Veit Stoß in der Sebalduskirche in Nürnberg - schmidt

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Veit Stoß in der Sebalduskirche in Nürnberg - schmidt
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Veit Stoß und seine Zeit
Zusammenfassung
Emile Zola sagt in Mes haines: Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein
Temperament. Das will sagen: Ein Künstler ist wie ein sehr empfindlicher Seismograf, der die
Gegebenheiten einer Epoche sensibel aufnimmt und sich mit ihnen auseinandersetzt. Er spürt
den Geist der Zeit und geht darauf ein. Seine hierdurch geprägte Einstellung artikuliert er,
indem er sie in einem Kunstwerk zum Ausdruck bringt und damit anderen zugänglich macht.
Ein Kunstwerk ist demnach nie nur gespiegelte Realität sondern immer auch die durch
individuelle Eigenschaften, persönliche Erfahrungen und subjektive Vorstellungen geprägte
künstlerische Äußerung. Aus dem Kunstwerk lernt man etwas sowohl über den Künstler als
auch über seine Umwelt, in der er lebt.
Diese allgemeinen Überlegungen gelten auch für Veit Stoß.
Veit Stoß war eine besonders bemerkenswerte Persönlichkeit. Dazu kommt, dass er in einer
alles Überkommene in Frage stellenden Zeit des Umbruchs lebte. Es ist daher interessant und
aufschlussreich zu sehen, wie der Künstler Veit Stoß auf die geistige Situation mit ihren
Herausforderungen reagierte.
1 Das ausgehende 15. Jahrhundert
Veit Stoß lebte von 1447 bis 1533. Es ist dies die Zeit des Übergangs vom Spätmittelalter in
die durch die Renaissance geprägte Neuzeit. Die alte, mittelalterliche, durch die Religion
geprägte Weltanschauung, in der eine umfassende, alles erklärende Vorstellung Sicherheit
und Lebenssinn vermitteln konnte, hatte ihre Gültigkeit verloren,. Eine neue Weltanschauung
mit neuen Erklärungsmustern und mit neuen, wiederum Sicherheit und Lebenssinn bietenden
Überzeugungen hatte sich noch nicht durchgesetzt. Das alles musste bedrohlich, gefährlich
und unheimlich erscheinen. Orientierungslosigkeit, Angst und Hilflosigkeit waren die Folge.
Schedelsche Weltchronik, Totentanz
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Vincent de Beauvais, Höllenstrafen
Wenn man die Zeit kurz vor und um die Jahrhundertwende charakterisieren wollte, müssten
die beiden Begriffe Todesangst und Höllenfurcht erwähnt werden. Sie bestimmen die geistige
Atmosphäre in den Jahren der Vorreformationszeit. Nun darf man nicht übersehen, dass
Todesangst und Höllenfurcht das ganze Mittelalter hindurch zu den seelischen
Grundbefindlichkeiten gehörte. Es war nur so, dass die Religion eine Antwort darauf bieten
konnte. Diese Antworten waren am Ende des 15. Jahrhunderts fragwürdig geworden. Man
war der Todesangst und der Höllenfurcht ohne geistige und kulturelle Unterstützung
ausgeliefert.
Zwei zeitgenössische Darstellungen machen das besonders deutlich. Einmal handelt es sich
um einen Totentanz aus der Weltchronik das Nürnbergers Hartmann Schedel aus dem Jahre
1493. Die zweite Darstellung beschreibt die Torturen in der Hölle, die man in dem
illustrierten Büchlein Geschichtlicher Spiegel von Vincent de Beauvais aus dem späten 15.
Jahrhundert findet. Todesangst und Höllenfurcht machen den Reliquienkult und das
Ablassunwesen nachvollziehbar. Reliquienkult und Ablassunwesen waren die Möglichkeiten,
mit deren Hilfe man besonders in den unteren Gesellschaftsschichten der Todesangst und der
Höllenfurcht zu begegnen suchte.
