LERNEN DURCH KOPIEREN

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LERNEN DURCH KOPIEREN
Methodik
© Regine Schultz-Greiner
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Von Tokyo nach Matsumoto fährt man drei
Stunden mit dem Zug. Die kleine Stadt am
Fuß der japanischen Alpen zählt zu ihren Sehenswürdigkeiten die Burg, das prachtvolle
Bergpanorama und das Suzuki-Talent-Institut. Hier treffe ich Koji Toyoda, der nach seinem Unterricht bei Shinichi Suzuki in Matsumoto und dem Studium in Paris Erster Konzertmeister des Radio-Symphonie-Orchesters
Berlin wurde und heute das Suzuki-Institut
als Künstlerischer Direktor leitet.
Schon fast siebzig Jahre datieren die ersten
Berichte über Suzukis Unterricht in Matsumoto zurück und der USA-Besuch seiner Schüler 1964 verursachte einen heftigen Schock
in der dortigen pädagogischen Szene. Wie
war es möglich, dass so viele Kinder derart
makellos und gleichartig, dabei so routiniert
spielten? Fasziniert begann man damals in
der amerikanischen Lehrerschaft und ihrem
Verband, der American String Teachers Association (ASTA), sich mit Suzukis Konzept zu
befassen.
LERNEN DURCH KOPIEREN
Bei meinem Besuch in Matsumoto konnte ich
eine Unterrichtsstunde von Mikiko Yuki besuchen, in der sie nacheinander einen dreijährigen, einen sechs- und einen achtjährigen
Jungen unterrichtete. Ich wurde Zeugin einer
„klassischen“ Suzuki-Unterrichtssituation:
Die Mutter der drei war die ganze Zeit im
Raum, machte sich Notizen und half vor allem dem Kleinsten über die lange Wartezeit
hinweg. Aber, frage ich Koji Toyoda, lässt sich
diese Elternmitarbeit – ein unbedingtes
Muss in Suzukis Unterricht – unverändert
weiterführen oder sind Veränderungen in der
japanischen Gesellschaft spürbar, die eine
Anpassung des Instrumentalunterrichts erfordern?
„Viele Mütter“, so Toyoda, „sind heute auch
in Japan berufstätig, wodurch sie über viel
weniger Zeit verfügen als vor vierzig oder
fünfzig Jahren, um sich um ihre Kinder zu
kümmern. Jedoch geben sich die meisten Su-
zuki-Mütter Mühe, die nötige Zeit irgendwie
zu finden. Die Mütter sind Lehrerin oder
Controllerin im gesamten Prozess der Lernarbeit der Kinder. Die Lehrer geben ihnen nur
Hinweise, damit sie die Sache richtig verstehen und wissen, wie sie üben sollen. Kindern
muss wenigstens einer ständig beistehen,
nicht wahr? In meiner Zeit in Japan waren es
fast nie Mütter, sondern Väter!“
Sehr beeindruckt war ich vom großen Repertoire der Kinder. Von sechzig Minuten Unterricht wurden etwa fünfzig Minuten lang
Stücke aus Suzukis Sammlung gespielt, begleitet von einer CD. Nur einen Teil der verbleibenden Zeit verwendete die Lehrerin auf
Korrekturen. Die Kinder wurden sehr gelobt,
wenn sie das Vorbild der CD genau kopierten!
Ist es vorstellbar, dass sich Kinder irgendwann mit einem solchen Vorbild nicht mehr
identifizieren können oder wollen? Dass sie
die Stücke auf andere Weise oder einfach andere Musik spielen möchten? Ich möchte von
üben&musizieren 2 13
Methodik
Nachahmung
oder Variation?
Gedanken zu Shinichi Suzukis und
Paul Rollands Unterrichtskonzepten
Regine Schultz-Greiner
Was hält die nun schon 70 Jahre alte Suzuki-Methode am Leben?
Muss sie sich ändern, um weiter erfolgreich zu bleiben? Und wie lässt
sie sich vergleichen mit dem in Deutschland weit häufiger genutzten
Konzept für Streichergruppenunterricht von Paul Rolland?
Koji Toyoda wissen, wie viele Kinder mit dem
Unterricht aufhören, z. B. weil sie ein neues
Vorbild finden. „Das Wort ,kopieren‘ hassen
alle Europäer, ich weiß. Aber wie sonst kann
man ihnen ihre Muttersprache beibringen?
Sie kopieren von der Geburt an alles, was die
Eltern, Großeltern, die Geschwister, kurz gesagt ihre Umgebung tut. So nennt man ihre
erste Sprache mit Recht ,Muttersprache‘. Das
Kopieren ist der Beginn von Kultur überhaupt.
