Verführer, Schurken, Magier

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Verführer, Schurken, Magier
Verführer, Schurken, Magier
Mythos, Rezeption und Typologie sozialer Außenseiter
Werner Wunderlich (St. Gallen)
Der zweite Band unseres Mythen-Projekts war Dämonen, Monstern, Fabelwesen gewidmet. Diese Verkörperungen unheimlicher, diabolischer, phantastischer Kräfte und Mächte bevölkern eine imaginäre, jenseitige, exotische oder magische Anderswelt, die mittelalterliches Bewußtsein freilich auch als ganz real erfahrbar auffaßte und deshalb der empirischen Lebenswelt des Menschen zuordnete. Ganz und gar in der Realität beheimatet,
wenn auch oft mit sehr ungewöhnlichen, sogar übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet
oder auch mit jenseitigen Mächten verbündet, sind die Protagonisten des vorliegenden
Bandes.
Unser dritter Band Verführer, Schurken, Magier befaßt sich mit sozialen Außenseitern und Widersachern der Gesellschaft, die überwiegend negativ dargestellt, freilich
nicht immer auch unter negativen Vorzeichen rezipiert wurden. Die Trias des Titels will
prototypisch solche historischen Personen und fiktive Figuren erfassen, die durch Normverletzungen, Regelverstöße, Sittendelikte, Wertemißachtungen, Verhaltensübertretungen oder Moralvergehen aus der gesellschaftlichen Mitte verbannt worden waren, oder
die sich selbst von der Gesellschaft abgewandt haben und diese von außerhalb bedrohen.
In Eigenschaften und Verhaltensweisen der Figuren spiegelt sich oft das Fragwürdige
gängiger Normen, Sitten und Bräuche sowie die Suche nach Rechtfertigung alter, aber
auch die Begründung neuer ethischer Normen und Werte. Ihre Absonderung als gesellschaftliche Außenseiter, ihre sittlichen Grenzgänge zwischen Gut und Böse, ihre Auflehnung gegen bestehende Ordnung und geltende Rollenzuweisungen, ihre Verletzung von
allgemein verbindlichen Konventionen, ihre als bedrohlich aufgefaßten Handlungen, ihre
unheimlichen Fähigkeiten – all dies macht sie indes auch zu ambivalenten Gestalten.
Immer wieder haben sich Kunst und Literatur ihrer bedient, um die gesellschaftlicher Praxis zugrunde liegenden verbindlichen sittlichen Normen(systeme) der jeweils
herrschenden Moral und die Begründung von Formen und Prinzipien rechten Handelns
zu beweisen oder auch zu verwerfen. Soziale Normen, die menschliches Zusammenleben
prägen, ebenso wie die individueller Handlungsorientierung zugrunde liegenden Werte
sind in ihrem Geltungsanspruch einerseits historisch sozial, politisch und ideologisch gebunden, andererseits aber stellen sie auch immer als Ideale zeitüberdauernde moralische
Ansprüche. Figuren, die solche Prinzipien und Regeln sowie den Umgang mit diesen repräsentieren, sind immer auch durch die Überlieferung im Spannungsfeld von Tradition
und Wandel beständigen Veränderungen in ihrer Gestaltung wie ihrer Wirkung unterworfen. Die Rezeption hat sie deshalb nicht nur zu abschreckenden Warnfiguren, sondern
auch zu anziehenden Identifikationsfiguren werden lassen. Diese Ambivalenz ist oft
schon im Typus der Figuren, ihrem Charakter, ihrem Verhalten, angelegt. Sie wirken wegen ihrer oft außergewöhnlichen Talente und unbekümmerten, gefährlichen, frevlerischen Lebensweise jenseits aller Zwänge anziehend und schrecken doch zugleich auch
aufgrund just solcher Merkmale ab. Unterschiedliche Zeiten fassen sie durchaus unter-
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schiedlich, ja sogar widersprüchlich auf. Zwischen Geschichtlichkeit und Aktualität können Figurengestaltung und Figurendeutung ein und desselben Typs nacheinander oder
auch zugleich mehrere Konkretisierungen hervorbringen. Das vielleicht geläufigste Beispiel dafür liefert Eulenspiegel. Dessen widerwärtiges und ständeschädigendes Verhalten
als negativer Schalk in den gedruckten Ausgaben des 16. Jahrhunderts hat seine literarischen Metamorphosen und populäre Vorstellungen von ihm als weiser Narr, harmloser
Spaßvogel oder sympathischer Schelm nicht verhindert und ihn im 20. Jahrhundert auch
als positives Vorbild zivilen Ungehorsams oder Vorkämpfer gesellschaftlicher Auflehnung auftreten lassen.
Diese mythisierten Vertreter anti-gesellschaftlicher Verhaltensweisen und unkonventioneller Einstellungen sind gewissermaßen Exilanten im Verständnis Isidors von Sevilla, der den Begriff des »exilium« von »extra solum« ableitete und damit über die geographische Vorstellung hinaus den Bereich außerhalb vertrauter Erfahrungsbereiche und
jenseits respektabler Grenzen von Handlungsweisen meinte. Oftmals handelt es sich um
eine Gestalt, die in der Tat als »viator« unterwegs ist und deren Mobilität von einer durch
feste Ordnungen bestimmten mittelalterlichen Gesellschaft überwiegend als bedrohlich
empfunden wurde. Ihr Weg führt weg von den gewohnten und akzeptierten Lebenspfaden, ist buchstäblich eine »Verführung«. Verführer, Schurken, Magier – an keinem vertrauten und vertrauenerweckenden Ort, in keiner Gemeinschaft, oft in keinem moralischen System verwurzelt, marginalisiert oder aus Verweigerung der herrschenden Ordnung freiwillig abgesondert. Ungewöhnliche, unvertraute, unheimliche, aber auch faszinierende Außenseiter, aufbegehrende Widersacher und smarte Versucher, die durch die
Welt nomadisieren und in allen Daseinsbereichen unterwegs sind. Solche Menschen, die
ihre angestammte soziale und geistige Umgebung verlassen, die gegen herrschende ethische Konventionen sowie sittliche Normen rebellieren, die durch kriminelle Taten und lasterhafte Handlungen gegen Regeln und Grundsätze verstoßen sowie traditionelle Einstellungen und soziales Brauchtum bedrohen, die auf listige und tückische Weise Vorteile
erlangen, durch Raub und Mord Macht und Herrschaft erringen, die sich widergöttlicher
Kräfte und übernatürlicher Mittel bedienen, gefährden die christlichen oder andere religiöse Werte, werfen durch Gesetz und Tradition anerkannte Tabus über den Haufen, bedrohen die überkommene Lebensweise und die bewährte Ordnung gefestigter Gemeinschaften, bereiten diesen auch Schande.
