2 “Entdeckung” des Atomkerns - Rutherford
Transcription
2 “Entdeckung” des Atomkerns - Rutherford
“Entdeckung” des Atomkerns - Rutherfordsches Streuexperiment 2 31 “Entdeckung” des Atomkerns - Rutherfordsches Streuexperiment Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt das Thomsonsche Atommodell (1903): das Atom ist eine Kugel in der die Masse und die positive Ladung homogen verteilt ist. In dieser Kugel sitzen die negativ geladenen Elektronen. Daher auch die Bezeichnung Rosinenkuchenmodelloder Puddingmodell (englischer “pudding”). Der bahnbrechende Fortschritt kam durch die Ergebnisse eines Experiments, das 1909 an der Universität Manchester durch Rutherford, Geiger und Marsden durchgeführt wurde. Eine dünne Goldfolie1 (ca. 2000 Atomlagen) wurde mit Alpha-Teilchen (4 He-Kerne) aus einer Quelle beschossen. Dass es sich um He-Kerne handelte, war bereits bekannt2 . Ein Kollimator definierte die Einfallsrichtung des “α-Strahls”. Die gestreuten Alpha-Teilchen wurden auf einem Leuchtschirm nachgewiesen und gezählt. Wichtigste Beobachtungen: • die meisten α-Teilchen passieren die Folie mehr oder weniger ungehindert • unter allen Winkeln, also auch Rückwärtswinkeln (> 90◦ ) bis hin zur Rückstreuung, werden α-Teilchen nachgewiesen “ .. es war beinahe so unglaublich, als wenn man mit einer 15-Zoll-Granate auf ein Stück Seidenpapier schießt und die Granate zurückkommt und einen selber trifft.” (Rutherford über das Goldfolienexperiment) • die Anzahl der gestreuten α-Teilchen wird mit wachsendem Winkel schnell kleiner Das war mit dem Thomsonschen Atommodell nicht verträglich. Hier hätte man erwartet, dass die α-Teilchen alle zurückgestreut werden, wenn sie in die “Au-Atome” nicht eindringen können (Reflexion an undurchdringlicher Wand). Oder wenn sie in das Au-Atom eindringen könnten, würde dies aufgrund von Vielfachstreuung an den ausgedehnten positiven Ladungen des Atoms (“random walk”) zu einer Gaussförmigen Verteilung um 0◦ führen (Herleitung z.B. in W. Demtröder “Experimentalphysik 3”). Keines von beiden wird beobachtet. Diese tatsächlichen Ergebnisse führten zur Entwicklung des Rutherfordschen Atommodells: die Masse des Atoms und die positive Ladung sind in einem sehr kleinen Kern konzentriert, das Atom ist also im wesentlichen eine leere Kugel! Die Elektronen umkreisen diesen Kern und schirmen so die positive Kernladung ab, sodass das Atom nach aussen hin neutral erscheint. Streuexperimente führten nicht nur zur “Entdeckung” des Atomkerns, sondern ein Gutteil unserer Erkenntnisse über Kerne haben wir aus Streuexperimenten, elastischer Streuung oder Kernreaktionen, wie wir in der weiteren Vorlesung sehen werden. Im folgenden wird der quantitative Zusammenhang zwischen Streuwinkel und Streurate hergeleitet. Ein Strahl von Teilchen fällt auf eine Streufolie (wird in der Kernphysik als 1 Gold lässt sich bekanntermassen leicht zu dünnen Folien auswalzen. Das Experiment funktioniert natürlich mit jedem Element. 2 Legt man einen α-Strahler in ein evakuiertes Gefäß, kann man das entstehende Gas anhand der charakteristischen atomaren Übergänge als Helium identifizieren. 