Inzest und infantile Sexualität Jean Laplanche Es ist gewagt zu

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Inzest und infantile Sexualität Jean Laplanche Es ist gewagt zu
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Inzest und infantile Sexualität
Jean Laplanche
Es ist gewagt zu versuchen, zwei Begriffe – zwei psychoanalytische Feststellungen,
die sich beide gleichermassen bewahrheitet haben – zueinander in Beziehung zu setzen,
obwohl sie sich, zumindest dem Anschein nach, nicht kreuzen.
Die infantile Sexualität bleibt für uns eine grundlegende Errungenschaft, die niemand
in Frage zu stellen wagt, auch wenn sie oft, nicht zuletzt von den Analytikern selbst,
vernachlässigt und in den Hintergrund gedrängt wird. Unter einem bloss chronologischen
Gesichtspunkt betrachtet, liegt sie allerdings vom klassischen Problem des Inzests weit
entfernt. Sie ist eine gegebene Tatsache und zugleich eine Theoretisierung, die sich
zunächst auf die allerersten Lebensmonate bzw. -jahre bezieht. Insbesondere taucht sie
bereits vor jeder Bezeichnung durch Verwandtschaftskategorien auf, die, um von Inzest zu
sprechen, wesentlich sind: Vater, Mutter, Schwester, Onkel usw. Die infantile Sexualität
wird, zumindest in ihren Quellen, als prägenital angesehen, sofern sie an die
verschiedensten erogenen Zonen gebunden ist. In der ersten Ausgabe der Drei
Abhandlungen entspricht sie der Periode des Autoerotismus, die von Freud ausgehend
von den Beobachtungen des Kinderarztes Lindner folgendermassen theoretisch gefasst
wird: Die ersten Beziehungen zum Erwachsenen, für die das Saugen an der Mutterbrust
modellhaft ist, werden vom Kind gleichsam auf sich selbst zurückgewendet, z.B. als
Daumenlutschen. Genau das habe ich früher einmal als „auto-Zeit“, bezeichnet, es ist ein
richtiger Schmelztiegel, in dem die infantile Sexualität entsteht, wobei dieses Schema
keineswegs nur für den „oralen Trieb“ gilt.
Im Gegensatz dazu wird der Inzest (auf des Kindes Initiative hin) und sein
Tabu – das damit untrennbar verknüpft ist – von Freud in etwas spätere Jahre gelegt, in
das Alter von 2 oder 3 Jahren, und in der Tat als gleichzeitig mit dem Ödipuskomplex
betrachtet. Genau wie er unterstellt der Inzest die Benennung, das Namenverzeichnis der
Personen, die Verwandtschafts“objekte“ sind. Selbst wenn er, wie der Ödipus, in der
Kinderzeit stattfindet, so ist er doch durch seinen Phantasiegehalt in der Erwachsenenwelt
gelegen, er ist ein Theater, in dem das Drama vom König Ödipus gespielt wird: Die Mutter
zu heiraten ist ein sehr viel bedeutsamer Akt, um den Inzest zu definieren, als mit ihr
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innige Beziehungen in der Kindheit zu pflegen. Ausserdem ist eine Frau zu heiraten eine
Handlung, die nicht notwendigerweise Bezug nimmt auf die Sexualität, wie zahlreiche
ethnologische Beispiele zeigen könnten.
Juristisch betrachtet fehlt Frankreich eine Bestrafung und sogar eine Definition des
Inzests. Die einzige zusammenhängende Definition wird vom Wörterbuch gegeben:
„Sexuelle Beziehungen zwischen einem Mann und einer Frau, verwandt oder
verschwägert auf einer Stufe, die das Verbot der Ehe nach sich zieht.“ Man sieht, dass sie
den Inzest explizit auf Betrachtungen zur Ehe bezieht. Man kann auch feststellen, dass sie
nur erwachsene Personen betrifft, und ausserdem kann man sich heutzutage in der
westlichen Zivilisation keine Strafmassnahmen vorstellen.
Es erübrigt sich, dass der Dialog mit der Anthropologie, gerade für Freud,
unverzichtbar bleibt.
