LERNEN DURCH KOPIEREN
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LERNEN DURCH KOPIEREN
Methodik © Regine Schultz-Greiner 46 Von Tokyo nach Matsumoto fährt man drei Stunden mit dem Zug. Die kleine Stadt am Fuß der japanischen Alpen zählt zu ihren Sehenswürdigkeiten die Burg, das prachtvolle Bergpanorama und das Suzuki-Talent-Institut. Hier treffe ich Koji Toyoda, der nach seinem Unterricht bei Shinichi Suzuki in Matsumoto und dem Studium in Paris Erster Konzertmeister des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin wurde und heute das Suzuki-Institut als Künstlerischer Direktor leitet. Schon fast siebzig Jahre datieren die ersten Berichte über Suzukis Unterricht in Matsumoto zurück und der USA-Besuch seiner Schüler 1964 verursachte einen heftigen Schock in der dortigen pädagogischen Szene. Wie war es möglich, dass so viele Kinder derart makellos und gleichartig, dabei so routiniert spielten? Fasziniert begann man damals in der amerikanischen Lehrerschaft und ihrem Verband, der American String Teachers Association (ASTA), sich mit Suzukis Konzept zu befassen. LERNEN DURCH KOPIEREN Bei meinem Besuch in Matsumoto konnte ich eine Unterrichtsstunde von Mikiko Yuki besuchen, in der sie nacheinander einen dreijährigen, einen sechs- und einen achtjährigen Jungen unterrichtete. Ich wurde Zeugin einer „klassischen“ Suzuki-Unterrichtssituation: Die Mutter der drei war die ganze Zeit im Raum, machte sich Notizen und half vor allem dem Kleinsten über die lange Wartezeit hinweg. Aber, frage ich Koji Toyoda, lässt sich diese Elternmitarbeit – ein unbedingtes Muss in Suzukis Unterricht – unverändert weiterführen oder sind Veränderungen in der japanischen Gesellschaft spürbar, die eine Anpassung des Instrumentalunterrichts erfordern? „Viele Mütter“, so Toyoda, „sind heute auch in Japan berufstätig, wodurch sie über viel weniger Zeit verfügen als vor vierzig oder fünfzig Jahren, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Jedoch geben sich die meisten Su- zuki-Mütter Mühe, die nötige Zeit irgendwie zu finden. Die Mütter sind Lehrerin oder Controllerin im gesamten Prozess der Lernarbeit der Kinder. Die Lehrer geben ihnen nur Hinweise, damit sie die Sache richtig verstehen und wissen, wie sie üben sollen. Kindern muss wenigstens einer ständig beistehen, nicht wahr? In meiner Zeit in Japan waren es fast nie Mütter, sondern Väter!“ Sehr beeindruckt war ich vom großen Repertoire der Kinder. Von sechzig Minuten Unterricht wurden etwa fünfzig Minuten lang Stücke aus Suzukis Sammlung gespielt, begleitet von einer CD. Nur einen Teil der verbleibenden Zeit verwendete die Lehrerin auf Korrekturen. Die Kinder wurden sehr gelobt, wenn sie das Vorbild der CD genau kopierten! Ist es vorstellbar, dass sich Kinder irgendwann mit einem solchen Vorbild nicht mehr identifizieren können oder wollen? Dass sie die Stücke auf andere Weise oder einfach andere Musik spielen möchten? Ich möchte von üben&musizieren 2 13 Methodik Nachahmung oder Variation? Gedanken zu Shinichi Suzukis und Paul Rollands Unterrichtskonzepten Regine Schultz-Greiner Was hält die nun schon 70 Jahre alte Suzuki-Methode am Leben? Muss sie sich ändern, um weiter erfolgreich zu bleiben? Und wie lässt sie sich vergleichen mit dem in Deutschland weit häufiger genutzten Konzept für Streichergruppenunterricht von Paul Rolland? Koji Toyoda wissen, wie viele Kinder mit dem Unterricht aufhören, z. B. weil sie ein neues Vorbild finden. „Das Wort ,kopieren‘ hassen alle Europäer, ich weiß. Aber wie sonst kann man ihnen ihre Muttersprache beibringen? Sie kopieren von der Geburt an alles, was die Eltern, Großeltern, die Geschwister, kurz gesagt ihre Umgebung tut. So nennt man ihre erste Sprache mit Recht ,Muttersprache‘. Das Kopieren ist der Beginn von Kultur überhaupt. Mit der Zeit allerdings haben die Kinder nicht nur ein Vorbild, sondern mehrere.