Leseprobe
Transcription
Leseprobe
Das Buch Der Trivialautor Theissen ist beim Segeln ertrunken, erst Tage später wird die Leiche aufgefunden. In Dortmund treffen sich Diana und der Professor, der im Rollstuhl sitzt und sich von ihr, wie üblich, Briefe ihrer Literaturfreunde vorlesen läßt. Dann erhält Diana den Auftrag, über den Vielschreiber eine Biographie zu verfassen. Ihr Auftraggeber, ein obskurer Kleinverleger, erhofft sich einen Knüller, denn Theissen war puplikumsscheu, und über sein Privatleben ist so gut wie nichts bekannt. Die Erkenntnis, daß Theissens tödlicher Segelunfall vielleicht ein Mord gewesen ist, macht Diana dabei nicht so sehr zu schaffen, wie die Seelenverwandtschaft, die sie plötzlich für den Adoptivsohn des homosexuellen Erfolgsautors empfindet. Die Autorin Susanne Thommes' Spezialität sind die ausgefallenen Charaktere, die extremen Situationen und Reaktionen. Daß sie dabei nie den Boden unter den Füßen verliert und darüber hinaus spannendes Erzählen ebenso souverän beherrscht wie Georges Simenon und Patricia Highsmith, macht sie zu einem Glücksfall unter den deutschen KrimiAutorinnen. 1991 wurde sie mit dem ersten Dramatikerpreis der Hamburger Volksbühne ausgezeichnet. Von Susanne Thommes sind außerdem erschienen: »Altweibersommer« (1984), »Der falsche Freund« (1985), »Totensonntag« (1986), »Unter Krokodilen« (1987), »Die dritte Position« (1989) »Kronzeugen« (1997) Susanne Thommes Brüderchen und Schwesterchen Roman Dieses Buch ist erstmals 1986 bei Diogenes, Zürich, erschienen. Die vorliegende Ausgabe ist als »Book on Demand« über die neue Digitaldrucktechnologie hergestellt worden und über den klassischen Buchhandel und Internet-Buchhandlungen zu beziehen. Für sein innovatives Technologiekonzept »Libri Books on Demand« erhielt der Hamburger Buchgrossist Libri, der dieses Buch gedruckt hat, den Smithsonian Award 1999 in der Kategorie »Manufacturing«. Weil Books on Demand elektronisch gespeichert und erst auf Bestellung gedruckt werden, sind sie nie vergriffen. März 2000 Verlag der Criminale Ein Demand Verlag der Buch & medi@ GmbH, München ©2000 Susanne Thommes Umschlaggestaltung, Foto und Layout: Bauer & Möhring, Berlin Herstellung: Libri Books on Demand Printed in Germany · ISBN 3-89811-690-5 Für Tom 1 Man konnte es genausogut als Mord bezeichnen. Es war kein Unterschied, ob man jemanden dazu brachte, auf die Nordsee rauszusegeln und sich dort zu ertränken, oder ob man vorher eigenhändig ein Leck in die Jolle gesägt hatte. ER wußte, was ER tat, als ER sich das Boot nahm. Unter normalen Umständen wäre ein Pirat selbst bei dieser Windstärke nicht gekentert, dazu war er zu stabil konstruiert. Ekelhafte Vorstellung, daß der Tote da zwei Tage und zwei Nächte von den Gezeiten umhergerollt worden war wie eine ausrangierte Blechdose. Nur gut, daß er ihn nicht mehr hatte anschauen müssen, ihm hatte schon die andeutungsweise Schilderung dieses Polizisten genügt. So ein toter Klumpen Fleisch war eben nicht besonders widerstandsfähig. Nach kurzer Zeit platzte die Haut auf wie ein Geschwür, und... Theissen merkte, daß er seine Hände so fest auf der Brüstung verkrallt hatte, daß die Adern bläulich hervortraten. Ob man es allein mit Willenskraft schaffte, den Herzschlag zum Stillstand zu bringen? Der perfekte Selbstmord. Ästhetisch. Er löste seine Hände, schüttelte sie. Dann rollte er den Kopf im Nacken, der völlig verkrampft war. Die genoppte Kuppel des Petersdoms schwebte hochmütig über dem grünen Gewölk der Uferbäume. Er konnte sich vorstellen, was für ein Betrieb dort wieder war, mit den Bustouristen und den frommen Betschwestern und den invaliden Bettlern und den