Spaß im Angesicht des Todes
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Spaß im Angesicht des Todes
14 Montag, 16. März 2009 Nr. 63 Szenen Der Kippmoment zwischen Kunst und Kitsch Richard Wester mit seiner Berliner Band im KulturForum Von Manuel Weber Kiel – Kurz vor Ende des stehend umjubelten zweistündigen Konzertes im prall gefüllten KulturForum beendet Saxophonist Richard Wester doch noch seine Geschichte vom Hochzeitsbesuch bei einem alten, ewig nicht gesehenen Freund in Zentralrumänien: Sie trinken viel zu viel selbst gebrannten Schnaps, was Wester aber nicht davon abhält, den Heimweg durch die stockfinstere Nacht allein anzutreten. So durchrauscht er, die Hand nicht vor Augen sehend, die Nacht, nur auf das Knirschen des Kieswegs unter seinen Füßen vertrauend, der ihn durch die fremde, feuchte Nacht nach Hause bringen soll. Das „Urvertrauen“, das er dabei spürte, habe ihn letztlich sicher ans Ziel gebracht, stellt er heute fest. Und ein wenig so funktioniert auch die Musik des Wahl-SchleswigHolsteiners. Immer dem Gefühl, der Emotion vertrauend. Darauf, dass sie ihn sicher durch Melodie und Rhythmus geleitet und zum Song führt; ganz egal, ob der sich letztlich an stil-ästhetische Konventionen hält, klar einem Genre zuzurechnen ist oder Kritiker ihn im Kitschmorast ertrinken wähnen. Getreu dem Motto: Wenn es wahrhaftig ist, dann ist es ok. Das ist die Stärke seiner Songs, beschreibt aber auch den Kippmoment zwischen Kunst und Kitsch, der den expressiv bildhaften und emotionalen Liedern zwischen mondänem Groove und balladesker Zuckrigkeit mehr oder weniger stark innewohnt. Er spielt auch das Lied des blinden Sehers, das ur- Richard Wester überträgt seine Gefühle per Saxophon. Foto bos sprünglich vom Album des Medea Ballettprojekts stammt. Medea war ein wichtiges Album, thematisierte es doch eine „schwarze“ Materie, eine „grauenhafte Untiefe der griechischen Mythologie“, aus der Wester sich mit einem „weißen“ Motiv herausholen musste. Und was wäre weißer und reiner als die Liebe? Das Ergebnis heißt Dedicated Love-Songs und reicht in seiner Bandbreite von der ersten „wahren und unschuldigen“, teenagerschamesroten Liebe des 16-jährigen Richard (Treibsand), über die große Liebe (Nur für Dich) bis zur Liebe, die er den geografischen und damit auch sozialen Stationen seines Lebens entgegenbringt. Zu letzteren gehört das seinen wilden Musikerjahren im Kreuzberg der 70er und 80er Jahre gewidmete Berlin 36 / 78. Mit seiner Jazz-Rock-Fusion-hafter Funkiness mit extra-coolem Wester-Solo aus multiphonem Unisono aus Gesang und Querflötenspiel ist es eines der Highlights des Abends. Kein Wunder, dass hier auch die Berliner Kult-Bande um Wester so richtig aufblüht: Heimspiel, sozusagen. Bis da- hin hatten Pankow-Gitarrist Ingo York, Rolf Hammermüller (Piano), der musikalische Leiter des Berliner „Wintergarten“ Stefan Warmuth (Bass) und Schlagzeuger Chris Evans zwar druckvoll und fehlerfrei, aber im Hinblick auf ihre immer wieder aufblitzenden Qualitäten ein wenig blass in ihrer stimmungs- und sounddienlichen Zurückhaltung agiert. Es scheint ganz so, als wüssten sie, dass im Zentrum das Musik gewordene Gefühl Westers steht, das er mal mit verhalltem und schneidendem Saxophonspiel, dann mit zärtlichsehnsüchtigem Hauchton und spritzig-nervösen QuerflötenZiselierungen hörbar macht. Emotionen erzeugen Emotionen, und das KulturForum steht Kopf. Spaß im Angesicht des Todes Vorpremiere von Andrea Badeys neuem Programm im gut besuchten Lutterbeker Lutterbek – Es gibt kaum etwas Schöneres, als angenehm überrascht zu werden. Der Titel Zwischen Tanga und Treppenlift lastet schwer auf Andrea Badeys neuem Programm unter der Regie von Martin Maria Blau – und ist angesichts der unterhaltsamen Bühnenshow der Frau, die sich als „moderne Diseuse“ beschreibt, gottlob