32 “Entdeckung” des Atomkerns - Rutherfordsches Streuexperiment Target bezeichnet). Wenn ein einfallendes Teilchen ein Streuzentrum, also z.B. einen Kern im Target, trifft, wird dies als “Reaktion” bezeichnet. Zunächst wird nun der in der Kernphysik sehr wichtige Begriff des Wirkungsquerschnitts definiert: Zahl der Reaktionen/s . (51) jωA j: Stromdichte, also Zahl der einfallenden Teilchen pro s und pro Fläche A ω: Dichte der Streuzentren auf Fläche A, also ist ωA die Zahl der Streuzentren. In einem simplen geometrischen Bild gibt das Produkt σω den Bruchteil der Fläche des Targets an, an dem Reaktionen stattfinden. Der Wirkungsquerschnitt ist also die Fläche, die ein Streuzentrum, dem Strahl entgegenstellt. Je grösser der Wirkungsquerschnitt pro Streuzentrum, desto mehr Reaktionen finden statt. Die Einheit für Wirkungsquerschnitte ist 1 b (Barn, 1 b = 10−24 cm2 = 100 fm2 ). Häufig wird eine Reaktionsrate in Abhängigkeit vom Streuwinkel untersucht. Diese wird dσ , also der Wahrscheinlichbeschrieben durch einen differentiellen Wirkungsquerschnitt dΩ keit, dass ein Teilchen nach einer Reaktion in ein Raumwinkelelement dΩ gestreut wird. Diese wird im allgemeinen vom Streuwinkel θ abhängen. Die Einheit ist entsprechend Barn/Steradian (b/sr). Das Integral über den gesamten Raumwinkel ergibt dann den totalen Wirkungsquerschnitt: σ= Z π dσ dσ dΩ = 2π sin θdθ (52) σtotal = dΩ dΩ 0 Bei einem klassischen Stossprozess besteht ein fester Zusammenhang zwischen dem Abstand b der einlaufenden Teilchen zur Strahlachse und dem Streuwinkel θ. Aus der Teilchenzahlerhaltung ergibt sich, dass alle Teilchen, die in der Ringzone [b, b + db] einfallen, in das Raumwinkelelement dΩ mit der Streuwinkelzone [θ, θ + dθ] gestreut werden: Z j2πbdb = j2π sin θdθ dσ dΩ . (53) Die Grösse b wird als Stossparameter bezeichnet. Aufgelöst nach dem diff. WQ (Wirkungsquerschnitte sind definitionsgemäss positive Zahlen, daher die Betragsstriche): dσ b db . (54) = dΩ sin θ dθ Für die Herleitung der Rutherfordschen Streuformel nehmen wir nun an, dass es sich um eine Streuung zweier positiv geladener Teilchen Z bzw. Z 0 im reinen Coulombpotenzial handelt: ZZ 0 e2 (55) r Aus der Mechanik ist bekannt, dass die entsprechenden Teilchenbahnen Hyperbeln sind (Keplerbahnen). Ohne die vollständige Herleitung hier zu rekapitulieren, sei hier nur der relevante Zusammenhang angegeben (E ist die kinetische Energie des einfallenden Teilchens): V (r) = “Entdeckung” des Atomkerns - Rutherfordsches Streuexperiment 33 ZZ 0 e2 1 cot θ (56) 2E 2 Exakt gilt die obige Formel im Schwerpunktsystem, E und θ sind also entsprechend zu verwenden. Wenn die Masse des Projektils sehr viel kleiner als diejenige des Targets ist, sind Schwerpunkt- und Laborsystem sehr ähnlich (näheres dazu später im Abschnitt “Kernreaktionen” der Vorlesung). d Einsetzen der Formel (56) in (54) führt dann zu (mit dθ cot θ = − sin−2 θ und sin θ = 2 sin 12 θ cos 12 θ) b= dσ dΩ ZZ 0 e2 cos 21 θ 1 1 ZZ 0 e2 1 1 1 2E sin 2 θ 2 sin 2 θ cos 2 θ 2E 2 sin2 12 θ 2 1 ZZ 0 e2 . = 4E sin4 12 θ = (57) Dies ist die berühmte Rutherfordsche Streuformel. Sie beschreibt genau das von Rutherford et al. experimentell beobachtete Verhalten der Streurate als Funktion vom Streuwinkel. Problematisch erscheint zunächst die Divergenz bei 0◦ . Sehr kleine Winkel gehören zu sehr grossen Stossparametern weit entfernt vom Kern, wo die Elektronen bereits das Coulombfeld des Kerns abschirmen und die bisherige Betrachtung modifiziert werden muss. Eine alternative Schreibweise erhält man, wenn man den diff. WQ als Funktion des Impulsübertrags ~q = p~ − p~ 0 angibt. Für elastische Streuung gilt |~ p| = |~ p 0 | (Impulsbetrag (Energie) vor dem Stoss ist gleich Impulsbetrag (Energie) nach dem Stoss) und damit q/2 1 . sin θ = 2 p Dies eingesetzt in Formel (57) ergibt (E = dσ dΩ p2 2m ): 2 = ZZ 0 e2 2p2 /m = 2mZZ 0 e2 (58) 16p4 q4 2 1 q4 (59) Der diff. Wirkungsquerschnitt ist also umgekehrt proportional