Natürlich ist die Palette normenbrechender Andersartigkeit sehr viel differenzierter
und reichhaltiger als dies in der Dreierformel des Titels zum Ausdruck gebracht werden
kann, und selbstverständlich sind die Übergänge zwischen Verführern, Schurken und
Magiern nicht immer klar zu konturieren, sondern sie sind inhaltlich fließend und auch
vom methodischen oder fachlichen Standort der Betrachtung abhängig. Gleichwohl aber
haben wir unseren Titel so gewählt, weil uns seine Bezeichnungen und die ihnen zugrundeliegenden typisierten Verhaltensmodelle und Charaktermerkmale zur allgemeinen wie
zur besonderen Kennzeichnung der im Band vertretenen Figuren angemessen scheinen.
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Mythos und Rezeption
Mythen sind Geschichten von Gestalten und Geschehnissen, vermittels derer Menschen
symbolisch die Welt erklären und damit als Wissen zur Sprache bringen. So vermittelt der
Mythos in Bildern und Geschichten »heilige« Wahrheiten über die Herkunft von Gott
und derWelt, teilt archaische Erfahrungen und Konflikte mit, macht Mensch und Natur
begreiflich, berichtet die Geschichte von Völkern und Kulturen. Mythen sind so gesehen
Medien, die der Mitteilung und Verständigung über jene Vorstellungen dienen. Mythen
speichern als Gedächtnis das Wissen davon und machen es in der Überlieferung der Erinnerung zugänglich. Diese Rezeption von Mythen ermöglicht kulturelle Anamnesis, bewahrt vor historischen, religiösen, sozialen, ethischen, ästhetischen Erinnerungsverlusten und macht beispielsweise antike Modelle für die Ordnung der Dinge oder mittelalterliche Mentalität im Verständnis von Weltbezug zugänglich. Immer schon und immer
wieder; denn fortwährend sind bestimmte Dimensionen und Bereiche von Wirklichkeit
unserer vorstellbaren Erfahrungswelt und unserer erlebten Wirklichkeit einen Schritt
voraus. Was theoretisches Denken, abstrakte Rationalitätsentwürfe, wissenschaftliches
Sprechen noch nicht verbindlich erklären, d.h. als Macht des Unergründlichen enttabuisieren und als Geheimnis des Unbegreiflichen entschleiern können, wird durch den Mythos und seinen Verbindlichkeitsanspruch veranschaulicht, vorstellbar und verständlich
gemacht. Deshalb entstanden und entstehen mit den Vorstößen in neue Wissensbereiche,
mit den Auswirkungen gewandelter Lebensverhältnisse, mit der Entdeckung neuer Welten auch unaufhörlich neue Mythen über das dort vorläufig unerklärlich und geheimnisvoll Bleibende. Mythisierungsprozesse sind nicht auf vergangene Epochen beschränkt.
Künstliche Mythen aus Vergangenheit und Gegenwart, vor allem auch solche, die unser
Jahrhundert als pseudo-mittelalterliche entworfen hat – wie etwa der demagogische Rattenfänger oder die esoterische Hexe –, entspringen oft als massensuggestive Leitbilder
planvollen Kommunikationsstrategien und verschleiern gerne, daß sie Erfindungen sind.
Dennoch wollen sie Sichtweisen auf zeitlose Einsichten und letzte Wahrheiten beanspruchen, indem sie Personen oder Ereignisse, Ideen oder Sachen zu einem Faszinosum mit
mythischer Patina verklären und dadurch, daß sie für bildhaft-symbolisch verdichtete
mythische Realitätskonstruktionen von Seinsformen oder für Sinnfragen Erklärungskompetenz und Moralansprüche behaupten.
So ist der Mythos stets auch wegen seiner Komplementärfunktion zum Diskurs des
Logos und nicht etwa allein schon wegen der vermeintlichen oder tatsächlichen Überlegenheit seiner Bilder und Geschichten in Gebrauch. Was Menschen nämlich an ihrer Endlichkeit verzweifeln und an ihrer Sehnsucht nach Ewigkeit rätseln läßt, kann rational
kaum erklärt werden. Beispielsweise ist selbstverständlich der Hingang der notwendige
Ausgang alles Lebens, also natürlich und unvermeidlich. Gleichwohl versuchen wir die
Einbuße des Lebens durch Momente der Unsterblichkeit, wie sie der Eros gewährt, aufzuheben, um uns letztlich mit dem Tod versöhnen zu können. Deshalb erzählen uns Mythen von Liebe und Tod und helfen uns, sittliche Werte und moralische Normen für deren
Beurteilung und den sozialen Umgang mit ihnen zu entwickeln. Auf dieseWeise schlägt
der Mythos den Bogen vom Einst zum Jetzt und verweist auf das Künftige, gründet also
im Immer. Im Mythos wird das Dazumal, von dem berichtet und erzählt wird, im Derzeitigen erfahren und hilft, Identität auszubilden. Wo auf Fragen nach Herkunft und Ziel
unserer Welt oder nach Ursachen und Gründen unserer Lebensentwürfe Mythen keine
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Antworten mehr für die Welt- und Selbstauslegung des Menschen haben, verlieren sie
ihre Bedeutung und verfallen – oder werden völlig neu realisiert. Deshalb ist der Mythos
nicht nur Vergangenheit, sondern auch beständige Gegenwart. Deshalb kann man sagen,
daß Mythen unser Gedächtnis narrativ organisieren und kollektiver Selbstkonstruktion
dienen. Mythen sind Geschichten, von und in denen eine Kultur lebt.
Natürlich hängt vom Grade der Aufklärung und vom Stand des Wissens ab, in welcher Weise eine Gegenwart den Mythos in Erinnerung ruft, erlebt und nachvollzieht. Wo
rationale Geschichtsauffassung und empirische Naturkenntnisse, wo politische Zeitläufte und gesellschaftliche Entwicklungen Mysterien und Magie entzaubert haben, verliert
der Mythos seine Überzeugungskraft. Wo aber Fragen nach Herkunft und Ziel unserer
Welt oder nach Ursachen und Gründen unserer Lebensentwürfe zu immer neuen Rätseln
führen, behalten Mythen nach wie vor ihre Bedeutung für die Welt- und Selbstauslegung
des Menschen.
