30. "Der neue Einkommensteuertarif 2005

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30. "Der neue Einkommensteuertarif 2005
erschienen in: Österreichische Steuerzeitung Nr. 5/2004
Der neue Einkommensteuertarif 2005 – Ein „großer Wurf“?
Univ.-Prof. Dr. Gerald Pruckner
A.Univ.-Prof. Dr. Hannes Winner
Institut für Finanzwissenschaft, Universität Innsbruck
Die Änderung des Einkommensteuertarifs ist das Kernstück der kürzlich vorgestellten
Steuerreform 2005.1 Der neue Tarif soll de jure am Durchschnittsteuersatz anknüpfen
und nur noch drei Tarifstufen kennen. Im Folgenden werden die Eigenschaften des neuen Einkommensteuertarifs aus finanzwissenschaftlicher Sicht analysiert. Hauptergebnis
ist, dass gegenüber dem bestehenden Einkommensteuertarif zwar Steuerentlastungen
auszumachen sind, aufgrund eines hohen Grenzsteuersatzes im Eingangsbereich allerdings negative Anreizwirkungen auf Arbeits- und Kapitalmärkten zu erwarten sind.
Tarifcharakteristik
Die mit der Steuerreform 2005 beschlossene Neuregelung des Einkommensteuertarifs (im
folgenden „Tarif 2005“) kann als erster nennenswerter Eingriff in den Einkommensteuertarif
seit 1989 betrachtet werden. Zwar wurden seit 1989 die Grenzsteuersätze im mittleren Einkommensbereich (um einen Prozentpunkt) gesenkt (Steuerreform 1999) und auch die Absetzbeträge, insbesondere der allgemeine Absetzbetrag (AAB), mehrmals angepasst, die Charakteristik des Einkommensteuertarifs wurde dadurch aber nur unmerklich beeinflusst. Die nunmehrige Reform des Einkommensteuertarifs soll neben einer Steuerentlastung eine Vereinfachung der Tarifvorschriften bringen.2 Aus finanzwissenschaftlicher Sicht stellt sich freilich
die Frage, wie die Tarifreform aus distributions- und allokationspolitischer Sicht zu beurteilen
ist. Verteilungspolitisch ist zu beurteilen, inwieweit durch eine Steuerreform das steuerpolitische Desideratum der Steuergerechtigkeit, insbesondere in seiner vertikalen Ausprägung,
verwirklicht werden kann. Wenngleich sich theoretisch aus den Opfertheorien nahezu jeder
1
2
Vgl BM für Finanzen, Die wesentlichen Eckpfeiler der Steuerreform 2005, 8. bis 9. Jänner 2004, Salzburg
[download unter http://www.bmf.gv.at/].
Ibd, 6 (Tabellenanhang).