In einer Kreuzigungsgruppe von Mathis Grünewald aus dem Jahre 1505 kommt die
Einstellung der Jahrhundertwende noch einmal mit erschreckender Deutlichkeit zum
Ausdruck. Es ist dasselbe Jahr, in dem Veit Stoß an der Figur des Apostels Andreas zu
arbeiten begann.
Der Goldgrund der mittelalterlichen Darstellungen ist verschwunden. Das selbstverständliche,
unhinterfragte Eingebundensein in die göttliche Weltordnung ist verloren gegangen. An die
Stelle des Goldgrundes tritt eine düstere, finstere, Angst einflössende Umwelt. Noch ist nichts
zu spüren von der hellen Verstandesklarheit, mit der zur gleichen Zeit die italienischen
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Künstler der Renaissance die Umwelt und Natur beobachtet und dargestellt haben. Man merkt
nichts von der diesseitigen Freude und der liebevollen Offenheit, mit der man in Italien die
Welt neu wahrnahm. Immer noch lebt bei Mathis Gründwald im Hintergrund die Vorstellung
von einer finsteren Erde, die nur als Durchgangsstadium bis zum Endziel im Paradies
empfunden wird und die bloß als Bewährungsort Bedeutung hat.
Mathis Grünewald, Kreuzigungsgruppe
Die Kreuzigung selbst erscheint als ein erschütterndes Drama. Dieser zerschundene Jesus mit
seinem zerfetzen Lendentuch ist schwerlich als Gottes Sohn vorstellbar, der die Welt erlöst
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hat und der als königlicher Weltenrichter am Jüngsten Tag zurückkommen wird um zu richten
die Lebendigen und die Toten. Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit bestimmen die
Atmosphäre. Heilsgewissheit kann man aus diesem Bild gewisslich nicht schöpfen! Hier ist
ein Mensch mit seinen Zielen und Vorstellungen endgültig gescheitert. Wie unendlich weit
weg ist dieser Jesus von den stillen, tiefgläubigen Andachtsbildern des Mittelalters, die die
Kreuzigungsgruppe ebenfalls als Thema haben.
Man kann sich gut vorstellen, dass die Verzweiflung und die Hilf- und Hoffnungslosigkeit,
die wir bei den Umstehenden auf dem Bild bemerken, auch die Verzweiflung und die Hilfund Hoffnungslosigkeit der Gläubigen der damaligen Zeit zum Ausdruck bringen. Die
Kirche, vom Papst angefangen bis hinunter zu den einfachen Priestern, Mönchen und Nonnen
bot ein erschreckendes, abstoßendes Bild. Mit ihren unwürdigen Vertretern waren auch die
durch sie vertretenen Glaubensinhalte zweifelhaft geworden. Was kann man noch glauben?
Woran kann man sich noch halten? Was gibt noch Lebenssinn? Diese Fragen stellen sich
einem sensiblen Beobachter seiner Zeit, der sich nicht von Oberflächlichkeiten ablenken lässt
und der sich mit Ernst den existentiellen Fragen des menschlichen Daseins zu stellen wagt.
2 Die Lebensgeschichte des Veit Stoß
Veit Stoß war ein Zeitgenosse von Mathis Grünewald. Wie er hat er die Umbrüche seiner Zeit
erlebt und wohl auch erlitten. Seine Kunstwerke zeugen davon.
Immer ist es so, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen aus dem Zusammenwirken von
individuellem Charakter, zufälligen Lebensumständen und dem herrschenden Zeitgeist
herausbildet. Es ist daher sicherlich sinnvoll und notwendig, zunächst einmal die äußeren
Lebensumstände von Veit Stoß zu betrachten.
