheus in den Straßengraben. Sogar die Krücken wurden
von den Amputierten fortgeschleudert, als ob sie verpestet
wären. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Verwundeten hätten
sich ihres Verbandes entledigt. Die vietnamesischen Militärs
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
437
auf der südlichen Seite des Grenzübergangs erwarteten die
Heimkehrer mit eisigen Mienen, während das chinesische
Begleit- und Sanitätspersonal das Schauspiel mit spöttischem
Lächeln verfolgte. Als nun die vietnamesischen Grenzposten
ihrerseits chinesische Gefangene zum Kontrollpunkt geleiteten, erwiesen sich die Söhne des Himmels als mindestens
ebenso gute Akteure wie ihre vietnamesischen Leidensgenossen. Mit lautem Gezeter und schmerzverkrampften Mienen
humpelten sie nach Norden, klagten vor dem französischen
Kamerateam über schreckliche Mißhandlungen. Sie seien ausgehungert und nur mit Hirse abgefüttert worden. Man habe sie
einer brutalen Gehirnwäsche unterzogen und immer wieder
seien sie verprügelt worden. Kurzum, in diesem typisch asiatischen Bühnenstück verfügten die Chinesen über das größere
theatralische Talent. Die Peking-Oper ging zu ihren Gunsten
aus. An jenem Abend vor dem Fernsehgerät in Paris mußte
ich an den Gefangenenaustausch zwischen Franzosen und
Vietminh an der Thanh Hoa-Küste im Sommer 1954 denken.
Wie kläglich und unbeholfen hatten damals die französischen
Überlebenden von Dien Bien Phu auf die wohlvorbereitete
Propaganda-Posse ihrer Gegner reagiert.
Die Dämmerung senkte sich über das Tal von Pan Qi. In einer
Lazarett-Baracke hatten wir am Ende unseres Rundgangs
einen schwerverwundeten Politischen Kommissar der vietnamesischen Grenztruppen entdeckt, der im Rang eines Hauptmanns stand. Der Mann setzte ein verschlossenes Gesicht auf,
doch auch er lobte die gute Behandlung durch das Pflegepersonal. Der Kommissar hatte im Zweiten Indochina-Krieg
im Raum von Hue gegen die Amerikaner gekämpft. Wie er
die Kampfführung der Amerikaner und die der Chinesen vergleichsweise beurteile, wollte ich wissen. »Die Amerikaner
hatten mehr Waffen –«, lautete die Antwort; »die Chinesen
haben mehr Menschen. Die Amerikaner waren im Kampf
ängstlicher als die Chinesen.«
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Unser Dolmetscher führte uns zu einer Sammlung erbeuteter Waffen: Schnellfeuergewehre, Granatwerfer, altertümliche
russische MGs auf Rädern. Sehr eindrucksvoll war dieses Arsenal nicht. Ein weiblicher Offizier der Volksbefreiungsarmee
wies uns auf die russischen, amerikanischen und chinesischen
Fabrikationszeichen hin. »Die Vietnamesen sind nicht in der
Lage, eine einzige Waffe selbst herzustellen. Sie sind Schmarotzer«, sagte die uniformierte Dame kategorisch. Mir fiel ein
Zitat Mao Tse-tungs ein, der angeblich die vier führenden
Männer Hanois – Pham Van Dong, Vo Nguyen Giap, Le
Duan und Truong Chinh – mit ätzendem Spott als »vier rote
Bettelmönche« beschrieben hatte, die »stets den leeren Napf
hinhalten«.
Auf dem Exerzierplatz waren die gefangenen Vietnamesen
in zwei blauen Karrees angetreten. Auf ein Kommando hockten sie sich, in der typischen Ruhestellung ihrer Rasse, auf
die Fersen. Vier Stunden pro Tag, so hatten wir inzwischen
herausbekommen, waren der politischen Unterweisung durch
das chinesische Lagerpersonal vorbehalten. Jetzt sammelten
sie sich zum Anhören einer ausführlichen chinesischen Rundfunksendung in vietnamesischer Sprache, die ebenfalls der
ideologischen Umerziehung diente. Doch noch ehe die schneidende Stimme der Sprecherin aus dem Lautsprecher hallte,
war ein blutjunger Gefangener aufgesprungen und hob die
Arme, als wolle er ein Orchester dirigieren. Die Vietnamesen
begannen zu singen, ein Lied, das sich mir zutiefst eingeprägt
hatte seit meiner Vietkong-Gefangenschaft im Dschungel, seit
dem Besuch der »Hoc Tap«-Lager von Ho Tschi Minh-Stadt,
seit dem Konzert der Kriegsblinden in der alten Französischen
Oper von Hanoi. »Vietnam – Ho Tschi Minh«, klang es über
den Sportplatz von Pan Qi. »Vietnam – Ho Tschi Minh ...« Der
Refrain steigerte sich wie ein patriotisches Credo, wie ein trotziges Treuebekenntnis zur eigenen Revolution und zur eigenen Nation.
Unser Aufenthalt in Pan Qi ging dem Ende zu. Nach der
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
439
Radiosendung und dem Abendessen war auf dem Sportplatz
eine große Leinwand entfaltet worden wie in einem Drive inKino. Davor kauerten, zwanglos gemischt, Soldaten des Wachpersonals, chinesische Offiziersfamilien, vietnamesische Gefangene und Journalisten. Der Film, der bis zum Sturz der Viererbande verboten worden war, schilderte die Eroberung Shanghais durch die Armee Mao Tse-tungs. Für den Geschmack der
Madame Tschiang Tsching waren vielleicht die Verteidiger des
Kuomintang trotz aller propagandistischen Verzerrung immer
noch zu human dargestellt. Vor allem war der damalige kommunistische General, der seine Truppen siegreich zum Wang
Pu geführt hatte, während der Kulturrevolution in Ungnade
gefallen. Deng Xiaoping hatte ihn inzwischen rehabilitiert.