2
Tarifverlauf begründen lässt,3 entspricht es doch der Praxis der meisten entwickelten Volkswirtschaften, vertikale Steuergerechtigkeit durch einen progressiven Steuertarif sicherzustellen. Wesentlicher Indikator der vertikalen Steuergerechtigkeit ist damit der Durchschnittsteuersatz. Allokationstheoretisch ist zu fragen, welchen Einfluss die Besteuerung auf ökonomische Entscheidungen (etwa Spar-/Konsum- oder Arbeits-/Freizeitentscheidungen) und damit
auf die Gesamtwohlfahrt einer Gesellschaft ausübt. Entscheidende Einflussgrößen sind dabei
die Höhe und der Verlauf der Grenzsteuersätze. Die Grenzsteuersätze bestimmen auch das
subjektive Belastungsgefühl der Steuerpflichtigen und wirken sich auf diese Weise auf Steuerhinterziehungs- und -umgehungsaktivitäten aus.4
De jure soll mit dem Tarif 2005 ein Übergang von einem Stufengrenzsatztarif (Teilmengenstaffelung) auf einen Durchschnittssatztarif erfolgen. Für die Ermittlung der Steuerschuld
wird dabei nicht ein Stufentarif (wie bei einem Stufendurchschnittsatztarif), sondern eine geglättete Tariffunktion zugrunde gelegt.5 Eine derartige tariftechnische Ausgestaltung findet
international keine Entsprechung.6 Bezeichnet T die Steuerschuld (nach Abzug des AAB) und
Y die steuerpflichtigen Jahresbruttoeinkommen (unter Ausklammerung von Sonderzahlungen)
lässt sich der Tarif 2005 anhand der folgenden Steuerbetragsfunktionen zusammenfassen.7
Tabelle 1: Einkommensteuertarif 2005 (unter Einbeziehung des AAB)
Jahreseinkommen in €
bis 10000
3
4
5
6
7
Steuerschuld in €
Grenzsteuersatz in %
0
0
bis 25000
T=
Y − 10000
⋅ 5750
15000
38,33
25000 bis 51000
T=
Y − 25000
⋅11335 + 5750
26000
43,6
ab 51000
T = 0,5(Y − 51000) + 17085
50
Vgl Hinterberger/Müller/Petersen, Gerechte Tariftypen bei alternativen Opfertheorien und Nutzenfunktionen,
Finanzarchiv (1989), 45 ff.
Vgl Allingham/Sandmo, Income Tax Evasion – A Theoretical Analysis, Journal of Public Economics (1972),
323.
Ibd, 2.
Vgl Mennel/Förster, Steuern in Europa, Amerika und Asien, (Loseblatt: 2004), Allgemeiner Teil, 27
Vgl BM für Finanzen, Presseinformation 19. Jänner 2004: "Steuerreform 2005 - aktuelle Fragen und Antworten“ [download unter http://www.bmf.gv.at/]. Siehe auch Bruckner/Achzet, Die Eckpfeiler der 2. Etappe der
großen Steuerreform 2004/05, ÖStZ (2004), 38 ff.
3
Der Tarif 2005 kann mit dem bisherigen Tarif verglichen werden, wenn man die Grenzsteuersätze (Ableitung der Steuerbetragsfunktionen nach Y) ermittelt (vgl. Tabelle 1, letzte Spalte).
Der rechte Teil von Abbildung 1 stellt die Grenzsteuersätze der Tarife 2003 und 2005 gegenüber,8 wobei nur jene Sätze über der steuerlichen Nullzone ausgewiesen werden.9 Aus der
graphischen Darstellung wird deutlich,
• dass der Tarif 2005 nach wie vor als Stufengrenzsatztarif konstruiert ist,
• dass die Grundcharakteristik des österreichischen Einkommensteuertarifs, die in der Progression des Steuersystems besteht, durch die Reform nicht verändert wird, und
• dass die wesentlichen Elemente der Progression, nämlich steigende Grenzsteuersätze für
höhere Einkommen (direkte Progression) und Steuerfreistellung der unteren Einkommensbereiche durch den AAB (indirekte Progression), bestehen bleiben.
Abbildung 1: Steuerbetragsfunktion und Grenzsteuersätze der Tarife 2003 und 2005
Steuerbetragsfunktion
Grenzsteuersatz
Steuerzahlung (in Tsd. €)
30
0.5
25
0.4
20
0.3
15
0.2
10
Tarif 2003
Tarif 2003
Tarif 2005
Tarif 2005
0.1
5
0
0.0
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
Einkommen (in Tsd. €)
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
Einkommen (in Tsd. €)
Insgesamt verlaufen beide Tarife sehr ähnlich. Wesentliche Unterschiede treten – abgesehen
von der Verringerung der Tarifstufen – insbesondere in den unteren Einkommensbereichen
auf. Verteilungspolitisch positiv dürfte die Verschiebung der steuerfreien Zone von € 8900
auf € 10000 wirken. Abgesehen von den Einkommensintervallen von € 8900 bis €10000 und
von € 22000 bis €25000 liegen die Grenzsteuersätze des Tarifs 2005 über jenen des Tarifs
2003.10 Allokationstheoretisch ist dies negativ zu beurteilen, wobei insbesondere der Ein-
8
9
10
Im Folgenden werden die Tarife gemäß Tabelle 1 verwendet. Lediglich für Lohnsteuerpflichtige wird die
steuerliche Behandlung von Sonderzahlungen berücksichtigt. Pauschalbeträge, die im Rahmen der Bemessungsgrundlage abgezogen werden (z.B. für Werbungskosten), finden weder im neuen noch im bestehenden
Tarif Berücksichtigung. Vgl dazu Bruckner/Achzet, a.a.O., 39 f.
