Vortrag Thomas Mann - Senioren

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Vortrag Thomas Mann - Senioren
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Thomas Mann - im Schatten von Richard Wagner
Thomas Mann im Schatten von...?
Thomas Mann – im Schatten von Richard Wagner? Eine Rückfrage ist nicht nur
erlaubt, sondern geradezu geboten. Trifft nicht das Gegenteil zu? Ist der
Nobelpreisträger Thomas Mann nicht für viele geradezu ein Garant für geistigintellektuelle Freiheit und Unabhängigkeit? War er nicht Zeit seines Lebens geradezu
peinlich darauf bedacht, aus dem Schatten seiner berühmten Zeitgenossen
herauszutreten? Keiner ist ihm entgangen, der es auch nur einigermassen zu Ruhm
und Ansehen gebracht hat. Die unzählig lobenden Worte in Briefen, Tagebüchern,
Gratulationsschreiben und Essays verweisen auf einen aufmerksam mitdenkenden
und mitfühlenden Zeitgenossen. Allerdings lobte er nicht, um gleichsam kollegial
vereinnahmt zu werden. Er wusste erstaunlich früh, was ihn von andern unterschied.
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Die Angst, nicht bestehen zu können...
Je berühmter sie waren, umso deutlicher traf ihn die schiere Angst, einst bei der
Leserschaft wie innerhalb der deutschen Literaturgeschichte nur noch genannt und
kaum mehr gelesen zu werden.
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Rivalitäten in der Familie
Die Rivalitäten beginnen schon in der Familie. Thomas will bereits als Verfasser der
„Buddenbrooks“, das heisst sehr früh – mit 25 Jahren – nicht mit seinem um vier
Jahre älteren Bruder Heinrich verglichen oder gar verwechselt werden. Und wenn wir
schon bei der Familie sind: Wirft sich ein Schatten nicht auch auf seine schreibenden
Kinder, während der Vater, der Zauberer, immer im Licht zu stehen scheint? Ob
Klaus, Golo oder Erika Mann, wir müssen sogar den Enkel Frido mitbedenken,
stehen unter dem schwer einzulösenden Anspruch, aus dem Schatten Thomas
Manns, des Übergrossen, herauszutreten. Einigermassen geglückt ist es wohl nur
Golo Mann, allerdings unter dem Druck eines lebenslänglich aufrecht erhaltenen
Zwangs, gegenüber dem übermächtig Unnahbaren bewusst auf Distanz zu gehen.
Aufnahme in die Deutsche Literatur, genauer gesagt, in die deutsche
Literaturgeschichte, das war für Thomas Mann, spätestens nach der
Veröffentlichung des „Zauberbergs“ im Jahre 1924 zu wenig.
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Weltliterarischer Anspruch...
Er orientierte sich erstaunlich früh an Goethe, der als erster den uns allen bekannten
Begriff der Weltliteratur einführte. Dahin strebte Thomas Manns Ehrgeiz. Zu Schillers
hundertstem Todestag im Jahre 1905 schrieb er in der Erzählung „Schwere Stunde“,
in der Thomas Mann ebenso an sich wie an den um seinen Stoff ringenden Schiller
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dachte, den eigenen, persönlichen Anspruch auf weltliterarische Geltung in Schillers
kühne Gedankengänge ein:
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«Grösse! Ausserordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des
Namens»!» (aus «Schwere Stunde)»
„Grösse! Ausserordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was
galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel! Gekannt sein, - gekannt und
geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wisst von
der Süssigkeit dieses Traumes und Dranges! Ichsüchtig ist alles Ausserordentliche,
sofern es leidet. Mögt ihr selbst zusehen, spricht es, ihr Sendungslosen, die ihr’s auf
Erden so viel leichter habt! Und der Ehrgeiz spricht: Soll das Leiden umsonst
gewesen sein? Gross muss es mich machen!...“
Dabei blieb es, ein volles, erfülltes Leben lang. Noch 1955, im Jahr seines Todes
quälte ihn der Gedanke, wessen Lebenswerk besser in der Erinnerung der
Menschheit bleiben werde: jenes von Marcel Proust oder sein eigenes?
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Die Meistersinger» / Kriterium des Nachruhms!
Er zweifelte noch immer, ein vergleichbares Werk geschaffen zu haben, das neben
Wagners „Meistersinger“ bestehen könnte!
Wie sollen wir auf derartige Ängste reagieren? Sicher verweisen sie uns auf die
immer wieder berührende Tatsache, dass auch überragende Geister, schöpferische
Genies, den Gesetzen des Menschlich-Allzumenschlichen nicht entrinnen können.
Die Schatten wandern mit und sind genau an jener Stelle, wo ihnen der Entfliehende
zu entrinnen versucht! Für diesen ebenso faszinierenden wie schmerzlichen Weg
gibt es im Leben und Werk Thomas Manns nur einen Namen: Richard Wagner.
Erste, prägende Erlebnisse
Wie es zur ersten Begegnung kam ist ebenso vielfach belegte wie die Tatsache einer
lebenslangen Faszination, ja süchtigen Abhängigkeit bis hin zur selbst- wie
werkkritischen Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk des Meisters und Magiers
aus Bayreuth. Das erste, wohl alles entscheidende Erlebnis war eine Aufführung des
„Lohengrin“ im Stadttheater von Lübeck im Jahre 1893. Thomas Mann war 18 Jahre
alt und absolvierte, faul und gelangweilt, das letzte Schuljahr seiner spektakulär
gescheiterten Gymnasialzeit am Katherinäum zu Lübeck. Er hat diese nachhaltige,
erste musikalische Begegnung mit Wagner mit Sicherheit nicht gesucht.
Biographisch aber war er auf dieses Durchbruchserlebnis bestens vorbereitet.
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Julia Mann da Silva Bruhns:Thomas Manns Mutter
Um diesen eigentlichen Inkubationsprozess nachvollziehen zu können, müssen wir in
erster Linie Thomas Manns Mutter erwähnen – Julia Mann da Silva Bruhns. Ihr Mann
hatte sie aus dem südlichen Brasilien ins nördliche Lübeck geholt. Sie war es, die die
musikalische Neugierde ihres zweiten, deutlich bevorzugten Sohnes Thomy
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entdeckte und förderte. Als begabte Pianistin und Sängerin weihte sie ihr Kind ins
romantische Liedgut von Schubert, Schumann und Brahms ein, ermöglichte dem
Achtjährigen Unterricht in Violine. Sein Lehrer Ludwig Winkelmann war erster
Violinist am Lübecker Stadttheater. Dieser Winkelmann war aber auch der Bruder
des Tenors Leopold Winkelmann, dem Richard Wagner bei der Uraufführung des
„Parsifal“ die Titelrolle anvertraute. Es lässt sich also leicht ausdenken, dass vor dem
ersten Besuch des „Lohengrin“ nicht einfach nebensächlich von Wagner gesprochen
wurde.
Doch damit nicht genug. Einer von Thomas Manns Klassenkollegen war Franz
Sucher. Rosa Sucher, dessen Mutter, war eine in Bayreuth bewunderte Sieglinde
und Isolde. Ihr Mann, Franz Sucher, war Hofkapellmeister in Berlin und
Probendirigent bei den Wagner-Festspielen. Wir müssen diese Namen im Vorfeld
des Lohengrin-Einbruchs in die Welt des 18Jährigen erwähnen, damit wir nicht dem
bis heute kursierenden Gerücht Glauben schenken, Thomas Mann habe gänzlich
unvorbereitet, den Stunden seiner ihn unbewusst prägenden Lohengrin-Aufführung
entgegen gelebt.
Er war sich der Tiefe dieser Erschütterung wohl bewusst, hielt sie wach, wo immer
sich die Gelegenheit bot. Man kann sich des Eindrucks tatsächlich nicht erwehren,
dass die Klänge des Vorspiels zu Lohengrin die ganze Atmosphäre ihn prägender
und unvergesslicher Jugendjahre in Lübeck gegenwärtig werden liessen. 1927
bekennt der 52Jährige ergriffen:
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1887: «Lohengrin» im Stadttheater Lübeck
„Den ‚Lohengrin‘ lernte ich am ehesten kennen, habe ihn unzählige Male gehört und
weiss ihn nach Wort und Musik noch heute fast auswendig. Sein erster Akt ist ein
Phänomen dramatischer Ökonomie und theatralischer Wirkung, das Vorspiel etwas
absolut Zauberhaftes, der Gipfel der Romantik.“ (Aus: Wie stehe wir heute zu
Wagner?)