Unsere Absicht ist es, Sinn und Tragweite von Mythen und Mythisierungen des Mittelalters, deren ästhetische Konventionen der Darstellung, deren historische Bedeutung
und aktuelles Verständnis, deren Überlebenspotenz zu beschreiben. Dabei wollen wir uns
historischen Personen wie literarischen Gestalten widmen, die beide auf Grund ihrer Typisierung und ihrer Symbolhaltigkeit als Figuren zu Objekten von Mythisierungsprozessen geworden sind. Es geht also darum, wie der Mythos als Produkt der Erinnerung im
Sinne einer Bezugnahme auf das Mittelalter und im Lichte späterer Rezeption hervortritt.
Dabei wird die Mythisierung mittelalterlicher Gestalten nicht einfach »rezipiert«, sondern rekonstruiert, modelliert und auch neu erfunden. Der Grund für das Fortleben in
der Erinnerung liegt in der fortdauernden Bedeutung der Figuren und ihrer Sinnvermittlung, weil sie im Lichte späterer Ereignisse mythisch vergegenwärtigt werden.
Figur und Typus
Unsere drei Titeltypen verkörpern das »Typische« einer Figur, d.h. ein wesentliches Charaktermerkmal oder eine kennzeichnende Verhaltensweise, die in den einzelnen epischen
Ausprägungen der Figur immer wiederkehren und Voraussetzung bzw. Gegenstand ihrer
Mythisierung geworden sind; denn Ziel und Zweck literarischer Figurendarstellung ist es
oft, im Einzelfall selbst zugleich das Allgemeine zum Ausdruck zu bringen und folglich
das Überindividuelle, das Allgemein-Repräsentative zu betonen. In der Tradition der
Aufklärung und ihrer Poetik wird deshalb »Typus« oder »Typ« verstanden als die Erscheinungsform einer Person, die auf gemeinsame charakteristische und wesentliche Merkmale einer bestimmten Personengruppe, aber auch auf die Repräsentanten besonders ausgeprägter Merkmale als Grundform oder als Urgestalt zurückgeht. Dabei lassen sich »Typenmodelle« für literarische Figuren nach Aussehen und Äußerem, nach Charakter und
Mentalität, nach Verhalten gegenüber Schicksal, Natur oder Gesellschaft sowie nach
Handlungsfunktion kategorisieren und beschreiben.
Typenfiguren können nach lebensweltlichen Vorbildern gestaltet oder auch vorgeprägte Standardfiguren mythischen und rein literarischen Ursprungs sein, Figuren der
Erinnerung und Figuren der Geschichte. Reale Personen wie Albertus Magus, Agnes Bernauer oder Nostradamus verwandeln sich in welterklärende Mythen, sobald sie erinnert
und erzählt werden und dabei ihre Faktizität mit Fiktionalität verwoben wird. Wenn No-
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stradamus zum Gegenstand von Anekdoten und Erzählungen geworden ist, verkörpert
er in einem mythenbildenden Prozeß überlieferbare und repräsentierbare Bedeutungen,
die mit der Geschichtlichkeit von Vergil nichts zu tun haben, weil die Figur durch fortlaufende Imagination nach Sinnbedürfnissen und Erzählintentionen rekonstruiert, oder
besser: konstruiert wird.
Auch literarische Figuren, in denen Grundmöglichkeiten menschlichen Lebens und
Grundfragen des Weltverhältnisses Gestalt geworden und die sich allein der Phantasie
verdanken, können Mythen zugrundeliegen haben oder sind jenseits konkreter Textzusammenhänge mythisiert worden. Sie personifizieren neue Entwicklungen und alte Ordnungen, brechen mit Traditionen und drücken Trends aus. Als populäre Leitbilder und
Feindbilder, Warnfiguren, Haßfiguren oder Identifikationsfiguren erfüllen sie Normen,
überbieten sie, stellen sie in Frage, können sie nicht erfüllen oder stiften auch neue. Viele
von ihnen führen ein Eigenleben und sind zur Redensart geworden, wenn wir von einem
»Eulenspiegelstreich« oder von einer »Hanswurstiade«, von einem »Rattenfänger« oder
einem »Jedermann« sprechen. Salomes Verführungskünste oder Reinekes List sind uns
als Chancen wie Gefährdungen menschlichen Seins und gesellschaftlichen Lebens ohne
theoretische Erläuterungen in einem lebenspraktischen Bedeutungszusammenhang auf
Anhieb verständlich. Die Figuren machen Eigenschaften und Verhalten, Positionen und
Mentalitäten auf prägnante Weise sichtbar und schärfen damit unsere Kategorien und
weiten unsere Perspektiven des Wahrnehmens, Empfindens und Urteilens.
Nicht nur wir Leser greifen erinnernd im Gedächtnis kultureller Überlieferung auf
Figuren zurück, auch die Literatur selbst erinnert sich ihrer immer wieder und gestaltet
sie sinnbildend in weiteren Potenzierungen in neu entstehenden Werken der produktiven
Rezeption. Zum einen, weil die Figuren für zeitlose und wiederkehrende Wesenszüge und
Konflikte menschlicher Existenz stehen; zum anderen, weil ihnen als »Kunstpersonen« –
anders als bloßen Personifizierungen abstrakter Begriffe – in ihren geistigen und körperlichen Eigenschaften sowie in ihren sozialen, charakterlichen, geschlechtlich geprägten
Rollen im privaten wie öffentlichen Bereich etwas von der letztlich unerschöpflichen
Vielschichtigkeit des Lebens eignet. Ihr unausgeschöpftes Potential dient der jeweiligen
Zeit immer erneut zum Ausdruck und zur Anschauung ihrer Weltvorstellungen; denn Literatur ist die einzige Möglichkeit, in die Subjektivität eines anderen »Menschen« einzudringen. Die Fiktion stellt die Wirklichkeit so dar, wie sie ein Subjekt wahrnimmt. Deshalb sind literarische Figuren hervorragende Zeugen der Geschichte und mithin auch Medien zur Entwicklung historischen Verständnisses. In manchen Epochen häufen sich bestimmte literarische Figuren so, daß sie zu Leitfiguren werden, an denen sich das Selbstverständnis einer Zeit oder künftige Entwicklungen ablesen lassen. Dies gilt in besonderem Maße für solche Figuren, die in irgendeiner Weise von den allgemein üblichen Konventionen und prinzipiell geltenden Normen ihrer Zeit abweichen.