Da im Tarif 2005 der AAB bereits eingearbeitet ist (vgl. BM für Finanzen), sind die älteren Tarife nur unter
Berücksichtigung des AAB direkt mit dem Tarif 2005 vergleichbar.
Vgl auch Bruckner/Achzet, a.a.O., 39
4
gangssteuersatz von 38,3% als problematisch einzustufen ist. Die damit einhergehenden negativen Investitions- und Beschäftigungsanreize werden insbesondere für Steuerpflichtige mit
einem Jahreseinkommen zwischen € 9000 und € 22000 wirksam. Im mittleren Einkommensbereich (zwischen € 25000 und € 51000) beträgt der Grenzsteuersatz 43,6% (bisher 41%).
Der Spitzensatz (50%) und die Grenze, ab der dieser wirksam wird, bleiben hingegen unverändert. Generell werden die Tarifsprünge über dem Eingangsbereich von € 10000 Jahreseinkommen flacher, so dass im darüber liegenden Bereich eine Annäherung an einen linearen
Tarif (um 45%) erkennbar ist.
Abbildung 2 veranschaulicht die Durchschnittsteuersätze der Tarife 2003 und 2005 für Einkommens- und Lohnsteuerpflichtige, wobei im Falle der Lohnsteuer von einem Arbeitnehmer
ohne Alleinverdienerabsetzbetrag ausgegangen wird. Sonderzahlungen gemäß §67 EStG
(13./14. Monatsgehalt) sind berücksichtigt. Sowohl bei der Einkommen- wie auch bei der
Lohnsteuer sind gegenüber den früheren Tarifen Steuerentlastungen, vor allem in den unteren
Einkommensklassen, festzustellen. Die Entlastung in den unteren Einkommensbereichen geht
maßgeblich auf die Erhöhung der steuerlichen Nullzone zurück (€ 10000 für Einkommensteuerpflichtige, € 14500 für Lohnsteuerpflichtige). Aus Abbildung 2 geht auch hervor, dass
die ungleiche Steuerbelastung zwischen der Einkommen- und Lohnbesteuerung aufgrund der
begünstigten Behandlung des 13./14. Monatsgehalts weiterhin bestehen bleibt.11
Abbildung 2: Durchschnittsteuersatz der Tarife 2003 und 2005
Einkommensteuer
Lohnsteuer
Durchschnittsteuersatz nach AAB
Durchschnittsteuersatz nach AAB, ANAB, VAB
0.40
0.40
0.35
0.35
0.30
0.30
0.25
0.25
0.20
0.20
0.15
0.15
0.10
Tarif 2003
0.10
Tarif 2005
Tarif 2003
0.05
Tarif 2005
0.05
0.00
0.00
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
Einkommen (in Tsd. €)
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
Einkommen (in Tsd. €)
Während der Durchschnittsteuersatz grobe Aussagen über die (vertikale) Steuergerechtigkeit
erlaubt, lassen sich die Anreizwirkungen des Steuersystems anhand der reformbedingten Ver11
Vgl Keuschnigg/Rinderer, Anmerkungen zur österreichischen Steuerreform, Wirtschaftspolitische Blätter
(1989), 115 f.