Veit Stoß ist um 1447 anscheinend im schwäbischen Horb am Neckar geboren. Er wirkte
nach den üblichen Wanderjahren seit ca. 1473 in Nürnberg. Er heiratete hier. Auch sein
ältester Sohn Andreas kam in Nürnberg zur Welt. 1477 gab er sein Nürnberger Bürgerrecht
auf und zog nach Krakau. 1477-1489 schnitzte er in Krakau den riesenhaften Altar der
Marienkirche, den umfänglichsten europäischen Altar des 15. Jahrhunderts, für den er 2008
Gulden erhielt. Der Stadtschreiber Johann Heidecke betonte, alle Christenheit rühme den
Meister. 1481 kaufte St. ein Haus in Krakau. 1483 wurde er vom Krakauer Rat »um seiner
Tugend und Kunst willen« von allen Steuern befreit und zum ständigen Berater des Rates für
Bauangelegenheiten ernannt. 1490 und 1494 tritt er als Sachverständiger in Baufragen in
Erscheinung.
1496 zog er mit seiner Frau Barbara und acht Kindern nach Nürnberg zurück, wo er für drei
Gulden das Bürgerrecht zurück erwarb. Im Juli 1496 starb seine Frau. 1497 heiratete er
Christine Reinolt. 1499 kaufte er für 800 Gulden ein Haus in der Wunderburggasse.
1503 stolperte der wirtschaftlich Ahnungslose in seinen bürgerlichen Zusammenbruch: Um
sein Recht durchzusetzen, ahmt der Künstler Unterschrift und Siegel eines betrügerischen
Kaufmanns nach. Er landete am 10. November 1503 deshalb im Nürnberger Lochgefängnis.
Am 4. Dezember 1503 wurden nach seinem Geständnis beide Wangen mit glühendem Eisen
durchstoßen. Diese entehrende Strafe der Brandmarkung verdüsterte fortan sein Leben. Veit
Stoß durfte Nürnberg fortan ohne Einverständnis des Rates nicht verlassen. Unter diesen
Umständen wurde er ein „unruwiger, hayloser“ Mann.
Im September 1506 suchte ein Gnadenbrief des kunstfreudigen Kaisers Maximilian I. dem
Meister seine bürgerliche Ehre zurückzugeben. Doch verstand das in Nürnberg manch einer
als Kritik an der städtischen Rechtspflege. 1507 empfing ihn der Kaiser in Ulm. Das gab ihm
etwas Auftrieb. 1512 zog ihn der Kaiser sogar mit zu der gigantischen Planung des mit
Bronzefiguren umstellten Kaisergrabes in der Innsbrucker Hofkirche heran. Doch
verweigerten die Nürnberger Rotgießer dem missliebigen Mann die notwendige Mitwirkung.
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So stammt höchstens die Figur der Zimburgis von Masowien in der Reihe der Innsbrucker
Grabmalfiguren von Veit Stoß. Wenn keine ernsthaften Aufträge da waren, verkaufte er an
seinem Stand an der Nürnberger Frauenkirche auf Vorrat geschaffene Kleinkunstwerke, auch
graphische Blätter. Doch sind nur zehn verschiedene Kupferstiche überkommen, von denen
nur die »Heilige Familie« eine gewisse Popularität erlangte.
1525 wurde Veit Stoß wegen seiner reformationsfeindlichen Ansichten der Stadt verwiesen.
1526 reiste der Greis nach Breslau, um für sein Recht zu kämpfen. Dort erreiche ihn die
Nachricht vom Tode seiner Frau.
Am 5. Juni 1532 wurde dem alten Mann sein Verkaufsstand an der Frauenkirche vom Rat
gekündigt. Er starb um den 20. September 1533 herum als vereinsamter, verbitterter Greis in
Nürnberg. Auf dem Johannisfriedhof ist sein Grab erhalten.
3 Die Schaffensperioden
Es ist sinnvoll, seine Werke in Schaffensperioden zu gruppieren, die sich eng an sein
persönliches Lebensschicksal anschließen.