Erst bei Berücksichtigung dieser Fakten wird uns klar, dass sich Thomas Mann mit
besonderer Vorliebe jener Stoffe annahm, in denen er tiefgreifende Erschütterungen
nachzugestalten, das heisst möglichst genau zu objektivieren versuchte. Nur unter
diesen Bedingungen erstaunt es uns nicht, wenn gleich zwei Werke des jungen,
noch wenig bekannten Autors sich nicht einfach mit Wagners Tiefenperspektiven
schlechthin, sondern ausdrücklich mit „Lohengrin“ auseinandersetzen. Im Werk
Thomas Manns begegnen wir dem Komponisten zum ersten Mal in der Erzählung
„Der kleine Herr Friedemann“, dann, drei Jahre später, an entscheidend wichtiger
Stelle im Roman „Buddenbrooks“, wo die Präsenz dieser Musik den definitiven
Verfall und schliesslich den Untergang der einst so erfolgreichen Kaufmannsfamilie
begleitet und zu Ende führt. Wir staunen immer wieder neu, unter welchen
Bedingungen dieses epochale Jugendwerk entstanden ist.
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Wege zu «Buddenbrooks»
Stellen wir gleich zu Beginn die Rückfrage an die Familie Mann. Nichts deutet in der
langen, über Generationen genau dokumentierten Familiengeschichte darauf hin,
dass eines ihrer Mitglieder sich mit Kunst – das heisst in diesem Fall mit Musik oder
Literatur ernsthaft auseinandersetzen könnte. Undenkbar, dass jemand aus der
Familie Mann Musiker oder gar Schriftsteller würde. Doch nun ereignet sich etwas
unerwartet Neues unter Voraussetzungen, die in der Familien- und Firmengeschichte
der Getreidefirma Mann ohne Beispiel sind. Hier die wichtigsten Fakten.
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Thomas Johann Heinrich Mann (1840 – 1891): Vater von Thomas Mann
Thomas Manns Vater erkannte früh, als seine beiden ältesten Söhne Heinrich und
Thomas noch die Schulen Lübecks besuchten, dass sie weder Neigung noch
Interesse an der Weiterführung des hoch angesehenen Familienbetriebs zeigten.
Ihre Fluchtwege in Literatur und Musik liess jedes andere Interesse als reine
Banalität erscheinen. Das erkannte Thomas Johann Heinrich Mann (1840 – 1891)
rechtzeitig, bevor er wegen einer Blasenkrebserkrankung bereits im Alter von 51
Jahren starb.
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1893: Scheitern in der Obersekunda am „Katharinäum“
Thomas Mann war damals 16 Jahre alt und erlebte nicht nur sein spektakuläres
Scheitern als gänzlich unbrauchbarer Mittelschüler des Lübecker „Katharinäums,
sondern auch die Liquidation der angesehenen Getreidefirma Mann. Diese doppelte
Demütigung war für den orientierungslosen, das Leben irgendwie vor sich
hinschiebend Pubertierenden wie sehnsüchtig und eifersüchtig nach Freundschaft
suchenden jungen Menschen die Inkubationszeit ins Werk Richard Wagners,
genauer gesagt – in „Lohengrin“. Während die musik- und literaturbegeisterte Mutter
bald nach dem Tod ihres Mannes die Kunststadt München als zukünftigen Wohnsitz
wählte, lebte ihr Sohn Thomas bis zum definitiven Abbruch der Gymnasialzeit in
Pensionen Lübecks, wegen seines Schlendrians argwöhnische beobachtet und
negativ beurteilt von all jenen, die wussten, wie man es zu Ansehen, das heisst,
immer auch zu Erfolg bringen kann.
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Definitiver Wegzug des 18jährigen aus Lübeck zur Mutter nach München
Darauf zog er zu ihr in die Kunst- und Wagnerstadt München.
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Intensive Rezeption der Werke Wagners unter besten künstlerischen
Voraussetzungen in der Wagnerstadt München.
Und es erfolgt hier die Intensive Rezeption der Werke Wagners unter besten
künstlerischen Voraussetzungen in der Wagnerstadt München.
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Buddenbrooks
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1901: „Buddenbrooks erscheint im Fischer-Verlag in 2 Bänden
Rückblickend geht es von diesem Zeitpunkt an in einem geradezu atemberaubenden
Tempo der Konzeption und der Niederschrift des Romans „Buddenbrooks“ entgegen,
der 1901 in zwei Bänden im Fischer-Verlag erscheint.
Der Roman trägt den Untertitel: „Verfall einer Familie“. Er beginnt aber, um die
Fallhöhe möglichst hoch anzusetzen, mit dem Bezug des soeben erworbenen,
herrschaftlichen Hauses der Buddenbrooks. Von Musik ist hin und wieder die Rede,
nie ernsthaft, mehr dilettantisch dekorativ wie beim Flötenspiel des alten
Buddenbrook der ersten Generation. Dann aber, mit dem Einzug Gerdas in der
dritten Generation, wird die Musik eigentliches verzauberndes Lebenselement, das
sich nicht aus verschiedenen Namen zusammenstellt, sondern nur den Einen kennt.
Dieser Einzige ist Richard Wagner. Er tritt auf, unmittelbar vor dem definitiven Verfall
der Dynastie, genau an der Stelle, an der die Überlebenskräfte versiegen.
War das von allem Anfang so geplant? Nein! Thomas Mann dachte zu Beginn der
Niederschrift keineswegs an einen Grossroman, sondern an eine Erzählung über
Hanno Buddenbrooks Lebens- und Leistungsschwäche und seiner Verfallenheit an
die Musik Richard Wagners. Erst jetzt spürte der junge Autor – wie Wagner bei der
Konzeption des „Rings“ - dass die Geschichte Hannos die Vorgeschichte früherer
Generationen voraussetzte.
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Buddenbrooks und „Der Ring“
Diese Nähe zur Entstehungsgeschichte von Wagners „Ring“ konnte dem jungen
Wagner-Enthusiasten nicht entgehen. In späteren Jahren, vor allem in Zeiten der
inneren wie äusseren Bedrohung, besonders aber der Verleihung des Nobelpreises
in Jahre 1929 - hat er gerne auf sein geradezu symbiotisches Verhältnis, seine
Seelenverwandtschaft und diese auffallende Parallele innerhalb der
Entstehungsgeschichte seiner ersten Grossprojektes hingewiesen. Auch Wagner
dachte zuerst an ein Bühnenwerk zu „Siegfrieds Tod“ und bemerkte zu seiner
eigenen Überraschung, gleichsam in Vorwegnahme zum Thomas Mann der
„Buddenbrooks“, dass es der Stoff selber war, der ihn aus künstlerischen Gründen
zwang, die Vorgeschichten der Vorgeschichte zu erzählen, das heisst, mit dem
„Rheingold“ zu beginnen, mit der „Walküre“ weiterzufahren und erst jetzt zu
„Siegfried“ aufzuschliessen.
Es darf uns deshalb nicht überraschen, wenn Thomas Mann, im entfernten Rom,
während der Niederschrift der ersten Teile der „Buddenbrooks“ jeden Klang des
Meisters wie eine ihn begleitende Hilfe registrierte und begeistert in sich aufsog.
Thomas Mann war sich dieser Ausnahmesituation voll bewusst und erinnert sich bei
der Niederschrift seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen“ genau an folgende
Szene:
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In „freiwilliger Verbannung in ungeliebter Fremde...“
„Aber dem jungen Menschen, für den zu Hause kein Platz war und der in einer Art
von freiwilliger Verbannung in ungeliebter Fremde lebte, war diese Kunstwelt
buchstäblich die Heimat seiner Seele. Schaufahrt mit Konzert auf dem Pincio…und
eingesprengt in das banal geniessende Gewimmel internationaler Eleganz stand der
ärmlich und halb verwahrloste Junge zu Füssen des Podiums, unter einem
dickblauen Himmel, der nie aufhörte, ihm auf die Nerven zu fallen, unter Palmen, die
er missachtete, und empfing, schwach in den Knien vor Begeisterung, die
romantischen Botschaften des Lohengrin-Vorspiels.“
Und „Lohengrin“ wird denn auch jene Oper sein, die den letzten Lebensabschnitt des
Knaben Hanno beschliessen wird.