Freuds zentrale Theorie ist ihrerseits anthropologisch, sofern sie in die Prähistorie
gelegt wird und sich natürlich auf die Erwachsenensexualität bezieht. Ich werde nur ganz
kurz den sogenannten „Gründungs“mythos aus Totem und Tabu erwähnen, der übrigens
mehr in Beziehung zum Vatermord steht als zum Inzest 1. In wenigen Worten, ein „Vater
der Horde“, allmächtig, im Besitz des Rechts über aller Leben und Tod sowie des
sexuellen Rechts über alle Frauen, wird eines Tages durch die miteinander verbündeten
Söhne ermordet, die – um nicht in die gleiche gesetzeslose Welt zurückzufallen –
daraufhin das Verbot des Vatermords und der sexuellen Beziehungen mit den Müttern und
Schwestern festsetzen. Freud hat diese Konstruktion einmal unseren „wissenschaftlichen
Mythos“ genannt und durch diese Wortverbindung die Schwierigkeit nurmehr vergrössert,
indem er uns eine „harte“, eine „wissenschaftliche“ Version und eine „weiche“,
„mythologische“ Version dieses Ursprungsschemas vorlegt. Mir scheint es allerdings
notwendig, daran zu erinnern, dass Freud immer wieder und bis zum Ende (Moses) an der
„harten“, faktischen,
historischen Version und an der phylogenetischen Übertragung
dieser Ursprungssituation festhalten wird. In bezug auf seine Behauptung einer
Phylogenese, die er nie aufgegeben hat, stösst er auf Schwierigkeiten – denen er nicht
aus dem Weg geht. In seinem Werk gibt es zahlreiche, gleichsam ununterbrochen
phylogenetische Bezugnahmen, angefangen vom Brief an Fliess vom 21.9.1897, in dem
er die massive Wiederkehr des „hereditären“ Faktors ankündigt, bis zum „Moses“, wo er
ohne weiteres zugesteht, dass sich die Szene des Vatermords tausende Male wiederholt
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Die beste Synthese zur Frage des Inzests ist in « Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ zu
finden. GW XVI. p.228-230.
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haben könnte, bis sie sich schliesslich in die Gene eingeschrieben hätte.
Einer der für diesen Gedankengang interessanten Texte, als Manuskript zunächst für
Ferenczi bestimmt, ist „Übersicht der Übertragungsneurosen“, in dem die faktische und
theoretische Frage in ihrem Kern gestellt wird: Wie zum Beispiel konnten die vom Vater
kastrierten Brüder die in Betracht gezogenen Szenarien übermitteln, da sie ja ohne
Nachkommen waren. Ich zitiere nur den letzten Satz der „Übersicht“: „Im ganzen sind wir
nicht am Ende, sondern zu Anfang eines Verständnisses dieses phylogenetischen
Faktors“ (Freud, GW NB, S. 651).
Wenn die Analyse auf Seiten der Geschichte und Vorgeschichte mit den an die
Phylogenese gebundenen Problemen Schwierigkeiten hat, muss sie sich um einen Dialog
mit der Anthropologie kümmern. Allerdings, selbst wenn „Totem und Tabu“ ein Text ist, der
die gleichberechtigte Auseinandersetzung mit anderen grossen anthropologischen Texten
fordert, scheitert die Diskussion, weil ihr eine wirklich gemeinsame Basis fehlt:
Das Inzestverbot der Anthropologen ist ein Gesetz, das sich einer oder mehreren
Verwandtschaftsgruppen aufdrängt; es bezieht sich im wesentlichen auf den Austausch,
die Exogamie und ihr Ergebnis: die Zeugung. Es ist auf die Schwestern (oder die als
Schwestern „Klassifizierten“) ausgerichtet, die in der Gruppe nicht geheiratet werden
dürfen. Dagegen ist das psychoanalytische Inzestverbot eng an das ödipale Dreieck
gebunden und die Bezugnahmen auf weiter entfernte Verwandtschaft (z.B. die
Schwestern) werden als Ausweitungen (Verschiebungen) des Kernödipus behandelt. Der
als am entscheidensten angesehene Inzest besteht immer zwischen Mutter und Sohn.
Allerdings werden von beiden Seiten, von der Mehrheit der Anthropologen-Ethnologen wie
auch der Analytiker, manche Punkte stark unterschätzt: Der Inzest zwischen Vater und
Tochter, der homosexuelle Inzest und vor allem die Vielzahl von Verboten und sexuellen
Einschränkungen verschiedenster Art in einer gegebenen Gesellschaft, die sich durchaus
vom Inzest unterscheiden, selbst wenn dieser in einer möglicherweise vielfachen
Nomenklatur das wichtigste Element bleibt.
Doch kommen wir für eine Gesamtschau zurück auf den Inzest und sein Verbot, so
wie sie die psychoanalytische Gemeinschaft in einer Art von ungeschriebener Vulgata
auffasst.
Am wissenschaftlichen Mythos von Totem und Tabu wird festgehalten, allerdings
wird der Akzent eher auf den mythischen Aspekt gelegt, statt auf die Wissenschaft
der Vorgeschichte Bezug zu nehmen.