Der Zug rollte auf die Minute pünktlich ein. Er kam von
der vietnamesischen Grenze. Das Tal von Pan Qi war in mondlose Dunkelheit gehüllt, aber der Bahnhof war hell erleuchtet.
Er sah einer französischen gare de province zum Verwechseln
ähnlich. Die Schlafwagenabteile waren frisch gewienert und
komfortabel ausgestattet, was die Kollegen aus Peking auf die
jüngste Benutzung des Waggons durch die Delegierten des
Zentralkomitees zurückführten. Die Schaffnerin trug eine dunkelblaue Mütze ohne Visier über dem langen Zopf. Wir ratterten durch die tintenschwarze Nacht gen Norden. Die Begegnungen des Tages hatten mich bewegt. Ich brauchte lange, ehe
ich einschlief. Das regelmäßige Klopfen der Schienen verdichtete sich in meinem Kopf zum Takt eines Refrains. Wie einen
Ohrwurm summte ich das Lied der vietnamesischen Gefangenen nach: »Vietnam – Ho Tschi Minh ... Vietnam – Ho Tschi
Minh ...«
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Marx und Mohammed
Kunming, im März 1979
Wir erreichten Kunming im Morgengrauen. Bis zum Weiterflug über Kweilin nach Kanton blieben uns einige Stunden,
die wir für Filmaufnahmen in der Stadt nutzten. Mitten im
Geschäftsviertel entdeckten wir die örtliche »Mauer der Demokratie«. Die Wandzeitungen befaßten sich auch hier mit der
Kampagne der vier Modernisierungen. Der Ton war behutsamer als in Peking, und die Kritik war positiv. Die jüngsten Weisungen des Zentralkomitees waren schnell in das ferne Jünan
gedrungen. Es gehe nicht an, stand in dem warnenden Appell
der höchsten Parteigremien, daß die jungen Männer sich die
Haare lang wachsen ließen und daß die Mädchen Nietenhosen
trügen. Nicht die modische Nachäffung westlicher Dekadenz
sei die Parole des Tages, sondern der Erwerb westlicher Technologie. Der Pseudo-Liberalismus und die sogenannten demokratischen Freiheiten würden im Ausland nur als Tarnung der
kapitalistischen Ausbeutung herhalten. Man müsse am Marxismus-Leninismus und an den Mao Tse-tung-Gedanken festhalten. Mit eiliger Hand waren ein paar rote Schriftzeichen
darüber gepinselt worden: »Das ist die Sprache der Viererbande.«
Fang machte uns auf ein flaches Gebäude aufmerksam,
das sich hinter der Mauer mit den Dazibao duckte. »Das
ist die große Moschee von Kunming, nach der Sie mich
gefragt haben«, sagte er. »Es gibt auch noch ein paar kleinere
Moscheen, die geöffnet sind.« Im Gegensatz zu den christlichen Kirchen, die abgerissen oder als Warenhäuser zweckentfremdet waren, blieb das muselmanische Gebetshaus im Zentrum Kunmings für den Kult freigegeben. Im Innenhof kauerte
ein greiser Imam mit weißem, schütteren Bart. Er begrüßte
uns schüchtern mit »Salam aleikum«. Die Moschee war mit
Strohmatten und billigen Teppichen ausgelegt. Die Gebetsnische wies nach Westen. Das Dach der Moschee war geschwun-
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gen. Die Koran-Sprüche waren mit allen möglichen Chinoiserien verschnörkelt. Natürlich fehlten Drachen und andere
Fabeltiere. Unter dem Vordach war in naiver Malerei die Kaaba
dargestellt, der schwarze Meteorit von Mekka, das zentrale
Heiligtum des Islam.
Der Informationsbeamte, der uns begleitete, war ein gebildeter Mann mit dem distanzierten Auftreten eines Mandarins.