3.1 Krakauer Zeit (1477 – 1496)
Veit Stoß tritt in das Licht der Kunstgeschichte als fertiger Meister mit dem gewaltigen
Hochaltar der Krakauer Marienkirche 1477/89, der vom Heimgang der Maria bestimmt ist.
Mit 13 m Höhe und 11 m Breite ist dieses Meisterwerk auch dem Umfang nach der größte
geschnitzte Flügelaltar der deutschen Gotik. Die 2,80 m hohen Schreinfiguren sind jeweils
aus einem Holzstamm gearbeitet. Das Neue des Krakauer Altars liegt in der Konzentrierung
des Schreines zu einer einheitlichen Bildbühne, die halbkreisförmig geschlossen ist. Neu ist
auch die Symmetrie der Gruppierung: Die 12 Apostel sind um die Mittelfigur, die selig
sterbende Maria, unter abgewogener Verteilung der Gewichte gruppiert. Neben dem Altar hat
Veit Stoß in Krakau noch eine Reihe von Grabplatten geschaffen, die zu seinem Ansehen und
zu seinem Einkommen beigetragen haben. Er kam von Krakau nach Nürnberg als berühmter
und vermögender Mann.
Aus den Werken von Veit Stoß für das damals weithin deutsch bestimmte Krakau erwuchs
die verfehlte polnische Überzeugung, dass »Wit Stwosz« Pole gewesen sei.
3.2 Nürnberger Frühzeit (1496 – 1503)
1499 gestaltete Veit Stoß das Volckamer Epitaph, ein Steinrelief mit drei Szenen aus der
Passionsgeschichte.
Das neue 16. Jahrhundert begrüßte Veit Stoß mit einer für sein eigenes Haus geschnitzten,
jetzt im Germanischen National-Museum befindlichen, aus Lindenholz bestehenden, 1,59 m
hohen Madonna.
1500 bis 1503 schuf Veit Stoß einen Altar für die Pfarrgemeinde Schwarz in Tirol. Doch ist
dieses Werk bis auf zwei Gesprengefiguren leider der Barockisierung des Gotteshauses zum
Opfer gefallen.
3.3 Zeit während der Verurteilung (1503 – 1507)
Den Maler Veit Stoß lernt man aus seinen Tafeln für den Münnerstädter Altar
Riemenschneiders von 1504 kennen, dessen Figuren Veit Stoß farbig gefasst hat.
Der Apostel Andreas im Ostchor der Sebalduskirche in Nürnberg entstand ca. 1505-1507.
3.4 Zeit der Rehabilitierung (1507 -1520)
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Den Paulus der Lorenzkirche in Nürnberg schuf Veit Stoß 1513. Die von Raffael Torrigiani
bestellte Raphael-Tobias-Gruppe im Germanischen Nationalmuseum stammt aus dem Jahre
1516 und realisiert ein damals in Italien beliebtes Motiv.
Im gleichen Jahr schuf der Meister den Rochus für die Annunziatakirche in Florenz, den der
erste Kunsthistoriker, Vasari, als ein »Wunder der Holzarbeit« bezeichnete.
Im Chor von St. Lorenz in Nürnberg hängt in ihrer strahlenden Pracht die gewaltige
Vollfigurengruppe des Englischen Grußes, also der Verkündigung an Maria, im Rosenkranz,
die letzte, große Leistung der spätmittelalterlichen Holzschnitzkunst. Oben erscheint
Gottvater. Maria hört auf die Engelsbotschaft und lässt ihr Buch fallen. Die beiden
Hauptfiguren stehen auf Wolken, aus denen ein Engel blickt. Die Medaillons der Umrahmung
sind Reliefs mit den sieben Freuden der Maria. Der Kranz der fünfzig Rosen ist 3,70 m hoch,
die beiden Figuren sind 2,20 m hoch. Dieser englische Gruß wurde 1517 von Anton Tucher
bestellt.