Die Szene bleibt jedem unvergesslich. Es ist jener Montagmorgen, da für Hanno,
diesem unverwechselbaren Spiegelbild des Gymnasiasten Thomas Mann – eine
neue, entsetzlich bedrohliche wie langweilige Schulwoche beginnt.
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Ein Tag aus dem Leben des kleinen Hanno
Hier die für uns wichtigen Stellen:
„Es war Sonntag gewesen, und nachdem er sich mehrere Tage hintereinander von
Herrn Brecht hatte malträtieren lassen müssen, hatte er zur Belohnung seine Mutter
ins Stadttheater begleiten dürfen, um den ‚Lohengrin‘ zu hören... Die Freude auf
diesen Abend hatte seit einer Woche schon sein Leben ausgemacht. Was hatte der
Montag bedeutet? War es wahrscheinlich gewesen, dass er jemals anbrechen
würde? Man glaubt an keinen Montag, wenn man am Sonntagabend den ‚Lohengrin‘
hören soll…
Und dann war das Glück zur Wirklichkeit geworden. Es war über ihn gekommen mit
seinen Weihen und Entzücken, seinem heimlichen Erschauern und Erbeben, seinem
plötzlichen innerlichen Schluchzen, seinem ganzen überschwänglichen und
unersättlichen Rausche…
Und endlich war doch das Ende gekommen. Das singende, schimmernde Glück war
verstummt und erloschen, mit fiebrigem Kopfe hatte er sich daheim in seinem
Zimmer wieder gefunden und war gewahr geworden, dass nur ein paar Stunden des
Schlafes dort in seinem Bett ihn von grauem Alltag trennten. Da hatte ihn ein Anfall
jener gänzlichen Verzagtheit überwältigt, die er so wohl kannte. Er hatte wieder
empfunden, wie wehe die Schönheit tut, wie tief sie in Scham und sehnsüchtige
Verzweiflung stürzt und doch auch den Mut und die Tauglichkeit zum gemeinen
Leben verzehrt. So fürchterlich hoffnungslos und bergeschwer hatte es ihn
niedergedrückt, dass er sich wieder einmal gesagt hatte, es müsse mehr sein als
seine persönlichen Kümmernisse, was auf ihm laste, eine Bürde, die von Anbeginn
seine Seele beschwert habe und sie irgendeinmal ersticken müsse…“
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Sie wird ihm erstickt, von einer brutal zugreifenden Welt, in der sich das Kind Hanno
nicht zurechtfindet. Die Frage drängt sich auf: Ist „Lohengrin“ der einzig taugliche
Ausweg aus einem Leben, das sich selbst die Todesfalle stellt?
Thomas Mann Dreigestirn der frühen Jahre
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Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer
Auf derartige Zusammenhänge hatte ein anderer bereits hingewiesen, Arthur
Schopenhauer, den Thomas Mann ebenfalls erst jetzt, in Rom entdeckt, ebenso
Friedrich Nietzsche, der dritte im Dreigestirn notwendig künstlerischer
Absicherungen und Orientierungshilfen.
Unser Interesse konzentriert sich auf Wagner. Von ihm übernimmt er den nun auch
stilistisch souverän beherrschten Einsatz der Technik des Leitmotivs. Thomas Mann
ist der erste Autor, der sich bereits in den Buddenbrooks gezielt dieser Technik
bedient. Er wird sie, vor allem im „Zauberberg“, in der Josephs-Tetralogie und im
„Doktor Faustus“ verfeinern, und sie bleibt bis zur letzten Erzählung „Die Betrogene“
ein unverkennbares Stilelement des brillanten Erzählers Thomas Manns.
Technik des Leitmotivs in den «Buddenbrooks»
Verfolgen wir diesen faszinierenden Prozess über eine kleine Wegstrecke innerhalb
der Buddenbrooks.
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«Was ist das. – Was – ist das...» (Beginn des Romans)
Der Roman beginnt bekanntlich mit der Frage: „Was ist das?“ Der alte Buddenbrook
examiniert Tony, seine Enkelin, mit einer Frage aus dem Katechismus. Tony
ihrerseits gibt die auswendig gelernte Antwort, ohne den Sinn ihrer Worte richtig
verstanden zu haben. Wie oft aber stehen auch andere Personen – nicht nur Tony,
im Verlaufe der Verfallsgeschichte der Buddenbrooks vor der Frage „Was ist das?“
und können sie nur halb oder gar nicht beantworten, während die Zeit unbarmherzig
ihrer Auflösung entgegendrängt.
Mehrmals wird innerhalb der vier Generationen umfassenden Geschichte die bange
Frage „Was ist das?“ genau so gestellt wie auf der ersten Seite des Romans. Und
die Antwort darauf erfahren wir tatsächlich erst auf S. 646, der letzten Seite in der
Taschenbuchausgabe im allerletzten gesprochenen Wort des letzten Kapitels.
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«Es ist so!» (Letzte gesprochenen Worte)
Sie lautet, in Kursivschrift deutlich hervorgehen: „Es ist so!“ Ja, es ist genau so, wie
es sich über hunderte von Seiten abspielte! Erst jetzt wird der Blick definitiv und
abschliessend auf die irreversiblen Realitäten des Verfalls gelenkt.
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Dominus providebit
Einem weiteren wichtigen Leitmotiv begegnet der Leser ebenfalls auf den ersten
Seiten des Romans. Dominus providebit: So lautet die Inschrift über dem Eingang
des feudal-bürgerlichen Hauses, ein in den frühen Generationen durchaus ernst
gemeinter Weihe- und Segensspruch, der nach dem Zusammenbruch der Firma nur
noch in bitterer Ironie gelesen und gedeutet werden kann.
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Firma und Haus der Buddenbrooks als eine grossbürgerliche «Walhalla»
Unvergesslich bleibt jedem Leser der vielfältig variierte Begriff der „Firma“ im
Gedächtnis haften. Als Leitmotiv ist der Begriff „Firma“ ein radikal säkularisiertes
„Walhalla“, dem alles untergeordnet und deswegen alles geopfert werden muss. Toni
Buddenbrook gibt ihre einzige, existenziell erlebte Liebe zum Medizinstudenten
Morten Schwarzkopf zugunsten der Firma auf. Ursache ihrer beiden gescheiterten
Ehen ist letztlich wieder die Firma, für die sie alles opfern musste!
Auch ihr Bruder Thomas wird von einem ähnlichen Schicksal heimgesucht. Er
verlässt in fast unbegreiflicher Distanziertheit Anna, die einem einfachen
Blumenladen vorsteht und heiratet die reiche, musikbegeisterte Violinistin Gerda, die
ihm nicht nur Hanno, den letzten Erben der Buddenbrooks schenkt, sondern auch
die als toxisch erfahrene Musik Richard Wagners.
So liesse sich fast beliebig in der raffiniert angeordneten und aufeinander bezogenen
Leitmotive weiterfahren, die dem in jeder Beziehung grossen Roman jene Form und
Fassung geben, durch die das hoch differenzierte Gefüge bei allem Verfall organisch
zusammengehalten wird. Erwähnen wir dennoch die an unglücklichen Stellen
stereotyp eingeschobenen Worte Sesemi Weichbrodts:
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„Sei glöcklich, gut’s Kind!“
„ Sei glöcklich, gut’s Kind!“
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die „bläulichen Schatten“ in den Augen Gerdas
oder jene, achtmal, an wichtiger Stelle erwähnten „bläulichen Schatten“ in den
Augen Gerdas, oder die einst so zentrale,
Familienbibel und Familienchronik
dann immer mehr schwindend, nebensächliche Bedeutung der kostbaren
Familienbibel und die für die Vorgeschichten so wichtige Familienchronik, unter
deren letzte Zeilen Hanno, von einem unwiderstehlichen Instinkt geleitet, einen Strich
zieht, ein nicht zu überbietender Höhepunkt instrumentierter Leitmotivtechnik, in dem
das Thema des Verfalls in fünf Worte gedrängt wird. Die unvergessliche Stelle lautet:
„Nach Tische rief der Senator (dh. Thomas, der Vater) ihn (Hanno) zu sich und
herrschte ihn mit zusammengezogenen Brauen an.