Seine Mao-Jacke war elegant geschneidert. Er sprach fließend
Französisch. »Der Islam hat in der Geschichte Jünans eine
große Rolle gespielt«, begann er. »Auch heute leben in Kunming bei einer Gesamtbevölkerung von 900000 Menschen 50000
Moslems oder ›Hui‹, wie wir sie nennen.« Die Hui seien über
die gesamte Provinz verstreut. Man nahm an, daß die Einwanderung der Moslems und die anschließende Ausbreitung der
koranischen Lehre sich im Gefolge der Heere Kublai Khans
vollzogen habe, denn der Mongolenkaiser hatte bei den TurkVölkern Zentralasiens einen großen Teil seiner Heerscharen
ausgehoben. Sogar Marco Polo hatte bereits die Präsenz zahlreicher »Sarazenen« in Jünan erwähnt. Eine andere Theorie
besagte, der Islam sei aus Kanton importiert worden, wo im
Mittelalter blühende Koran-Schulen existiert hatten. Jedenfalls hatten die Moslems in dieser Südprovinz, die wie ein
chinesischer Balkon nach Südostasien ragt, eine große Rolle
gespielt. Der muselmanische Admiral Zheng He, der in Jünan
beheimatet war, hatte im 15. Jahrhundert mit seiner Flotte
die Meere des Südens bereist und die dortigen Küstenländer
dem Reich der Mitte tributpflichtig gemacht. Noch im 19. Jahrhundert schlossen sich die Hui von Jünan der Taiping-Revolte
gegen die Mandschu-Dynastie an. Der Sultan von Da Li, wie
sich der mohammedanische Potentat von Kunming nennen
ließ, konnte damals nur mit Hilfe der französischen Kolonialmacht von Indochina besiegt werden. »Wenn wir mehr Zeit
hätten«, sagte der Informationsbeamte, »würde ich Sie zum
Grab des Sai Dian Chi, eines hohen muselmanischen Mandarins aus dem 13. Jahrhundert, begleiten. Er nahm damals im
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
442
Namen des Kaisers die Huldigung der Vietnamesen entgegen
und wurde von Tamerlan posthum zum Fürsten geadelt.«
Die islamische Frage mußte die Regierung in Peking in
wachsendem Maße beschäftigen. Im Sommer 1978 hatte ich
in Teheran geweilt, während der Vorsitzende Hua Guofeng
dem Schah von Iran einen Staatsbesuch abstattete und dem
Pfauenthron seine Reverenz erwies. Damals tobten bereits
im Bazar-Viertel die Straßenunruhen gegen die Pahlevi-Dynastie. Die Chinesen hatten sich in der Einschätzung Persiens
ebenso gründlich verkalkuliert wie die Amerikaner. Als ich
im Januar 1979 den Ajatollah Khomeini auf seinem Flug von
Paris nach Teheran begleitete, war man in der Umgebung
des Schiitenführers über den politischen Opportunismus der
Volksrepublik China immer noch aufgebracht. Jetzt stellte sich
unausweichlich das akute Problem der Behandlung der massiven islamischen Minderheit – Uiguren vor allem, aber auch
Kasaken, Kirgisen und andere – in der strategischen Westprovinz Sinkiang, die unmittelbar an die sowjetischen Teilrepubliken und deren muselmanische Turkvölker in Zentralasien
grenzt. Das revolutionäre Erwachen des Islam griff längst über
den schiitischen Iran hinaus. In der prosowjetischen Volksrepublik Afghanistan war der Heilige Krieg ausgebrochen. In
Pakistan, Bangladesh, Indonesien und Malaysia befand sich
der koranische Integrismus auf dem Vormarsch. Auf den SüdPhilippinen standen die muselmanischen »Moros« in fanatischem Abwehrkampf gegen die katholische Marcos-Diktatur
von Manila.
Die chinesischen Kommunisten kamen nicht an der Feststellung vorbei, daß die gesellschaftsverändernde Gewalt des Marxismus sich in Süd- und Zentralasien am Beharrungsvermögen
und am erneuerten Sendungsbewußtsein der Religion des
Propheten Mohammed stieß und von ihr in Schach gehalten
wurde. Doch das war – wie Kipling gesagt hätte – eine andere
Geschichte. Auf unsere Bitte rezitierte der alte Imam von Kunming eine Sure des Korans. Die feierlichen Verse der Fatiha
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
443
trug er mit zittriger Stimme vor: »Bismillah rahman rahim,
el hamdulillah ... Du, Herr der Welten; König am Tage des
Gerichts ... führe uns auf dem rechten Pfad ... nicht den Weg
der Irrenden ...« Ich hatte nicht damit gerechnet, daß ich
an diesem Ende der Welt den beiden semitischen Propheten,
Mohammed und Marx, in so intimer Nachbarschaft begegnen
würde.
Am Flugplatz Kunming erwartete man uns schon. Die Verfrachtung des Kamera-Übergepäcks von 300 Kilo machte keine
Schwierigkeiten. Wir saßen in der Empfangshalle vor einer riesigen Mao-Büste aus weißem Gips, die sich vom roten Hintergrund abhob. Eine Gruppe deutscher Touristen war gerade
aus Kweilin eingetroffen. Auch in der Mittagshitze strahlte der
Frühlingshimmel von Jünan in sanften Pastelltönen. Die Reisfelder am Rande der Rollbahn zitterten in zartem Grün. Flugzeuge der chinesischen Luftwaffe – den russischen MiGs nachgebaut – übten ohne Unterlaß. Sie starteten in enger Reihenfolge. Beim Landen entfalteten die Piloten den bunten Bremsfallschirm, als zögen sie eine große Mohnblume hinter sich her.
Probten sie schon für die nächste Runde im Dritten IndochinaKrieg?
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
444
Epilog in Europa
Paris – Bonn, im August 1979
Auf dem Flugplatz Roissy-Charles de Gaulle herrschte Ferientrubel. Die Urlauber drängten sich in bunten, lärmenden
Haufen vor dem Eingang der durchsichtigen Plexiglas-Röhren,
deren Rolltreppen sie nach oben zu den Abflug-Satelliten
aus Beton und Aluminium beförderten. Die Stimmung war
nervös und gereizt bei den einen, ausgelassen und demonstrativ vergnügt bei den anderen. Der Sommermorgen war grau
und kühl in Paris. Doch am Ende der Reise warteten heiße
Strände, blaues Meer, grüne Wälder. Kaum einer der Charter-Touristen, die fest entschlossen waren, ein paar Wochen
lang die Monotonie ihres Alltagsrhythmus métro, boulot, dodo
– U-Bahn, Arbeit, Bett – zu verdrängen, nahm Notiz von
der Gruppe asiatischer Exoten, die in einer Reihe dieser
schillernd modernen Karawanserei kauerten. Sie besaßen
nur ein paar Habseligkeiten, ärmliche Bündel, und lauschten
verständnislos den Weisungen einer französischen Sozialhelferin. Ihr gedrücktes Schweigen kontrastierte mit dem fröhlichen
Durcheinander ringsum. Ihre Gesichter waren braun, die
Augen mandelförmig, die Haare pechschwarz. Die Kambodschaner fröstelten in der Zugluft der verglasten Halle und
hüllten sich in Decken und Schals, die ihnen bei der Ankunft
in Roissy verteilt worden waren. Eine Maschine aus Bangkok
hatte diese Khmer-Flüchtlinge hier abgesetzt. Sie gehörten zu
den wenigen Privilegierten, die dem Tod im Dschungel und der
Erniedrigung der Internierungslager entkommen konnten.