 Die Phylogenese wird kaum erwähnt und noch weniger diskutiert oder widerlegt.
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An ihr wird in der Hinterhand festgehalten als einer Art von Rest, einer freudschen
Marotte bzw. einem tabuisierten Stück der Theorie.
 Ohne weiteres wird behauptet, dass das Inzesttabu die Wahrung des
Geschlechter- und Generationenunterschieds sichert, während man doch sagen
müsste, dass es von ihm abhängt.
 Für einige Analytiker sind der Inzest und sein Tabu eine „Urphantasie“ und damit
Objekt der sogenannten Urverdrängung. Mit diesem Begriff des Ursprünglichen ist
der Verweis auf das Dunkel der Ursprünge unausweichlich, wie dies in jeder
mythischen Erzählung der Fall ist.
Kommen wir noch einmal auf diesen Status des Mythos von Totem und Tabu zurück.
Zunächst einmal ist er eng mit dem Ödipuskomplex verknüpft, und so versichert man uns
vom einen wie vom anderen, dass sie in der Phylogenese eingeschrieben sind. In diesem
Sinne wäre der Mythos für die Ausbildung des Unbewussten zentral, er wäre
sein
Kernstück. Hier gibt es also in Bezug auf den Mythos eine zweifache Möglichkeit:
entweder ist er mit Recht universell und „ursprünglich“ (dann müsste man uns aber eine
Idee von seiner prähistorischen Entwicklung geben, die, so Freud, an eine erste reale Tat
gebunden ist: „Im Anfang war die Tat“), oder aber – und das ist meine Position – der
Mythos stellt eine je nach den vielfältigen Zufälligkeiten der Verwandtschaftsbeziehungen
stark variierende Struktur dar, die, wie Lévi-Strauss es so trefflich sagt, eine Lösung
herbeiführt, welche “die geistige Unruhe und gegebenenfalls die existentielle Angst
beschwichtigen“ soll2.
Dass die Struktur (Ödipus, Inzest, Kastration) allgemein verbreitet sein mag,
impliziert keineswegs, dass man sie von einem metapsychologischen Standpunkt aus im
Unbewussten eingraben muss. Sie gehört dem Bereich des Vorbewussten an und hat die
Aufgabe mitzuhelfen, die bewusste, vorbewusste und unbewusste Geschichte des
Subjekts, also des Analysanten, in die Form einer Erzählung zu bringen.
Mir fällt allerdings gerade auf, dass ich mein Hauptthema bisher nur umkreist habe.
Wie treffen und verknüpfen sich das Inzestverbot und die sogenannte polymorph-perverse
Sexualität des Kindes. Zu behaupten, dass sie sich verknüpfen, bedeutet, dass sie
nebeneinander existieren können: Dies ist allerdings kaum möglich, solange man das
Inzestproblem in ein Alter verlegt, in dem es in einer gegebenen Gesellschaft verstanden
wird, das heisst in ein Alter, in dem das Kind über die entsprechenden Kategorien wie
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Für weitere Ausführungen siehe: „La psychanalyse, mythes et théories“, in Entre séduction et inspiration,
l'homme, PUF, Quadrige, 1999.c
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VATER, MUTTER, SCHWESTER, BRUDER, TANTE usw. verfügt.
Tatsächlich ist die Aporie so lange vollkommen, so lange man die Sache aus der
Perspektive eines einzigen Protagonisten betrachtet. Wenn wir, wie die Anthropologen, die
Person als „ego“ bezeichnen, aus deren Perspektive man den gesamten Vorgang
betrachtet,
dann
steht
ausser
Zweifel,
dass
dieses
ego
in
der
klassischen
psychoanalytischen Auffassung das Kind ist, und zwar sowohl im ödipalen Dreieck als
auch in der Konstellation Inzest/Inzesttabu.
Allerdings verändern sich die Dinge schon bei Melanie Klein: Man sieht, wie sich die
Triebe, ja sogar der Ödipus der Eltern schon im frühesten Alter (der paranoiden Phase) in
die Phantasien des Kindes einschleichen.