3.5 Spätzeit (1520 – 1533)
Das Wickelsche Kruzifix in St. Sebald entstand 1520. Der im Inneren entdeckte Papierzettel
sagt, am 27. Juli 1520 sei »dieser got auff gericht durch Niklos Wickel«.
Ein Hl. Veit im Kessel zeigt auf dem Boden des Kessels das Meisterzeichen von Veit Stoß.
und die Jahreszahl 1520. Diese Figur ist ein Beispiel für marktgängige Bildwerke, wie sie im
Auftrag des Meisters in seiner Nürnberger Marktbude verkauft wurden.
Im Jahre 1520 war Dr. Andreas Stoß, der noch vor der Übersiedlung des Meisters nach
Krakau in Nürnberg geborene Sohn, Prior des Karmeliterklosters Nürnberg geworden. Er
bestellte einen Altar, der 1523 in den Wirren der Reformation fertig wurde und später nach
Bamberg kam. Das Schreinrelief dieses Altars ist dem Weihnachtswunder gewidmet. Der
Altar sollte nicht »leichthin mit Farbe bemalt« werden Er war von vornherein als unbemalte
Holzschnitzerei gedacht. Bei diesem Bamberger Altar ist sogar der vom Meister gezeichnete
Altarriss überkommen. Aus ihm ergibt sich, dass in der Ausführung wesentliche Teile fehlen.
Dafür ist die Mittelgruppe reicher ausgeführt, als ursprünglich geplant.
4 Veit Stoß und die Kunst
Veit Stoß verfügt nicht mehr über die Glaubensgewissheit des Mittelalters. Er hat sich aber
auch noch nicht die Sicherheit einer neuen Weltanschauung angeeignet, wie es z.B. Albrecht
Dürer eine Künstlergeneration später gelungen war. Die Gedanken der Humanisten und ihre
Rückbesinnung auf die Antike waren Veit Stoß fremd. Zur Kunst der Renaissance hatte er
noch keine Beziehung. Das äußert sich in einer Kunst, die einen leidenschaftlichen
Naturalismus in den Einzelheiten zeigt, gleichzeitig aber innere Aufgewühltheit und geistige
Orientierungslosigkeit offensichtlich macht. Die fast barocke Durchwühlung der Gewänder
und Umrisse ist ein Zeichen für seine seelische Zerrissenheit. Veit Stoß war einer der größten
Meister der Jahrzehnte zwischen Spätmittelalter und Renaissance. In ihm leben alle geistigen
Spannungen einer Übergangszeit.
4.1 Der Apostel Andreas
Die Figur des Apostels Andreas entstand in der Zeit zwischen 1505 und 1507. Es war die
Epoche im Leben von Veit Stoß, die vielleicht die dunkelste war. Die Verurteilung und
Brandmarkung hatte dazu geführt, dass er in der Stadt Nürnberg als Geächteter galt, mit dem
man möglichst keinen Umgang haben sollte. Auftraggeber blieben weg, die Werksatt löste
sich auf und die sozialen Kontakte und Beziehungen gingen verloren. In dieser schweren Zeit
hat die Familie Tucher die herausragenden Fähigkeiten von Veit Stoß genutzt und den
Apostel Andreas in Auftrag gegeben.
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Die Figur mit dem wildbewegten Faltenwurf des Übergewandes vermittelt den Eindruck von
innerer Aufgewühltheit und von seelischem Getriebensein. Die Haltung mit den verdrehten
Beinen, von denen nur das eine zu sehen ist, wirkt orientierungs- und standpunktlos. Andreas
schwankt und taumelt eher als dass er fest auf dem Boden steht.
Die unruhige Bewegtheit der Figur des Apostels verrät, dass wir hier einen Menschen vor uns
haben, dem die Sicherheit und Gelassenheit abhanden gekommen sind, die in einem
begründeten Selbstverständnis und einer festen Weltanschauung wurzeln.