“ Doch dass Kinder allein durch das Hören von Stücken auch lernen, mit welcher Technik sie zu spielen sind, ist schwer vorstellbar. Wie werden ihnen Spielbewegungen z. B. für Bogenartikulationen oder Vibrato erklärt? Bekommen die Kinder Erklärungen oder Bilder als Konzepte für die verschiedenen Bewegungen? „Kinder werden vom Hören der hohen Leistungen der Meister auf CDs innerlich vorbereitet, die Stücke zu erfassen“, so Toyodas Antwort. „Selbstverständlich bekommen sie die nötige Erläuterung und Orientierung durch praktische Übungen im technischen Bereich. Die Mütter lernen am Anfang selber mit, wie man mit den Instrumenten umgehen soll, aber im Allgemeinen überholen die Kinder ihre Mütter schnell. Das Notenlesen lernen sie natürlich auch bald, aber das Hören hat Priorität im Alter von 0-5.“ Die Frage, ob denn instrumentales Lernen durch Vor- und Nachspielen und das Hören von aufgezeichneter Musik dem Lernen der Muttersprache gleicht, ist bereits ausführlich diskutiert worden. Werner Jank hat dargelegt, wie sich Sprechenlernen und Musiklernen an zentralen Punkten unterscheiden: „Sprechen allerdings [ist] eine Fähigkeit, die so gut wie alle Menschen vom ersten Tag ihres Lebens an lernen – in vielen beiläufigen Handlungen der Erwachsenen mit den Kindern, im alltäglichen Umgang miteinander und keineswegs immer auf der Basis gezielter und absichtsvoller Lernimpulse durch die Erwachsenen.“1 DIE ROLLE DER LEHRKRAFT Im Instrumentalunterricht nach Suzukis Konzept führt das dauernde Umgebensein mit Musik dazu, dass Kinder ihr zukünftiges Repertoire bereits kennen lernen, lange bevor sie in der Lage sind, dieses Repertoire selbst auf einem Instrument wiederzugeben. Wie nebenbei lernen sie Unterrichtsatmosphäre und -rituale, im günstigen Fall ihre zukünftige Lehrkraft kennen, wenn sie den Unterricht der älteren Mitschüler miterleben. Suzuki stellt sich seine SchülerInnen wie unbeschriebene Blätter vor und es hängt daher fast ausschließlich von der Lehrperson ab, welche Stücke ein Schüler kennt und wie er sie musizieren kann. Auf die Außenseiterstellung dieser Auffassung von Lehreraufgaben hat Ulrich Mahlert hingewiesen, als er 1988 die Pädagogik Suzukis mit anderen pädagogischen Konzepten verglich.2 Auf der genauen Gegenposition zu Suzuki finden wir in diesem Vergleich Maria Montessori mit ihrem 47 48 Methodik Bild des Lehrers, der sich möglichst oft quasi passiv verhält, „um zu bewirken, dass das Kind von sich aus tätig werden kann“.3 Ausgangspunkt für Mahlerts Vergleich bildete die Tatsache, dass Suzuki den Instrumentalunterricht als eine Art Nebenprodukt seiner Menschen- oder Charakterbildung sah. In erster Linie kam es ihm darauf an, dass seine SchülerInnen durch den sozialen und disziplinarischen Rahmen, den ihnen der Unterricht gab, zu „guten Menschen“ heranwüchsen. Eindringlich schilderte Suzuki am Beispiel von Koji Toyoda, der in den Jahren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem Haushalt lebte, wie sich viele Kinder, durch Kriegsereignisse und Flucht entwurzelt, unter dem Eindruck regelmäßiger Zuwendung im Geigenunterricht annähernd altersgemäß entwickeln konnten.4 In Deutschland ist Suzukis Werk später immer eher als Geigenschule – auch übertragen für andere Instrumente – rezipiert worden. Diese Akzentverschiebung wird von Koji Toyoda ausdrücklich gutgeheißen. Zwar führt er die weite Verbreitung der Suzuki-Methode auf ihr Verständnis als Erziehungsmethode zurück, sieht aber den Instrumentalunterricht als eigentlichen Kern an: „Die SuzukiMethode wird in Universitäten, besonders in den USA, als pädagogische Philosophie vermittelt. Der praktische, direkt fruchtbringende Bereich des Unterrichts mit den Jüngsten ist zwar sehr weit verbreitet, wird aber zu wenig thematisiert.“ spielen alle Suzuki-Stücke auswendig – zu jeder Zeit, bei allen Gelegenheiten für sich oder mit anderen Kindern zusammen, sodass die Musik vertraut wird wie ein Teil ihres Körpers.