Außenseiter
Unsere mythisierten Verführer, Schurken und Magier haben überwiegend eine gesellschaftliche Position als Außenseiter inne und spielen eine Rolle als Provokateure. Grundsätzlich liegen dabei zwei Arten des nichtkonformen Verhaltens vor: eine positive und
eine negative Normverletzung. Eine Normverletzung kann dann von einer Mehrheit ak-
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zeptiert und sogar positiv bewertet werden, wenn die Durchbrechung der Normalität
dem Ziel dient, ein von der Gesellschaft akzeptiertes Ideal zu erreichen. Der klassische
Fall eines gesellschaftlichen Außenseiters im positiven Sinn ist der im ersten Band unseres Projekts behandelte Held oder Heilige in der mittelalterlichen Gesellschaft. Der Held
handelt als einsamer Protagonist, der gegen Schicksal und Mächte vorbildhaft Ideale anstrebt und im Kampf um diese untergeht. Der Heilige durchbricht ganz bewußt die Spielregeln der Gesellschaft, in der er lebt und von der er sich bewußt und aus eigener Entscheidung absondert. Wenn wir an diese Art der Kennzeichnung anknüpfen wollen, dann
haben wir es jetzt mit Außenseitern zu tun, die als Übeltäter und Scharlatane, als Sünderinnen und Verderberinnen überwiegend negativ dargestellt oder unter negativen Vorzeichen im literarischen Überlieferungsprozeß und in der gesellschaftlichen Rezeption gewirkt haben.
Verführer
Wer verführt, führt jemand vom richtigen und rechten Weg ins Abseits oder gar in die Irre. Der Verführer oder die Verführerin beeinflussen das Verhalten und die Haltung anderer durch ihre Persönlichkeit, durch Versprechungen, durch Macht, durch Täuschung. Sie
geben damit einer anderen Person für deren Ziele eine neue Richtung an, weisen ihr verbotene Wege, steuern sie zu verlockenden Vorhaben. Sie gehen dabei mit ihrem schlechten Beispiel voran oder begleiten mit ihrem Einfluß ein fragwürdiges Streben.
Insbesondere der sinnliche Bereich und die sexuelle Selbstverwirklichung sind Ziele
von Verführung. Das Verhältnis zu Sexualität und Erotik, die Auffassung von Liebe und
Treue als jenen irdischen Erfahrungswirklichkeiten, in denen Triebbefriedigung und Partnerschaft Tod und Vergänglichkeit im erfüllten Augenblick überwinden, sind für den
Menschen zentrale Daseinsprobleme: Zum einen berühren sie sein Selbstverständnis als
Individuum und seine soziale Rolle im Geschlechterverhältnis; zum anderen betreffen sie
seine Beziehung zu einem moralischen Wertekodex und zu gesellschaftlichen Konventionen. Die sexuellen Bedürfnisse scheinen für den Mann im ganzen, weitgehend patriarchalisch organisierten Mittelalter unproblematisch zu befriedigen gewesen zu sein, außer er
folgte aus frommer Überzeugung oder Angst vor Verdammnis den sehr restriktiven kirchenrechtlichen Vorschriften, die grundsätzlich Keuschheit verordneten und auch eheliche Sexualität ausschließlich zum Zwecke der Zeugung und nur an bestimmten Terminen
des Kirchenjahres zuließ. Ehebruch war Diebstahl im Sinne des die Stellung der Frau als
Besitz sehr nüchtern beschreibenden 10. Gebots: »Du sollst nicht begehren Deines
Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist.«
Die poetische Verherrlichung der Idee ›Frau‹ und die Vorstellung von der Unterwerfung des Mannes unter den Willen der Frau entsprachen nur dem überhöhten höfischen
Leitbild eines patriarchalischen Mittelalters, das umgekehrt in der Moraltheologie die Inferiorität der Frau lehrte. Der männliche Unterwerfungsgestus im Minnesang zielte freilich nicht auf die Unterwerfung unter die Frau, sondern auf die Unterwerfung der eigenen Triebe. Selbstbeherrschung, Affektkontrolle, Gewaltverzicht gegenüber der Minneherrin gehörten zu den Leitideen der höfischen Minnevorstellung und der ritterlichen
Tugenden. Nur der dürfe über andere herrschen, der sich selbst beherrsche. Ein männliches Ich diszipliniert das eigene Begehren und eröffnet dabei der verehrten Frau einen
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Handlungsfreiraum, der ihr ein Zurückweisen des Liebesverlangens von seiten des Mannes ermöglicht. So kommt das paradoxe Resultat zustande, daß der Mann sich zwar völlig
der Frau unterwirft, aber nicht als jemand erscheint, der sich selbst nicht unter Kontrolle
hat. Es handelt sich um eine bewußte, freiwillige Unterwerfung unter die Wünsche der
Frau, nicht unter die eigenen Triebe. Das Objekt, dem man sich unterwirft, die Frau, wird
zum »bonum« erhoben. Als Konsequenz unterwirft sich der Liebende nicht seinem sexuellen Verlangen, sondern den hohen Normen der Gesellschaft, als deren Repräsentantin
die Frau fungiert: eine über die Frau vermittelte, vom Mann freiwillig akzeptierte Affektzügelung und Triebentsagung, stilisiert als gleichsam paradoxe Leidenschaft. Wenn der
einzelne Minnesänger sich in der Rolle desjenigen stilisiert, der in seiner Liebe zu einer
Frau von »triuwe« und »staete« geleitet wird und der sein erotisch-sexuelles Verlangen
unter Kontrolle hat, so findet sich das höfische Publikum mit seinem Wunsch nach idealer Repräsentation hier wieder.
Als Normabweichungen werden in christlich-abendländischer Kultur Versuchung
und Verführung sowie deren Protagonisten dargestellt, um im Kontext historisch gebundener sozialer, politischer, religiöser, rechtlicher oder ideologischer Normen und Regeln
ultimative Fragen von Selbstverwirklichung oder Fremdbestimmung, Lust oder Sünde,
Glück und Leid, Liebe und Leidenschaft aufzuwerfen und zu beantworten. Beide Verhaltensmodelle werden von der Literatur stark standardisiert. Versuchung wird überwiegend
durch eine Frau verkörpert, Verführung vornehmlich durch einen Mann repräsentiert; jedenfalls bis Don Giovanni im Zeichen von Aufklärung und Empfindsamkeit und Carmen
an der Zeitenwende zum 20. Jahrhundert in ihrer Person jeweils beide Modelle vereinen.
In diesen Zusammenhängen von einem weiblichen Bewußtsein zu sprechen, wäre ein methodisch heikles Unternehmen, weil die Rolle der Frau – soweit erkennbar – zumeist nur
indirekt, im Medium der männlichen Traditionen überliefert ist und die entsprechenden
Geschichten primär aus männlicher Perspektive erfunden und erzählt sind.