5
änderung der Progression analysieren. In der Finanzwissenschaft werden dazu Steueraufkommens- und Residualelastizitäten herangezogen. Die Steueraufkommenselastizität definiert
sich aus dem Quotienten aus Grenz- und Durchschnittsteuersatz und gibt die prozentuelle
Änderung der Steuerlast bei einer einprozentigen Änderung des steuerpflichtigen Einkommens an. Liegt die Aufkommenselastizität über eins, steigt die Steuerlast relativ stärker als die
Bemessungsgrundlage, was wiederum auf einen progressiven Tarif hinweist. Der linke Teil
von Abbildung 3 zeigt für Einkommensteuerpflichtige, dass beide Tarife ähnliche Aufkommenselastizitäten aufweisen, und auch die Progressionsspitzen nahezu identisch verlaufen.
Die Progressionswirkung des Tarifs 2005 liegt fast durchgängig über jener des Tarifs 2003,
was wiederum im hohen Eingangssteuersatz begründet liegt. Erst in höheren Einkommensklassen kommt es zu einer Annäherung der Aufkommenselastizitäten, was auf den linearen
Tarif in diesem Einkommensbereich zurückzuführen ist.
Abbildung 3: Aufkommens- und Residualelastizität der Tarife 2003 und 2005
Residualelastizität
Aufkommenselastizität
%
%
4.0
1.00
3.5
2003
0.95
2005
3.0
0.90
2.5
0.85
2.0
0.80
1.5
0.75
0.70
1.0
2003
2005
0.65
0.5
0.60
0.0
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
Einkommen (in Tsd. €)
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
Einkommen (in Tsd. €)
Die Residualelastizitäten der Tarife 2003 und 2005 werden im rechten Teil von Abbildung 3
veranschaulicht. Die Residualelastizität gibt an, um wie viel Prozent das verfügbare Einkommen nach Abzug von Steuern (Netto- oder Residualeinkommen) zunimmt, wenn sich die Bemessungsgrundlage um 1% verändert. Bei einer Residualelastizität kleiner eins wächst das
Nettoeinkommen relativ weniger als das Bruttoeinkommen, was wiederum gleichbedeutend
mit einem progressiven Tarifverlauf ist. Abgesehen von der Nullzone (entspricht einer Residualelastizität von eins) weist der Tarif 2003 bei einem Einkommen von € 20000 und bei €
50000 die höchsten Residualelastizitäten auf. In diesen Bereichen bringt eine Einkommenssteigerung von 1% mehr als einen 0,85%-igen Zuwachs an Nettoeinkommen. Relativ geringe
Elastizitäten und damit eine hohe Progression weist der Tarif 2003 bei einem Einkommen von
6
€ 8000 und am oberen Einkommensende auf. Durch die Steuerreform 2005 ändern sich die
Residualelastizitäten zwar nicht im Verlauf, aber im Niveau. Insgesamt erweist sich der Tarif
2005 als wesentlich residualunelastischer. Auch hier greift die Progression im Eingangsbereich am stärksten, was wiederum zu Anreizwirkungen negativer Art führen dürfte. Lediglich
im Bereich von € 22000 wirkt der neue Tarif weniger progressiv als der Tarif 2003, ab einem
Einkommen von € 50000 sind beide Elastizitäten identisch.
