Die Zirkusfamilie Lorch

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Die Zirkusfamilie Lorch
Die Zirkusfamilie Lorch
Das Überleben der Irene Danner
Hausarbeit von Samira Mörl
Georg-Christoph Lichtenberg Schule
Ober-Ramstadt
Geschichte Leistungskurs Q4
Frau Lange-Menz
Inhaltsverzeichnis
1.
Die Zirkusfamilie Lorch, insbesondere Irene Danner
1
2.
Der Nationalsozialismus
2
3.
Der Zirkus Althoff kommt in die Stadt
6
4.
Peter Bento, der Clown
6
5.
Das Leben im Zirkus Althoff während des Nationalsozialismus
7
6.
Als alles vorbei zu sein scheint...
7.
Ehrung und Danksagung
8.
Nachwort
9.
Anhang
1 Die Zirkusfamilie Lorch, insbesondere Irene Danner
Die Zirkusfamilie Lorch gab es bereits im 19. Jahrhundert. Schon damals hatte sie in
Zirkuskreisen hohes Ansehen. Sie begeisterten die Zuschauer mit Pferdedressuren,
Hochseilartistik, Zaubereien und Possen (einer Art poetischem Beitrag). Dies fand in
Dörfern, auf Märkten und bei anderen Gelegenheiten statt.
Es war ein besonderes Ereignis, als der Gaukler Heinrich Lorch 1873 seinen Söhnen
Adolph und Louis einen geschlossenen Zirkus übergab. Ein Zirkuszelt, welches oben
geschlossen war und somit vor schlechtem Wetter schützte, war eine Neuheit, die nicht
viele Zirkusfamilien besaßen. Der Zirkus konnte ab diesem Zeitpunkt bei jeglichen Wetter
auftreten, was ihnen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen Zirkusfamilien
einbrachte. 1884 hatte der Zirkus Lorch seinen ersten Auftritt in der Reichsstadt Berlin.
Am 09. November 1924 starb Louis Lorch im Alter von 78 Jahren. Seine Asche wurde im
Radkasten des Wohnwagens in einer Urne mitgeführt, so dass er in Darmstadt beigesetzt
werden konnte. Sein Grab ist heute noch auf dem jüdischen Friedhof zu finden.
(Der Clown und die Zirkusreiterin, Kap. 1)
Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert gründete sich dann die Ikariertruppe mit
10 Mann und Julius Lorch als König der Truppe.
Ikarier bedeutet fliegender Mensch: Eine Person liegt auf dem Rücken mit nach oben
ausgestreckten Beinen und wirft mit Hilfe seiner Hände und seinen Füßen eine andere
Person in die Luft, die dann Salti oder andere hochgradige Sprünge machen kann, so
dass der Untermann die fliegende Person auf seinen Füßen wieder fängt.
Damit wurde der Zirkus Lorch weltberühmt. Die Attraktion der Ikariertruppe war, dass
Julius Lorch seinen Sohn dreimal hintereinander mit einem zweifachen Salto in die Luft
werfen konnte.
Später waren sie auch in Amerika und Europa weltberühmt.
(Der Clown und die Zirkusreiterin, Kap. 1 S.17)
Am 28. Januar 1923 wurde Irene Danner als Kind von Alice Danner und Hans Danner in
Lüttich geboren.
Jeden Abend flog Alice Danner über die Manege, auch noch kurz vor Irenes Geburt.
Niemand wusste, dass Alice schwanger war, da ihr Vater nie gebilligt hätte, dass Alice ein
Kind von seinem Lehrling bekomme, der noch nicht einmal einer Zirkusfamilie entstammte.
Denn gerade Artisten, die als sehr leichtlebiges Volk durch die Welt reisen, fühlen sich der
herrschenden Moral sehr verbunden. Alice versteckte ihre Schwangerschaft bis zur
Geburt. Wenige Tage nach der Geburt, mussten Alice und Hans den Zirkus verlassen,
woraufhin sie Unterschlumpf bei Alice' Mutter Sessie fanden, die in Eschollbrücken, in
einer Landgemeinde Darmstadts, im eigenen Haus wohnte.
