Jehovas Zeugen verweigerten sich Hitlers Kriegen

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Jehovas Zeugen verweigerten sich Hitlers Kriegen
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Gedenkveranstaltung "Gelsenkirchener Lichter", 27. Januar 2012
In seinem 1990 erschienenen Buch Arbeit macht tot — Eine Jugend in Auschwitz gibt Tibor Wohl, ein Überlebender von Auschwitz, ein Gespräch zweier Mithäftlinge wieder, das er mithörte. Einer der beiden, ein
Österreicher, bezeichnete sich selbst als „Heide“. Doch er lobte die Gefangenen, die als Kennzeichen einen
lila Winkel trugen — die Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen in dem Lager genannt wurden.
„Die gehen nicht in den Krieg“, sagte der Österreicher zu seinem Kameraden. „Die lassen sich lieber töten,
als daß sie einen anderen Menschen töten. Ich glaube, nur so handeln wahre Christen. Und weiß[t] du, ich
habe etwas Schönes mit ihnen erlebt. Wir waren nämlich mit ihnen zusammen auf einem Block, im Lager
Stutthof, Juden und Bibelforscher. Die Bibelforscher mußten zu dieser Zeit schwer arbeiten, bei kaltem
Wetter immer draußen. Kein Mensch begriff, wie sie es ausgehalten haben. Sie sagten, Jehova gibt ihnen
die Kraft dazu. Sie brauchten ihr Brot sehr nötig, denn sie hatten Hunger. Aber was taten sie? Sie trugen
alles Brot zusammen, das sie hatten, nahmen sich die Hälfte davon und legten die andere Hälfte ihren Brüdern hin, ihren Glaubensbrüdern, die ausgehungert von anderen Lagern kamen. Und sie hießen sie willkommen und küßten sie. Bevor sie aßen, beteten sie, und nachher hatten alle verklärte und glückliche Gesichter. Sie sagten, daß keiner mehr Hunger habe. Siehst du, da habe ich mir gedacht: Das sind wahre Christen, so habe ich sie mir immer vorgestellt. Wie schön wäre es gewesen, ausgehungerten Mitbrüdern hier in
Auschwitz einen solchen Empfang zu bereiten.“
Sehr geehrte Damen und Herren,
man hört häufig die Forderung, dass mit der ewigen Erinnerung an die Vergangenheit doch endlich einmal
Schluß sein müsse.
Sie sind heute Abend hier, weil Sie anderer Meinung sind!
Sie halten es mit Bundespräsident Roman Herzog, der 1996 in seiner Ansprache zur Einführung des heutigen „Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus“ im Deutschen Bundestag sagte:
„Wir wollen nicht unser Entsetzen konservieren. Wir wollen Lehren ziehen, die auch künftigen Generationen Orientierung sind.“1
Auch Jehovas Jehovas gehören zu den Opfern des Nationalsozialismus.
Welche Lehre können wir aus Erzählungen wie den eben gehörten für die Zukunft ziehen?
1
www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/01/19960119_Rede.html
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Der NS-Staat ging gegen Jehovas Zeugen mit einer heute kaum noch nachvollziehbaren Härte vor.
Das ist deshalb so erstaunlich, weil die Religionsgemeinschaft im Jahre 1933 in Deutschland nur etwa
25.000 Mitglieder zählte. Außerdem definierten sich die Zeugen Jehovas selbst nicht als politische Menschen. Im Gegenteil: Sie verstanden sich als gläubige Christen, die eine deutliche Distanz zum politischen
Umfeld bewahren wollten.
Weshalb, so fragt man sich, konnten die Nationalsozialisten diese kleine unpolitische Gruppe nicht einfach
ignorieren, sie einfach in Ruhe lassen?