Zwei Stunden vorher – um sieben Uhr – war eine andere
Linienmaschine aus Ho Tschi Minh-Stadt in Charles de Gaulle
eingetroffen. Doch im früheren Saigon waren keine Passagiere zugestiegen. Die Regime-Gegner, denen die kommunistischen Behörden die Ausreise aus Vietnam auf dem Luftwege gestatteten, waren äußerst selten. Diese Kategorie von
offiziellen Emigranten verfügte über Verbindungen, besaß
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
445
Familienangehörige in Frankreich, die sie am Zollausgang in
Empfang nahmen und unter Tränen umarmten. Für diese
Neuankömmlinge würden sich relativ geringe Probleme der
Anpassung und der Existenzgründung stellen, auch wenn sie
sich am Anfang mit bescheidenen Beschäftigungen zufriedengeben müßten. In den Super-Marchés der bürgerlichen Arrondissements von Paris hatte sich die Kundschaft schnell daran
gewöhnt, von jungen Asiaten bedient zu werden, die ihre mangelnde Kenntnis der französischen Sprache durch Fleiß und
schnelle Auffassungsgabe wettmachten. In den Bezirken der
roten Bannmeile hingegen brachten die Überlebenden des
vietnamesischen Gulag die örtlichen Funktionäre der KPF in
Verlegenheit. Die Mehrheit dieser Flüchtlinge stammte gewiß
aus den Chinesen-Vierteln von Saigon-Cholon und gehörte
angeblich der verworfenen Ausbeuter-Schicht der Compradores an. Aber jede Stimmungsmache gegen sie war zwangsläufig
mit rassistischen Untertönen behaftet. Im übrigen hatte auch
die französische Arbeiterschaft über die Television erfahren,
daß neben den chinesischen Hoa, die von den roten Kommissaren auf die Boote und in den Ozean getrieben wurden, mindestens zwei bis drei Millionen reinblütiger Südvietnamesen die
Chance einer Ausreise mit beiden Händen ergreifen würden,
wenn diese sich selbst unter größtem Risiko und Zurücklassung
der gesamten Habe böte.
Wer hätte damals – als die »Andus« die ersten Verstärkungen
des französischen Expeditionskorps nach Indochina transportierte und als die Fremdenlegionäre an Bord dieses Schiffes
ihre Wehrmachtslieder sangen – im Traum daran gedacht,
daß die Vietnam-Problematik eines Tages auf ganz Westeuropa
überschwappen, daß Deutschland in die Rettungsaktion für
indochinesische Flüchtlinge einbezogen, daß eine Sonderkonferenz der Botschafter Bonns in Ostasien zusammengerufen
würde, um Dringlichkeitsmaßnahmen zu prüfen? Das Deutsche Rote Kreuz hatte zu Beginn des amerikanischen Vietnamkrieges das Lazarettschiff »Helgoland« auf den Weg nach
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
446
Saigon und Danang geschickt. Damit hatte die damalige Bundesregierung den ursprünglichen Vorschlag eines ihrer Minister, ein Pionier-Bataillon der Bundeswehr in Südvietnam einzusetzen, geschmeidig umgangen. Jetzt war ein neues Schiff
des DRK unterwegs, um die Gestrandeten und Ertrinkenden
im Südchinesischen Meer zu retten. Noch vor drei Jahren –
als der Zweite Indochina-Krieg ruhmlos für den Westen zu
Ende ging – hatten die Zeitungskommentatoren ausführliche
Betrachtungen darüber angestellt, wie kurzfristig und sensationsgebunden das Interesse der Lesermassen sei, und geglaubt,
das leidige Thema Vietnam endgültig aus ihren Schlagzeilen
verbannen zu können. Nun hatte diese verlorene Randzone
Südostasiens schon wieder die Aktualität an sich gerissen und
sich in den Vordergrund des Zeitgeschehens gedrängt. Wer
hatte vor 1945 auch nur dem Namen nach das periphere hinterindische Volk der Vietnamesen gekannt? Seit dreißig Jahren
hielt es nunmehr die Welt in Atem.
Rückblickend offenbarte sich die Indochina-Frage nicht
nur als permanenter Krisenherd, sondern als politischer
Enthüllungsfaktor, als unerbittlicher Lügendetektor. In den
Dschungeln und Reisfeldern zwischen Hanoi und Saigon
hatte für Hegemonen und Ideologen die Stunde der Wahrheit
geschlagen. Begonnen hatte es mit den Franzosen. Ihre Niederlage in Indochina hatte den Verlust des gesamten Kolonialreichs, der France d’Outre-Mer eingeleitet. In den Gefangenenlagern des Vietminh, im faszinierenden Kontakt mit der großen
asiatischen Revolution war jener Zündstoff gelegt worden, der
sich im Mai 1958 auf dem Forum von Algier entlud. Der Sturz
der Vierten Republik, die zweite Ära de Gaulle waren an den
Ufern des Roten Flusses vorprogrammiert worden. Mehr noch,
in der Ebene von Tonking meditierten die französischen Zenturionen zum ersten Mal über die Unzulänglichkeit der ererbten, bis dahin sakrosankten Vorstellung vom Nationalstaat. Im
Angesicht des ungeheuren Orkans, der die farbigen Massen
der Dritten Welt aufwühlte, konnte der schmächtige Rahmen
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
447
der aufs Hexagon Frankreich beschränkten Nation nicht mehr
als Finalität der Geschichte herhalten, was immer auch ein
paar Nachzügler des Gaullismus an Gegenargumenten zusammenkratzen mochten.