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„Was ist das. (Wiederholung jener Frage, mit der der Roman beginnt) Woher kommt
das. Hast du das getan?“
Er (Hanno) musste sich einen Augenblick besinnen, ob er es getan habe, und dann
sagte er schüchtern und ängstlich: „Ja.“
„Was heisst das! Was ficht dich an! Antworte! Wie kommst du zu dem Unfug!“ rief der
Senator, indem er mit dem leicht zusammengerollten Heft auf Hannos Wange schlug.
Und der kleine Johann, zurückweichend, stammelte, indem er mit der Hand nach
seiner Wange fuhr:
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«Ich glaubte…ich glaubte…es käme nichts mehr.“
Ich glaubte…ich glaubte…es käme nichts mehr.“
Damit sind wir – was den genetischen Prozess der Niederschrift betrifft - nicht an den
unmittelbar bevorstehenden Abschluss der Buddenbrooks gelangt, sondern – und
das ist das Spannende – an seinen eigentlichen Beginn, wenn wir an den ersten
Einfall des Autors denken, vor dessen Tragweite selbst Thomas Mann keine Ahnung
hatte.
Um diesem späten, tragischen Ereignis den notwendig kontrastierenden Hintergrund
zu geben, weitete sich der Blick auf frühere Generationen, bis hin und hinunter zur
ersten der vier. Bei Richard Wagner ist es die Besitznahme von Walhalla im
„Rheingold“, bei Thomas Mann der Einzug ins soeben erworbene Haus der
Buddenbrooks.
Sobald wir uns der Zusammenhänge in Bezug auf Manns frühe Wagnerrezeption
bewusst sind, fallen auch andere Parallelen auf.
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Thomas Buddenbrook :Variante eines zweifelnd gebrochenen Wotan
Das zweifelnd gebrochene Bild Wotans findet seine Spiegelung im Charakter wie der
Schopenhauer-Lektüre in der Gestalt von Thomas Buddenbrook. Die schwierige Ehe
Wotans mit Fricka entspricht jener von Thomas und Gerda Buddenbrook.
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Drei Nornen: Friederike, Henriette und Pfiffi
Sogar die drei Nornen treten mit Friederike, Henriette und Pfiffi genau in jenen
Situationen auf, bei denen sie schadenfroh den Verfall der einst so selbstsicheren
Familie Buddenbrook kommentieren.
Noch ein letzter Beleg:
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11 Teile der Buddenbrooks entsprechen den 11 Teilen des «Rings»
(Vorspiel «Götterdämmerung» als Einzelteil)
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Die Verfallsgeschichte der „Buddenbrooks“ wird im Roman in 11 Teile aufgegliedert,
es sind genau so viele Teile, aus denen sich der „Ring des Nibelungen“
zusammenfügt, wenn wir das Vorspiel zur Götterdämmerung mitzählen.
Wie geht es weiter? Die grundsätzliche Überraschung besteht darin, dass das
Thema Wagner mit den Buddenbrooks nicht abgeschlossen ist.
«Tristan»
Doch bereits in der Erzählung „Tristan“ die 1903, das heisst nur zwei Jahre nach den
„Buddenbrooks“ veröffentlicht wurde, geht Thomas Mann zu seinem verehrten
Vorbild erstmals auf Distanz und versucht, aus der inzwischen zunehmend als
Hemmung empfundenen Abhängigkeit herauszutreten. Ein erster Hinweis gibt uns
bereits der Titel der Novelle. Er heisst nicht „Tristan und Isolde“, sondern „Tristan“,
und lenkt so den Ausgangspunkt auf die ein Leben zerstörenden Kräfte
ausschliesslich auf die suggestiv verführerische Macht Wagners, die von einem
gescheiterten Schriftsteller und Schwadroneur Namens Spinell kommentiert wird.
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Spinell: Ein gescheiterter Schriftsteller ist die ironische Spiegelung einer
persönlichen Gefährdung Thomas Manns
Auch Spinell personifiziert jene extreme Gefährdung Thomas Manns, im Bann von
Wagners Musik stehen zu bleiben und so mit Sicherheit die eigene, schöpferische
Kraft zu verlieren. Vergessen wir nicht: Thomas Mann ist zu diesem Zeitpunkt erst 27
Jahre alt.
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Gabriele Klöterjahn: verfällt der Tristan-Partitur
Dennoch: nicht Spinell, sondern Gabriele Klöterjahn wird durch die
Überredungskünste Spinells in die bis jetzt ängstlich verdrängten Konfliktfelder von
Krankheit, Kunst und Leben gerissen, denen sie, unter der verführerischen Klängen
der Tristanpartitur nicht gewachsen ist und unter der toxischen Wirkung dieser Musik
jede Selbstkontrolle verliert und so in den Tod sinkt.
Beängstigend ist in dieser Erzählung die Schutzlosigkeit Gabrieles, die, trotz
dringenden Abratens des Arztes der Versuchung nicht wiederstehen konnte,
Wagners Musik im Zustand der Krankheit zu begegnen, sich mit den
Überredungskünsten des Todes zu identifizieren, statt aus dem Schatten des
unwiderstehlich Grossen herauszutreten.
Für Thomas Mann bedeutete die Erzählung „Tristan“ eine Zäsur.
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Thomas Mann entzieht sich mit «Tristan» dem vereinnahmenden(!), nicht dem
inspirierenden Einfluss Wagners
Thomas Mann entzieht sich mit «Tristan»
dem vereinnahmenden(!), nicht dem inspirierenden Einfluss Wagners!
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Die erste tiefgreifende Auseinandersetzung erfolgt aber erst in den „Betrachtungen
eines Unpolitischen“, dieser irritierend qualvollen und widersprüchlichen
Selbstbefragung und Standortbestimmung, womit der Autor seinen Anschluss wie
sein schwer errungenes Bekenntnis zur Demokratie begründet.
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„Zauberberg»: Der Name Wagner wird nie genannt. Dennoch ist er
allgegenwärtig !
Dann erst sind die Wege frei für das nächste Grossprojekt, den „Zauberberg“, in dem
der Name Richard Wagner nie genannt wird, nicht einmal im herrlichen Kapitel „Fülle
des Wohllauts“, und der dennoch in einer bis ins Höchste gesteigerten
Leitmotivtechnik allgegenwärtig ist. Walhall als Sanatorium, Krankheit als
Voraussetzung höherer Gesundung, Flucht aus dem Leben und seinen banalen
Verpflichtungen, Lebensflucht, Todesverfallenheit und Absturz in die
Götterdämmerung des 1. Weltkriegs wie der nicht erfüllbaren Liebe.
Wir kennen die berühmtesten Paare der Weltliteratur. Orpheus und Eurydike, Tristan
und Isolde, Romeo und Julia, Werther und Lotte. Alle diese grossen
Liebesgeschichten enden tragisch, sonst wären sie längst vergessen wie die
unzählig anderen, die sich ihres „happy ends“, ihres voraussehbaren glücklichen
Endes so sicher sind.
Liebe: eine persönliche, existenzielle Tiefenerfahrung
Werfen wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf die verschiedenen
Liebesbeziehungen innerhalb des Gesamtwerks von Thomas Mann, dann gleichen
sich alle in ihrer Unmöglichkeit, sich in dieser Welt, unter diesen Bedingungen
verwirklichen zu können. Es ist dieselbe zutiefst existenzielle Tiefenerfahrung aller
Liebenden – auch im Werk Wagners. Einsam stehen diese Namen vor uns und sie
meinen dennoch immer das Ganze: Rienzi, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin,
Brünnhilde, Siegfried, Parsifal.
Thomas Manns «Liebesgeschichten
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Wie bei Wagner: Einzelpersonen, nicht das Paar, stehen im Mittelpunkt:
Es ist wie bei Wagner: Einzelpersonen, nicht das Paar, stehen im Mittelpunkt des
Interesses.
Dieselbe existenzielle Tiefenerfahrung wird von Thomas Mann nie verlassen,
sondern von der frühesten Geschichte an beibehalten.
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«Der kleine Herr Friedemann»
Das heisst: von „Der kleine Herr Friedemann“ über
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Hanno Buddenbrook
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Hanno Buddenbrook bis zur letzten Erzählung, mit dem bezeichnenden Titel „Die
Betrogene“! Dennoch zeigt sich rasch ein bedeutender Unterschied.
Thomas Manns Liebesgeschichten sind in ihren nicht erfüllbaren Motiven der
Sehnsucht einseitig aufs Schicksal einer einzelnen Person fokussiert. Das heisst, die
Beziehung kann oder will nicht aufgebaut und gelebt werden, weil der Liebende sein
letztes Geheimnis für sich behält und so dauernd der Unerfüllbarkeit entgegenlebt.