4 Jahre später kam dann Irenes Schwester Gerda zur Welt.
Als Irene ein Jahr alt war, reisten die Eltern mit Irene nach Südamerika, da sie dort ein
Engagement bei dem damals größten und modernsten deutschen Zirkus Sarrasani
bekommen hatten. Zwei Jahre verbrachten Irene und ihre Eltern dort, bis sie wieder
zurück nach Eschollbrücken kamen.
Von da an lebten die Kinder bei Großmutter Sessie, weswegen sie einen sehr engen und
innigen Bezug zu ihr hatten. Allein die Winterpause konnte die ganze Familie gemeinsam
verbringen. Schon seit 1870 war Eschollbrücken das Winterquartier der Lorchs. Sie waren
dort sehr bekannt. So nannte man die Straße, in der das Haus stand, bei allen
Einwohnern Eschollbrückens nur die „Lorche-Gass'“.
Solange Irenes Großeltern lebten, wurde auch die jüdische Tradition gepflegt. Der Sabbat
wurde eingehalten und an mehreren Orten in der Wohnung wurde durch Schriftrollen
daran erinnert, Gott jeden Tag zu ehren. Sogar der Großvater nahm den Sabbat sehr
ernst, und verzichtet auf das Rauchen, obwohl ihm dies bestimmt schwer fiel.
Die Enkelinnen Irene und Gerda hatten jeden Tag einen ähnlichen und vor allem sehr
strukturierten Tagesablauf. Irene ging seit 1929 in die Schule. Nach Schulschluss standen
zunächst die Hausaufgaben an, gefolgt von Geigenübungsstunden. Anschließend ließ sie
beim Training mit den Artisten im Hof ihren Tag ausklingen.
Dieser Ablauf setzte sich die ganze Woche so fort.
Bei Tisch achtete Großmutter Sessie darauf, dass die Kinder gerade saßen und das
Essen erst nach dem Gebet angerührt wurde. Einmal ahmten die Kinder den Großvater
nach, wie er das Gebet sprach. Sie murmelten aufgeschnappte Wortfetzen vor sich hin,
die keinen Sinnzusammenhang ergaben. Als Opa Julius dies bemerkte, wurde er sehr
sauer und gab beiden Kindern Backpfeifen.
Irene ging gerne zur Schule, da alle Kinder mit ihr befreundet sein wollten: Der Zirkus war
begehrt. Bevor es mit dem Zirkus wieder auf Reisen ging, durfte Irene alle ihre Freunde zu
einem Fest nach Hause einladen, bei dem Opa Julius, einer der Ikarier, die Kinder auf
seinen Beinen durch die Luft wirbelte. Dies machte sie zu einer begehrten Freundin.
Mit ihren Kunststücken in der Akrobatik und im Turnen gewann sie beim Jugendturnfest,
denn körperlich und sportlich war Irene ihren Klassenkameraden weit überlegen. 1934
wurde ihr eine Urkunde überreicht, die von dem neu ernannten Jugendführer des
Deutschen Reiches unterzeichnet war.
2 Der Nationalsozialismus
Das Grauen des Nationalsozialismus begann 1930, als Großvater Julius Lorch zum ersten
Mal eine Vorstellung absagen musste, weil ihm Musiker und Requisiteure davongelaufen
waren. Dies geschah in Groß-Gerau. Irene war – wie vielen anderen - damals nicht
bewusst, dass dies der Anfang einer Hetzjagd auf die Juden sein würde.
Die Nationalsozialisten propagierten: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist.
Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf
Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ 1920 trat Adolf Hitler der NSDAP
bei und übernahm ein Jahr später ihren Vorsitz. Die Hetze auf die Juden wurde immer
offensichtlicher und auch die Aggressivität ihnen gegenüber nahm schnell zu. Sie gipfelte
in der Parole: „Die Juden sind an allem schuld.“ Am 13. September 1930 ging der Zirkus
Lorch Konkurs. Publik wurde es unter anderem durch den „Pfungstädter Anzeiger“.
