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Selbstgemacht – Jugendkultur Ost
© DBT/ Frier
Musik, Mode, Schmuck – für fast alle Jugendlichen sind der richtige Soundtrack und das richtige
Styling wichtig, das war in der DDR nicht anders. Das Problem: Coole Klamotten, Musik von
angesagten Bands und schicke Accessoires waren Mangelware. Connie wurde im Jahr des
Mauerfalls 18 und blickt zurück...
"Als Depeche Mode 1988 in Ostberlin spielten, saßen wir vorm Radio und haben geweint", erzählt Connie.
Während ihre Idole bei ihrem einzigen DDR-Konzert in der Werner-Seelenbinder-Halle leibhaftig vor gezielt
ausgewähltem, linientreuen Publikum standen, spielte der staatliche Jugendradiosender DT64 immerhin
einige Songs der britischen Band. Zuhause in Jena saß die damals 17-Jährige mit den dunklen,
hochtoupierten Haaren, dunkel lackierten Nägeln und verweinten schwarz geschminkten Augen mit
Freunden vorm Radio.
Die Kopie der Kopie der Kopie…
Mitte der Achtziger Jahre: Depeche Mode hatten innerhalb von vier Jahren drei Alben veröffentlicht.
Irgendjemand unter Connies Freunden ergatterte eine Schallplatte aus dem Westen, wer großes Glück
hatte und gute West-Leercassetten besaß, bekam eine Kopie. Wer etwas weniger Glück hatte, bekam nur
die Kopie einer Kopie einer Kopie – mit mieser Soundqualität. Depeche Mode hatten dennoch überall in der
DDR treue Fans, die in zahlreichen Fanclubs organisiert waren. Anders als vieles andere in der Welt der
Jugendlichen waren diese Clubs privat geleitet und organisiert. Auch Connie, zur Zeit des Hits "Master and
Servant" gerade 13 geworden, war Feuer und Flamme. Die Zahl der Fanclubs stieg landesweit, allein in
Jena gab es zwei. Einer davon war Connies Fanclub "Grabbing Hands" – benannt nach einer Zeile aus
dem Song "Everything Counts" von 1983.
Neben Treffen aller Depeche-Mode-Fanclubs der DDR an der Weltzeituhr in Ostberlin veranstalteten die
meisten Clubs regelmäßig Partys. Connie schildert die Verhandlungen mit dem staatlichen Jugendklub.
Zunächst musste der Zuständige des Jugendklubs überzeugt werden. "Ich mach dir den Laden voll",
versprach die pfiffige Thüringerin. Dann bekam der hauseigene Diskjockey eine Flasche Sekt, gegen die er
das Versprechen geben musste, Connie und ihren Freunden das Musikauflegen zu überlassen. Das war
wichtig, denn niemand besaß eine Musikanlage. Allein die Flasche Sekt kostete um die 15 Mark – bei
einem Monatsstipendium von 204 Mark, das Connie in ihrer Ausbildung bekam.
Mal eben anrufen? Leider nicht möglich
Ausschließlich per Post – die wenigsten Leute hatten in der DDR ein Telefon – organisierte Connie ihre
Partys. Fünf bis sechs Briefe trudelten täglich von Depeche-Mode-Fans aus der ganzen DDR im
Briefkasten ihrer Eltern ein. Mindestens ebenso viele schrieb und verschickte sie an das gut gepflegte
Fan-Netzwerk. Am Abend der Party stand sie an der Tür des Jugendklubs und überwachte die Gästeliste:
250 Personen kamen im Schnitt auf ihre Partys, die etwa alle drei Monate stattfanden. Eine besonders
große Ehre war es, wenn Jugendliche aus Berlin, Schwerin oder Rostock anreisten. Gewinn wurde nicht
gemacht bei den Veranstaltungen – das Ziel war ein Abend mit guter Musik und Gleichgesinnten.
