Rezension Buchenwaldkind - KZ-Gedenk

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Rezension Buchenwaldkind - KZ-Gedenk
Streit um die Geschichte des Kindes von Buchenwald
Der englische Historiker Bill Niven plädiert für eine differenzierten Umgang mit einem
Mythos des antifaschistischen Widerstandes.
Januar 2009 in deutscher Übersetzung vom Mitteldeutschen Verlag herausgegeben: „Das
Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda“.
Der englische Historiker Bill Niven, Professor für Zeitgenössische Deutsche Geschichte an
der Nottingham Trent University, rekonstruiert darin die Geschichte des Buchenwaldkindes
Stefan Jerzy Zweig und zeigt eindrucksvoll, wie kollektives Erinnern und vergessen
funktioniert.
Jeder, der in der DDR zur Schule gegangen ist, hat von dem dreijährigen polnischen Juden
gehört, der dank des heldenhaften Widerstands der Kommunisten im Konzentrationslager
Buchenwald überleben konnte. Bruno Apitz’ Buch „Nackt unter Wölfen“ war Pflichtlektüre,
beeindruckend war und ist auch die Verfilmung durch Frank Beyer. Mit dem Roman, der zur
Eröffnung der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald 1958 erschienen war, wurde ein Mythos
ins Leben gerufen, der das Buchenwaldkind symbolisch für den Antifaschismus in der DDR
feierte, zumal es sich um eine wahre Geschichte handelt, erzählt von einem ehemaligen
Buchenwaldhäftling.
Helden wurden später Täter
Ein kleiner Wehrmutstropfen dämpfte den heroischen Siegeszug des Symbols ins öffentliche
DDR-Bewusstsein: Jenes Kind, das man in den Sechzigerjahren in Israel aufgespürt hatte und
das als junger Mann auf Einladung in die DDR kam, um hier zu studieren, wehrte sich gegen
das Podest, auf dem man es ausstellen wollte. Stefan Jerzy Zweig ließ sich nicht ideologisch
vereinnahmen und verschwand Anfang der Siebziger wieder als reale Person aus der DDR.
Nach dem Zusammenbruch der DDR kamen in den Neunzigerjahren etliche Darstellungen in
Umlauf, die den Mythos um die Rettung des Buchenwaldkindes zerstörten. Und manche
Enthüllung, wie über die Kollaboration kommunistischer Häftlinge mit der SS, machte
gleichzeitig die Helden auch zu Tätern.
Außerdem tauchte eine Transportliste nach Auschwitz auf, auf der Stefan Jerzy Zweigs Name
durch einen Roma-Jungen ersetzt worden war. Dieser wurde dann in den Tod geschickt.
Hans-Joachim Schädlich warf in seinem vor drei Jahren erschienen Roman „Anders“ dem
Kind und seinen kommunistischen Rettern indirekt vor, durch diesen Namensaustausch
Schuld am Tod des anderen auf sich geladen zu haben…
Der in der DDR aufgebaute Mythos von der heldenhaften Befreiung des Kindes schreibt Bill
Niven in seinem Buch, wurde im wiedervereinigten Deutschland abgelöst durch eine ins
Gegenteil verkehrte Neuinterpretation. Er kritisiert beide Arten, mit dieser Lebensgeschichte
umzugehen. Im Sinne einer möglichst objektiven Wahrheit müsse man jedoch alle Aspekte
der Geschichte erzählen, sagte er bei einem Gespräch am Donnerstag in Berlin. „Das klingt
jetzt vielleicht überheblich und so ist es nicht gemeint, doch ich habe das Gefühl, die
Geschichte des Buchenwaldkindes ist immer zu einseitig erzählt worden, sowohl in der DDR
als auch jetzt. Die Wahrheit ist widersprüchlicher und komplizierter. Nur die
Berücksichtigung möglichst aller Aspekte scheint mir der einzig richtige Weg im Umgang mit
der Geschichte zu sein.“
Die vergessene Rolle des Vaters
Akribisch zeigt Niven den Lebensweg des heute in Wien lebenden 67-jährigen Stefan Jerzy
Zweig auf – und auch was andere bis heute daraus machen. „Was ich nicht verstehen kann, ist
etwa die Tatsache, dass man in der Gedenkstätte Buchwald nicht bereit ist, Zweigs Namen
wieder auf der Gedenktafel für die Kinder des Lagers anzugeben, obwohl bekannt ist, wie
sehr ihn die Streichung vor ein paar Jahren aufregt. Elfriede Jelinek hat im Nachwort zu
seinem 2005 herausgegebenen Buch „Tränen allein genügen nicht“ geschrieben, das sei so,
als würde man zum zweiten Mal versuchen, ihn auszulöschen. Obwohl das übertrieben ist, hat
sie damit doch wohl auch recht.
Auch die Rolle des Vaters, der alles Mögliche zur Rettung seines Sohnes getan habe, habe in
der DDR kaum jemanden interessiert. Und so sei es noch heute. Sie passe offenbar auch nicht
ins neue Bild. „Dies aber ist eine Geschichte vom jüdischen Widerstand, und wenn man vom
Holocaust spricht, sollte auch das eine Rolle spielen.“
Mit seinem Buch wolle er keinen neuen Mythos schaffen, betont Niven, sondern lediglich
dazu beitragen, dass die Wahrheit zu ihrem Recht kommt, im Interesse eines kollektiven
Gedächtnisses.
Von Ingrid Kirschey-Feix, Sächsische Zeitung -22./23. November 2008 – Seite 10
Bill Niven
Das Buchenwaldkind
Wahrheit, Fiktion und Propaganda
Aus dem Englischen von Florian Bergmeier
24,90 €
328 S., geb., mit s/w-Abb.
ISBN 978-3-89812-566-6

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