Die Forderungen, die das „Dritte Reich“ auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens an den „Volksgenossen“
stellte, war in zentralen Bereichen mit den Glaubensgrundsätzen der Zeugen Jehovas unvereinbar:
 Sie grüßten nicht mit „Heil Hitler!“, nahmen nicht an den als öffentliches Bekenntnis zum „Führer-

staat“ veranstalteten „Wahlen“ teil, verweigerten überwiegend die Mitgliedschaft in NSZwangskörperschaften und lehnten den Kriegsdienst ab.
Ihr religiöses Selbstverständnis erforderte die Fortführung des Gemeindelebens und der Missionstä-
tigkeit auch in der Illegalität.
 Ihre Vorstellung, Teil einer internationalen Bruderschaft gleichwertiger Menschen zu sein, stand in
scharfen Gegensatz zur nationalistischen und rassistischen Ideologier der Nazis.
 Und nicht zuletzt provozierte ihre Erwartung eines realen Gottesreiches auf Erden, das am Jüngsten
Tag auch alle irdischen Herrscher beseitigen werde, die Gründer des Tausendjährigen Reiches.
Die Historikerin Monika Minniger urteilt: „Keine andere religiöse, politische oder weltanschauliche Bewegung war in ihrem Gedankengut dem Nationalsozialismus so diametral entgegengesetzt wie die Zeugen
Jehovas“2.
Die demonstrative Weigerung, sich den Verhaltensanforderungen der gleichgeschalteten „Volksgemeinschaft“ zu unterwerfen, kollidierte mit dem Totalitätsanspruch des Regimes. Hannah Arendt schrieb dazu:
„Totale Beherrschung kann freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, weil sie kein Handeln zulassen darf, das nicht absolut vorhersehbar ist.“3
Die unbeugsame Haltung der Zeugen Jehovas war für das NS-Regime daher Grund genug, sie trotz ihrer
geringen Anzahl als politische Bedrohung zu empfinden und mit großer Härte zu verfolgen. Somit ist ihr
widerständiges Verhalten der Sache und der Wirkung nach als politisch einzuschätzen, auch wenn es religiös gedacht war.
2
Monika Minninger: Eine bekennende „Kirche“, Zur Verfolgung von Zeugen Jehovas in Ostwestfalen und Lippe 1933–1945, Bielefeld 2001, S.
10.
3
Hannah Arendt, zitiert nach Susanne Spülbeck: Ordnung und Angst. Russische Juden aus der Sicht eines ostdeutschen Dorfes nach der Wende,
Frankfurt/Main, New York 1997, S. 172.
3
Trotz intensiver Verfolgung gelang Jehovas Zeugen, sich gestützt auf ihren Glauben und den eisernen Zusammenhalt in ihrer Mitte dem totalitären Zugriff des NS-Regimes, zu entziehen.
Allerdings zahlten sie dafür einen hohen Preis.
Mindestens jeder zweite war von Verfolgung direkt betroffen. Etwa 10.000 Gläubige wurden inhaftiert,
über 4.000 in Konzentrationslager deportiert. In der Vorkriegszeit stellten die mit einem „lila Winkel“ stigmatisierten Zeugen Jehovas in den Männer-KZ bis zu 10 % der Häftlinge, in den Frauen-KZ bis zu 80 %.4 Etwa 1.500 starben oder wurden ermordet. Mit über 360 Opfern hatten Zeugen Jehovas unter den abgeurteilten Kriegsdienstverweigerern die weitaus meisten Opfer zu beklagen.5 Hanns Lilje, Landesbischof der
Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, befand kurz nach dem Krieg, dass „keine christliche
Glaubensgemeinschaft […] sich mit der Zahl ihrer Blutzeugen auch nur von ferne messen“ 6 könne.
Jehovas Zeugen wollten „keine Helden“7 sein, noch suchten sie das Martyrium. Sie waren nicht politisch
motiviert, noch versuchten sie etwa das NS-Regime zu stürzen.
Aber sie stellten sich dem übermächtigen Staat entgegen, weil dieser ihnen Handlungen abverlangte, durch
die sie ihr christliches Gewissen hätten vergewaltigen müssen.