Souvenirverkäufern... Seit dem vergangenen Sommer war er nicht mehr in der Sixtinischen Kapelle gewesen. Er wollte nicht mitansehen müssen, wie das Jüngste Gericht mit einem Gerüst und Planen versehen wurde, damit es eines Tages in originalfrischem Glanz wiederauferstand. Er traute den einheimischen Restauratoren nicht. Die hatten schon in den Uffizien diver- 7 se alte Meister versaut. Bei seinem letzten Rendezvous mit Michelangelo vor einem Jahr hätte er am liebsten etwas zerschlagen oder gebrüllt oder sich sonstwie ungebührlich benommen. Zum letzten Mal der Adam, nackt, blaßfarbig, mit zarten Adern durch die gesprungene Farbe, zum letzten Mal die mächtige Gestalt des Weltenbezwingers... Ja, natürlich hatte hier Michelangelo, selber klein, windschief, sein Schönheitsideal porträtiert. Darüber hatte ER auch nie gespottet, obwohl ER doch sonst... Die Jungfern von Raffael waren stümperhafter Kitsch dagegen. Sogar die Botticellis sahen in dieser Nachbarschaft fatal nach Kunstgewerbe aus. Na, das war nun auch vorbei. Bräunliche Schlieren trieben unter der Brücke vorbei. Der Tiber war eine Kloake. Es gab keine Idyllen mehr. Wenn er überleben wollte, mußte er ab sofort versuchen, ein leidlich normales Leben zu führen, wie all die Millionen people um ihn herum. Unter ihnen gab es Zigtausende, die mindestens so sensibel wie er und mindestens so intelligent und mindestens so gebüldet oder sonstwas waren. Seit Freitag, dem 10. August, seit zwölf Tagen, würde niemand ihm mehr »intellektuellen Charme« bescheinigen. Der Charme war ebenfalls untergegangen, da oben im Wattenmeer. Ach was, pfeif auf die Pietät! Er war jetzt ein vermögender Mann. Er war leidlich gesund, er war unabhängig. Er hatte sogar noch das eine oder andere zu erledigen. Die ganze Welt stand ihm offen, wenn er nur endlich Gebrauch davon machte. Und wie sah es in Realität aus? Heute morgen unter der Dusche hatte er einen Weinkrampf bekommen. Zum Frühstück hatte er ein lausiges Craquotte geschafft. Und jetzt stand er wie benommen an diesem öliggrünen, langweiligen Fluß und starrte blöde zum Vatikan hinüber, als sei ihm diese Welt völlig fremd geworden. Und vermutlich würde er gleich auf seinem üblichen Rundweg wieder nach Hause trotten. Auf der Piazza Navona beispielsweise war er auch nicht mehr gewesen, seitdem da diese gräßlichen, gelben Hühnerfüße neben dem Bernini-Brunnen gelegen hatten, direkt vor dem ›Tre Scalini‹. Wenn er nur an Schokoladeneis 8 dachte, sah er schon wieder diese abgehackten Krallenfüße vor sich, adrett nebeneinandergestellt. Die Fußgängerampel stand auf Rot, aber seit Ferragosto war die Stadt ohnehin ausgestorben. »Besuchen Sie Rom, solange die Römer fort sind.« Das wäre wenigstens mal ein brauchbarer Werbespruch. Der Kiosk vorm Justizministerium hatte geöffnet. Theissen kaufte sich die ›Repubblica‹ und setzte sich in den schütteren Park an der Via Arenula. Bis auf einen Stadtstreicher, schwarzfüßig und stoppelig, der eine Bank belegt hatte, und zwei italienische Mammas, die ihre fetten Bälger beaufsichtigten, war er menschenleer. Eigentlich keine schlechte Sache, sich an einem ganz gewöhnlichen Mittwochvormittag mit einer Zeitung in einen Park setzen zu können. Keine Aufträge erledigen zu müssen, sich nicht ums Mittagessen zu kümmern. Monsieur hat Ausgang. Monsieur wird künftig immer Ausgang haben. Monsieur hat seinen Arbeitgeber in den Tod getrieben. Der Dollar war einen Tick gefallen. Auch gut. Oder nicht gut. Genosse Walesa wurde in einer Randspalte gewürdigt, die Lage in Nahost in einem größeren Artikel daneben. Es war verdammt mühsam, sich durch die Tagesereignisse hindurchraten zu müssen, trotz der Nachhilfe durch