Mit der Zeit allerdings haben die Kinder nicht
nur ein Vorbild, sondern mehrere.“
Doch dass Kinder allein durch das Hören von
Stücken auch lernen, mit welcher Technik sie
zu spielen sind, ist schwer vorstellbar. Wie
werden ihnen Spielbewegungen z. B. für Bogenartikulationen oder Vibrato erklärt? Bekommen die Kinder Erklärungen oder Bilder
als Konzepte für die verschiedenen Bewegungen? „Kinder werden vom Hören der hohen Leistungen der Meister auf CDs innerlich
vorbereitet, die Stücke zu erfassen“, so Toyodas Antwort. „Selbstverständlich bekommen
sie die nötige Erläuterung und Orientierung
durch praktische Übungen im technischen
Bereich. Die Mütter lernen am Anfang selber
mit, wie man mit den Instrumenten umgehen
soll, aber im Allgemeinen überholen die Kinder ihre Mütter schnell. Das Notenlesen lernen sie natürlich auch bald, aber das Hören
hat Priorität im Alter von 0-5.“
Die Frage, ob denn instrumentales Lernen
durch Vor- und Nachspielen und das Hören
von aufgezeichneter Musik dem Lernen der
Muttersprache gleicht, ist bereits ausführlich
diskutiert worden. Werner Jank hat dargelegt, wie sich Sprechenlernen und Musiklernen an zentralen Punkten unterscheiden:
„Sprechen allerdings [ist] eine Fähigkeit, die
so gut wie alle Menschen vom ersten Tag ihres Lebens an lernen – in vielen beiläufigen
Handlungen der Erwachsenen mit den Kindern, im alltäglichen Umgang miteinander
und keineswegs immer auf der Basis gezielter und absichtsvoller Lernimpulse durch die
Erwachsenen.“1
DIE ROLLE DER LEHRKRAFT
Im Instrumentalunterricht nach Suzukis Konzept führt das dauernde Umgebensein mit
Musik dazu, dass Kinder ihr zukünftiges Repertoire bereits kennen lernen, lange bevor
sie in der Lage sind, dieses Repertoire selbst
auf einem Instrument wiederzugeben. Wie
nebenbei lernen sie Unterrichtsatmosphäre
und -rituale, im günstigen Fall ihre zukünftige Lehrkraft kennen, wenn sie den Unterricht
der älteren Mitschüler miterleben.
Suzuki stellt sich seine SchülerInnen wie unbeschriebene Blätter vor und es hängt daher
fast ausschließlich von der Lehrperson ab,
welche Stücke ein Schüler kennt und wie er
sie musizieren kann. Auf die Außenseiterstellung dieser Auffassung von Lehreraufgaben
hat Ulrich Mahlert hingewiesen, als er 1988
die Pädagogik Suzukis mit anderen pädagogischen Konzepten verglich.2 Auf der genauen Gegenposition zu Suzuki finden wir in diesem Vergleich Maria Montessori mit ihrem
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Methodik
Bild des Lehrers, der sich möglichst oft quasi
passiv verhält, „um zu bewirken, dass das
Kind von sich aus tätig werden kann“.3
Ausgangspunkt für Mahlerts Vergleich bildete die Tatsache, dass Suzuki den Instrumentalunterricht als eine Art Nebenprodukt seiner Menschen- oder Charakterbildung sah. In
erster Linie kam es ihm darauf an, dass seine
SchülerInnen durch den sozialen und disziplinarischen Rahmen, den ihnen der Unterricht gab, zu „guten Menschen“ heranwüchsen. Eindringlich schilderte Suzuki am Beispiel von Koji Toyoda, der in den Jahren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs
in seinem Haushalt lebte, wie sich viele Kinder, durch Kriegsereignisse und Flucht entwurzelt, unter dem Eindruck regelmäßiger
Zuwendung im Geigenunterricht annähernd
altersgemäß entwickeln konnten.4
In Deutschland ist Suzukis Werk später immer eher als Geigenschule – auch übertragen
für andere Instrumente – rezipiert worden.
Diese Akzentverschiebung wird von Koji Toyoda ausdrücklich gutgeheißen. Zwar führt
er die weite Verbreitung der Suzuki-Methode
auf ihr Verständnis als Erziehungsmethode
zurück, sieht aber den Instrumentalunterricht als eigentlichen Kern an: „Die SuzukiMethode wird in Universitäten, besonders in
den USA, als pädagogische Philosophie vermittelt. Der praktische, direkt fruchtbringende Bereich des Unterrichts mit den Jüngsten
ist zwar sehr weit verbreitet, wird aber zu wenig thematisiert.“
spielen alle Suzuki-Stücke auswendig – zu
jeder Zeit, bei allen Gelegenheiten für sich
oder mit anderen Kindern zusammen, sodass
die Musik vertraut wird wie ein Teil ihres Körpers.“
Große Gruppen von mehreren LehrerInnen
oder aus verschiedenen Orten zusammenzufassen, ist vor allem möglich durch ein gemeinsames Repertoire, das allen bekannt
und in der beschriebenen Weise geläufig ist.