sehr schnell vergessen. Von Sabine Tholund Bei der Vorpremiere im rappelvollen Lutterbeker traf die ausgebildete Schauspielerin den Nerv des Publikums – wandlungsfähig mit beißendem Witz, einer guten Portion Selbstironie und mit einer wohltönenden, dunklen Singstimme, die einer Chansonette zur Ehre gereichen würde. Dabei zielt sie nicht nur auf die schnellen Pointen, sondern lässt vor allem in ihren Liedern Raum für leisere Töne, die bisweilen sogar nachdenklich stimmen. Großes Thema des Abends ist das Älterwerden, welches bekanntlich nichts für Feiglinge ist. Äußere Signale wie das „Gecko-Säckchen“ unter dem Kinn oder den steifen Rücken, der beim Zubinden der Schuhe die Überlegung nahe legt, „was man sonst vielleicht noch alles da unten zu tun haben könnte“, ignoriert Andrea Badey mutig, frei nach dem Motto: „Einfach weitermachen oder neu machen.“ Leuchtendes Vorbild in Sachen Altern mit Spaß ist ihr „anarchistischer Vater“, der nach Afrika abgedampft ist, um unter Sonne und Palmen in Gesellschaft netter Damen die letzten Jahre zu genießen. In welchem Maße sie sich seinen Spruch „Kind, man darf zwar Das Schwere auf die leichte Schulter nehmen: Andrea Badey macht’s im Lutterbeker vor. alles falsch machen im Leben, nur auslassen darf man nichts“ zueigen gemacht hat, erzählt sie in ausführlichen Exkursen, die weit in Kindheit und Jugend im rheinischen Oberhausen zurückführen. In breitestem Dialekt und wechselnden Rollen arbeitet sie die wesentlichen Etappen ihrer Menschwerdung ab. Furchterregend grimassierend schildert sie den ersten Kuss mit „Kettensägenzahnspange“ im Mund, der sich ihr ähnlich unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hat wie das Schicksal, mit DieterThomas Hecks Hitparade aufgewachsen zu sein. „Nun konzentrieren se sich!“ herrscht sie zustimmende Lacher an, steckt sich eine fette Zigarre ins Gesicht und verwandelt sich mit schiefem Grinsen und raumgreifenden Gesten in den „Vatter“, der das Treiben der Tochter immer wieder kommentiert und dabei aus Foto Schaller dem Nähkästchen seiner Erfahrungen plaudert. Mit leicht schmierigem Blick fordert der das Tragen von „Pömps und Röcke“ als gesetzliche Pflicht für die Frau ein („gleich nach de Menschenwürde“), um kurz darauf einen Deal mit dem Tod zu machen. „Lass uns das Schwere auf die leichte Schulter nehmen“, singt Andrea Badey dann. Und tut’s – mit Todesverachtung und herzerfrischendem Spott. Brave Jungs, aber nur auf den ersten Blick: Dadajugend Polyform. Foto Peter Jung, urban und underground-hip von Karen Jahn Kiel – Für die drei Jungs der Dadajugend Polyform war der jüngst verstrichene UnglücksKlassiker – Freitag, der 13. – ein guter Tag. Nicht nur, dass ihre Remix-EP Support Our Loops als Nachfolger ihrer Debüt-EP Sell Out endlich das Licht der Welt erblicken durfte. Auf dem Minialbum hat das Kulmbacher Trio Tracks von Genre-Kollegen wie Plemo und Frittenbude neu durchgebürstet. Das Ereignis wurde auch noch von den zahlreichen Anwesenden im Weltruf anständig gefeiert. So jung wirken die drei Franken, wie sie da zwischen all ihrer Technik auf der Bühne stehen, wie anständig frisierte Abiturienten. „Dies ist bisher unser weitest wegster Gig“, kündigen sie noch Wort bastelnd an. Schon mit den ersten Tönen, Sequenzen und Beats, die da der Menge entgegenschlagen, ist der KleineJungs-Faktor dann zumindest akustisch hinweggefegt. Dreckig fräst sich der Sound in die Gehörgänge, brachial manchmal, dann wieder melodiös, immer mit den Achtzigern flirtend. Birkel, Enno und Holger zitieren sich durch ein Jahrzehnt Musikgeschichte, geben ihrem Bandnamen einen Sinn: Punk pöbelt heraus, Wave und Pop scharwenzeln drumherum, und natürlich britzelt die Elektronik. Aus all diesen Versatzstücken entsteht ein WaveElektro-Irgendwas-Ungeheuer. Wummernde Beats knallen auf fiese Basslinien, auf