Einen Gegensatz dazu sieht man in einem Apostel vom Sebaldusgrab von Peter Vischer d.J.,
der nur wenig später geschaffen worden ist. Peter Vischer d.J. war in Italien und hat sich
dort mit der Kunst der Renaissance und mit den Gedanken der Humanisten vertraut gemacht.
Sein Apostel wirkt ruhig und selbstsicher. Mit einer Gelassenheit, die an antike Tugendideale
denken lässt, präsentiert er sich dem Betrachter. Er hat ein neues Selbstbewusstsein und eine
neue Weltsicht gewonnen, die ihm Halt und Sicherheit geben. Ein gegenüber dem
Spätmittelalter vollständig verändertes Menschenbild wird hier deutlich.
Veit Stoß, Der Apostel Andreas
Peter Vischer d.J. , Der Apostel
Bartholomäus
4.2 Das Volckamer Epitaph
Das Volckamer Epitaph ist die erste, größere Arbeit, die Veit Stoß nach seiner Rückkehr nach
Nürnberg geschaffen hast. Er hat es im Jahr 1499 fertig gestellt. Es umfasst ein dreiteiliges
Sandsteinrelief in einem gemeinsamen Rahmen und darüber ein Christus als
Schmerzensmann und eine Maria als mater dolorosa in Eichenholz. Auftraggeber war der
Patrizier Paulus Volckamer, der einer der führenden Familien in Nürnberg angehörte. Er war
zuletzt Vorderster Losunger. Damit hatte er einen beherrschenden Einfluss auf die Geschicke
der Stadt. Ab 1505 bis zu seinem Tode war Paulus Volckamer zusätzlich Kirchenpfleger für
St. Sebald.
Im äußersten unteren Eck des Reliefs ist der Stifter mit seinen beiden Söhnen zu sehen. Auf
der Gegenseite knien die beiden Ehefrauen mit ihren Töchtern und den Wappen der Mendel
und Haller, aus deren Familien die beiden Frauen stammen.
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Von den drei Darstellungen fällt sicherlich die linke Abendmahlsszene besonders aus dem
Rahmen. Auf sie sollen sich die folgenden Überlegungen konzentrieren.
Veit Stoß, Volckamer Epitaph, Abendmahlsszene
Man sieht hier ein Zechgelage wie in einem Gasthaus, in dem es drunter und drüber zu gehen
scheint. Der Wein fließt reichlich. Der Herr unten rechts hat offensichtlich schon einen in der
Krone. Der Dicke in der Mitte prostet mit einem zerbrochenen Weinglas irgend jemandem zu.
Die anderen kümmern sich ums Essen. Keiner ist wohl noch in der Lage, selbstbestimmt zu
handeln. Sie sind allesamt Getriebene, die nicht mehr wissen, was mit ihnen vorgeht.
Jesus ist an den Rand gedrängt und tritt kaum mehr in Erscheinung. Offensichtlich spielt er
keine besondere Rolle mehr.
Ist hier nur ein Weinglas zerbrochen oder steht man hier vor einer vollständig aus den Fugen
geratenen, zerbrochenen Welt, in der jegliche Ordnung verloren gegangen ist? Es fällt auf,
dass keiner der Figuren Kontakt zu den anderen hat. Hilflos isolierte Einzelne agieren
beziehungslos nebeneinander. Menschlichkeit und menschliches
Zusammengehörigkeitsgefühl sind nicht mehr beobachtbar.
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Eine wie anders geartete Welt findet man in der berühmten Abendmahlsszene von Leonardo
da Vinci!
Leonardo da Vinci, Abendmahl
Die Zusammengehörigkeit der Jünger wird durch die Anordnung und durch die Gestik
deutlich. Es handelt sich um eine verschworene Gemeinschaft. Diese verschworene
Gemeinschaft hat allerdings ihren Herren und Meister in der gegebenen Situation noch nicht
endgültig verstanden. In der Mitte sitzt Jesus, allein, isoliert und herausgehoben von den
anderen. Die verschworene Gemeinschaft wird in seiner schweren Stunde schlafen, sie wird
ihn verlassen und verleugnen.