In antiker und mittelalterlicher, biblischer und epischer Erzähltradition tritt Versuchung als erotische Provokation in Gestalt einer schönen, oft dämonischen Frau und deren heilsgeschichtlich festgelegten Rolle als »femina perfida« an den Mann heran, um ihn
durch Anfechtungen und Verlockungen vom rechten Weg abzubringen. Eine weltverachtende und sinnenfeindliche, in frühchristlicher Tradition verwurzelte Einstellung warnt
eindringlich, man solle sich vor der liebkosenden Frau hüten, damit man nicht betrogen
werde: »Cave tibi a muliere blanda, ne defrauderis!« Frauen wie Eva, Dalila oder Bathseba,
wie Helena, Roxane oder Polyxene, wie Ginover, Viviane oder Melusine verheißen schon
durch ihre bloße Existenz etwas Köstliches, das Mann kennenlernen soll, um sein Glück
zu machen. Männlicher Natur fällt es schwer, den weiblichen Reizen zu widerstehen, und
so verfallen diesen die größten und bedeutendsten Männer der Geschichte und werden
als hilflose und willenlose »Minnesklaven« in ihr Unglück gestürzt. In Konrads von
Würzburg Trojanerkrieg (nach 1280) triumphiert Frau Venus, »der minne meisterîn«,
über die mächtigsten, weisesten, frömmsten und stärksten Männer der biblischen Geschichte:
»der minne strâlen und ir sper
entsitzet allez, daz der ist.
waz möhte Salomônes list
gehelfen wider mîne kraft?
mîn lêre diu wart sigehaft
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an sîner hôhen künste grôz.
Dâvit ouch gegen mir genôz
gewaltes niht ûf erden;
sîn rîcheit muoste werden
geneiget mîner hôhen art.
Adâm von gotes gnâden wart
gebildet und gemachet,
doch het in ouch geswachet
diu minne schiere und ir gebot,
daz er begunde wider got
sô vrevelîchen werben,
daz al sîn künne sterben
muoste durch die schulde sîn.
jô zittert vor dem zorne mîn
vil manges herzen arke.
Sampsônes kraft, diu starke,
wart von mir überwunden.
diu minne hât gebunden
alliu dinc mit ir gewalt.«
(Die Pfeile der Minne und ihr Speer bringen alles aus der Fassung, was männlich ist. Was
konnte Salomons Klugheit gegen meine Gewalt ausrichten? Meine Lehre triumphierte über
seine hohe Weisheit. Auch David konnte über mich keine irdische Gewalt ausüben; seine ganze Macht mußte sich meinem stolzen Wesen beugen. Durch Gottes Gnade war Adam geformt
und geschaffen. Doch auch ihn hat die Minne und ihre Gewalt sehr bald schwach gemacht: er
begann wider Gott sündhaft zu handeln, so daß sein ganzes Geschlecht durch seine Schuld
sterben mußte. Und auch manches böses Herz erzittert sehr vor meinem Zorn. Samsons starke Kraft ward von mir bezwungen. Die Minne hat alles unter ihrer Gewalt.)
Ehe der verruchte Vamp oder die liederliche Straßendirne im bürgerlichen Zeitalter als
dämonische Verführerinnen und erotische Trugbilder in den Rang von Hauptdarstellerinnen aufrückten, waren die Symbolfiguren verderblicher Frauenmacht gleichsam Teil einer
göttlichen Weltordnung, und in ihnen hatten die Vergeblichkeit irdischen Strebens nach
Unsterblichkeit oder die teuflische Wirklichkeit des Lasters Gestalt angenommen. Seit
Pandora ihre Büchse über der Menschheit ausgeleert hatte, war das mythische Dasein solcher Damen für den Existenznachweis fast allen Übels und seine Erklärung gerechtfertigt
und nicht bloß für die Fleischwerdung des nackten Geschlechtstriebs oder der menschlichen Niedertracht zuständig. Einen typischen Fall von Versuchung erzählt eine im Mittelalter weit verbreitete Anekdote von Aristoteles: Der Lehrer Alexanders hatte sich in
die schöne Hetäre Phyllis leidenschaftlich verliebt, und ließ sich von ihr zum Narren machen. Er diente der Angebeteten zum Gespött des makedonischen Hofes als Reittier.
Hans Baldung Grien hat jene Szene 1513 in dem berühmten Holzschnitt »Der zeltende
Aristoteles« festgehalten: Der weißbärtige Philosoph kriecht hüllenlos auf allen vieren im
Passgang, während Phyllis im Damensitz als nackte Domina unter der Haube auf seinem
Rücken thront, in der linken Hand den Zaum, in der rechten eine Reitgerte. So schwingt
die Schönheit ihre Peitsche triumphierend über der Weisheit, und die weibliche Üppigkeit
zügelt den männlichen Intellekt. Was misogyne Tradition und christliche Sexualmoral vehement als Triumph weiblicher Lust und List über die stärksten Helden, mächtigsten Könige, reichsten Herren, gelehrtesten Philosophen, trickreichsten Magier, enthaltsamsten
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Asketen, frömmsten Pfaffen anklagen, könnte freilich auch als
eine Chance fraulicher Macht und
überlegener Weiblichkeit beschrieben werden. Indes, wer sich
auf einen klugen Mann schwingt,
weiß wohin das führt. Der skeptisch blickenden Phyllis scheint
klar zu sein, dass sie auf dem in
Versuchung Geführten nicht allzu
weit kommen wird. Und in der Tat
treten mit Renaissance und Barock allmählich die aktiven Verführer auf den literarischen Plan
und verschieben das Gewicht von
theologischer Sündenabwehr und
komischer Listhandlung im Horizont weiblicher Versuchung auf
die Raffinesse männlicher Eroberungen und ihren Lustgewinn –
und auf die wüstlingshafte Omnipotenz als Skandalon.