Mit Lacan wohnen wir einer völligen Umkehrung der Situation bei. Anfangs ist das
Kind Objekt des Begehrens der Mutter und zeigt keinerlei Anwandlung, sich als „ego“ zu
benehmen. Deshalb das berühmte Lacansche Schema vom „präödipalen Dreieck“: Mutter
– Kind – Phallus. Bei ihm wird der Inzest explizit so aufgefasst, als ob er von der Mutter
begangen wird. Bekanntlich ist es aus dieser Perspektive der Vater, der den Schnitt
(zwischen Mutter und Kind) herbeiführt, d.h. das Inzestverbot und das GESETZ
ausspricht. Eine genaue Kritik dieser Position ist in diesem Rahmen nicht möglich. Sagen
wir nur so viel, dass sie in anderen Begrifflichkeiten zu einer Neuformulierung dessen
führt, was Margaret Mahler als symbiotische Phase bezeichnet hat. Gegen all diese
Auffassungen von einer ursprünglichen Symbiose oder einem absoluten primären
Narzissmus führen die zahlreichen modernen Untersuchungen die Vorstellung einer
frühzeitigen und wechselseitigen Kommunikation ins Feld, und zwar auf einer Ebene, die
man heutzutage Bindung zwischen dem Erwachsenen als Pflegeperson und dem
sprachlosen Infans nennt.
Meine eigene Position unterscheidet sich also von derjenigen Lacans beträchtlich.
Ich lege nicht den Nachdruck auf die Zentralität des Begehrens der Mutter, die am Anfang
alles einschliessen und der die „Metapher“ oder die väterliche Funktion ein Ende bereiten
würde. Wie vorherrschend auch immer die klassischen familialen Positionen Vater, Mutter,
Kind sein mögen, mir scheint es angebracht, sich davon zu distanzieren, und stattdessen
das, was ich die „grundlegende anthropologische Situation“ nenne, in den Vordergrund zu
rücken. Wenn ich dabei, in dem was „zwischen Kind und Erwachsenem“ passiert, den
völlig neuartigen Hinweisen Ferenczis folge, dann weil ich denke, dass in Bezug auf die
ersten Lebensjahre und die damit verbundene Sexualität der zentrale Punkt nicht die
Beziehung zu den beiden Elternteilen ist (insofern sie mit dem Kind blutsverwandt sind),
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sondern die Tatsache, dass diejenigen, die das Kind aufziehen, Erwachsene sind („die
Pflegeperson ... in der Regel doch die Mutter“, sagt Freud in den Drei Abhandlungen. GW
V. S. 124). Deshalb ist auch nicht die Verwandtschaftsbeziehung das Entscheidende für
die ursprüngliche Situation, in der sich der Infans befindet. Was vor allem zählt, ist der
grosse Alters- und Entwicklungsunterschied mit all seinen Folgen: da stehen sich
gegenüber ein Neugeborenes, das über keine angeborenen Sexualtriebe verfügt (nichts
weist auf deren Existenz hin) und ein Erwachsener, der nicht nur mit seiner
Erwachsenensexualität ausgestattet ist, sondern mit der aus seiner eigenen Kindheit
stammenden infantilen Sexualität.
„Fast jeder Kulturmensch hat die infantile Gestaltung des Sexuallebens in
irgendeinem Punkte festgehalten, und so begreifen wir, dass die verdrängten infantilen
Sexualwünsche die häufigsten und stärksten Triebkräfte für die Bildung der Träume
ergeben“(Freud, GW II/III. S. 696). Nun, der hauptsächliche Ort, um die beim
Erwachsenen schlummernde infantile Sexualität anzuregen, ist, neben dem Traum, vor
allem die Situation, das Kind zu pflegen: In dieser Situation existieren nebeneinander die
Wechselseitigkeit und die Dissymetrie. Die Wechselseitigkeit entspricht dem Austausch
zwischen Erwachsenem und Kleinkind auf der Ebene der Selbsterhaltung oder der
Bindung. Die Dissymmetrie kommt daher, dass einzig der Erwachsene in sich ein
verdrängtes sexuelles infantiles Unbewusstes beherbergt, und dass sich dieses
Unbewusste in die Kommunikation auf der Selbsterhaltungsebene einzuschleichen
versucht, und sie dabei beinahe unverständlich macht. Genau das nenne ich die an das
Kind gerichteten „rätselhaften Botschaften“.
Aber man darf nicht übersehen: nicht jeder Erwachsene hat über die Mittel verfügt,
die vom Sexuellen durchzogenen Botschaften seiner Pflegepersonen zu übersetzen, also
sie zum Teil zu verdrängen. In dem einen Fall wird die infantile Sexualität übersetzt und
verdrängt. Im anderen bleibt sie in Form unübersetzter Spuren gegenwärtig, um sich als
perverses Agieren zu äussern.
Verlassen wir diese theoretischen Betrachtungen, um festzustellen, was wir um uns
herum beobachten können. Nämlich das Anwachsen von sexuellem Missbrauch an
Kindern durch Erwachsene. Ich werde mich nicht auf geschichtliche Betrachtungen
einlassen: Ist dieser Missbrauch häufiger geworden oder wird er in Medienberichten und
juristischen Anklagen einfach nur häufiger als früher aufgedeckt?