Im Gegenzug reiste Connie fast jedes Wochenende zu den Partys der anderen Fanclubs. "Das war unser
Ersatz für Konzerte", erklärt sie heute. Die wenigsten West-Bands spielten Konzerte in der DDR. Für die
seltenen Gigs waren die Eintrittskarten nicht frei käuflich, sondern wurden über die staatliche
Jugendorganisation FDJ an besonders staatstreue Jugendliche verteilt. Also mussten die Fans zwischen
Stralsund und Plauen eben selbst für Unterhaltung sorgen.
© DBT/ Frier
Im Laden: Sachen, die keiner wollte
Gehandelt, improvisiert und gebastelt wurde auch in Sachen Styling. Zwar gab es auch DDR-Jugendmode,
die theoretisch in den Läden von "Sonnidee Jugendmode" erhältlich war. Praktisch aber "machten die
Hosen einen Quadrathintern", die Jacken waren "aus Plastik" - und außerdem ohnehin so gut wie nie
erhältlich. In den Regalen der Sonnidee-Läden lag neben DDR-Fahnen höchstens Wolle zum
Selbststricken. Und das taten viele stilbewusste Jugendliche. Es wurde gestrickt, genäht und gebastelt.
"Lieber eine Westjeans mit Schlag als eine Osthose", sagt Connie. "Dann hat man lieber den Schlag
weggenäht" – Hauptsache aus dem Westen. Auch Schmuck wurde selbst gebastelt, sogar Schminke und
Nagellack aus Babypuder, Tinte und anderen Zutaten zusammengemischt. Erst ab den späten
Achtzigerjahren gab es die Kosmetiklinie "action", in der manchmal sogar schwarzer Nagellack erhältlich
war.
Musik statt Politik
Anders als zum Beispiel viele Jugendliche aus der DDR-Punk- und -Gothicszene waren Connie und ihre
Freunde eher unpolitisch. "Die Punks fanden uns einfach lächerlich", grinst Connie. Was das Styling betraf,
waren manche Depeche-Mode-Fans auch eher Teil der Gothicszene. "Die Jungs schminkten sich schwarz
und trugen am liebsten Ledersachen, die Mädchen hell gepuderte Gesichter und dunkle Augenschminke.
Aus dem Bastelladen hatten wir Nieten und Ösen, damit verzierten wir Jacken und Gürtel. Für das richtige
Haarstyling gab es Seife und Zuckerwasser." Das hielt – zumindest bis zur Party. "Wir haben uns vor allem
fürs Wochenende gestylt", erzählt Connie. "Wir lebten für den Moment und für die nächste Party". Als
politisch gefährlich wurden die "Grabbing Hands"-Mitglieder offenbar nicht eingestuft - trotz westlicher
Looks und Musik aus England. "Wir sind nie gehindert worden", blickt Connie zurück.
Die Stasi kam trotzdem
Dennoch: Auch die Stasi interessierte sich für den Fanclub und seine Partys. Erfahren hat Connie davon
allerdings erst nach der Wende. Ein Bekannter zeigte sonderbares Interesse an den "Grabbing Hands",
obwohl bekannt war, dass er Depeche Mode überhaupt nicht mochte. "Er kam zur Party, trank einen Sekt,
blieb 15 Minuten und ging", erinnert sich Connie. Später kam heraus, dass er sich als Sohn eines
ranghohen Stasifunktionärs ein wenig umsehen sollte. "Irgendwie fand er uns aber wohl nicht so
interessant" - denn bis zum Mauerfall gingen die Partys unbehelligt weiter.
Live on stage - endlich
Vom ersten Westgeld nach der Währungsunion kaufte Connie im Juli 1990 ein Busticket und fuhr zum
ersten Mal nach London - zu einer internationalen "Fan Convention". Auch der Traum, ein Konzert ihrer
Lieblingsband zu sehen, ging bald in Erfüllung. Depeche Mode gingen im Herbst 1990 mit ihrem Album
"Violator" auf Tour. Connie stand beim Konzert in Frankfurt am Main in der ersten Reihe in der Mitte und
weinte wieder. Diesmal vor Freude - und mit wasserfester Mascara.
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