die Television. Vermutlich war es ein Irrglaube, allein durchs Zuhören eine Sprache lernen zu können. Der neueste Skandal um die Freimaurerloge P2 füllte die nächste Doppelseite. Erstaunlich, diese endlosen Wortbeete. Aber die italienischen Journalisten waren schon immer eloquenter gewesen als ihre drögen deutschen Kollegen. Irgendwann mußte er sich mal zwingen, eine solche Seite mit einem Wörterbuch durchzuarbeiten. Jeden Tag eine halbe Stunde, das war wohl nicht zuviel verlangt. Jawohl, Signor. Domani. Wieder die Polen, wieder Walesa. Kardinal Glemp mit seinen Fledermausohren, mal wieder. In Europa nichts Neues. Mitten in Palermo hatte die Mafia offenbar zugeschlagen. Drei chinesische Kuriere - Kuriere? - waren wegen Heroinschmuggel festgenommen worden. In Rom selber, nicht zu fassen. Das Wetter? Natürlich, »sereno o poco nuvoloso«. Roma Urbe 20 bis 27 Grad. 9 Kein Grund zum Klagen. Auch in Ischia war der Fremdenverkehr wunderbar aufgeblüht, bei enorm gestiegenen Preisen. Die Kultur. Das nicht mehr ganz so neue deutsche Filmwunder und Henri Bergson. Hatte er von dem nicht mal in Zusammenhang mit Proust gehört? Möglicherweise stand sogar was von ihm hier in der Bibliothek. Die Fernsehprogramme. Der Abend war gerettet. Es gab hintereinander drei Hollywoodschinken. Raymond Burr, Marlon Brando und Bette Davis. Na also. Er sollte es sich doch überlegen, ob er die Wohnung hier aufgab. An keinem anderen Platz der Welt konnte man unter solch angenehmen klimatischen Bedingungen bis in die Puppen fernsehen. Alle ringsum taten es, es war also nichts Ehrenrühriges dabei, und an die eingestreute Werbung gewöhnte man sich. Warum nur war dieser ruhelose Kerl auf die Idee gekommen, im August an die Nordsee zu müssen? Der Dow-Jones-Index sollte Experten zufolge noch weiter klettern, und Mitterrand hatte die Kurve immer noch nicht gekriegt, und im Aosta-Tal erwartete man eine Superweinernte. Und sie bewegt sich doch. 10 2 Hundehaare. Mit einem Wiegemesser zerkleinern und ans Essen geben. Wo würde das Geschnipsel nicht auffallen? In einem Salat, den sie bekanntlich nie aß? Oder in Russischen Eiern? Oder in Pudding? Oder, sie würde das Essen gleich auf Tellern servieren müssen, eine Portion mit und eine ohne. Angeblich dauerte es eine Weile, bis die Haare die Darm- und Magenwände durchbohrt hatten. Sollte ein ekelhafter Tod sein. Am besten verreiste sie in der Zeit. Aber wie an einen Hund rankommen, ohne daß es auffiel? Sie hatte seit Jahren keinen mehr angefaßt. Der Professor schob die Tortenkrümel sorgfältig mit der Kuchengabel zusammen und beförderte sie in den Mund. Sein Gesicht hatte sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Es war fast faltenfrei, einschließlich der mattschimmernden Glatze oberhalb des Haarkranzes. Die grobgemusterte braune Strickweste paßte farblich perfekt zur Hose, auch das gelbliche Hemd. Einziger Mißklang war der zu breite und zu rote Schlips, der etwas verrutscht in dem spitzen Ausschnitt saß. Wie faltig sein Hals war, ganz im Gegensatz zum Gesicht. »Sie müßten mal wieder zum Friseur«, sagte Diana. »So, muß ich das?« Der Professor strich sich über den Kopf, befühlte die Nackenhaare. »Sie haben recht, meine Liebe. Erinnern Sie mich bitte daran, daß ich es Frau Carstens sage.« Dieses vogelleichte Gerippe von Greisenhänden, Knöchlein um Knöchlein deutlich auszumachen. Es wäre ein Leichtes, die wächserne Haut aufzuschlitzen und die Fleischlappen beiseitezuziehen. Man würde die beinernen Gräten ohne Mühe herauslösen können, Stück um Stück. Manchmal müßte man sie im Gelenk hochbiegen und abdrehen. Das würde ein kurzes Knacken erzeugen, von einem Schmatzlaut gefolgt... 11