Was auf jeden Fall auffällt, ist das Verschwinden des Inzests als solchem im
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Verhältnis zu durch Erwachsene begangenen Sexualverbrechen. In Frankreich ist der
Inzest wie gesagt kein Verbrechen an sich (ein Vater und seine erwachsene Tochter
können problemlos zusammenleben), sondern nur ein erschwerender Umstand, der unter
die „von einem Erziehungsberechtigten“ an einem Minderjährigen begangenen Delikte
fällt. Ein einziges Beispiel unter den schrecklichen Schlagzeilen, mit denen uns die Presse
quält „4-jähriges Kind in der Familie vergewaltigt“. Ob es sich um den Vater oder einen
entfernteren Verwandten oder einen Nachbarn handelt, ist für den Schrecken des
Verbrechens unerheblich.
Andererseits und ohne mich hier auf Details begangener Taten einzulassen – die ja
vom unsittlichen Berühren über den Analverkehr und die Fellatio bis zur Quälerei und den
Mord reichen – ist es schwer, dabei nicht an den psychoanalytischen Gedankengang zu
denken, wonach es sich um die perverse Umsetzung von Phantasien aus der infantilen
Sexualität des Erwachsenen handelt. Ich möchte nur einen Punkt hinzufügen: Ich habe
mich früher einmal gefragt, ob die Redewendung „das Sexualverbrechen“ nicht
folgendermassen kommentiert werden könnte: „das als solches immer sexuelle
Verbrechen“. Darunter verstehe ich, dass von den Vergewaltigungen bis hin zu den
unterschiedlichsten Verbrechen – ob sie aus Leidenschaft oder Schurkerei, aus mafiösen
oder terroristischen Gründen begangen werden – die infantile sexuelle Wurzel beim
erwachsenen Verbrecher vom Psychoanalytiker vermutet und erforscht werden könnte.
Weiterhin sieht man in unserer Gesellschaft, so wie sie sich entwickelt, dass das
Inzestverbot angesichts einer bestimmten Entwicklung der Familie schwächer wird: Dafür
sprechen nacheinander die allgemeine Tendenz zur Scheidung, neu zusammengesetzte
Familien, die ansteigende Zahl von Adoptionen, homosexuelle Verbindungen mit und ohne
Kind, das vom Paar entweder adoptiert oder selbst gezeugt wurde. In naher Zukunft –
nicht der Science Fiction, sondern der Entwicklung der Genetik – muss man mit dem
Auftauchen der Parthenogenese oder des Klonierens beim Menschen rechnen. Es sind
dies alles Perspektiven, zu denen sich der Analytiker weder zustimmend noch ablehnend
verhalten muss, wenn er nur bereit ist, sich vorzustellen, dass ihn eines Tages ein
Individuum ohne biologischen Vater oder Mutter aufsuchen wird, das jedoch schon in
seinen ersten Lebenstagen von wohlwollenden Erwachsenen aufgenommen wurde.
So wird man vielleicht beobachten können, wie der Begriff des Inzests immer mehr
verschwimmt und undefinierbar wird und das Sexualverbrechen trotzdem immer mehr
zunimmt.
Um langsam zum Ende zu kommen, möchte ich zwei Überlegungen zu zentralen
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Themen anstellen: einem anthropologischen und einem klinisch-theoretischen Thema.
Das anthropologische Thema trägt als Überschrift den „Triebverzicht“. Es stützt sich
wieder auf Freud und nimmt eine Reihe von Texten auf; denn wie ein roter Faden
durchzieht es sein gesamtes Werk.
Den Anstoss liefert, so scheint mir, ein kleiner Text aus dem Manuskript N. Ich gebe
ihn hier wieder, um ihn anschliessend zu kommentieren:
31. Mai 1897: „'Heilig' ist, was darauf beruht, dass die Menschen zugunsten der
grösseren Gemeinschaft ein Stück ihrer sexuellen und Perversionsfreiheit geopfert haben.
Der Abscheu vor dem Inzest (ruchlos) beruht darauf, dass infolge der sexuellen
Gemeinschaft (auch in [der] Kinderzeit) die Familienmitglieder dauernd zusammenhalten
und des Anschlusses an Fremde unfähig werden. Er ist also antisozial – Kultur besteht in
diesem fortschreitenden Verzicht. Dagegen der 'Übermensch.'“
Ich möchte nur die Wörter unterstreichen, die spätere Ausarbeitungen ankündigen:
 einen Teil der sexuellen Freiheit „opfern“
 „sexuelle und Perversionsfreiheit“
 „die sexuelle Gemeinschaft: auch in der Kinderzeit“.