Dem amerikanischen Giganten waren in der Auseinandersetzung mit den gelben Zwergen von Hanoi die Grenzen seiner
Macht gesetzt worden, und sein Selbstbewußtsein hatte sich
von dieser Erkenntnis nicht erholt. Der Zenit amerikanischer
Weltgeltung schien nunmehr überschritten. Die Resignation
Johnsons, der Watergate-Skandal Richard Nixons, die Paralyse,
die sich Washingtons unter Gerald Ford und mehr noch unter
Jimmy Carter bemächtigte, ließen sich recht und schlecht auf
jene Demütigung zurückführen, die die kleinen grünen Männer
des Vietkong dem gewaltigen Onkel Sam zugefügt hatten.
Die Schlagkraft, die Glaubwürdigkeit, die Bündnisfähigkeit
der amerikanischen Streitkräfte waren nach dem Rückzug
aus Südostasien dubios geworden. Der Zweite IndochinaKrieg hatte in der amerikanischen Heimat, beginnend mit den
Universitäten, politische Zersetzung oder politische Besinnung
– je nach Standpunkt – ganz bestimmt aber Ratlosigkeit, moralische Verunsicherung, Wut und Ekel ausgelöst. Den Gesellschaftsanalytikern in USA erschienen die tiefenpsychologischen Nachwehen des Vietnam-Debakels bei den amerikanischen Massen weit gewichtiger als die strategischen und
durchaus reparablen Folgen dieses Fiaskos.
Auch die vermeintlichen Sieger wurden ihres Triumphes
nicht froh. Der dritte Indochina-Konflikt zwischen Vietnamesen und Kambodschanern, Chinesen und Vietnamesen hatte
endlich die Heuchelei, die pseudohumanitäre Anmaßung des
»Weltkommunismus« wie Seifenblasen platzen lassen. Von nun
an sollte kein Propagandist mehr – ohne sich der Lächerlichkeit
auszusetzen – vom »Proletarischen Internationalismus«, von
der völkerverbindenden und endgültig pazifizierenden Mission
des Marxismus-Leninismus reden dürfen. Der erste kommunistische Religionskrieg, der auf indochinesischem Boden aus-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
448
getragen wurde, stand den bewaffneten Konfrontationen der
vielgeschmähten imperialistischen Vorgänger in keiner Weise
an grausamer Skrupellosigkeit nach. Dem roten Kambodscha
Pol Pots blieb es vorbehalten, ein Horror-Regime zu errichten,
das in der Neuzeit nur noch von den Massenvernichtungslagern Hitlers übertroffen wurde.
Selbst den Russen könnte allmählich bange werden bei dem
Gedanken an die südostasiatischen Partnerschaften und Verwicklungen, in die sie sich eingelassen haben. Der propagandistische Bonus, den Moskau – nach den sukzessiven WaffenErfolgen Hanois über Paris, Washington und Saigon – weltweit verbuchen konnte, ist gründlich entwertet worden, seit
die Sozialistische Republik Vietnam sich als hemmungslose
Kriegsmaschine, als »kaltes Ungeheuer«, als spätstalinistischer
Repressionsapparat zu erkennen gab. Spätestens seit dem chinesisch-vietnamesischen Grenzkonflikt im Februar 1979 sieht
sich Moskau in einen Ungewissen Stellvertreter-Krieg verwikkelt, zu unabsehbaren und aufwendigen Hilfeleistungen an
Hanoi verurteilt. Noch täuscht die vergreiste Kreml-Führung
sich mit der überschwenglichen Zelebrierung des sowjetischvietnamesischen Bündnisses über die Tatsache hinweg, daß
ihr slawisches Imperium – ein Sechstel der Festlandmasse
unseres Erdballs – eine ungeheuerliche, spätkoloniale Herausforderung der gelben Massen Asiens darstellt. Es kann nicht
ausbleiben, daß die Russen – trotz ihres kurzsichtigen und
zutiefst frustrierenden Engagements auf Seiten aller ideologischen Wirrköpfe und Scharlatane der Dritten Welt – am Ende
als weiße Vorhut Europas in Zentralasien, Sibirien und Fernost dastehen werden. »Auch die Russen«, hatte de Gaulle prophezeit, »werden eines Tages entdecken, daß sie Weiße sind.«
Der Dritte Indochina-Krieg, der noch lange weiterschwelen
dürfte, wird diese Erkenntnis sicherlich beschleunigen. Schon
die Gefangenen von Dien Bien Phu hatten es im Sommer 1954
als schmählichen Verrat empfunden, als russische Kameraleute als Verbündete und Propagandisten des Vietminh die aus-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
449
gemergelten Kolonnen der geschlagenen französischen Fernost-Armee filmten. Für die Überlebenden von Dien Bien Phu
kündigt sich eine späte und bittere Genugtuung an.
Was die Volksrepublik China betrifft, so erscheint sie seit
Februar 1979 und der Eroberung von Lang Son in einem
kalten, nüchternen Licht. Das Reich der Mitte hat zu erkennen gegeben, daß es Pazifismus mit Schwäche gleichsetzt.