Kalte Progression
Aufgrund des Nominalwertprinzips der Einkommensteuer unterliegen nominelle Wertzuwächse der Progression und können damit zu realen Wertverlusten führen. Es stellt sich daher
bei jeder Steuerreform die Frage, ob es gelingt, einen tarifmäßigen Ausgleich für diese Wertverluste zu schaffen. Unter dem Begriff der „kalten Progression“ können zwei Effekte der
Inflation erfasst werden:12 Einerseits unterliegen nominale Wertzuwächse direkt der Progression, indem ein Anstieg der Bemessungsgrundlage innerhalb einer Tarifstufe einer höheren
durchschnittlichen Besteuerung unterworfen ist. Anderseits wachsen die Steuerpflichtigen mit
steigendem Nominaleinkommen in höhere Tarifstufen (steigende Grenzsteuersätze). Wurde
die kalte Progression im Rahmen der Tarifreform 1989 noch über den gesamten Bereich abgemildert, ist dies seither nur mehr für untere Einkommensbereiche gelungen.13
Die Wirkungen von Preissteigerungen können aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden:
• Ausgehend vom bestehenden Steuertarif werden die Einkommensklassen mit dem
Verbraucherpreisindex deflationiert. Dieser „deflationierte“ Tarifverlauf ist direkt mit
dem „nominellen“ Tarif des laufenden Jahres vergleichbar. Damit werden die Wirkungen
des „Hineinwachsens“ in höhere Progressionsstufen illustriert.
• Zweitens könnte man fragen, welche Gestalt ein um die Inflation angepasster Tarif heute
annehmen müsste, damit das reale verfügbare Einkommen der Steuerpflichtigen konstant
gehalten wird. Aus einem Vergleich mit dem neuen Steuertarif wird erkennbar, inwieweit
der Gesetzgeber durch die Tarifreform dem Problem der kalten Progression Rechnung
trägt.
12
13
Vgl Bös/Genser, Steuertariflehre, in W. Albers et al. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft
(1977), 418
Vgl Lehner, Hintergründe und Einflüsse der Tarifänderungen, WIFO Monatsberichte (1988), 617 f.; Lehner,
1994, Anhebung des Allgemeinen Absetzbetrags und Einführung einer Negativsteuer, WIFO Monatsberichte
(1994), 59.
7
Abbildung 4 veranschaulicht beide Aspekte der kalten Progression für eine Periode von 10
Jahren. Im linken Teil wird der „nominelle“ Tarif 2003 mit dem auf 1993 deflationierten „realen“ Tarif 2003 verglichen. Daraus geht hervor, dass die Tarifgrenzen deutlich nach links verschoben werden. Demnach finden sich zahlreiche Steuerpflichtige, die 2003 real in einer geringeren Einkommensklasse liegen, in nominell höheren Steuerklassen. Für quantitative Aussagen über die Anzahl der Betroffenen müssten freilich Informationen zur Verteilung der
Steuerpflichtigen innerhalb der Einkommensklassen vorliegen.
Abbildung 4: Die Wirkungen der kalten Progression
Grenzsteuersatz
Grenzsteuersatz
0.6
0.6
0.5
0.5
0.4
0.4
0.3
0.3
0.2
0.2
2003 real
2003 nominell
0.1
1994 (reale Anpassung)
Tarif 2005 (nominell)
0.1
0.0
0.0
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
Einkommen (in Tsd. €)
0
5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95
Einkommen (in Tsd. €)
Im rechten Teil von Abbildung 4 wird demgegenüber der Tarif 1994 real angepasst und dem
Tarif 2005 gegenübergestellt. Im Rahmen der Steuerreform 2005 erfolgt lediglich im Einkommensbereich von € 6500 bis € 10000 eine Kompensation der kalten Progression. Im darüber liegenden Einkommensbereich werden die Steuerpflichtigen durch den Tarif 2005 im
Vergleich zu einer bloßen Inflationsanpassung der Einkommensgrenzen ohne Tarifänderung
schlechter gestellt. Ein vollständiger Wertausgleich im Rahmen der Tarifreform hätte einerseits eine Rechtsverschiebung bzw. Streckung der Einkommensgrenzen und anderseits eine
Reduktion der Grenzsteuersätze bedingt.
Verteilungseffekte und Anreizwirkungen
Abbildung 5 zeigt nochmals den Verlauf des Grenzsteuersatzes für die Tarifreform 2005 gemeinsam mit der Verteilungsfunktion für die Lohnsteuerbemessungsgrundlage.14 Aus der
14
Letztere wurde aus der Lohnsteuerstatistik berechnet. Vgl Statistik Austria, Statistik der Lohnsteuer 2000
(2001).