Zunächst änderte sich für Irene wenig, denn die Artisten waren mit einem anderen Zirkus
unterwegs und Irene ging weiterhin zur Schule. In der Schule begannen sie Hetzlieder zu
singen wie “Deutschland erwache und Juda verrecke“. Dabei zeigten die Schüler/innen auf
Irene. Ebenso warfen sie ihr vor, dass Juden stinken würden und Irene schämte sich. Sie
fing an, sich ungewöhnlich oft zu waschen, putzte sich häufig die Zähne und lutschte
permanent Pfefferminz. Doch sie konnte die Entwicklung nicht aufhalten: Ihre besten
Freundinnen wollten nicht mehr mit ihr spielen, ihre Nachbarin, bei der sie manchmal auf
die Kinder aufpasste, ließ sie nicht mehr in die Wohnung hinein und irgendwann verbot der
Förster ihnen, ihren Hund zu halten: „Judde dürfe keine Hunde halten.“ Er nahm ihn mit
und erschoss ihn auf einer Abfallkippe. Nun blieben Irene nur noch der Geigenunterricht
und die Ballettstunde am Darmstädter Theater. Der Geigenunterrich spende dieser
schrecklichen Zeit, immer ein wenig Trost. Doch auch dieser konnte für sie bald nicht
mehr stattfinden. Nachdem ihr Geigenlehrer einmal verprügelt bei den Lorchs ankam,
erzählte er, dass die Nazis ihm aufgelauert und gedroht hätten, ihm würde bald etwas
Schlimmes zustoßen, wenn er noch einmal zur Familie Lorch ginge. Von da an war Irene
nicht mehr das fröhliche Kind von damals. Auch ihre Großmutter konnte sie nicht mehr
trösten, da diese selbst zutiefst verunsichert war. Im Frühjahr 1933 hatten die LorchArtisten zum ersten Mal kein Engagement gefunden und saßen ohne Arbeit zuhause.
Im Alter von 13 Jahren war Irene zwar immer noch in der Schule in Eschollbrücken, doch
keiner wollte mehr neben ihr sitzen, geschweige denn mit ihr reden. Als sie eines Tages
mit einer blutenden Stirnwunde weinend nach Hause kam, beschloss ihre Großmutter,
dass sie und Gerda nicht mehr in die Schule gehen sollten. Dies kam den
Nationalsozialisten gerade recht, denn 1938 erließ man ein weiteres Gesetz zur
Einschränkung der Juden, womit allen jüdischen Kindern 1. Grades der Besuch der
Schule verboten wurde. Irene litt ständig unter Angst – wo auch immer sie unterwegs war.
Das einzige, was ihr geblieben war, war die Ballettstunde am Darmstädter Theater. Doch
auch diese durfte sie bald nicht mehr besuchen. Eines Tages wurden sie und ihre
Schwester aus der Ballettstunde geholt und ein NS- Beamter befahl ihnen unfreundlich,
nach Hause zu gehen, denn Juden hätten hier nichts verloren.
Für Irene brach eine Welt zusammen sie erzählte, dass sie dieses Scham-und
Angstgefühl nie verlassen habe und sie Ähnliches noch im Seniorenalter immer wieder in
Alpträumen erlebte. Oft weckte ihr Mann sie, wenn er von ihr Schreie wahrnahm, während
sie schlief.
Mit 13 Jahren begleitete Irene ihre Eltern zum ersten Mal zum Zirkus Busch, bei denen
diese ein Engagement hatten. Binnen weniger Tage lernte sie von den „Carolis“, von
einem Pferd auf das andere zu springen und wurde daraufhin ebenfalls eingesetzt. Irene,
als das einzige Mädchen in der Truppe, entfachte viel Begeisterung im Publikum. Fast drei
Jahre (von 1936-1939) unterstützte sie die „Carolis“ in ihrer Pferdenummer. Sie fühlte sich
sehr wohl in dieser Zirkusfamilie und freundete sich eng mit Francesco Caroli an. Doch
eines Tages offenbarten ihr die Carolis, sie dürften, aufgrund einer Anordnung aus Berlin,
nicht mehr mit Irene zusammen auftreten. Irene glaubte zu wissen, wer sie aus dem Zirkus
verraten hatte, denn bei einem der Artisten, sagte sie, hatte sie schon immer das Gefühl,
er möge sie nicht.