“ Große Gruppen von mehreren LehrerInnen oder aus verschiedenen Orten zusammenzufassen, ist vor allem möglich durch ein gemeinsames Repertoire, das allen bekannt und in der beschriebenen Weise geläufig ist. Hier begrenzt sich Suzukis Methode durch ihre eigenen Vertreter offenbar stark selbst. Gruppenstunden und -konzerte nutzen seit Jahren vor allem das Material aus Suzukis erster Stücke-Sammlung und nicht die von Suzuki selbst vorgeschlagenen Alternativen. Vermutlich könnte jeder Pädagoge und jede Pädagogin unzählige Stücke nennen, die im Sinne einer progressiv angeordneten Sammlung einen Platz in Suzukis Violin School einnehmen könnten. Stattdessen wurde Suzukis Methodik bis in die 1990er Jahre als geschlossenes System tradiert. Von übereifrigen Adepten wurde seine Literaturauswahl als unantastbar angesehen wie auch das ausschließliche Lernen nach Gehör. In kritischen Texten über diese Zeit ist vom SuzukiUnterricht als „Kult“ und dem Unterrichtsmaterial als „Kanon“ die Rede, jedoch ist etwa seit der Jahrtausendwende eine deutliche Öffnung der Szene zu verzeichnen.5 GRUPPENUNTERRICHT Wenn in Deutschland Streicherklassen und Musikklassen in Kooperationsmodellen von Schulen und Musikschulen Unterricht auf Streichinstrumenten erhalten, orientieren sich LehrerInnen meist am Ansatz Paul Rollands. Bei der Frage, warum dieses Konzept hierzulande zahlenmäßig so viel stärker vertreten ist als die Suzuki-Methode, stößt man auf interessante methodische Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Aus Suzukis Vorstellung vom Kind als „unbeschriebenem Blatt“ folgt seine Grundüberzeugung, dass jedes Kind Geige spielen lernen könne. Ein Erwachsener muss ihm nur liebevoll und in sehr vielen Wiederholungen den Weg dorthin zeigen. Dieser Lehrer hat eine immens große Verantwortung, solange der Schüler nicht selbstständig Musik lesen und erarbeiten kann. Die CD und die Lehrperson sind in den ersten Jahren der einzige Weg zum Repertoire. Rollands Unterrichtsansatz ist ähnlich offen – jedes Kind kann Streichinstrumentenspiel Ein offenbar weltweit verbreitetes Missverständnis über Suzukis Unterricht besagt, er habe eine oder gar die Methode für instrumentalen Gruppenunterricht entwickelt. Tatsächlich unterrichtet ein Suzuki-Lehrer in der Regel nur einen Schüler, während andere wie in einem Meisterkurs als Zuhörer profitieren. Die Rollen werden getauscht, es gibt fließende Übergänge und Phasen mit Zusammenspiel. Hohe Konzentrationsbereitschaft entsteht, wenn ein Kind aus der Gruppe hervorgehoben, einzeln gehört wird und individuelle Ratschläge in Gegenwart der MitschülerInnen bekommt. In Gruppen üben SuzukiSchülerInnen vor allem für Vorspiele und Konzerte. Da alle Kinder die Vortragsstücke nach denselben Vorbildern geübt haben, sind gemeinsames Tempo, Charakter, Phrasierung und Stricharten kaum noch Gegenstand von Probenarbeit. Oder mit Toyodas Worten: „Die Kinder der Suzuki-Methode PAUL ROLLAND – DER DEUTSCHE WEG lernen. Er entwickelte sein Konzept für den Unterricht von Streicherklassen in amerikanischen Schulen. Auch hier beginnt der Instrumentalunterricht mit klanglichen Vorbildern. Kinder hören ein zukünftiges Unterrichtsstück und begleiten es mit einfachem Bordun, sie erleben und spielen den Rhythmus eines neuen Stücks als Bodypercussion. Sie singen Lieder, die sie später spielen, und machen sie sich auf diese Weise aktiv zu eigen. Jedoch werden SchülerInnen in Streicherklassen nach Rollands Konzept sehr bald daran gewöhnt, ihr Spielmaterial selbst zu variieren. Sie erfinden neue Rhythmen für eine Ostinato-Begleitung, Melodien werden oktaviert oder mit verändertem Fingersatz versehen. [ Rolland geht anders als Suzuki davon aus, dass in Kindern das zum Streichen und Greifen benötigte Bewegungsrepertoire bereits zum großen Teil angelegt ist. ] Wo Suzuki Instrumentalunterricht