War die Versuchung nach
dem Vorbild des Heiligenmodells
eine fast schicksalhafte Begegnung, in der die Ausstrahlung
Venus, Ausschnitt aus einer Miniatur Robinet Testarts
aus Le livre des échecs amoureux, Anfang 16. Jh.
weiblicher Reize gleichsam naturbedingt als Anfechtung des eigentlich passiven Mannes wirkt, gehen nun Initiative und Aktion in der Verführung auf
den aktiven Mann über. Als »Kunst der Verführung« werden schon im 13. Jahrhundert im
Roman de la rose von Guillaume de Lorris und Jean de Meun sowie in den Minneallegorien (beispielsweise der Minneburg) des 14. und 15. Jahrhunderts, dann vor allem in der
galanten Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts nach dem Vorbild der »Kriegskunst« die
strategischen Pläne und oft theatralisch inszenierten taktischen Manöver zur Eroberung
einer Frau entworfen. Mit psychologischem Kalkül und geschicktem Arrangement erotischer Situationen verspricht und beteuert Verführung höchste Befriedigung, weckt Hoffnungen und Erwartungen, erregt und betäubt, um Willfährigkeit und Hingabe zu erreichen. Verführer ist, wer eine Frau, die im Grunde dazu bereit ist, buchstäblich vom rechten Weg wegführt und im übertragenen Sinne zu verwerflichem Tun verleitet. Beispielsweise zu einem erotischen Abenteuer oder zu einer Liebesaffäre, die nicht zu einer dauernden monogamen Bindung führt, sondern der Befriedigung von »herr«lichen Gelüsten
dient. Der Verführer verläßt seine Geliebte, nachdem er ans Ziel seiner Wünsche gelangt
ist, und wendet sich der nächsten zu. Die Verführte und Verlassene mußte für ihre Verfehlung büßen; der Verführer und Entehrer wurde bestraft, wenn man ihn ertappte und
überführte. Verführung war einerseits Herrenprivileg und damit Ehrensache und Erfolgskriterium, andererseits von Kirche und Gesellschaft als Normabweichung verpönt.
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Verführung freilich kann aber jenseits erotischen Begehrens auch bedeuten, jemand
aus Rache oder Böswilligkeit ins Verderben zu locken, zu unrechtem Handeln zu verleiten oder eine Vielzahl von Menschen auf demagogische Weise zu beinflussen, um sie willenlos zu machen und für üble Zwecke und Ziele einzuspannen. Paradebeispiel eines solchen Verführers ist der Rattenfänger, der zunächst als umherziehender Schädlingsbekämpfer Ratten und Mäuse, dann als dämonischer Vergelter für vorenthaltenen Lohn
Kinder aus Hameln in den Untergang ›verführt‹, ehe ihn das 20. Jahrhundert mit den propagandistischen und agitatorischen Erfahrungen des Totalitarismus zum demagogischen
Manipulator von irregeleiteten Massen macht.
Schurken
Die Erscheinung ist älter als
der Begriff. ›Schurke‹ ist im
Hochdeutschen erst seit dem
16. Jahrhundert bezeugt und
bedeutet soviel wie ›nichtswürdiger Mensch‹, ›unehrenhafter Mensch‹ und kennzeichnt im Plural verschlagene Schälke und finstere
Schufte, gerissene Glücksritter und brutale Gesetzesbrecher, gewissenlose Mädchenschänder und verkommene
Halunken. Ständeallegorien
wie Hermen Botes Radbuch
(um 1492/93) warnen vor solchen Menschen, deren moralische Verkommenheit, List
und Tücke sie zu gefährlichen
Gesellschaftsschädlingen
macht. Mit dem Bild des Räderwerkes einer Mühle unterscheidet Bote die nützlichen
Räder von den außerhalb der Dat Brakenrad, aus Hermen Botes Radbuch.
Räderordnung
stehenden.
Das »lukkerad« ist das Glücksrad, wird von Glücksrittern benutzt, vor deren schlechten
Rat Bote warnt, weil die Spitzbuben alle Welt betrügen. Das »braken rad« ist das zerbrochene Rad, Symbol für alle Unredlichen und Verbrecher, die das Räderwerk zum Stillstand und einen Wagen zum Zerbersten bringen können: »Wor sik eyn tobraken rad an
den waghen stickt, de gantze waghen dar wol van entweybrickt.«
So ist die Herkunft der Schurken im Mittelalter zunächst ständisch zu identifizieren,
und sie können als Standestypen definiert werden. In der spätmittelalterlichen Gesellschaft bestanden über unehrliche, d.h. unehrenhafte Tätigkeiten relativ einheitliche Vor-
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stellungen. Sie bildeten einen Teil jenes Systems von Normen und Werten, die das Leben
in den Städten und auf dem Lande regelten. Unehrliche Leute werden als Einzelne oder
als Gruppe ständig oder zeitweise und von Ort zu Ort verschieden diskriminiert. Auslöser sind vor allem persönliche Unfreiheit, uneheliche Herkunft, unheilbare Krankheit,
Fremdheit oder Ausübung eines verfemten Berufs wie Bettler, Bader, Quacksalber, Prostituierte, Henker, Gaukler: Ihre unstete Lebensweise wurde auch mit dämonischen
Kräften in Verbindung gebracht. Ihre Tätigkeit beschränkte sich nicht auf Zauberei, unterhaltsame Kunstfertigkeiten und Trickbetrügereien; sie umfaßte auch häufig Wahrsagerei, Heilkunst und Verkauf von Wundermitteln.
Aber es gibt natürlich auch Verhaltensweisen, die ständisch nicht gebunden sind und
deren moralische oder auch rechtliche Verwerflichkeit ihre Vertreter zu Schurken macht.
Ein bevorzugter literarischer Vertreter des Schurken ist der Verräter. Der Verräter ist an
die Sache oder die Menschen, die er verrät, deren Geheimnis er preisgibt, durch ein Treueverhältnis gebunden. Er steht nicht mehr zu dieser Treue und gibt geheimes Wissen, das
ihm anvertraut ist, in böser Absicht weiter und schadet damit den Verratenen. Oder er
hintergeht Personen und Sachen, ohne diese an Dritte auszuliefern, auf eigene Faust und
vereitelt ihre Pläne zu ihren Ungunsten. Selten vollzieht sich Verrat als offener Parteiwechsel, denn der Verräter muß damit rechnen, daß seine bisherige Partei seine Tat zu
verhindern sucht. Seine Rolle setzt daher die Fähigkeit zur Verstellung voraus, und er ist
häufig besonders listig und von scharfem Verstand, der ihn freilich letztlich oft nicht vor
einem schlimmen Ende bewahrt. Der Verräter verschleiert gegenüber denjenigen, die er
verrät, seine wahren Absichten, ist doppelzüngig, trägt eine Maske. Um Vertrauen bei seinem ahnungslosen Opfer zu erwecken, muß er Ehrlichkeit, Gutwilligkeit, Treue und ähnliche positive Eigenschaften vortäuschen. Er ist fähig, den Charakter und die Absichten
der Menschen, die er verrät, sowie derer, denen er verrät, zu erfassen und ihre Schwächen
auszunutzen. Im Unterschied zum triebhaften Schurken besitzt er bewußt den Vorsatz
zum Bösen und trägt seine Maske nicht nur aus Lust an Spiel und Mimikry, sondern zum
bösen Zweck. Triebfedern des Verrats können Ehrgeiz und Machtstreben, Mißgunst, Leidenschaft, Eifersucht, Geldgier sein. Die Funktion des Verräters ist die eines Mannes zwischen zwei Parteien, in der sich die Aufgaben des Zwischenträgers und des falschen Ratgebers vereinen. Meist fällt die Rolle einer Nebenfigur zu. Allerdings kann seine Rolle so
viel Bedeutung gewinnen, daß er zum mächtigen Gegenspieler dessen wird, den er verrät.