8
Einkommensverteilung ist ersichtlich, dass 90% aller Lohneinkommensbezieher über ein Einkommen (Bemessungsgrundlage) von unter € 25000 verfügen. Dies entspricht jenem Einkommensintervall, für das die Tarifänderungen am stärksten wirksam werden, woraus sich
unmittelbare verteilungspolitische Konsequenzen ergeben. Der linke Teil der Graphik stellt
die Verteilung der Einkommen aller Arbeitnehmer und jene der Frauen der prozentuellen
Steuerentlastung gegenüber. Die prozentuelle Steuerentlastung ist auf die maximale Steuerersparnis bezogen, die bei einem Jahreseinkommen von € 22000 anfällt. Aus der graphischen
Darstellung geht hervor, dass die größten Steuerentlastungseffekte im mittleren Einkommensbereich auftreten. 40% aller Arbeitnehmer profitieren hingegen nicht von der Tarifreform, da
sie auch bisher keine Steuern zu entrichten hatten. Bei Frauen beträgt dieser Anteil sogar
55%.15
Abbildung 5: Verteilung der Lohneinkommen
%
%
100
100
90
90
80
80
70
70
60
60
50
50
40
40
30
30
20
20
Arbeitnehmer
10
Entlastung
Grenzsteuersatz 2005
Grenzsteuersatz 2003
10
Arbeitnehmer und Pensionisten
Frauen
0
0
0
4
8
12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52 56 60 64 68
Einkommen (in Tsd. €)
0
4
8
12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52 56 60 64 68
Einkommen (in Tsd. €)
Der rechte Teil von Abbildung 5 veranschaulicht die Anreizwirkungen der geänderten Grenzsteuersätze für alle Arbeitnehmer und Pensionisten. Es zeigt sich, dass positive Anreizeffekte
aus den gesunkenen Grenzsteuersätzen in den Einkommensintervallen von € 8900 bis € 10000
und von € 22000 bis € 25000 auftreten. Beide Intervalle entsprechen jeweils etwa 4% der
15
Allfällige Rückerstattungen aus Negativsteuern, die sich aus dem Arbeitnehmerabsetzbetrag (und dem Alleinverdienerabsetzbetrag) ergeben, bleiben unberücksichtigt (vgl Doralt, Steuerrecht, 8. Auflage, 2003, 279 f.).
Die Ausgestaltung dieser Regelungen im Rahmen der Tarifreform geht aus den vorliegenden Informationen
des BM für Finanzen nicht hervor. Vgl Bruckner/Achzet, a.a.O., 41 für den Verlauf der Durchschnittsteuersätze 2003 und 2005 unter Berücksichtigung von Negativsteuern.
9
Lohneinkommensbezieher. Negative Anreizeffekte ergeben sich hingegen in den Einkommensbereichen von € 10000 bis € 22000 und von € 25000 bis 51000. Diese betreffen fast 40%
bzw. 8% der gesamten Lohneinkommensbezieher. Abbildung 5 zeigt ferner, dass Frauen von
diesem Problem besonders betroffen sein dürften: Im Vergleich zur bestehenden Rechtslage
finden von den unteren 90% aller weiblichen Lohneinkommensbezieherinnen lediglich etwa
8% positive Beschäftigungsanreize vor.
Abbildung 6 stellt die Verteilungsfunktion des Einkommens nach Alter den Grenzsteuersätzen gegenüber.16 Die Gruppe der unter 30-jährigen beinhaltet Einkommensbezieher in Ausbildung sowie jüngere Arbeitnehmer. Die 30- bis 50-jährigen weisen bereits eine mehrjährige
Berufserfahrung auf. Arbeitnehmer über 50 Jahre erzielen die höchsten Einkommen im Laufe
ihrer Erwerbsbiographie. Ein Vergleich der Verteilungsfunktionen weist auf die massiven
Lohnunterschiede zwischen den Altersklassen hin (Lohnkurve).