Trotz allem liegt über dem Bild eine ruhige Gelassenheit. Die Welt ist ein wohl geordnetes
Ganzes; nichts geschieht, was nicht in die Ordnung der Dinge gehörte. Es ist die Aufgabe des
Menschen, sich bei aller Individualität sinnvoll in diese Ordnung einzufügen.
Hier wird die Renaissance mit ihrer Weltanschauung und mit ihrem Menschenbild
anschaulich spür- und erlebbar. Veit Stoß war eine derartige Betrachtungsweise noch nicht
zugänglich.
4.3 Das Wickelsche Kruzifix
Veit Stoß, Kreuzigungsgruppe
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Mitten im Ostchor hinter dem Altar findet man in der Sebalduskirche eine
Kreuzigungsgruppe. Maria und Johannes stammen bereits aus dem Jahre 1506. Das Kruzifix
selbst wurde im Jahre 1520 im Auftrag von Niclas Wickel geschaffen. Es befand sich bis
1663 in der Frauenkirche und wurde erst dann in die Sebalduskirche überführt.
Der Kopf Jesu ist von erschreckender und erschütternder Eindringlichkeit. In ihm spiegeln
sich all das Leid und all das Elend, das Menschen anderen Menschen antun können. Der
Abgrund der menschlichen Seele tut sich auf. Folter, Verfolgung, Inquisition,
Vernichtungslager, Sadismus, Krieg oder Quälerei machen deutlich, wozu Menschen fähig
sind. Gilt wirklich der Satz von Hobbes „homo homini lupus“? (Der Mensch ist dem
Menschen ein Wolf)“ Hat Sartre recht, wenn er sagt: „Hölle, das sind die anderen“?
Veit Stoß, Das Wickelsche Kruzifix (Ausschnitt)
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In dem gequälten Gesichtsausdruck mit den wirren Locken kommen die Bosheit, die
Gemeinheit und die Gewalt zum Ausdruck, die Jesus erlitten hat. Man glaubt ihm, wenn er
sagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Kein Trost, keine Hilfe und
keine Zuversicht kann man aus diesem Gesicht herauslesen.
Mit diesem Kruzifix hat Veit Stoß die Vorstellung von Jesus als Gekreuzigtem mit
erschreckendem Naturalismus schonungslos bis zum Äußersten geführt. Nur ein Künstler, der
wie Veit Stoß das menschliche Leid in seiner ganzen Tiefe selbst zu erleben vermochte,
konnte ein derartiges Kunstwerk schaffen.
Wie weit weg von diesem Kopf sind die Menschen, deren Bilder später die Renaissance
entwerfen sollte und die als gute, schöne und edle Idealgestalten die Welt bevölkern. Der
Jesus von Michelangelo auf dem Wandgemälde des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen
Kapelle lässt nichts mehr von der hoffnungslosen Verzweiflung ahnen, die man bei Veit Stoß
spürt. Hier haben wir einen athletischen Helden vor uns, der als Herr der Welt auf die Erde
kommt.
Michelangelo, Jüngstes Gericht (Ausschnitt)
4.4 Der Englische Gruß
Der Englische Gruß befindet sich in der Nürnberger Lorenzkirche. Er gehört zu den
bekanntesten Kunstwerken dieser Kirche. Veit Stoß hat ihn in den Jahren 1517/18 im Alter
von 70 Jahren geschaffen.
Dargestellt ist die Verkündigung des Engels Gabriel an Maria. Die entsprechenden Verse
stehen in der Bibel bei Lukas im ersten Kapitel. Auf Lateinisch beginnen die Grußworte mit:
"Ave Maria, gratia plena, dominus tecum".