Wird er enttarnt, ist seine Rolle beendet, und er wird entweder zum offenen Gegner oder
bestraft. Sein biblischer Prototyp: Judas, der Apostel, der Jesus an die Hohenpriester
(nach Matthäus für 30 Silberlinge) verriet. In den »chansons de geste«, den französischen
Heldendichtungen des Mittelalters, war dem Verräter als Handlungstyp die Schurkenrolle auf den Leib geschrieben. In der Karlsepik spielt die Sippe des Verräters Ganelon eine
verhängnisvolle Rolle. Ganelon wurde aus gekränktem Ehrgeiz und persönlichem Haß
gegen seinen Stiefsohn Roland zum Verräter und lockte die von Roland geführte Nachhut von Karls Heer in den Hinterhalt von Roncevalles. Ganelons Nachfahren spielen als
Schurken immer wieder eine Rolle. Auch Isembard (Goromond et Isembard, um 1130)
rächt sich für die Kränkung seines Ehrgeizes, läuft zu den Mauren über und fällt mit dem
heidnischen Heer in Frankreich ein. In den Epen von Renault de Montauban und den
Haymonskindern verrät König Yon die vier Brüder an den sie verfolgenden Kaiser Karl
und lockt sie auf hinterhältige Weise in eine Falle.
Eine zentrale Rolle als verräterischer Halunke spielt der biblische Judas im Mittelalter.
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Werner Wunderlich
»Es nahte aber das Fest der ungesäuerten Brote, das Passah genannt wird. Und die Hochenpriester und die Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn umbringen könnten, denn sie fürchteten
das Volk. Aber Satan fuhr in Judas mit Beinamen Iskariot, der aus der Zahl der Zwölf war.
Und er ging hin und besprach sich mit den Hohepriestern und Hauptleuten, wie er ihn an sie
überliefere. Und sie waren erfreut und kamen überein, ihm Geld zu geben. Und er versprach
es und suchte eine Gelegenheit, um ihn ohne Volksauflauf an sie zu überliefern.« (Lk 22, 1–6)
Der zwölfte Jünger Jesu verkauft seinen Meister aus Habsucht für »dreißig Silberlinge«
und verrät ihn durch seinen »Judaskuß«:
»Nu schwigent still vnd land mich machen
ich will bestelen diese sachen
da mit ich verratt den meister min
vnd vast bald wider by üch sin
mir wirt dar vmb ein gutter sold
das ist hübsch gelt ich bin im hold.«
Nach Matthäus (Mt 27, 3 – 5) erhängte er sich aus Reue und Verzweiflung:
»ich will mich selb zu tod erhencken
und dir hie lib vnd sele schencken.«
Dieser biblische Erzschurke ist in Literatur und Malerei des Mittelalters als Mythos präsent, um Neid, Treulosigkeit, mangelnden Glauben an Gottes Verzeihung als schlimme
Sünden zu veranschaulichen und vor ihnen zu warnen. Vor allem Passionsspiele wie das
Egerer, Brixener, Alsfelder oder das sogenannte Jüngere Frankfurter Spiel lassen Judas als
Werkzeug des Satans in Gottes Heilsplan auftreten und setzten die Verzweiflung des reuigen Schurken dramatisch in Szene. Die Legenda aurea übertragen das Ödipus-Motiv auf
Judas, der zum Mörder seines Vaters, zum Gatten seiner Mutter und, um Vergebung für
seine Sünden zu erlangen, zum Jünger Jesu wird.
Immer sind es egoistische Ziele, die der Schurke durch niederträchtige Handlungsweisen zu erreichen trachtet. Gewalt und Intrigen, Arglist und Tücke sind seine Mittel, die
er rücksichtslos zum eigenen Vorteil einsetzt, die ihn zum Gesetzesbrecher und Verbrecher, zum niederträchtigen Lumpen und zum opportunistischen Heuchler machen. Der
eigene Vorteil, den er stets sucht, muß nicht in materiellen Gütern liegen, sondern kann
auch in Triebbefriedung, in Prestigegewinn, in Machtzuwachs begründet sein. Erzhalunken, auf die dies alles zutrifft, sind beispielsweise Mordred und Reineke Fuchs. Ein Schurke, dem immer auch der Ruch des pfiffigen, schlauen Spitzbuben anhaftet, den Literatur
und Publikum ob eines schlimmen Schicksals, ob sozialer Benachteiligung oder auch ob
durchaus sympathischer Charakterzüge seine Handlungsweise nachzusehen bereit sind,
ist beispielsweise der Meisterdieb oder eine Gestalt wie Eulenspiegel, deren unrechtes Tun
als Schelmerei weniger drastisch geahndet, als schwankhafte Bestrafung noch größerer Laster gutgeheißen oder sogar auch als anti-gesellschaftliche Opposition verklärt werden.
Magier
Auf der Grundlage einer abergläubischen Mentalität konnte sich von der Antike bis zur
Aufklärung eine magische Subkultur entfalten. Mangelnde Einsicht in die Ursachen bei
Unglücksfällen, Naturereignissen, Krankheiten weckte leicht den Wunsch, mittels Zauberformeln und Beschwörungen Einfluß auf ein Geschehen zu nehmen, das sich dem
Verführer, Schurken, Magier
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menschlichen Zugriff und den erfahrungsbegründeten Erklärungsmöglichkeiten entzog.
Während des ganzen Mittelalters und bis tief in die Neuzeit, bis ins 18. Jahrhundert und
in manchen Regionen und Lebensbereichen bis in die Gegenwart finden sich immer wieder Frauen und Männer, die mittels magischer Praktiken den Mitmenschen in ihren Wünschen und Ängsten zu helfen oder deren diesbezügliche Bedürfnisse zum eigenen Vorteil
zu nutzen versuchen, während sich umgekehrt stets die Bereitschaft zeigt, teils aus Neugierde, teils aus Hoffnung auf Erfolg und wirklicher Überzeugung heraus, den Rat und
die Hilfe solcher in geheimen Künsten geübten Personen in Anspruch zu nehmen. Dabei
gehören Zauberei und Hexerei seit dem frühen Mittelalter zu den strafbaren Handlungen, die beispielsweise der Sachsenspiegel mit dem Feuertod belegt. Die Constitutio criminalis Karls V. aus dem Jahre 1532 unterschied zwischen »maleficium« (Schadenzauber),
für den sie ebenfalls den Feuertod vorsah, und schadloser Zauberei, bei der das Urteil
dem Richter anheimgestellt wurde.