 „Verzicht“
Schon in dieser Passage wird der Triebverzicht als für den kulturellen Fortschritt
unumgänglich angesehen. Die Deutung des Inzesttabus scheint in die Richtung der
Theorie von Lévi-Strauss zu weisen: Sie scheint mit dem Zugang zu einer grösseren
Gemeinschaft untrennbar verbunden.3
Das Thema des Triebverzichts findet sich im nahezu gleichen Wortlaut des
Manuskripts N4 in dem Text von 1908 „Die kulturelle Sexualmoral und die moderne
Nervosität“ wieder. Es ist dies ein Text, der heutzutage wie ein Hilfeschrei oder sogar wie
ein gedämpfter Verzweiflungsschrei angesichts der „viktorianisch“ genannten Moral klingt.
Denn mit ihr beschränkt sich der Verzicht bei weitem nicht auf die „perverse“ Sexualität,
sondern umfasst alle sexuellen Beziehungen ausser denen, die in der Ehe der
Fortpflanzung dienen. Und dennoch, trotz dieser offensichtlichen Anklage hütet sich Freud
davor, Rezepte zu verteilen oder die „sexuelle Freiheit“ zu propagieren, und noch weniger
gibt er die Vorstellung eines notwendigen „Triebverzichts“ auf.
3
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In den Drei Abhandlungen findet man eine Passage, die in diesem Punkt die Thesen von Lévi-Strauss
vorwegnimmt: „Die Beachtung dieser Schranke ist vor allem eine Kulturforderung der Gesellschaft,
welche sich gegen die Aufzehrung von Interessen durch die Familie wehren muss, die sie für die
Herstellung höherer sozialer Einheiten braucht, und darum mit allen Mitteln dahin wirkt, bei jedem
einzelnen, speziell beim Jüngling, den in der Kindheit allein massgebenden Zusammenhang mit seiner
Familie zu lockern“ (Freud, GW V. S. 127).
Hatte Freud eine Kopie dieses Stückes aus der Korrespondenz mit Fliess aufbewahrt?
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Diese Notwendigkeit des Triebverzichts wird sich von da an durch das ganze Werk
ziehen. Zitieren wir zum Beispiel Zur Gewinnung des Feuers, wo der kulturelle Held
(Prometheus) keineswegs einen Rebellen darstellt, der sich die „sexuelle Freiheit“ auf
seine Fahnen schreibt, sondern denjenigen, der seinen Untertanen den Verzicht auferlegt.
Nicht anders ist es in Das Unbehagen in der Kultur, dessen Mäandern zu folgen, ich mir
sparen möchte, und schliesslich in “Der Mann Moses...”. Durchgehend geht aus allen
Freudschen Texten hervor, dass irgendwo eine Unverträglichkeit zwischen der Sexualität
und der menschlichen Entwicklung hin zum zivilisierten Zustand existiert. Allerdings muss
man sich erst einmal über die jeweils unverträglichen Elemente verständigen.
In Bezug auf das Sexuelle ist Freud ziemlich eindeutig: Von Natur aus unverträglich
ist der polymorph perverse infantile sexuelle Trieb. Doch womit ist dieser Trieb
unverträglich? Hier trifft man auf zwei Antworten, die eine externer, die andere interner
Natur, die man beide aufrechterhalten kann:
Einerseits unverträglich mit der Kultur, mit der Gesellschaft im allgemeinen. Diese
Formulierung hat den Nachteil, dass sie der „Gesellschaft“ eine Art von eigener Kraft oder
Energie und auch eine eigene Absicht zugesteht: nämlich sich selbst zu reproduzieren.
Andererseits unverträglich ... mit sich selbst. Der infantile Sexualtrieb in seinem
ungebundenen, anarchischen Funktionieren, mit seiner Suche nach Erregung und nicht
nach Befriedigung, ist sozusagen selbstzerstörerisch. Da er einzig den Gesetzen des
Primärprozesses folgt, kann er aus sich selbst heraus, nachdem er sich erschöpft hat, nur
nach dem „Niveau 0“ streben, also nach der psychischen und womöglich auch physischen
Zerstörung des Individuums. Genau das ist, wie manche wiedererkannt haben werden,
unsere Deutung des „Todestriebs“ als eines „sexuellen Todestriebs“.
Andererseits heisst aber „Verzicht“ nicht Zerstörung. Der prägenitalen Sexualität
stehen die Wege der (immer nur teilweisen) Verdrängung und der Übersetzung offen, der
Historisierung und Umsetzung in ein Werk; nichts anderes ist die Sublimierung, wenn man
ihr ihren „sublimen“ Aspekt entzieht und darin die Bewegung der Symbolisierung –
Übersetzung
erkennt,
die
den
meisten
Menschen
offensteht.