Abbildung 6: Verteilung der Lohneinkommen nach Alter
%
100
90
80
70
60
50
40
30
unter 30
Grenzsteuersatz 2005
20
30 bis 50
über 50
10
Grenzsteuersatz 2003
0
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
Einkommen (in Tsd. €)
Wie bereits festgestellt, treten Anreizeffekte vor allem in den unteren Einkommensbereichen
auf. Damit wird deutlich, dass insbesondere die jüngeren Arbeitnehmer mit negativen Anreizwirkungen konfrontiert sind. Von dieser Gruppe fallen lediglich 3% in das Einkommensintervall von € 8900 bis € 10000 und erhalten somit positive Beschäftigungsanreize. Als Gegenargument könnte man einwenden, dass die höchsten Steuerentlastungen in den unteren
16
Die Verteilungsfunktionen von Abbildung 6 beruhen auf einer Sonderauswertung der Lohnsteuerstatistik und
eigenen Berechnungen.
10
Einkommensschichten auftreten (vgl. Abbildung 5). Dem ist entgegenzuhalten, dass mehr als
50% der jüngeren Arbeitnehmer ohnehin keine Lohn- und Einkommensteuern entrichten. Etwa 98% der unter 30-jährigen weisen ein steuerpflichtiges Einkommen von weniger als €
22000 auf. Deshalb treten für diese Gruppe im oberen Entlastungsintervall zwischen € 22000
und € 25000 keine nennenswerten Beschäftigungsanreize auf. Für die Alterskohorten über 30
Jahre ist dieser Bereich quantitativ bedeutsamer.
Schlussfolgerungen
Ob eine Tarifreform als „großer Wurf“ bezeichnet werden kann, hängt neben der Neuartigkeit
des Tarifverlaufs maßgebend von den ökonomischen Wirkungen ab, die aus der geänderten
Rechtslage zu erwarten sind. Eine genauere Analyse des Tarif 2005 zeigt, dass die Gesamtcharakteristik des Einkommensteuertarifs weitgehend unverändert bleibt bzw. Probleme des
bestehenden Tarifs (z.B. Grad der Progression, kalte Progression, steuerliche Behandlung von
Sonderzahlungen) nicht entschärfen kann. Tariftechnisch erscheint die Bezeichnung „großer
Wurf“ somit übertrieben.
Was seine ökonomischen Eigenschaften betrifft, ist der Tarif 2005 eindeutig durch Steuerentlastungen über alle Einkommensbereiche gekennzeichnet. Ob dies ausreicht, die gewünschten
Konjunktur-, Wachstums- und Verteilungseffekte zu erreichen, ist auf Basis der jetzigen Informationen noch nicht zu beurteilen. Eine abschließende Beurteilung der Tarifreform ist nur
auf Basis von Informationen über Änderungen in der Einkommensteuerbemessungsgrundlage
möglich. Daneben werden die ökonomischen Wirkungen der Steuerreform ganz wesentlich
davon abhängen, welche dynamischen Anpassungen die Wirtschaftssubjekte vornehmen.
Empirische Analysen früherer Steuerreformen zeigen, dass diese beträchtlich sein können.17
Allokationspolitisch ist der Tarif 2005 problematisch: Die Höhe des Eingangssteuersatzes von
38,3% ist international beispiellos. Davon ist ein großer Teil der Lohneinkommensbezieher
betroffen, gerade in den unteren Einkommensklassen. Dies könnte wiederum die Anstrengungen der Regierung auf Eindämmung der Schattenwirtschaft und auf Bekämpfung der Arbeitslosigkeit konterkarieren.
17
Vgl Keuschnigg/Rinderer, a.a.O.