Im Westen hatte ein gerüttelt Maß Naivität dazu gehört, den
Söhnen des Himmels permanenten hegemonialen Verzicht und
kriegerische Enthaltsamkeit zu unterstellen. Es hieß zwar in
den Gazetten, der chinesische Drache habe internationales
Prestige und good will eingebüßt, seit er seine Krallen gezeigt
hat. Aber was scherte es dieses Imperium von bald einer Milliarde Menschen, wenn ein paar bekümmerte Theoretiker im
Westen ihre langen Nasen rümpften? Nichts mußte den chinesischen Kommunisten lächerlicher erscheinen als jene bärtigen
Delegationen europäischer Maoisten – mit den Plaketten des
großen Steuermannes am hochgeschlossenen Kittel –, die gar
nicht begreifen wollten, daß die Auseinandersetzung mit dem
Konfuzianismus das permanente und prioritäre Problem der
chinesischen Revolution blieb. Welch unglaublicher Nonsense,
Maoist sein zu wollen, ohne mindestens ein paar hundert Jahre
im strengen Prägstock des Meister Kong verbracht zu haben!
Und die Deutschen? Jedermann plädierte neuerdings für
Hilfsaktionen in Fernost, die Kirchen appellierten zugunsten
der vietnamesischen Flüchtlinge, die Parteien lieferten sich
einen Wettlauf in Humanität und rangen um publikumswirksame Profilierung. Weite Bevölkerungsteile übten jenseits
der Rassen und der Geographie eine spontane menschliche
Solidarität, die keiner erhofft hatte. Darüber sollten jedoch
nicht die anderen, viel profunderen Einwirkungen der
Indochina-Tragödie vergessen werden, die die politische
Psyche der Bundesbürger seit geraumer Zeit in erstaunlicher
Weise verändert hatten. Begonnen hatte es 1965 mit einer
selbstverständlichen, überparteilichen Stellungnahme zugun-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
450
sten des amerikanischen Eingreifens in Vietnam. Der Mann,
der damals die Formel fand, Berlin werde in Saigon verteidigt, stand keineswegs allein, sondern sprach für die Masse
seiner Landsleute. Die Zweifel am amerikanischen Sieg hatten
sich erst ganz allmählich eingeschlichen. Aber dann kam es
zum großen Umbruch, zum großen Unbehagen, teilweise auch
zum rabiaten Anti-Yankee-Konformismus. Plötzlich sahen viele
deutsche Intellektuelle – die ihrer amerikanischen Umerzieher
und Nährväter überdrüssig geworden waren – in den Partisanen des Onkel Ho die neue Hoffnung der Menschheit. Patrice
Lumumba war am Kongo ermordet, Che Guevara in Bolivien
zur Strecke gebracht worden, die islamische Wiedergeburt
– von der die palästinensische Bewegung ja nur ein Teil
ist – schreckte die meisten europäischen Ästheten durch
ihre autoritären und metaphysischen Wesenszüge ab. So verfielen denn die Jünger Marcuses, die jugendlichen deutschen
Gegner der Konsum-Gesellschaft, die politischen Idealisten
und Romantiker der späten sechziger Jahre bei ihrer Suche
nach Ursprünglichkeit, Spontaneität, Fraternität und neuer
Unschuld – bei ihrer rousseauistischen Suche nach dem
»Guten Wilden«, dem bon sauvage, der ja nur in der Dritten
Welt existieren konnte – auf die wackeren Untergrundkämpfer
des Vietkong, die dem imperialistischen und kapitalistischen
Giganten USA erfolgreich die Stirn boten. Es sind knappe zehn
Jahre her, so schwer die Erinnerung manchem fallen mag, da
rannten die jungen deutschen Demonstranten – untergehakt
und in dichten Kolonnen massiert, wie sie das den Fernsehbildern aus Tokio abgeguckt hatten – zu dem Schrei »Ho-ho-hoTschi-Minh« durch die Städte der Bundesrepublik. Eine Generation, die keinem über dreißig trauen wollte, ließ die Namen
Ho Tschi Minh und Mao Tse-tung hoch leben und erhob diese
ehrwürdigen asiatischen Greise zu ihren Idolen. »Drei, vier,
zehn Vietnams« wollten sie den amerikanischen Kriegstreibern bereiten. Spätere Studien und wissenschaftliche Analysen werden vielleicht eines Tages enthüllen, in welchem
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
451
Umfang das intensive Vietnam-Erlebnis der jungen Deutschen, auch wenn es sich aus extremer Ferne vollzog, zur
Bewußtseinsveränderung in der Bundesrepublik und zur
gründlichen, oft fruchtbaren Entkrampfung gewisser Gesellschaftsstrukturen beigetragen hat. Vor allem aber sollte der
stupenden Tatsache Rechnung getragen werden, daß die
sozialrevolutionären Thesen eines deutschen Kleinbürgers aus
dem Biedermeier und der Moselstadt Trier – als unwiderstehliche Heilslehre bis an die Ufer des Mekong und des SüdchinaMeeres dringend – die radikale und längst fällige Umkrempelung der ostasiatischen Verhältnisse bewirkt haben.
Die Schatten Indochinas ließen mich an diesem Tag nicht
los. Nach den Flüchtlingen auf dem Flugplatz Charles de Gaulle
stand mir am Abend in Bonn eine andere Begegnung bevor. Ich
hatte eine Unterhaltungssendung des Fernsehens eingeschaltet. Plötzlich kündete der Show-Master eine Überraschung an.