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«Tonio Kröger»
Bereits sehr früh formuliert es der Autor in „Tonio Kröger“ mit einem Satz, der – auch
unausgesprochen - eine Schlüsselposition im Gesamtwerk einnimmt. Während der
14jährige Tonio über seine zum Scheitern verurteilten Bemühungen um die
Freundschaft Hans Hansens, eines Klassenkollegen in Gedanken zu fassen
versucht, beschreibt Thomas Mann diese verzweifelte Selbstvergewisserung mit
folgenden knappen Worten:
„Die Sache war die, dass Tonio Hans Hansen liebte. Und schon vieles um ihn
gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muss leiden, - diese
schlichte und harte Lehre hatte seine vierzehnjährige Seele bereits vom Leben
entgegengenommen; und er war so geartet, dass er solche Erfahrungen wohl
vermerkte, sie gleichsam innerlich aufschrieb und gewissermassen seine Freude
daran hatte, ohne sich freilich für seine Person danach zu richten und praktischen
Nutzen daraus zu ziehen.“
Es sind vorweggenommene Selbstkommentare, wenn wir gelesen haben: „…und er
war so geartet, dass er solche Erfahrungen wohl vermerkte, sie gleichsam innerlich
aufschrieb und gewissermassen seine Freude daran hatte, ohne sich freilich für
seine Person danach zu richten und praktischen Nutzen daraus zu ziehen.“
Der Einfluss Richard Wagners ist nicht zu übersehen. Bei ihm signalisiert meistens
bereits der Titel die in sich geschlossene, nie ganz aufzubrechende Isolation der
Hauptpersonen. Sie stehen vor uns und erinnern uns, wir brauchen nur ihre Namen
zu hören, um uns an ihre Sehnsüchte, Leiden und Abgründe hochdifferenzierten
Erfahrungen der Liebe zu erinnern. Einzige Ausnahme, die auch hier die Regel zu
bestätigen scheint: Tristan – Isolde.
Ist es ein Zufall, dass im Gesamtwerk Thomas Manns es ebenfalls nur eine einzige
Liebesgeschichte gibt, welche ihre Namen auf Leben und Tod miteinander verbindet:
Die Liebe Jakobs zu Rahel im ersten Band der Josephs-Tetralogie. Ihr früher Tod
gibt auch Jakob die frühere Lebenszuversicht nicht mehr zurück.
Wir stellen fest: Überall wo von Thomas Mann die Not des Menschen thematisiert
wird, fällt uns auch die auffallende Gleichartigkeit seiner Liebesgeschichten auf. Wo
immer Thomas Mann von Liebe spricht, geht es um eine unerfüllbare, ausweglos
unglückliche Liebe.
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Es beginnt schon früh, das heisst bereits in den ersten Erzählungen, in der der
Liebende es nicht wagt, auch nur ein Wort an die Geliebte zu richten: Wir erinnern
uns an Tonio Kröger, der kein Wort mit der angebeteten Inge wechselt, an Spinell im
bereits erwähnten „Tristan“, der sich nur symbolisch und über den Umweg der
Tristanpartitur zu äussern vermag.
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Gustav von Aschenbach in «Tod in Venedig»
Dann an Gustav von Aschenbach im „Tod in Venedig“, der schweigend an Tadzio
vorbei und so in den Tod geht, und an Joachim im „Zauberberg“, der erst dann die
befreienden Worte findet, als er weiss, dass es mit ihm zu Ende geht, da ist der Herr
aus Mannheim, der hoffnungslos Madame Chauchat umschleicht.
Und es gibt die mehr oder weniger beredt Sprechenden, die trotz ihrer Worte mit
ihrer tief verinnerlichten Sprachlosigkeit aneinander vorbeireden und leben:
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Hans Castorp im «Zauberberg»
Wir denken an Hans Castorp, der Claudia Chauchat erst über den Umweg der
französischen Sprache zu jener erotischen Direktheit aufschliesst, die er in deutscher
Sprache nie auszusprechen wagt. Wir erinnern uns an die absurd groteske Ehe des
Rechtsanwalts Jacoby in „Luischen“ oder jene des Kaufmanns Klöterjahn und seiner
nie verstandenen Frau Gabriele.
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Adrian Leverkühn in «Doktor Faustus»
an das vergebliche Bemühen Adrian Leverkühns um Marie Godeau im „Dr. Faustus“
und den entsetzlichen Tod des einzig verehrten Knaben Nepomuk Schneidewein,
genannt „Echo“ im Roman „Dr. Faustus“
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Mut-em-Enet in „Joseph in Ägypten“
und schliesslich die sinnlose, wütende, zur rasenden Verzweiflung aufgipfelnde Liebe
von Mut-em-Enet in „Joseph in Ägypten“, in der die unerfüllbare Liebe als rasend
unbeherrschbarer Dämon Verstand und Gemüt der hoch angesehenen, überall
beherrscht und kontrolliert erscheinenden Frau des Potifar buchstäblich zu Boden
wirft, nachdem sie sich in rasender Verzweiflung und Wut die Zunge zerbiss. In all
diesen Geschichten gibt es weder Vertrauen, noch Gewissheit, sondern nur Qual,
Sehnsucht und schliesslich eine durch nichts abzuwendende Tiefenerfahrung
radikaler Isolation, verbunden mit einem jede Zukunft zerstörenden Alleinsein. Dies
alles entwickelt sich bei Thomas Mann nicht allein auf persönlichen Erfahrungen,
sondern ist der grundsätzlichen Unerfüllbarkeit jeder grossen Liebe im Werk Richard
Wagners zuerst nachempfunden.
Die schicksalhaft auferlegte Unerfüllbarkeit vieler Liebesgeschichten führte bereits
zu Lebzeiten des Autors zur berechtigten Ansicht, Thomas Mann sei ein Vertreter
jener melancholisch-pessimistischen Weltinterpretation, gemäss der der Mensch erst
durch Not und vielfältige physische wie psychische Leiden zu seiner inneren Reife
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gelange. Mit anderen Worten; wer sich von keinem existenziellen Leiden
heimgesucht weiss, bleibt zwar für das Leben aufgespart, lebt das Leben, aber nicht
sich selbst, gehört zu den Lebenstüchtigen wie Hans Hansen in „Tonio Kröger“ oder
Herr Klöterjahn in der Erzählung „Tristan“ oder die von den Höhen des „Zauberbergs“
abschätzig beurteilen „Leute im Flachland“, die sich nur um ihren Beruf und ihre
Karriere kümmern.
Was zuerst wie ein herablassender Tadel des Autors erscheint, erweist sich immer
wieder als überraschende, sehnsüchtig beneidete Lebensform jener Menschen, die
unreflektiert im Gewöhnlichen leben, die unbekümmert ihren gesicherten Alltag
bestehen, die Tage so nehmen, wie sie eben kommen. Sie brauchen dazu nicht
einmal eine für sie zugeschnittene, hausbackene Philosophie, kein sie enervierendes
musikalisches Stimulans, keine die Wirklichkeit hinter sich lassende vokale oder
orchestrale Betäubung im Klangrausch einer Wagneroper, vor allem brauchen sie
keine Literatur!
Denn sie sind nicht jenem unseligen Instinkt ausgeliefert, unter dem bereits Tonio
Kröger in verzweifelter Selbsterkenntnis leidet, stets dorthin zu blicken, wo das
Alltägliche kompliziert wird. Mit dieser Liebe zum Gewöhnlichen, zum einfach,
unreflektiert gelebten Leben öffnet sich im Laufe eines sich über Jahrzehnte
erstreckenden Prozesses jener Raum, in dem sich Thomas Mann seiner
Abhängigkeit von Richard Wagner bewusst wird und aus ihr heraustritt.
Joseph und seine Brüder
Mit anderen Worten: Wir stehen vor dem Phänomen von Thomas Manns
umfangreichsten Werk: „Joseph und seine Brüder“.