Erstes
Ziel
der
Sublimierungen ist ganz einfach die genitale Sexualität, insofern sie in der Lage ist, die
infantilen perversen Komponenten zu integrieren.
Ich werde diesen anthropologischen Teil nicht abschliessen, ohne Maurice Godelier
zu erwähnen, einen bedeutsamen französischen Ethnologen-Anthropologen. Sein
Hauptwerk, „les métamorphoses de la parenté“, zeichnet sich dadurch aus, dass vielleicht
zum ersten Mal – oder eines der wenigen Male – ein Anthropologe die Sexualität im
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Freudschen Sinne – also die Sexualität im Sinne von Suche nach Lust – nicht
vernachlässigt zugunsten desexualisierter Begriffe wie Reproduktion, Bündnis oder
Austausch.
Maurice Godelier kommt das Verdienst zu, ohne weiteres „die schlechten sexuellen
Gewohnheiten“ anzugehen, insofern sie sehr viel weitreichender sind als nur der Inzest.
Vielleicht könnte man die Dinge folgendermassen zusammenfassen: Bei den
unterschiedlichsten Völkern ist der Inzest (und sein Tabu) ein praktischer, brauchbarer und
gut definierbarer (aufgrund der Positivität der Verwandtschaftsbezeichnungen) Begriff, der
dazu geeignet ist, Dinge zusammenzufassen, um sehr viel weitreichendere Praktiken zu
brandmarken. Godelier glaubt, dass das Bestehen solcher Verbote für einen geregelten
Umgang mit der auf Reproduktion ausgerichteten Sexualität im Inneren der Gesellschaft
unumgänglich ist. Allerdings, aus lauter Ehrerbietung für die „Gesellschaft“ und ihre
„Macht“ (die beide als richtige Entelechien aufgefasst werden) sieht er nicht, dass diese
Verbote vor allem gegen das anarchische Funktionieren des sexuellen TODESTRIEBS in
der Psyche des Individuums aufgeboten werden.
Die letzte, zugleich klinische und metapsychologische Etappe meiner Ausführungen
hat für uns Psychoanalytiker mehr Bedeutung.
An folgenden Punkten sollten wir nicht rütteln:
„Die Neurose ist das Negativ der Perversion“. Diese Formel Freuds zielt natürlich auf
die infantile Sexualität und setzt voraus, dass sich der Status des sexuellen Inhalts beim
Normal-Neurotiker von dem des psychopathisch Perversen gründlich unterscheidet.
Die grundlegende anthropologische Situation ist das herausragende Merkmal beim
Menschen, sogar jenseits des Ödipuskomplexes.
Die Beziehung Erwachsener/Infans, später Erwachsener/Kind ist gleichzeitig der
Geburtsort der polymorphen triebhaften Sexualität, der Ort, an dem sich Sexualverbrechen
ereignen können und vielleicht sogar (wenn man diese Verallgemeinerung akzeptiert) der
Ort der Verbrechen überhaupt.
Uns von da aus sagen zu lassen wir seien “alle Pädophile”, ist natürlich ein Schritt,
den ich mich weigere, auch nur einen Millimeter weit zu gehen. Dies wäre eine Verwirrung,
die schnell zu folgender praktischer, aber auch ethischer Frage führen würde: Sollte jede
Form des Eindringens der Erwachsenensexualität in das „unschuldige“ Wesen des Kindes
verfolgt und verurteilt, ja sollten die infantile Sexualität und die Freudsche Entdeckung
verneint werden? Bekanntlich gibt es ja alle möglichen Absurditäten, Paralogismen und
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Hexenjagden, deren Ursprung in der Undurchsichtigkeit einer übrigens schwierigen Frage
liegt: nämlich in der Frage der Abgrenzung zwischen den Botschaften, in die sich (und
zwar unvermeidbar), als Symptom, als Versprechen oder als Fehlleistung die unbewusste
infantile Sexualität des Erwachsenen einschleicht, und den sexuellen Handlungen, die das
Kind unter Zwang erleidet, in denen der Teil der Botschaft immer kleiner wird, während die
entbundene Gewalt anwächst, die ein Zeichen für die Perversion und letztlich für den
Druck des Todestriebs ist.