zur 4. Potenz des Impulsübertrags. Dieses Ergebnis werden wir später genauso bei der quantenmechanischen Behandlung des Problems in Bornscher Näherung erhalten. Um mit diesen Betrachtungen etwas vertrauter zu werden, betrachten wir nun noch als Beispiel die elastische Streuung an einer harten Kugel mit Radius R. Das Streupotenzial ist also gegeben durch +∞ , wenn r < R V (r) = 0 , wenn r > R. (60) 34 “Entdeckung” des Atomkerns - Rutherfordsches Streuexperiment Aus Einfallswinkel α gleich Ausfallswinkel ergibt sich 2α + θ = π ⇒ α = π θ θ − ⇒ sin α = cos 2 2 2 (61) Mit b = R sin α (2 sin θ cos θ = sin 2θ und sin 2θ ≥ 0) ergibt sich also aus Formel (54) dσ dΩ R cos 2θ = sin θ θ 2 R θ sin = R cos 2 R sin θ = R . 2 θ θ 2 2 4 2 sin 2 cos 2 2 (62) Der differentielle Wirkungsquerschnitt hängt also nicht vom Streuwinkel ab, er ist isotrop. Der totale Wirkungsquerschnitt beträgt σtotal R2 = 4 Z dΩ = R2 4π = πR2 . 4 (63) Das ist natürlich genau das Ergebnis, das wir in unserem anschaulichen Bild für den Wirkungsquerschnitt erwarten würden: die Projektion der Kugel in die Ebene senkrecht zur Strahlachse ergibt die Fläche, die das Streuzentrum dem Strahl entgegenstellt. Die Bedeutung dieser Überlegungen liegt nun in der Inversion des Verfahrens: aus der Messung des diff. Wirkungsquerschnitts gewinnt man Rückschlüsse über das streuende Potenzial, z.B. die Ladungsverteilung im Kern (oder bei höheren Energien in Hadronen → Entdeckung der Quarks) oder die Form des Kernpotenzials. Die Form des streuenden Potenzials wird so lange variiert bis der gemessene diff. WQ reproduziert wird. Zusammenfassung Streuexperimente sind einer der wichtigsten experimentellen Zugänge zur Untersuchung von Kernen. Zwei Teilchen (Kernen, Elektronen, Myonen, ...) werden aufeinander geschossen und die Reaktionsprodukte nach Teilchensorte, Energie, Impuls, Streuwinkel usw. analysiert. Die Abhängigkeit der Streurate vom Streuwinkel wird duch den differentiellen Wirkungsquerschnitt beschrieben. Er verknüpft die Eigenschaften des Streupotenzials (also die verantwortliche Physik) mit der experimentellen Beobachtungsgröße, der Streuwahrscheinlichkeit bzw. “Zählrate”. Im Rutherfordsche Streuexperiment wurde beobachtet, dass (a) die meisten α-Teilchen eine dünne Folie ungehindert durchdringen und dass (b) wenige α-Teilchen gestreut wetrden, wobei alle Streuwinkel prinzipiell vorkommen können. Folgerung: der Kern ist sehr klein im Vergleich zum Atom und beinhaltet fast die gesamte Masse des Atoms sowie die gesamte positive Ladung. Für die elastische Streuung von zwei Punktladungen im reinen Coulombpotenzial ergibt sich die Rutherfordsche Streuformel. Der differentielle Wirkungsquerschnitt ist ∝ sin−4 2θ (θ ist der Streuwinkel) bzw. zu q −4 (q ist der Impulsübertrag). Impulsübertrag, Streuwinkel und Stossparameter b stehen bei elastischer Streuung in eindeutiger Beziehung. Die Messung eines Wertes, z.B. des Streuwinkels, legt die anderen beiden fest! Experimenteller Aufbau des Rutherfordschen Streuexperiments Thomsonsches Atommodell 4He ++ Rutherfordsches Atommodell Anschauliche Interpretation der Ergebnisse 179Au θ+dθ θ b Ringfläche 2π b db Raumwinkel 2π sin θ dθ Geometrische Verhältnisse bei der Streuung dσ 1 (θ ) ∝ θ dΩ sin 4 2 aus W. Demtröder „Experimentalphysik 3“ Differentieller Wirkungsquerschnitt für Rutherford-Streuung r r r q = p − p′ r p′ r q θ r p Impulsdiagramm ⎧+ ∞ für r < R V (r ) = ⎨ ⎩0 für r > R α b θ α α R Streuung an harter Kugel 38 “Entdeckung” des Atomkerns - Rutherfordsches Streuexperiment