Hinter dem Vorhang der Fernsehbühne kam ein Chor vietnamesischer Kinder zum Vorschein. Die Mädchen trugen gut
geschneiderte Ao Dai aus goldgelber Seide. Auch ohne Ethnologe zu sein, sah man den Kindern an, daß sie überwiegend
der chinesischen Hoa-Rasse angehörten. Das Publikum spendete freundlichen Beifall. Die Kinder wirkten sauber, intelligent, artig und arbeitswillig. Ein paar junge Sino-Vietnamesen
beantworteten auch schon ganz flüssig in deutscher Sprache
die Routine-Fragen, die man ihnen stellte. Auch mich überkam
bei dieser unvermuteten Szene im deutschen Schaubetrieb
eine gewisse Rührung. Dennoch fand hier eine Verharmlosung statt. Den Zuschauern wurde das beruhigende Gefühl
vermittelt, wie gut und menschlich man sich doch gegenüber
diesen fernen Exoten verhielt. Der Bühnenauftritt dieser
Überlebenden eines gnadlosen Schicksals, dieser geretteten
Kinder aus den sinkenden Fischerbooten und den
entwürdigenden Durchgangslagern Malaysias und Thailands
war gewiß angetan, die tätige Hilfsbereitschaft in lobenswerter Weise zu fördern, aber der todernste Hintergrund dieser
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
452
humanitären Aktion drohte verniedlicht zu werden. Die meisten Bundesbürger vor dem Fernsehapparat weigerten sich
wohl, die wahre, zutiefst beängstigende Botschaft dieser Kinder
aus Fernost und die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, daß die
Geschichte einen fatalen Hang zur Tragödie hat.
Ein blonder deutscher Dirigent war leutselig vor den Chor
getreten, hob die Hand, und die vietnamesischen Kinder
begannen zu singen: »Ein Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch
den grünen Wald ...« Die asiatischen Stimmen klangen ein
wenig schrill, aber das Lied kam einwandfrei. Auf den Lippen
der Mädchen im Ao Dai strahlte das konfuzianische Lächeln
der Wohlerzogenheit. Aber in den schmalen Augen, auf die die
elektronische Kamera zufuhr, glaubte ich auf einmal eine große
Scheu und Traurigkeit zu entdecken, als dächten die Kinder
von Saigon-Cholon an die warmen Abende, die geschäftigen
Straßen, die feierliche Reisebene und an das wohlgefügte Sippenleben ihrer verlorenen Heimat. »Ein Jäger aus Kurpfalz ...«
hob der Refrain wieder an, und das deutsche Publikum sang
mit. In Hanoi und Ho Tschi Minh-Stadt werden andere Lieder
gesungen.
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
453
Chronik des Indochina-Krieges
1940
September: Nach der französischen Niederlage in Europa
besetzt Japan den nördlichen Teil von FranzösischIndochina und geht später zur totalen Okkupation über.
1945
März: Die japanischen Streitkräfte verhaften die französischen
Administratoren und internieren die französischen Truppen.
16. August: Kapitulation Japans
2. September: Ho Tschi Minh proklamiert in Hanoi die
Unabhängigkeit ganz Vietnams.
Oktober: Erste französische Truppenverbände aus dem Mutterland landen mit britischer Hilfe in Saigon, machen die
französischen Kolonialrechte wieder geltend und stoßen
auf bewaffneten Widerstand.
1946
6. März: In der Konvention von Hanoi erkennt Paris Vietnam
als autonomen Staat innerhalb der Union Française an.
9. März: Französische Truppen landen in Tonking.
Juli: Frankreich betreibt die Separation Cochinchinas vom
übrigen Vietnam.
14. September: Französisch-Vietnamesische Konferenz in Fontainebleau bestätigt den lockeren Verbleib Vietnams in der
Französischen Union. Die militärische Präsenz Frankreichs
auch in Tonking wird von Ho Tschi Minh akzeptiert.
November: Nach einer Reihe von Zwischenfällen bombardieren die Franzosen die Hafenstadt Haiphong.
Dezember: Ho Tschi Minh ruft zum Widerstand gegen Frankreich auf. In Hanoi hebt der Aufstand an. Die französische
Armee beginnt planmäßige Kriegsaktionen gegen den Vietminh.
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454
1948
Juni: Frankreich betraut Ex-Kaiser Bao Dai mit der Führung
des Nationalvietnamesischen Staates.
1949
Dezember: Die Armeen Mao Tse-tungs erobern die
südchinesische Provinz Jünan und erreichen die Nordgrenze von Tonking. Der Vietminh verfügt nunmehr über
volle Unterstützung durch die chinesischen Kommunisten.
1950
21. Juni: Ausbruch des Korea-Krieges
Oktober: Evakuierung der Grenzfestung von Cao Bang durch
die französischen Streitkräfte
20. Oktober: Evakuierung von Lang Son an der chinesischen
Grenze Dezember: General de Lattre de Tassigny
übernimmt das Oberkommando in Indochina.
1952
Januar: Tod von de Lattre de Tassigny
Februar: Die Stadt Hoa Binh, vom Vietminh eingekesselt, muß
evakuiert werden.
April: General Salan wird Oberbefehlshaber der französischen
Truppen.
1953
Mai: Ein Vorstoß des Vietminh gegen das Königreich Laos wird
durch die französischen Streitkräfte abgewehrt.
Mai: General Navarre ersetzt Salan. 27. Juli: Ende des KoreaKrieges
1954
7. Mai: Die seit Wochen eingekreiste Dschungelfestung Dien
Bien Phu kapituliert nach schweren Kämpfen vor den Trup-
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
455
pen des vietnamesischen Oberbefehlshabers Vo Nguyen
Giap.
April bis Juli: Genfer Konferenz über Indochina. Am 21.
Juli Schlußerklärung über den Indochina-Konflikt: Ende
der Feindseligkeiten in Kambodscha, Laos und Vietnam,
vorläufige Umgruppierungszonen. Die Demarkationslinie,
die keine Grenze ist, verläuft am 17. Breitengrad; Abzug
der französischen Truppen aus dem Norden. Allgemeine
Wahlen unter internationaler Kontrolle sind für Juli
1956 vorgesehen. Kambodscha und Laos erhalten totale
Unabhängigkeit, sie bleiben außerhalb jeder Militärallianz.