Viele Leserinnen und Leser, die sich im übrigen Werk Thomas Manns sehr gut
auskennen, schrecken schon vor der Zumutung zurück, sich mit einem Text
auseinanderzusetzen, welcher jene doch keineswegs wegen ihres geringen Umfangs
bekannten Werke wie „Buddenbrooks“, „Zauberberg“ und Doktor Faustsus“ um das
gut Dreifache übersteigt. Wie wichtig dieses Werk für Tomas Mann selber war, dafür
steht sowohl die thematisch bedingte Schwierigkeit wie die Länge der Zeit, die er
brauchte, um es zur Vollendung zu führen. Er beginnt mit der Niederschrift im Jahre
1926, das heisst unmittelbar nach dem Erscheinen des „Zauberbergs".
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Konzeption und Niederschrift: 16 Jahre! 1926 – 1942
Die weiterführende Arbeit, belastet durch die schlimmen Erfahrungen des Exils im
Jahre 1933 erstrecken sich bis 1942, das heisst, insgesamt auf 16 Jahre! Auch hier
werden wir an Wagners unbeirrbare Konzentration auf sein Opus summum magnum
erinnert, mit der er das scheinbar nicht Vollendbare des „Rings“ seinem Abschluss
entgegenführt. Das allein genügt selbstverständlich noch nicht, um die Parallelen der
Josephsgeschichte zu Wagners „Ring“ zu sehen. Wir gewinnen an Terrain, wenn wir
die auf wenige Kapitel verteilte Geschichte des biblischen Joseph mit jener von
Thomas Mann vergleichen.
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Altes Testament: Genesis, Kapitel 37 – 50 (nur 13 Kapitel)
Im Alten Testament wird die Geschichte Josephs in nur dreizehn, verhältnismässig
kurzen Texteinheiten der Kapitel 37 bis 50 erzählt und bilden so den Abschluss des
ersten Buches der Thora, der so genannten „Genesis“.
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Hinweis durch Goethe
Diese hoch interessante Vorlage inspirierte einst Goethe zur Bemerkung, die
Geschichte des ägyptischen Joseph habe es in sich, neu und nochmals geschrieben
zu werden. Thomas Mann kannte die Stelle aus dem 4. Kapitel in „Dichtung und
Wahrheit“, wo Goethe kommentierend über diese berühmte biblische Erzählung
schrieb: „Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz,
und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.“
„Ins einzelne auszumalen!“ - Raphael Staubli hat in seinen Vorträgen bereits darauf
hingewiesen - das traf auch Thomas Mann im Innersten, denn es erinnerte ihn an
das Projekt von Wagners „Ring“, unter dessen Händen der Mythos der Nibelungen
sich ins damals wie heute unvorhersehbar Grosse weitete.
Das heisst mit anderen Worten, die mythische Gestalt Josephs ins real
Nachvollziehbare umzusetzen, sie mit den neuesten Kenntnissen der Ägyptologie,
Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Ethnologie, Politologie, zu ergänzen, damit
die unmittelbar erlebte Gegenwart sich in ihr wie in einem Spiegel erkennt.
Vor diesem Hintergrund werden wir auf weitere Parallelen mit Wagners Ring
aufmerksam gemacht. Nicht nur die vier Teile, sondern die Art und Weise, wie
Thomas Mann den Einstieg in die ihm von Anfang an bewusste, hochdifferenzierte
Fülle an Stoffe und Motiven wählte, erinnern uns an die Entstehungsgeschichte des
„Rings“.
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Vorspiel zu «Rheingold» = Stunde Null
Mit dem Vorspiel zu „Rheingold“ beginnt er gleichsam in der Stunde null, wir stehen
am grundsätzlichen, nicht mehr weiter zurückweichenden Anfang der ganzen
Erzählung. Auch hier übernimmt Thomas Mann in seiner Einleitung zur JosephsTetralogie dieselbe beschwörende Stimmung des Urbeginns, des Urlautes. Keinem
anderen Werk hat Thomas Mann ein Vorwort vorangestellt.
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„Vorspiel: Höllenfahrt“ (nicht Vorwort) «Joseph und seine Brüder»
Nun aber will er den gut fünzigseitigen, einführenden Text nicht als „Vorwort“
verstanden wissen, sondern als „Vorspiel: Höllenfahrt“, und es ist lautmalerisch gut
erkennbar dem in sich ruhenden „Es“ des Rheingold – Vorspiels nachempfunden.
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„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ wird zum Leitmotiv einer sich ins
Vergangene ausweitende Geschichte.
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„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ich nicht unergründlich nennen.“
Es bestehen keine Zweifel: Die Klangmagie der sich häufenden U-Laute identifiziert
sich offensichtlich mit Wagners Rheingold – Vorspiel. Und Thomas Mann erzählt
weiter von Uru, der Mondburg, vom Ur-Mann, bis hin zu den aufgelichtet,
hellklingenden Worten der letzten Sätze, die über das Finale der Götterdämmerung
hinausweisen: „Die Augen auf, wenn ihr sie in der Abfahrt verkniffet! Wir sind zur
Stelle. Seht – schattenscharfe Mondnacht über friedlicher Hügellandschaft! Spürt –
die milde Frische der sommerlich ausgestirnten Frühlingsnacht!“
Die Erzählstrategie scheint im ersten Moment dieselbe zu sein wie wir sie bereits
beim „Ring“, bei den „Buddenbrooks“ oder dem „Zauberberg“ kennen. Nun aber
ändert Thomas Mann bereits mit den ersten Kapiteln das Vorgehen und beginnt nicht
– gleichsam von einem Punkt Null - sondern führt uns erzählend an den tiefst
möglichen Ausgangspunkt zurück und heran. Die Kapitelüberschriften markieren
diesen faszinierenden Vorgang, sich aus der Gegenwart in den tiefen Brunnen der
Vergangenheit erst einmal fallen zu lassen. Der erste Satz des Vorspiels“ Tief ist der
Brunnen der Vergangenheit“ wird zum Leitmotiv einer sich ins Vergangene
ausweitenden Geschichte.
Es sind „Die Geschichten Jaakobs“ und sie beginnen mit dem Gespräch, das Jakob
mit seinem Sohn Joseph führt. Von dort geht’s zurück zur Jugendgeschichte Jakobs
und der Betrugsgeschichte an seinem Vater Isaak und seinem Bruder Esau, dann
folgt die Geschichte Isaaks und seine Werbung um Rebekka, dann die Flucht
Jaakobs zu Laban, darauf der Verrat Labans an Jakob mit Lea, darauf - sieben Jahre
später - endlich die Hochzeit Jakobs mit Rahel, der einzig Geliebten, erst jetzt erfolgt
die Geburt Josephs, bis der erste Teil der hochdifferenziert gegliederten Tetralogie
mit der unvergesslichen Schilderung der Geburt Benjamins und dem
darauffolgenden Tod der von Jakob einzig geliebten Rahel schliesst.
Wenn es eines ganz handfesten Beweises bedürfte, dass es Thomas Mann glückte,
aus dem oft gefährlich vereinnahmenden Schatten Wagners in die gestirnte Helle
eines neuen Aufbruchs zu treten, nämlich von der
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Überwindung der Todesverfallenheit zugunsten der Lebenssteigerung.
die vier Joseph-Romane zeigen uns sowohl die nie ganz aufkündbare Nähe zum
Klangmagier wie die Überwindung der Todesverfallenheit zugunsten der
Lebenssteigerung.
Diese organisch gewachsene Wende verdankt Thomas Mann jenem neuen Gestirn,
das eine das Leben bejahende Orientierungshilfe sein wird: Johann Wolfgang
Goethe. Blickt man nämlich von den Josephs-Romanen zurück auf die Krankheitsund Todesgeschichte der „Buddenbrooks“, des „Tod in Venedig“ oder gar des
„Zauberberg“, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Thomas Mann
erfahre schreibend und wertend an sich selber einen allmählichen Prozess innerer
Genesung.
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Dabei gäbe es genügend Situationen, aus denen der bekannte Sog ins tödlich
Auflösende seine alles verschlingende Kraft zu entfalten vermöchte. Die Leitmotive
der Täuschung, des Hochmuts, des Verrats am Leben und der Liebe sind bis zur
Mitte des vierten Teils allgegenwärtig! Beispiele: Jakob täuscht seinen Vater Isaak,
Esau wird von Jakob um das Recht der Erstgeburt gebracht. Laban täuscht Jakob in
der Hochzeitsnacht, in der er dem Ahnungslosen die ältere Tochter Lea statt Rahel
ins Ehebett legt, Joseph überlebt nur zufällig den beinahe tödlich verlaufenden
Verrat seiner Brüder, richtig gedeutete Träume werden ins tödlich Verkehrte
uminterpretiert und Ägypten, das Reich des Untergangs böte genügend
Verlockungen, um alles in den erlösenden Tod zu ziehen. Das Gegenteil trifft ein:
Verrat, Verruchtheit und Tod sind Voraussetzungen, damit die lebenserhaltenden
und das Leben steigernden Kräfte sich nicht nur entfalten, sondern zum Segen eines
ganzen Volkes werden.
