Wenn

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Wenn
Die Mystik der Raunächte
Wotans wilde Jagd durch dunkle Winterwälder
Zahlreiche schaurige Legenden ranken sich um die so genannten Raunächte, die Nächte
um Weihnachten und Neujahr herum. Dass diese Zeit einen engen Bezug zur Jagd hat,
ist vielen aber nicht bekannt: So soll in diesen Nächten der germanische Göttervater und
Jagdgott Wotan mit seinen Wölfen und seinem Geisterzug durch die verschneiten Wälder
unserer Heimat gejagt sein. Franz Zwingmann erzählt aus der Sagenwelt.
Franz Zwingmann ist Kulturexperte
und Landesbeauftragter der Jungen
Jäger Bayern.
Z
wischen der Wintersonnwende und Heilig Drei König liegen
zwölf so genannte Raunächte. Sie sind gerade für naturverbundene Menschen wie
uns Jäger sehr eindrucksvol-
le und von Mystik geprägte
Zeiten. Die Stille und die
lange Dunkelheit in den verschneiten Wäldern unserer
Heimat waren in früheren
Zeiten die Wurzel germanisch-keltischer Mythologie
und Nährboden für unheimliche Fantasien: Wotan beziehungsweise Wodan, auch
Odin genannt, der höchste
Gott der Germanen, ihr allmächtiger „Walvater“ aus
dem Göttergeschlecht der
Asen, soll in den Raunächten mit seinem wilden Heer
durch die Lüfte gezogen
sein. Wotan war bekannt
als Sturmgott, aber auch als
Jagd- und Kriegsgott. Durch
die frostklirrenden, raureifverhangenen
dunklen
Winternächte soll einst der
Lärm dieses „Weltenjägers“
und seiner finsteren Schar
gedröhnt haben. Nach dem
germanischen Glauben wurde der Geisterzug neben den
unglücklich zu früh verstorbenen Männern, Frauen und
Kindern manchmal von Wotans Sohn Thor, dem Donnergott, begleitet. Mit von der
Partie war auch immer Wotans Frau Fricka, die dabei
zur wilden Wolkenjägerin
Berchta wurde und schauerliche Gestalt annahm. In den
Raunächten soll es demnach
vom Himmel herab geblitzt
und gedonnert haben, dass
sich die Menschen ängstlich
in ihren Hütten und Höfen
verkrochen.
In beinahe allen germanischen Regionen Europas
glaubten die Menschen an
Wotans wilde Jagd.
Wotans Wilde Jagd wurde unter anderem von dem Norweger Peter Nicolai Arbo (1831 – 1892) gemalt.
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Treu bewacht wurde Wotan stets
von seinen beiden Wölfen Geri und
Freki, die ihn auch auf seinen wilden
Jagden begleiteten.
Nach der heidnischen Vorstellung gab es 13 Götterbezirke, darunter zum Beispiel auch einen für Ullr, den
Gott der Bogenschützen, im
Eibental Ydalir.
Gottvater Wotan thronte
nach dem Glauben der Germanen in Walhall, der so
genannten
Himmelsburg
der gefallenen Helden, die
von den Riesen im Auftrag
der Götter erbaut worden
sein soll. Sie stand in Wotans geliebter Freudenwelt
Gladsheim. Dort residierte
er, wenn er sich nicht an
seinem Wohnsitz Walaskjalf
aufhielt, wo er von seinem
Thron Hildskjalf aus die
weite Welt überblicken
konnte, oder als Kriegs- und
Jagdgott mit einem wilden
Heereszug unterwegs war.
Walhall soll 540 Tore gehabt
haben. Jeder dieser Eingänge soll so breit gewesen sein,
dass nebeneinander 800 gefallene Krieger gleichzeitig
hindurchschreiten konnten,
um in der Ehrenhalle der
Helden Platz zu nehmen.
Der Allgott Wotan ritt auf
seinem wuchtigen achtbeinigen Rappen Sleipnier, dem
kein anderes Pferd gewachsen war. Zur Raunachtzeit
soll er dem gespenstischen
Wildeber Gullinborsti nachgejagt sein, der dem Sonnengott Freyr geweiht war
und goldene Borsten gehabt haben soll; denn die
Wintersonnenwende
war
gekommen, das Ende der
schrecklichen immerwährenden Dunkelheit. Wotan
trieb die Sonne, die sich so
lange hinterm Horizont verborgen hielt, zurück an den
Himmel. Mächtig schwang
der Raugott seinen Speer
Gugnir, der nie sein Ziel
verfehlte und stets in seine
Hand zurückkehrte wie der
Hammer seines Sohnes, des
Donnergottes Thor – zwei
Wunderwaffen, von denen
die Menschheit seit Urzeiten
träumten.
Der wilden Jagd voraus sollen Wotans Raben Hugin und
Munin geflogen sein, die dem
Allvater und Weltjäger von
allen Enden der Erde und
des Himmels die neuesten
Nachrichten brachten. Sie
setzten sich auf seine Schultern, einer rechts und einer
links, um ihrem Herrn das
Erlauschte einzuflüstern.
Das Hauptziel dieses „Spionagesystems“ des Obergottes war es, die Menschheit
stets in Feindschaft und
Kriegslaune zu halten. Denn
je mehr Kriege und damit
Gefallene anfielen, umso
größer war der Jubelchor
der Tapferen zu Füßen ihres obersten Kriegsherren.
Nur wer auf den Schlachtfeldern der Germanen fiel,
konnte von Wotans Schankmädchen, den Walküren,
aufgesammelt werden und
erfolgreich nach Walhall
einziehen.
Treu bewachten die beiden
Wölfe Geri und Freki ihren
Herrn. War er in Walhall
und nicht auf der Jagd, mussten die beiden alle Speisen
vorkosten, die man Wotan
vorsetzte, denn die Angst
vor vergifteten Speisen war
beim Göttervater groß.
Zur wilden Jagd liefen
auch die Wölfe mit. Alrunen, mythologische Hexen, flogen und flatterten
ums schauerliche Heer. Sie
konnten die Zukunft deuten und Wetter machen
– meist schlechtes.
An
den so genannten Wodanseichen ließ der Heidengott
oft Schätze zurück, die einer
seiner Wölfe bewachte. Die
göttlichen Jagdbegleiter hatten der Sage nach ein graues
Fell, das wie Eisen schimmerte, und tellergroße feurige Augen. Wer den verwegenen Mut aufbrachte, um
Mitternacht in den Wald an
den alten Thingplatz, den
Versammlungsort der Germanen, zu gehen und den
Götterwolf dreimal vom
Behang bis zum Schweif zu
streicheln, dem sollte der
Schatz des Wotan gezeigt
werden. Dies soll keinem jemals gelungen sein.
In den Raunächten legte
Wotan, so glaubten die Germanen, seine Wölfe auch an
den germanischen Heiligtümern ab. Diese als Irminsul
bezeichneten altargleichen
Säulen symbolisierten die
Weltesche Yggdrasil.
Damit die Wölfe nicht weiterliefen, soll ihnen ihr göttlicher Herr einen schweren
Eichenknüppel um den Hals
gehängt haben. Aus der Luft
aber rief, wenn der Wintersturm am ärgsten braust,
Wotan laut und deutlich:
“Wilte met, wilte met?“
Seine Wölfe antworteten
ihm mit Gebell, erhoben
sich in die Luft und eilten
hinterher – und weiter ging
es mit der wilden Jagd.
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