1955
Verstärkung der amerikanischen Militärhilfe für Saigon. Der
dortige Regierungschef Ngo Dinh Diem ruft im Oktober die
Republik aus und setzt Bao Dai ab.
1960
Dezember: Gründung der Nationalen Befreiungsfront für
Südvietnam (Vietkong)
1963
1. November: Präsident Ngo Dinh Diem wird gestürzt und
getötet. Es folgen weitere Putsche.
1964
Anfang August: Zwischenfall im Golf von Tonking: Nordvietnamesische Patrouillenboote greifen angeblich einen USZerstörer an, worauf amerikanische Bomber zu Vergeltungsangriffen auf Nordvietnam starten.
1965
Februar: Weitere amerikanische Luftangriffe gegen Nordvietnam. Amerikanische Bodenstreitkräfte landen in Vietnam
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
456
bis zur Erreichung der Maximalstärke von 500 000 Mann.
General Nguyen Van Thieu wird Leiter des Nationalen Verteidigungsrates (Staatspräsident) von Südvietnam.
1968
29. Januar: Beginn der großen Tet-Offensive des Vietkong und
der Nordvietnamesen.
Ende März: Teilweise Einstellung der amerikanischen Bombenangriffe gegen den Norden.
Mai: Beginn der Pariser Gespräche zwischen Washington
und Hanoi; später Teilnahme Saigons und der Nationalen
Befreiungsfront für Südvietnam (Vietkong).
1969
Mai: Nixon, seit kurzem Präsident der Vereinigten Staaten,
schlägt einen Friedensplan für Vietnam in 8 Punkten vor.
10. Juni: Der Vietkong proklamiert die Bildung einer Provisorischen Revolutionsregierung für Südvietnam.
1970
18. März: Der Staatschef des neutralen Königreichs Kambodscha, Prinz Sihanuk, wird durch die eigene Armee
gestürzt. General Lon Nol übernimmt mit amerikanischer
Zustimmung die Macht in Phnom Penh. Beginn des kambodschanischen Bürgerkrieges.
Ende April: Starke südvietnamesische Verbände dringen in
Kambodscha ein, unterstützt von amerikanischen Bodenund Luftstreitkräften. Oktober: Der von den Amerikanern
unterstützte Regierungschef Lon Nol ruft in Kambodscha
die Republik aus.
1972
März: Neue Großoffensive der kommunistischen Divisionen
am 17. Breitengrad und in Cochinchina. Die Amerikaner
antworten mit der Wiederaufnahme des unbeschränkten
Peter Scholl-Latour – Der Tod im Reisfeld
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Luftkriegs gegen Nordvietnam und Teilblockade dieses
Landes.
Juli: Wiederaufnahme der Pariser Verhandlungen. Widerstand
Saigons gegen wesentliche politische Vereinbarungen Washingtons mit Hanoi. Dezember: Wiederaufnahme der massiven Luftangriffe auf Hanoi und Haiphong, die weltweite
Proteste auslösen. Nach Einstellung der Bombardierung
Ende des Jahres stimmt Hanoi neuen Verhandlungen zu.
1973
27. Januar: Waffenstillstandsabkommen für Vietnam wird in
Paris unterzeichnet. Der in diesem Abkommen vorgesehene »Rat der nationalen Aussöhnung« wird nie gebildet.
Februar: Waffenstillstand für Laos
Ende Februar bis Anfang März: Pariser Vietnam-Konferenz,
an der außer den Unterzeichnern des Waffenstillstandsabkommens auch die Volksrepublik China, die UdSSR,
Frankreich, Großbritannien und Vertreter der Internationalen Kontrollkommission teilnehmen. Ende April: Abzug
der letzten amerikanischen Soldaten aus Südvietnam.
1974
Juli: Neue Offensive der »Roten Khmer« gegen das Lon NolRegime in Kambodscha.
Dezember: Teiloffensive der Nordvietnamesen im vietnamesisch-kambodschanischen Grenzraum.
1975
März: Nach dem Fall der Militärstützpunkte im Hochland
von Annam Rückzug der südvietnamesischen Streitkräfte
und unaufhaltsamer Vormarsch der kommunistischen
Streitkräfte. Die Küstenstädte Hue und Da-nang werden
von den Nordvietnamesen besetzt.
Mitte April: Die »Roten Khmer« marschieren in Phnom Penh
ein. 30. April: Rücktritt von Präsident Nguyen Van Thieu,
Flucht der letzten Amerikaner und Einmarsch der kom-
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458
munistischen Truppen in Saigon. Südvietnam kapituliert
bedingungslos.
1976
Effektive Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam.
Frühjahr: Beginn der ersten Grenzgefechte zwischen den kommunistischen Armeen Vietnams und Kambodschas.
Dezember: IV. Kongreß der »Kommunistischen Partei Vietnams« (früher Lao Dong-Partei).
1978
3. November: Sowjetisch-Vietnamesischer Freundschafts- und
Beistandspakt
Dezember: Beginn der vietnamesischen Großoffensive gegen
Kambodscha.
1979
7. Januar: Vietnamesische Truppen erobern Phnom Penh.
Flucht der Regierung Pol Pot.
17. Februar bis 5. März: Chinesische Grenzoffensive gegen
Vietnam und anschließender Rückzug.
21./22. Juli: Konferenz über Vietnam-Flüchtlinge in Genf.

Documents pareils