Im Gegensatz zur Mantik versucht die Magie direkten Einfluß auf die materielle
Welt zu nehmen. Begrifflich unscharf unterschied das christliche Mittelalter zwischen einer gottgewollten weißen Magie (Theurgie) und einer teuflischen schwarzen Magie
(Goëtie). Die »magia naturalis« im Sinne des Albertus Magus oder Roger Bacons meinte
die Beherrschung der Naturgesetze. Die Zauberei bediente sich vor allem der »incantatio« (Beschwörungsformeln, Zaubersprüche) zum Schutze oder Schaden von Mensch
und Tier, oft verbunden mit magischen Kulthandlungen, Zaubertränken u.a. Zur Zauberei kann auch die Beachtung des Gestirnstandes gezählt werden. Seit den Anfängen der
Sternbeobachtung deutet die Astrologie eine übernatürliche Mikro-/Makrokosmos-Entsprechung in die Messergebnisse der Astronomie vor allem zu prognostischen Zwecken
hinein. Als gefährlichste Form der Zauberei galt die Nekromantie, die volksetymologisch
die allgemeine Bedeutung von Schwarzer Kunst annahm.
Überdurchschnittliche Leistungen und Erfolge eines Menschen, vor allem solche,
die für das allgemeine Empfinden etwas Dunkles und Unheimliches an sich hatten und
daher nicht gut mit göttlicher Hilfe oder dank vornehmer Abstammung erklärt werden
konnten, schrieb die Sage gern dämonisch-teuflischem Einfluß zu; oft auch einem förmlichen Pakt mit dem als Teufel personifiziertem Bösen als einer gegengöttlichen Macht.
Die griechische und römische Antike kannte Magie nicht als widergöttliche Macht, sondern als eine von den vielen Gottheiten wie Hekate oder Diana verliehene Eigenschaft,
deren Anrufung allgemein gebräuchlich war. Die Verfolgung und Bestrafung von Magiern war eine Folge ihrer möglichen Schadenswirkung. Erst Christentum und Mittelalter
kennen das Moment des Verrats an Gott, der Verpfändung des Seelenheils. Volkssage und
Dichtung heften das Motiv an Gestalten, denen man mit einer ehrfürchtigen Scheu gegenüberstand. Manchmal wird der Teufelsbündner auch noch – sogar durch Betrug – vom
Teufel befreit, um das Gute triumphieren zu lassen. Die Absichten des Teufels dienen der
Verführung zum Bösen, als Vertragspartner aber ist der Teufel korrekt, so daß er nicht immer der betrogene Betrüger ist. Der Teufelsbündner genießt zunächst die Vorteile der
Partnerschaft und hofft, sich den Verpflichtungen entziehen zu können. Da das Teufelsbündnermotiv Sündenfall, Verdammnis und Bekehrung enthält, ist es häufig in der Legende zu finden. Die Cyprianuslegende (vor 450) erzählt die Bekehrung des Zauberers
Cyprianus durch das Zeichen des Kreuse. Hrotsviths von Gandersheim Basiliuslegende
(um 960) berichtet, wie Basilius seinen Schwiegersohn, der ein Bündnis mit dem Teufel
zur Erlangung von Basilius’ Tochter geschlossen hatte, vor dem Pakt rettet. Hrotsvith er-
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Werner Wunderlich
zählt auch die Legende von Theophilus, der mit Hilfe Marias aus
dem Teufelsbündnis gerettet wird.
Jansen Enikels Weltchronik (um
1280) läßt Virgilius seine Zauberkunst durch einen Flaschenteufel
empfangen, und Hemmerlin überliefert um 1445, daß er die Magie
durch die Zauberkunst Salomos
empfangen habe. Besitzgier ist oft
die treibende Kraft für die Teufelsbündnisse im Mittelalter, die
Schurken zu Räubern und Mördern
werden lassen. Hochmut ist das
Kennzeichen des zauberischen
Klingsors, der im Sängerkrieg (um
1260) gegen Wolfram von Eschenbach antritt, diesen aber nicht einmal mit Hilfe des Teufels Nasion
im Rätselstreit besiegen kann.
Auch die übermenschlichen Gaben
Merlins liegen auf dem Gebiet der
Magie und Prophetie, aber während er als Teufelssproß die Macht
Christi auf Erden besiegen soll,
Titelblatt der Münchner Binsfeld Übersetzung.
nutzt er seine Gaben zum Guten
und initiiert Tafelrunde und Gralssuche. Am Ende des Mittelalters taucht das Teufelsbündnermotiv häufiger auf, weil religiöse Zweifel und Verunsicherungen durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse vieles als
widergöttlich erscheinen ließen, was nicht verständlich war. Vertreter neuen Denkens wie
Paracelsus, Nostradamus, Francis Bacon oder Galilei gerieten in den Ruf der Zauberei
und Gestalten wie Faustus oder Wagner werden zu literarischen Figuren, die Vermessenheit, Besessenheit, Hochmut, Ehrgeiz, Wissensdurst als Frevel darstellen.
Wie bis weit in die Neuzeit der Umgang mit vermeintlichen Zauberern, Magiern und
Hexenmeistern männlichen und weiblichen Geschlechts aussah, schildert Caesare Beccaria, einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten der Aufklärung und Wegbereiter einer Humanisierung des Strafrechts in Europa. Seine Schrift Verbrechen und Strafen erinnert 1788
an das Schicksal derer, die Magiefurcht und Aberglauben zum Opfer gefallen waren: »Allenthalben wurden Scheiterhaufen für die Hexen, so wie für die Ketzer angezündet. [...]
Ein für das allgemeine Wohl, für die Menschlichkeit, und für die wahre Religion sehr eifernder Mann, hat in einer seiner Schriften, aus Neigung zur Unschuld angemerkt, daß
die christlichen Gerichtshöfe, mehr als hunderttausend angeblicher Zauberer und Hexen
verbrannt haben. Füget man nun zu diesen von Rechtswegen angethanen Tödtungen, die
unendlich größere Zahl aufgeopferter Ketzer hinzu, so muß dieser Theil der Welt als eine
große Blutbühne aussehen, die mit Henkern und Opfern bedeckt, mit Richtern, Gerichtsdienern und Zuschauern umringet ist.«

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