Fixsterne verschieben sich
Nun ist die Josephs-Tetralogie nicht Thomas Manns letztes Werk. Ihm folgt mit Dr.
Faustus der Absturz in eine nie dagewesene Gefühlskälte, radikale Verzweiflung und
Teufelspakt.
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Schopenhauer, Wagner und Nietzsche werden behutsam eingetauscht mit:
J. W. Goethe
F. Dostojewski
S. Freud
Spätestens hier zeigt sich, dass sich das einst so sicher geglaubte Dreigestirn
Schopenhauer, Wagner und Nietzsche nicht einfach verschoben hat, sondern
ergänzt wurde. Wieder sind es drei Namen: Goethe, Dostojewski und Sigmund
Freud.
Unter diesen drei Namen gewinnt Goethe zusehends an Bedeutung. Zuerst
begegnen wir ihm in der kurzen Erzählung Schwere Stunde aus dem Jahr 1905. Dort
bleibt er ein selbst für Schiller noch unerreichbares Idol. Dieser klassischen Grösse
aus Weimar, die als Person wie in der Präsenz seines Werkes einfach wirkt und nicht
zu überreden braucht, schenkt Thomas Mann allmählich die innere Sicherheit,
seinem unverrückbar geglaubten Leitbild Wagner so auf Distanz zu gehen, ohne ihn
je ganz aus dem Auge verlieren zu müssen.
Kritische Auseinandersetzung in:
Dennoch ereignet sich das in frühen Jahren Unvorstellbare. Thomas Mann äussert
sich - zuerst rein privat - in Briefen und Tagebuchnotizen, später öffentlich, was ihn
an Wagner enerviert, wo und wie er ihn zwar als einen genuinen Könner nicht aber
als originell Schaffenden bewundert, wo er in ihm einen abgefeimten
Überredungskünstler zu demaskieren weiss. Lassen wir ein paar wenige Zeugnisse
sprechen:
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„Auseinandersetzungen mit Richard Wagner“ (1911
Ein erstes Zeugnis zu diesem inneren Distanzgewinn lässt sich bereits im Text
„Auseinandersetzungen mit Richard Wagner“ aus dem Jahre 1911 belegen. Thomas
Mann analysiert sein gewandeltes, nun ambivalentes zum Idol seiner Jugend und
schreibt:
„Es war ein Verhältnis, - skeptisch, pessimistisch. Hellseherisch, fast gehässig, dabei
durchaus leidenschaftlich und von unbeschreiblichem Lebensreiz.“
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Brief an Julius Baab vom 14. 9. 1911: „Goethe oder Wagner. Beides
zusammen geht nicht!“
1911, Brief an Julius Baab vom 14. 9. 1911: „Die Deutschen sollte man vor die
Entscheidung stellen: Goethe oder Wagner. Beides zusammen geht nicht. Aber ich
fürchte, sie würden „Wagner“ sagen. Oder doch vielleicht nicht? Sollte nicht doch
vielleicht jeder Deutsche im Grunde seines Herzens wissen, dass Goethe ein
unvergleichlich verehrungs- und vertrauenswürdigerer Führer und Nationalheld ist,
als dieser schnupfende Gnom aus Sachsen mit dem Bombentalent und dem
schäbigen Charakter?“
1918: (aus „Betrachtungen eines Unpolitischen“)
„Die Kunst Wagners, so poetisch, so ‚deutsch‘ sie sich geben möge, ist ja an und für
sich eine äusserst moderne, eine nicht eben unschuldige Kunst: Sie ist klug und
sinnig, sehnsüchtig und abgefeimt, sie weiss betäubende und intellektuell
wachhaltende Mittel und Eigenschaften auf eine für den Geniessenden ohnehin
strapaziöse Weise zu vereinigen.
„Aber die Beschäftigung mit ihr wird beinahe zum Laster, sie wird moralisch, wird
zur rücksichtlos ethischen Hingabe an das Schädliche und Verzehrende...“
Aber die Beschäftigung mit ihr wird beinahe zum Laster, sie wird moralisch, wird zur
rücksichtlos ethischen Hingabe an das Schädliche und Verzehrende, wenn sie nicht
gläubig-enthusiastisch, sondern mit einer Analyse verquickt ist, deren gehässige
Erkenntnisse zuletzt eine Form der Verherrlichung und wiederum nur Ausdruck der
Leidenschaft sind.“
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Besuch in Tribschen (Tagebuch 17.7.1936) Tagebuch 17.7. 1936
„ Vor 4 Uhr mit Katja und den Alten Ausfahrt angetreten: durch das Sihltal über Cham
nach Luzern, wo wir im Restaurant-Garten am Kunsthaus den Tee tranken. Von da
Tribschen zum herrlich gelegenen Wagner-Haus, das schon geschlossen war.
Einblick in die Zimmer. Ausblick auf die Landschaft der Nietzsche-Freundschaft, die
in 6 Jahren von 1866 – 72, eine gewaltige Werk-bewältigung sah. Des Längeren vor
der Haus-Inschrift, die die Vollendung von „Meistersinger“, „Siegfried“,
„Götterdämmerung“, Siegfried-Idyll, Kaisermarsch an diesem Orte anzeigt.
Bewegung. Wir fuhren über Küssnacht und Affoltern zurück und trafen ½ 9 Uhr zum
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verspäteten Abendessen ein, das auf der Terrasse genommen wurde. Danach
Götterdämmerungsplatten. Kontakt und belebte Sympathie. – Auf der Fahrt fragte ich
Katja, ob sie meine, dass auch am Hause der Schiedhaldenstrasse später eine
Inschrift die Vollendung des „Joseph“, des Freud-Aufsatzes, vielleicht des Essays
über Nietzsche an diesem Ort melden wird.“
Wagner und Hitler...
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Tagebuch 13. 10. 1937/ Tribschen.
«Besichtigung der Räume. Merkwürdiger Eindruck. Furchtbare Ölbilder, ganz
Hitler. Ein absolut anstössiger lustknabenhafter Siegfried....»
Tagebuch 13. 10. 1937
Tribschen. Besichtigung der Räume. Merkwürdiger Eindruck. Furchtbare Ölbilder,
ganz Hitler. Ein absolut anstössiger lustknabenhafter Siegfried. Neben Nietzsches
‚Geburt der Tragödie“ blödsinniger Weise ein Exemplar des „Fall Wagners“ unter
Glas. Interessante Familien- und Freundesgruppenbilder. Chamberlain-Büste. Pracht
der Landschaft durch die Fenster. Möbel, deren Geschmack über den des Mieters
geht. Ein Steppsessel, von ihm selber beigebracht, Bayreuther Stil. Siegfried,
verschiedentlich, auf einem jüngeren Bild täuschend jüdisch. Begleitgedicht zum
‚Idyll‘ an Cosima – nur ‚hm!‘ zu sagen. Elemente der Furchtbarkeit und des Hitlertums
deutlich hervortretend, wenn auch eben nur latent und vorgebildet, vom pathetischen
Kitsch bis zur deutschen Knabenliebe. – Gang im Garten an den See, wo Nietzsche
mit ihm gewandelt.
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1951 (zu „Briefe Richard Wagners“):
„Richard Wagner war eine unausstehliche Belastung und Herausforderung der
Mitwelt...“
1951 (zu „Briefe Richard Wagners“): „Richard Wagner war eine unausstehliche
Belastung und Herausforderung der Mitwelt. Wagner, das Pumpgenie, der
luxusbedürftige revolutionär, der namenlos unbescheidene, nur von sich erfüllte,
ewig monologisierende, rodomontierende, die Welt über alles belehrende
Propagandist und Schauspieler seiner selbst, der theatromanische Kostümfex,
‚Friseur und Scharlatan‘, wie Gottfried Keller ihn nannte, der natürlich nichts übrig
hatte für Wagners Durcheinander von Weltentsagung und Weltbegierde, für die
erzromantische Ausbeutung des ungesunden Gegensatzes von Sinnlichkeit und
Keuschheit in seinem Werk: wir haben diesen Wagner wieder vor Augen, und da ist
zufiel Abstossendes, zuviel ‚Hitler‘, wirklich zu viel latentes und alsbald auch
manifestes Nazitum, als dass rechtes Vertrauen, Verehrung mit gutem Gewissen,
eine Liebe möglich erschiene, die sich ihrer nicht zu schämen braucht…“
Richard Wagner und die wichtigste Zäsur im Leben Thomas Manns.