ein Gewitter von angefuzzten Gitarren, die Sequenzer krispeln und über allem feuern die Drei im Wechsel geshoutet und gesungen Refrains ab. „Sometimes I feel like suicide“, heißt es dann, „life ist too hard for me“ oder „it takes a long time to come through“. Parolenhaft bohren und stechen sich diese Sätze in die Nacht, während die elektrischen Handclaps knallen, das Stroboskop-Licht flackert und die junge Meute vor der Bühne feiert. Neu ist das alles sicher nicht. Aber den Youngsters geben Dadajugend Polyform einen passenden Soundtrack: jung, urban, underground-hip und tanzbar. Die vielen Stimmen der Jessica Jekyll Skin Diary aus Berlin glänzten in der Schaubude in jeder Hinsicht Von Jens Raschke Kiel – Man braucht als Kieler mittlerweile eine verdammt gute Ausrede, wenn man von Skin Diary noch nie was gehört oder sie noch nie gesehen haben will: Seit ihrer Gründung im Jahre 2003 haben die Vier aus Berlin bereits in der Pumpe, auf der Jungen Bühne der Kieler Woche, in der Trauma und letztes Jahr auch zum ersten Mal in der Schaubude gespielt. Kein Wunder also, dass sich eine recht ansehnliche Schar von gestandenen Fans und neugierigen Novizen in Hattos Laden staut, nachdem Starring Emely ihren 30-minütigen Eröffnungsauftritt absolviert haben. Das junge Kieler Quintett um Sängerin Babs, Ben und Jorge (Gitarren), Volker (Bass) und Stenni (Schlagzeug) widmet sich mit Leib, Lunge und Seele dem stonerrockenden Grunge à la frühe Soundgarden, Kyuss und Monster Magnet. Das ist nicht sonderlich reich an originellen Überraschungen, aber allemal unterhaltsam und laut genug, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Sicherlich wird es noch genug Gelegenheiten geben, über Starring Emely ausführlicher zu berichten. Jetzt jedoch sind erstmal Skin Diary an der Reihe. Einmal tief Luft holen. Viele Stimmen zwitschern einem durch den Schädel, wenn Jessica Jekyll, alias Mrs. Clockwork Orange, die Oktaven zwischen ihren Stimmbändern durchrauschen lässt, nahtlos vom Girren ins Röhren übergeht, vom lieblichen Säuseln ins abgrundtief höllische Grölen. Die Namen zu diesen Stimmen stammen zum Großteil aus den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts: Kate Bush, Tina Weymouth (Tom Tom Club), Nina Hagen, Katharina Franck und natürlich Deborah Harry. An Letztere erinnert die energiesatte SkinDiary-Sängerin auch optisch, wenn sie ihre blonde Frisur ausschüttelt und kunstvoll die Kulleraugen unter den koketten Klimperwimpern rollen lässt. Dabei hat sie sich und ihr Instrumentarium stets voll unter Kontrolle, tippt mit glitzernd bestrumpftem Füßlein auf modifizierten Verzerrerpedalen herum, während sich der Oberkörper in zuckender Trance über einer geheimnisvollen Elektronenkiste verbiegt, mit deren Hilfe sie ihre bombastische Naturstimme bis weit ins Absurde hinein entfremdet. Diese Frau ist ein zirzensisches Erlebnis, da gibt es nichts dran zu deuteln. Und auch ihre Band vermag in puncto Musikalität und Außenwirkung durchaus zu über- Akustisches Naturereignis in Glitzerstrümpfen: Jessica Jekyll (mitte) in der Schaubude. Foto Bevis zeugen: Der Sizilianer Pierpaolo de Luca ist ein glitzerndes Genie auf der E-Gitarre, René Fläx lässt den Bass notfalls auch unter Zuhilfename eines Streichbogens bollern und grooven, und Schlagzeuger Puya Shoary gilt nicht zu Unrecht als persisches Ebenbild von Frank Zappa. Kein Wunder, dass das Berliner Magazin tip Skin Diary zu einer der 24 besten Bands der Bun- deshauptstadt gewählt hat. Ihre grandiosen, vielschichtigen Eigenkompositionen, die stilistisch zwischen Hardcore (Right Elbos) und Habanera (Cocooning) nichts auslassen, sind Pop im besten Sinne des Wortes: extravagant, hochartifiziell, dabei eingängig und vor allen Dingen individuell und unverwechselbar. Mit einem Wort: unbeschreiblich. Wiedersehen macht Freude.