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Dem sorgsamen Betrachter fällt auf, dass der Engel und Maria keinen Kontakt zueinander
haben. Beide reden und sehen ohne Beziehung aneinander vorbei, wie wenn es den anderen
nicht gäbe. Es sieht so aus, als spräche der Engel irgendwo hin ins Leere und redete mit wem
auch immer, nur nicht mit Maria. Und Maria selbst scheint auch kein Interesse daran zu
haben, mit dem Engel in direkten, persönlichen Kontakt zu kommen.
Die Begegnung des Göttlichen mit dem Menschlichen ist hier unterbrochen. Das Göttliche
und das Menschliche sind sich fremd geworden. Es sind Bereiche, die nicht zueinander
gehören und sich nichts mehr zu sagen haben.
Veit Stoß, Englischer Gruß (Ausschnitt)
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Leonardo da Vinci, Verkündigung
Es gibt sehr viel einfühlsamere Darstellungen von der Begegnung des Göttlichen mit dem
Menschlichen. Zu ihnen gehört die Verkündigung aus dem Umfeld von Leonardo da Vinci.
Wie menschlich warm und liebevoll wird die Begegnung des Engels mit Maria geschildert!
Der Blickkontakt schafft die Verbindung zwischen den beiden. Diese Verbindung wird noch
verstärkt durch die Handbewegung des Engels, auf die Maria mit dem Zurückweichen ihrer
linken Hand antwortet. Dadurch entsteht eine Art Bogen zwischen den beiden, den man sich
in Gedanken vollständig denken kann.
Eine wundervolle Ruhe liegt über dem Bild. Nichts Aufgewühltes, Fahrig-Nervöses, SeelischErschütterndes stört den Frieden, der über dieser Begegnung des Göttlichen mit dem
Menschlichen liegt.
Maria wirkt nicht erschreckt, eher freudig überrascht. Es fehlt ihr jegliche Dramatik oder
Hektik. Das Erscheinen des Göttlichen in ihrer menschlichen Welt hat für sie offensichtlich
nichts Außergewöhnliches. Für sie scheint es keinen grundsätzlichen Unterschied oder
Gegensatz zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen zu geben. Das Göttliche bricht
nicht von außen effektvoll in die menschliche Welt herein. Vielmehr liegt das Göttliche in der
Welt selbst und offenbart sich nur.
In dieser pantheistischen Weltdeutung zeigt sich die Renaissance von ihrer tiefsten Seite. Hier
liegt eine Lösungsmöglichkeit für die Glaubenskrise des ausgehenden Mittelalters. Die
Reformation zeigt eine andere.
5 Würdigung
Veit Stoß war ein genial begabter Künstler, der darüber hinaus über ausgezeichnete
handwerkliche und technische Fähigkeiten verfügte. Gleichzeitig muss er wohl eine
schwierige, wenig angepasste Persönlichkeit gewesen sein; er war ein „unruwiger, hayloser“
Mann.
Es ist bemerkenswert, dass in keinem einzigen seiner Werke die Figuren zueinander in
Beziehung gesetzt sind. Es handelt sich jeweils um isolierte Einzelne ohne persönlichen
Kontakt. Könnte es vielleicht sein, dass Veit Stoß selbst zu zwischenmenschlichen
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Beziehungen nur schwer fähig war und ihm daher das Einfühlungs- und Ausdrucksvermögen
hierfür fehlte?
Mit feinem Empfinden hat Veit Stoß die Umbrüche zwischen dem Mittelalter und der
Renaissance wahrgenommen und erlebt. Es lag im Geist der Zeit, dass die weltanschaulichen
Überzeugungen des Mittelalters nicht mehr gültig waren. Gleichzeitig hatte sich die neue
Weltsicht der Renaissance zumindest in Deutschland noch nicht durchgesetzt. Veit Stoß hat
die damit verbundene existentielle Heimatlosigkeit wohl eher unbewusst als bewusst selbst
erlebt. Dadurch war er in der Lage, sie großartig in Kunstwerke umzusetzen und damit auch
für uns heute noch nachvollziehbar zu machen.

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