Hier begrenzt sich Suzukis Methode durch
ihre eigenen Vertreter offenbar stark selbst.
Gruppenstunden und -konzerte nutzen seit
Jahren vor allem das Material aus Suzukis
erster Stücke-Sammlung und nicht die von
Suzuki selbst vorgeschlagenen Alternativen.
Vermutlich könnte jeder Pädagoge und jede
Pädagogin unzählige Stücke nennen, die im
Sinne einer progressiv angeordneten Sammlung einen Platz in Suzukis Violin School einnehmen könnten. Stattdessen wurde Suzukis Methodik bis in die 1990er Jahre als geschlossenes System tradiert. Von übereifrigen Adepten wurde seine Literaturauswahl
als unantastbar angesehen wie auch das
ausschließliche Lernen nach Gehör. In kritischen Texten über diese Zeit ist vom SuzukiUnterricht als „Kult“ und dem Unterrichtsmaterial als „Kanon“ die Rede, jedoch ist etwa
seit der Jahrtausendwende eine deutliche
Öffnung der Szene zu verzeichnen.5
GRUPPENUNTERRICHT
Wenn in Deutschland Streicherklassen und
Musikklassen in Kooperationsmodellen von
Schulen und Musikschulen Unterricht auf
Streichinstrumenten erhalten, orientieren
sich LehrerInnen meist am Ansatz Paul Rollands. Bei der Frage, warum dieses Konzept
hierzulande zahlenmäßig so viel stärker vertreten ist als die Suzuki-Methode, stößt man
auf interessante methodische Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Aus Suzukis Vorstellung vom Kind als „unbeschriebenem Blatt“ folgt seine Grundüberzeugung, dass jedes Kind Geige spielen lernen könne. Ein Erwachsener muss ihm nur
liebevoll und in sehr vielen Wiederholungen
den Weg dorthin zeigen. Dieser Lehrer hat eine immens große Verantwortung, solange
der Schüler nicht selbstständig Musik lesen
und erarbeiten kann. Die CD und die Lehrperson sind in den ersten Jahren der einzige
Weg zum Repertoire.
Rollands Unterrichtsansatz ist ähnlich offen –
jedes Kind kann Streichinstrumentenspiel
Ein offenbar weltweit verbreitetes Missverständnis über Suzukis Unterricht besagt, er
habe eine oder gar die Methode für instrumentalen Gruppenunterricht entwickelt. Tatsächlich unterrichtet ein Suzuki-Lehrer in der
Regel nur einen Schüler, während andere wie
in einem Meisterkurs als Zuhörer profitieren.
Die Rollen werden getauscht, es gibt fließende Übergänge und Phasen mit Zusammenspiel. Hohe Konzentrationsbereitschaft entsteht, wenn ein Kind aus der Gruppe hervorgehoben, einzeln gehört wird und individuelle Ratschläge in Gegenwart der MitschülerInnen bekommt. In Gruppen üben SuzukiSchülerInnen vor allem für Vorspiele und
Konzerte. Da alle Kinder die Vortragsstücke
nach denselben Vorbildern geübt haben,
sind gemeinsames Tempo, Charakter, Phrasierung und Stricharten kaum noch Gegenstand von Probenarbeit. Oder mit Toyodas
Worten: „Die Kinder der Suzuki-Methode
PAUL ROLLAND –
DER DEUTSCHE WEG
lernen. Er entwickelte sein Konzept für den
Unterricht von Streicherklassen in amerikanischen Schulen. Auch hier beginnt der Instrumentalunterricht mit klanglichen Vorbildern.
Kinder hören ein zukünftiges Unterrichtsstück und begleiten es mit einfachem Bordun, sie erleben und spielen den Rhythmus
eines neuen Stücks als Bodypercussion. Sie
singen Lieder, die sie später spielen, und machen sie sich auf diese Weise aktiv zu eigen.
Jedoch werden SchülerInnen in Streicherklassen nach Rollands Konzept sehr bald
daran gewöhnt, ihr Spielmaterial selbst zu
variieren. Sie erfinden neue Rhythmen für
eine Ostinato-Begleitung, Melodien werden
oktaviert oder mit verändertem Fingersatz
versehen.