Zum Abschluss wollen wir uns an jenes Ereignis erinnern, das die schärfste Zäsur im
Leben von Thomas Mann erzwang. Die Fakten verdichten sich im Jahre 1933 in
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einem verhältnismässig engen Zeitrahmen in Dimensionen, die in ihrer stringent
ablaufenden Konsequenz von niemandem erwartet wurden.
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1933: 50. Todestag Richard Wagners
Ausgangspunkt sind die Feierlichkeiten zum 50. Todestag Richard Wagners, die in
der Wagnerstadt München besonders feierlich begangen wurden.
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Thomas Mann: „Leiden und Grösse Richard Wagners“
Thomas Mann verfasste im Januar eine seiner berühmtesten Reden und stellte sie
unter den Titel: „Leiden und Grösse Richard Wagners“. Den begleitenden Notizen ist
zu entnehmen, dass es ihm nicht leicht fiel, die komplexe, von Widersprüchen nicht
freie Welt Wagners in einer Ansprache zusammenzufassen. Der Text schwoll sage
und schreibe auf gut 70 Seiten an und wurde am 30. Januar, genau am Tag von
Hitlers Machtergreifung, abgeschlossen. Was die Hörer am 13. Februar im voll
besetzten Auditorium Maximum der Universität München, zum 50. Todestag des
Gefeierten vernahmen, bestand aus Ausschnitten einer unter der Hand zum GrossEssay gewachsenen Ansprache.
Thomas Mann dachte in seiner Würdigung Wagners nicht an die Gefahr, die ihm von
Seiten der in den Zwanzigerjahren mächtig gewachsenen Nationalsozialistischen
Partei entstehen könnte.
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Der Kontrast
Hitler vereinnahmt Wagner einseitig als singulären, rein nationalgermanischen Komponisten
Unter ihrem Führer Adolf Hitler wurde Richard Wagner einseitig als nationalgermanisch schaffender Komponist vereinnahmt. Thomas Mann, 1929 mit dem
Nobelpreis ausgezeichnet, bekannte sich während eines über Jahre dauernden
Prozesses zu den demokratischen Werten der Weimarer-Republik, die von den
Nationalsozialisten durch Hitlers Machtergreifung weggefegt wurde.
Dies in Kürze der politische Hintergrund. Thomas Mann vertrat in seiner WagnerRede den gegenteiligen Standpunkt.
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Thomas Mann: Wagners Werk ist längst ins kulturelle Welterbe integriert.
Für ihn war Richard Wagners internationaler Ruhm Beweis genug, dass sein Werk
als kulturelles Welterbe verstanden werden musste!
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Jede Fokussierung aufs bloss National-Germanische sei eine nicht
hinzunehmende Vereinnahmung...
und jede Fokussierung aufs bloss National-Germanische eine nicht hinzunehmende
Vereinnahmung bedeute. Das stand zwar so nicht in der Rede, konnte aber so
gedeutet werden. Anderseits problematisierte Thomas Mann in seiner Ansprache die
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„Deutschheit“ von Wagners Werk und verherrlichte es als „vieldeutiges Phänomen
deutschen und abendländischen Lebens“.
Hier liegt der Grund, weshalb Thomas Mann denselben Vortrag „Leiden und Grösse
Richard Wagners“ auch in Amsterdam, Brüssel und Paris halten konnte. Da erschien
bereits am 17. Februar 1933 im „Völkischen Beobachter“ folgender gehässiger
Kommentar: „Herr Thomas Mann, seines Zeichens Schriftsteller und Sozialdemokrat,
wird in Brüssel von der belgischen Presse begeistert als ‚grosser Europäer‘
begrüsst.“ Gleichzeitig wurde Thomas Manns Bruder Heinrich aus der preussischen
Akademie der Künste ausgestossen und floh nach Paris. Thomas Mann wurde von
Familienmitgliedern und Freunden abgeraten, gleich nach München zurückzukehren.
Ohne vorher das Haus an der Poschingerstrasse aufzusuchen und sich mit
irgendwelchen Utensilien einzudecken, fuhren Thomas und Katja Mann wie geplant
zu Erholung nach Arosa.
In der Osterausgabe vom 16./ 17 April 1933 erschien in den „Münchner Neuesten
Nachrichten“ ein unerwarteter Beitrag. Er stand unter dem Titel: „Protest der RichardWagner-Stadt München.“ Verfasst wurde er von Hans Knappertsbusch, dem
damaligen Direktor der Bayrischen Staatsoper und war unterzeichnet von 45
Persönlichkeiten der Kulturstadt München. In einem speziellen Nachtrag
unterzeichneten auch Richard Strauss und Hans Pfitzner den abgefeimten Angriff auf
Thomas Mann. Thomas Mann traute in der Schweiz zuerst seinen Augen nicht, wie
viele vermeintliche Freunde er unter diesen Namen fand. Pikantes Detail: Die
Thomas Mann Forschung konnte beweisen, dass Knappertsbusch den Vortrag
Thomas Manns weder besucht noch gelesen hatte, sondern als Initiant und
Verfasser und Erstunterzeichner des Pamphlets nur vom Hörensagen argumentierte.
Der Protest schliesst mit den Worten: Wir lassen uns eine solche Herabsetzung
unsere grossen deutschen Musikgenies von keinem Menschen gefallen, ganz sicher
aber nicht von Thomas Mann, der sich selbst am besten dadurch kritisiert und
offenbart hat, dass er die Gedanken eines Unpolitischen‘ nach seiner Bekehrung
zum republikanischen System umgearbeitet und an den wichtigsten Stellen in ihr
Gegenteil verkehrt hat. Wer sich selbst als dermassen unzuverlässig und
unsachverständig in seinem Werk offenbart, hat kein Recht auf Kritik wertbeständiger
Geistesriesen.“
Am 4. April 1933 wurde der Name Thomas Mann aus dem Register des Rotary-Club
München gestrichen, Thomas Mann entschied sich, nicht mehr nach München
zurückzukehren.
Jahre des Exils
Indirekte und direkte Folgen der Ansprache
«Leiden und Grösse Richard Wagners»:
- 1933: Ansprache, Erholung in Arosa,
keine Rückkehr nach München
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- Niederlassung in Küsnacht bei Zürich
- 1936: Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft.
Aberkennung der Ehrendoktorwürde der Universität
Bonn
- 1938 – 1952: Exil in den USA
- 1952 – 1955: Niederlassung in der Schweiz
- 1952: Erlenbach bei Zürich
- 1954: Kauf eines Hauses in Kilchberg bei Zürich
- 12. August 1955: Tod von Thomas Mann in Zürich.
Die Jahre des Exils begannen in der Schweiz. An Weihnachten 1936 wurde ihm das
von der Universität Bonn verliehene Ehrendoktorat aberkannt. Thomas Mann wählte
auch nach dem zweiten Weltkrieg seinen Wohnsitz nicht in Deutschland, sondern
lebte bis zu seinem Tod im Jahre 1955 in der Schweiz.
Es waren jene Jahre, ja Jahrzehnte, in denen er vorsichtig, selbstgewiss, behutsam
aus dem Schatten Richard Wagners trat, ohne ihn je aus Ohr und Auge zu verlieren.
Ein zutiefst Dankbarer, der das Vorspiel zu Lohengrin nie vergessen konnte und sich
noch im hohen Alter – die Tagebücher bezeugen es – von Tristan und Isolde als
etwas Unerreichbaren erschüttern liess. Es gab für ihn, im Gegensatz zu Nietzsche,
keinen „Fall Wagner“. Ohne das inspirierende Vorbild und die Abwehr einer stets
drohenden Vereinnahmung durch den Klangmagier, ist das Werk Thomas Manns
nicht denkbar. Distanz – aber auch Verehrung und Dankbarkeit erlauben es uns,
beide Namen in einem Atemzug zu nennen: Richard Wagner und Thomas Mann.