nutzt, um über Disziplin und Musik die kindliche Persönlichkeit zu bilden, zielt Rollands Unterricht auf den umgekehrten Effekt. Sein Konzept ist als motivierender Anfangsunterricht für die Dauer von zwei Jahren angelegt. In dieser Zeit werden alle Basis-Techniken geübt und die Grundlagen für schwierigere Techniken (wie Spiccato oder Vibrato) gebildet. In allgemein bildenden Schulen in Deutschland richtet sich das Streicherklassen-Angebot prinzipiell an alle SchülerInnen, also auch an solche, die vom Elternhaus keine pädagogische oder finanzielle Unterstützung erfahren, wenn sie Instrumentalunterricht wählen. Dass Schülerinnen und Schüler Konzentrationsbereitschaft und Sozialverhalten erheblich verbessern können, berichten LehrerInnen der Streicherklassen aus anderen Fächern. Dies ist eine begrüßte, jedoch nicht an erster Stelle erstrebte Auswirkung des instrumentalen Klassenunterrichts.6 Rolland geht anders als Suzuki davon aus, dass in Kindern (und auch noch in Erwachsenen) das zum Streichen und Greifen benötigte Bewegungsrepertoire bereits zum großen Teil angelegt ist. Einfache Alltagsbewegungen müssen für die Instrumentaltechnik abgerufen, verfeinert und behutsam modifiziert werden. Ein solcher Bewegungsaufbau bietet die Grundlage für besonders harmonische Methodik üben&musizieren 2 13 und verlässliche Spielabläufe – ein Lehrer oder eine Lehrerin sollte daher nie gegen das natürliche Bewegungsprogramm arbeiten, sondern immer mit ihm. Die schwierigsten Bewegungskombinationen übrigens „komponieren“ die SchülerInnen selbst, nachdem sie deren einzelne Elemente zu beherrschen gelernt haben. Während Suzuki-SchülerInnen versuchen, einem immer wieder gehörten und angeschauten Beispiel durch genaues Nachahmen so nahe wie möglich zu kommen, haben Rollands SchülerInnen ein in altersgemäßen Bildern präzise beschriebenes Bewegungskonzept, an dem sie ihr eigenes Üben immer wieder messen können. Singen und Bewegungsbilder aus der Vorstellungswelt der Kinder sorgen dafür, dass sie auf der Grundlage starker musikalischer und körperlichräumlicher Erlebnisse lernen können. In den Filmen des von Rolland Ende der 1960er Jahre geleiteten Forschungsprojekts in Illinois kann man außerdem beobachten, wie die ge- meinsam instruierten Kinder dem Gelernten eine stark individualisierte Prägung geben. Die Acht- bis Zehnjährigen spielen auf ähnliche Art, aber bereits in sehr unterschiedlichem „persönlichen Stil“. Bei seinen Amerika-Besuchen in den 1960er Jahren begegnete Suzuki Paul Rolland, der sich höchst interessiert an Suzukis Arbeit zeigte. Ein gemeinsames Filmprojekt wurde geplant, jedoch bis zu Rollands Tod 1978 nicht mehr realisiert. Über die Möglichkeiten, die eine Zusammenarbeit der beiden Lehrer eröffnet hätte, kann nur spekuliert werden: „Suzuki made a tremendous contribution to the basic philosophy of string education, but Rolland really analyzed the mechanics of playing the violin. Together they could have reached new heights.“7 1 Werner Jank: „Ist Musiklernen wie Sprechenlernen?“, in: Musik & Bildung 3/2001, S. 31-39, hier: S. 34. 2 Ulrich Mahlert: „Die Suzuki-Methode im Vergleich mit anderen musik- und allgemeinpädagogischen Konzepten“, in: Üben & Musizieren 1/1988, S. 14-19. 3 ebd., S. 16. 4 Shinichi Suzuki: Erziehung ist Liebe, o. O. 1969 (Bosse), S. 40-43. 5 Jesus Florido, zit. in: Laurie Niles: „The Method and the Movement“, in: The Strad, Sept. 2012, S. 34-40, hier: S. 40. 6 vgl. Hans Günther Bastian: Kinder optimal fördern mit Musik!, Mainz 2001. 7 Gerald Doty: „History 2, 1958-1970“ in: The American String Teacher, Spring 1996, S. 49. Regine Schultz-Greiner ist Bratschistin, Dozentin für Methodik (Hohe Streicher) an der UdK Berlin und für Streicherklassen-Methodik im Rahmen berufsbegleitender Lehrgänge. Sie unterrichtet Streicherklassen an der SchätzelbergGrundschule und der Sophie-Scholl Schule in Berlin. 49