Angesichts der Irrtümer und Hirngespinste der Gerichte, der öffentlichen Meinung
und aller möglichen Experten erscheint es für den Psychoanalytiker (der sich mit Absicht
nicht auf der Ebene des Agierens und auch nicht auf der von Vorschriften situiert)
dringlich, als Richtschnur für seine klinischen Betrachtungen und auch therapeutischen
Interventionen einige theoretische Orientierungspunkte wiederzugewinnen.
Das von mir vorgeschlagene Modell ist also absichtlich theoretisch, und zwar
zugleich dynamisch und topisch. Es ist das der „dritten Topik“, das von Freud zunächst in
seinem Artikel über „Die Ich-Spaltung im Abwehrvorgang“ (1938) skizziert, von Christophe
Dejours ausgearbeitet und von mir in „Drei Bedeutungen des Unbewussten im Rahmen
der allgemeinen Verführungstheorie“ vervollständigt und verändert wurde. Ich möchte hier
das Schema wiedergeben, kann es allerdings nur ganz kurz kommentieren.
SCHEMA
Die vom erwachsenen Anderen kommende kompromittierte und sexualisierte
Botschaft kennt hier zwei Schicksale, sobald sie das Kind erreicht hat. Entweder sie bleibt
“eingeklemmt” bzw. in einem nicht mentalisierten Zustand, sie wird dann vom kleinen Kind
nicht behandelt, nicht symbolisiert, nicht übersetzt. Oder sie wird übersetzt (ein Vorgang,
der zeitlich verzögert einsetzt), in die Geschichte des Subjekts einbezogen und in diesem
Fall besteht ein verdrängter unbewusster Teil fort. Natürlich handelt es sich nicht um den
gleichen Kommunikationstypus, der entweder für immer eingeklemmt oder übersetzbar ist:
Im ersten Fall ist er gewaltsam und unassimilierbar (und stellt kaum eine Botschaft dar), im
anderen zeigt er sich als Wiederkehr des Verdrängten.
Wenn das Subjekt erwachsen wird, wiederholt es diese Alternative hinsichtlich
seines eigenen „Infans“. In dem einen Fall gibt es eine an das Kind adressierte
vorbewusste Botschaft, die durch die Wiederkehr des sexuellen Verdrängten (des
verdrängten Ubw) kompromittiert ist, freilich ohne völlig unübersetzbar zu sein: Das nenne
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ich “rätselhafte Botschaft”. In dem anderen Fall geht es um ein perverses,
psychopathisches, ja sogar psychotisches Handeln, das selbst von einem eingeklemmten
alten Handeln abstammt, in bezug auf das jede psychische Bearbeitung ausgeschlossen
war: Genau das spielt sich heutzutage auf der medialen und gerichtlichen Szene ab.
Natürlich ist diese Topik schematisch, und zum Glück für die therapeutischen
Möglichkeiten können sich die beiden Vorgänge überlappen oder sich gegenseitig
anstecken: Meines Erachtens gibt es kein perverses Handeln, in dem man nicht ein
Stückchen, einen Faden Botschaft zu fassen bekommt. Andererseits kann die
„Behandlung“ des verdrängten Unbewussten eine mitreissende Wirkung auf das
eingeklemmte Unbewusste ausüben.
Schliesslich können sich die Einklemmung und der Ausschluss jeder psychischen
Verarbeitung von „Generation“ zu „Generation“ verändern5. Selbst wenn man so etwas wie
Übertragungen von perversem Handeln-Erleiden feststellen kann, mit Wiederholungen
ohne Verarbeitung, so läuft ein solcher, manchmal „trans-generationell“ genannter
Vorgang tatsächlich nie mechanisch und linear ab. Die Schicksale verlaufen immer
individuell und einzigartig, selbst wenn sie ein gemeinsames Siegel tragen, und alle
Krümmungen in der Abstammungslinie sind möglich, und sei es auch nur aufgrund von
realen und zufälligen Erlebnissen. Eine neue Übersetzung des eingeklemmten Ubw ist
immer denkbar.
Nachdem dies alles späteren Überlegungen vorbehalten bleibt, möchte ich nicht
schliessen, ohne mit Nachdruck auf einen zentralen Freudschen Punkt hinzuweisen: Weit
davon entfernt nur ein Ukas, also ein strenger Befehl des Überichs zu sein, stellt der
Triebverzicht das kulturelle Schicksal jedes Menschen dar: Er muss um seiner selbst
willen die Botschaften des Anderen, einschliesslich ihrer rätselhaftesten sexuellen
Aspekte, übersetzen und historisieren.
5
Ich spreche hier nicht nur von genetischer „Generation“ zwischen Eltern und Kind, sondern genauso von
der Übertragung-Wiederholung unabhängig von der Art der Verwandtschaftsbeziehungen.

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