[ Rolland geht anders als
Suzuki davon aus, dass in
Kindern das zum Streichen
und Greifen benötigte Bewegungsrepertoire bereits zum
großen Teil angelegt ist. ]
Wo Suzuki Instrumentalunterricht nutzt, um
über Disziplin und Musik die kindliche Persönlichkeit zu bilden, zielt Rollands Unterricht auf den umgekehrten Effekt. Sein Konzept ist als motivierender Anfangsunterricht
für die Dauer von zwei Jahren angelegt. In
dieser Zeit werden alle Basis-Techniken geübt und die Grundlagen für schwierigere
Techniken (wie Spiccato oder Vibrato) gebildet. In allgemein bildenden Schulen in
Deutschland richtet sich das Streicherklassen-Angebot prinzipiell an alle SchülerInnen,
also auch an solche, die vom Elternhaus keine pädagogische oder finanzielle Unterstützung erfahren, wenn sie Instrumentalunterricht wählen. Dass Schülerinnen und Schüler
Konzentrationsbereitschaft und Sozialverhalten erheblich verbessern können, berichten
LehrerInnen der Streicherklassen aus anderen Fächern. Dies ist eine begrüßte, jedoch
nicht an erster Stelle erstrebte Auswirkung
des instrumentalen Klassenunterrichts.6
Rolland geht anders als Suzuki davon aus,
dass in Kindern (und auch noch in Erwachsenen) das zum Streichen und Greifen benötigte Bewegungsrepertoire bereits zum großen
Teil angelegt ist. Einfache Alltagsbewegungen müssen für die Instrumentaltechnik abgerufen, verfeinert und behutsam modifiziert
werden. Ein solcher Bewegungsaufbau bietet
die Grundlage für besonders harmonische
Methodik
üben&musizieren 2 13
und verlässliche Spielabläufe – ein Lehrer
oder eine Lehrerin sollte daher nie gegen das
natürliche Bewegungsprogramm arbeiten,
sondern immer mit ihm. Die schwierigsten
Bewegungskombinationen übrigens „komponieren“ die SchülerInnen selbst, nachdem
sie deren einzelne Elemente zu beherrschen
gelernt haben.
Während Suzuki-SchülerInnen versuchen, einem immer wieder gehörten und angeschauten Beispiel durch genaues Nachahmen so
nahe wie möglich zu kommen, haben Rollands SchülerInnen ein in altersgemäßen Bildern präzise beschriebenes Bewegungskonzept, an dem sie ihr eigenes Üben immer
wieder messen können. Singen und Bewegungsbilder aus der Vorstellungswelt der
Kinder sorgen dafür, dass sie auf der Grundlage starker musikalischer und körperlichräumlicher Erlebnisse lernen können. In den
Filmen des von Rolland Ende der 1960er Jahre geleiteten Forschungsprojekts in Illinois
kann man außerdem beobachten, wie die ge-
meinsam instruierten Kinder dem Gelernten
eine stark individualisierte Prägung geben.
Die Acht- bis Zehnjährigen spielen auf ähnliche Art, aber bereits in sehr unterschiedlichem „persönlichen Stil“.
Bei seinen Amerika-Besuchen in den 1960er
Jahren begegnete Suzuki Paul Rolland, der
sich höchst interessiert an Suzukis Arbeit
zeigte. Ein gemeinsames Filmprojekt wurde
geplant, jedoch bis zu Rollands Tod 1978
nicht mehr realisiert. Über die Möglichkeiten,
die eine Zusammenarbeit der beiden Lehrer
eröffnet hätte, kann nur spekuliert werden:
„Suzuki made a tremendous contribution to
the basic philosophy of string education, but
Rolland really analyzed the mechanics of
playing the violin. Together they could have
reached new heights.“7
1 Werner Jank: „Ist Musiklernen wie Sprechenlernen?“,
in: Musik & Bildung 3/2001, S. 31-39, hier: S. 34.
2 Ulrich Mahlert: „Die Suzuki-Methode im Vergleich mit
anderen musik- und allgemeinpädagogischen Konzepten“, in: Üben & Musizieren 1/1988, S. 14-19.
3 ebd., S. 16.
4 Shinichi Suzuki: Erziehung ist Liebe, o. O. 1969
(Bosse), S. 40-43.
5 Jesus Florido, zit. in: Laurie Niles: „The Method and
the Movement“, in: The Strad, Sept. 2012, S. 34-40,
hier: S. 40.
6 vgl. Hans Günther Bastian: Kinder optimal fördern mit
Musik!, Mainz 2001.
7 Gerald Doty: „History 2, 1958-1970“ in: The American
String Teacher, Spring 1996, S. 49.
Regine Schultz-Greiner
ist Bratschistin, Dozentin für Methodik
(Hohe Streicher) an der UdK Berlin und für
Streicherklassen-Methodik im Rahmen berufsbegleitender Lehrgänge. Sie unterrichtet Streicherklassen an der SchätzelbergGrundschule und der Sophie-Scholl Schule
in Berlin.
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