Diese Feststellung fordert geradezu die Frage heraus, wie sich jeder Einzelne heute in einer ähnlichen Situation verhalten würde:
Bin ich bereit und in der Lage, angesichts von Gruppendruck und Intoleranz auf die Stimme meines Gewissens zu hören, meinen Idealen treu zu bleiben und dies auch offen zu zeigen?
Wann kann, sollte oder muss ich Widerstand leisten?
"Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu
befinden und laut zu sagen: Nein." (Kurt Tucholsky)8
4
Hans Hesse, Hans; Harder, Jürgen: „… und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müsste …“, Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück, Essen 2001, S. 41.
5
Johannes Wrobel: Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main. In: Kirchliche Zeitgeschichte, Jg. 16, Nr. 2,
2003, S. 372. Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, Studien zur Zeitgeschichte Bd. 42,
München 41999, S. 375f.
6
Hanns Lilje: Im finstern Tal, Nürnberg 1947, S. 47.
7
Horst Schmidt: Der Tod kam immer montags. Verfolgt als Kriegsdienstverweigerer im Nationalsozialismus. Eine Autobiographie, Essen 2003,
S. 109.
8
Kurt Tucholsky: Die Verteidigung des Vaterlandes. In: Die Weltbühne, 6. 10. 1921, S. 338f.
4
Welche Lehre können wir also für die Zukunft ziehen?
Klaus von Dohnanyi formulierte dies anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“ wie folgt:
„Die Substanzen, auf der eine moderne Gesellschaft allein demokratisch und humanistisch sicherer gemacht werden kann, sind Toleranz, Anstand, Zuverlässigkeit und Zivilcourage. … An diese einfache Wahrheit erinnert auch der Widerstand der Zeugen Jehovas gegen die Nazis. Keine im Kern antifaschistische Partei der Weimarer Republik … kann auf einen so hohen Anteil von entschlossenem Widerstand in ihren Reihen verweisen wie die scheinbar unpolitischen Zeugen Jehovas. Sie haben uns gezeigt, dass Glaube und
Anstand, humanistische Werte und überzeugte Menschlichkeit wenig mit Parteipositionen rechts oder links
zu tun haben, wohl aber mit einer Erziehung zu und Einübung von religiösen und ethischen Werten.“ 9
Für Jehovas Zeugen war das Thema Verfolgung mit dem Untergang des NS-Regimes allerdings nicht beendet.
Kaum befreit, wurden einige von den Behörden der SBZ/DDR wieder in dieselbe Zelle eingesperrt. Mehrjährige Haftstrafen waren auch in der DDR die Regel. Besonders in den 50er Jahren waren die Haftbedingungen katastrophal und es kam wiederum zu Todesfällen. Ende letzten Jahres erinnerte eine Ausstellung
im Sächsischen Landtag an die Verfolgung der Zeugen Jehovas Zeugen unter dem NS- und SED-Regime.
Bis heute sind Jehovas Zeugen in vielen Teilen der Erde Repressionen ausgesetzt. Häufig hängt dies mit
ihrer Weigerung zusammen Kriegsdienst zu leisten.
In den vergangenen Jahren veröffentlichte „Amnesty International“ eine Vielzahl von teilweise langjährigen
Inhaftierungen von Zeugen Jehovas aus diesem Grund u. a. in Griechenland, Zypern, Russland und anderen
Staaten der ehemaligen Sowjetunion, den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, Rumänien, Albanien, Singapur, Taiwan, Südkorea und Venezuela.
Aktuelle Entwicklungen wie diese zeigen, wie wichtig die Erinnerung an den Widerstand aus christlicher
Überzeugung ist. Eine Erinnerung an mutige Einzelpersonen und den geschlossenen Protest der Religionsgemeinschaft gegen Unterdrückung, Unmenschlichkeit und Rassismus.
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Klaus von Dohnanyi anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“ in
Hamburg, Hamburger Abendblatt, 7. 6. 1999.

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