Nachdem die Nationalsozialisten immer mehr Macht erringen konnten, benannten sie die
„Lorche-Gass“ einfach in Pfungstädter Straße um, damit sie keinen jüdischen Namen
mehr hatte.
Von der Zirkusarbeit ausgeschlossen, saß Irene mit ihrer Mutter und Großmutter in ihrem
Haus und klebten in Heimarbeit Kartons zusammen. Für jeden Karton erhielten sie zwei
Pfennig, sodass sie pro Tag fünf Mark verdienten. Irene holte die Kartons morgens mit
dem Fahrrad aus Eberstadt ab und brachte sie abends zusammengeklebt wieder zurück.
Einmal musste Irene zum Zahnarzt, da sie sehr starke Zahnschmerzen hatte. Sie ging wie
gewohnt zum Zahnarzt Dr. Eitmann. Ihm erzählte sie von ihrer Not und der ihrer Familie.
Der Doktor zeigte großes Mitgefühl und bewies Mut, als er ihr anbot, bei ihm in der Praxis
als Sprechstundenhilfe zu arbeiten. Irene nahm das Angebot an. Vielleicht hätten die
Nationalsozialisten irgendwann herausgefunden, dass Irene in der Praxis beschäftigt
wurde, wenn sie länger dort geblieben wäre. Doch da hatte sie schon Peter Bento, den
Clown, kennen gelernt und ein neuer Lebensabschnitt begann.
(Der Clown und die Zirkusreiterin, Kap. 1 S. 24 – 40)
3 Der Zirkus Althoff kommt in die Stadt
Als Großmutter Sessie erfuhr, dass der Zirkus Althoff in der Stadt war, schickte sie ihre
beiden Enkelinnen am nächsten Nachmittag zu einer seiner Vorstellungen und trug ihnen
auf, die Bentos zum Essen einzuladen. Peter Bento brachte Irene und seine Schwester
nach der Vorstellung nach Hause. Irene nutzte die Gelegenheit, die Familie Bento im
Namen ihrer Mutter und Großmutter zum Essen einzuladen. Ungern zeigte sie, dass auch
sie sich freute, wenn Peter zu ihnen nach Hause kam. Am nächsten Tag stand er zu Irenes
Arbeitsende gegenüber der Zahnarztpraxis, um sie nach Hause zu bringen. Diesmal
nutzte er die Gelegenheit, ihr vorzuschlagen, einen der Clowns im Zirkus Althoff zu
ersetzen. Er sagte, er wolle sich bei seinem Vater dafür einsetzen, dass sie das
Engagement bekomme. Er hätte bestimmt nichts dagegen einzuwenden. Irene zögerte, da
sie wusste, dass sie als Jüdin ein Arbeitsverbot der NSDAP erteilt bekommen hatte. Nichts
desto trotz, berichtete sie zuhause von dem faszinierenden Angebot. Peter hatte sogar
angeboten, ihr beizubringen, wie man schöne Melodien auf dem Saxofon spielt. Von nun
an ließ sie der Gedanke an die Arbeit im Zirkus nicht mehr los. Zwar zeigte sich ihre
Familie zum einen besorgt um Irene, zum anderen versuchten sie ihr klarzumachen, dass
dies für alle in der Familie eine Gefahr bedeutete. Doch Irene ließ sich nicht davon
abbringen. Schweren Herzens schloss Irenes Mutter einen Vertrag mit Herrn Althoff, dem
Zirkusdirektor, so dass Irene schließlich am 25. August 1941 in Aschaffenburg vom Zirkus
Althoff aufgenommen werden konnte. Sie erhielt für ihre Rolle als musikalische Clownesse
und Akrobatin 150 Reichsmark pro Monat, bei freier Kost und Logis. Allerdings musste sie
zusätzlich den Haushalt bei Peter und seinem Vater, Herrn Bento, im Wohnwagen führen,
was bedeutete, dass sie Wäsche wusch, kochte und sogar den Wohnwagen renovierte.
4 Peter Bento, der Clown
Peter Bento wurde in einer Zirkusfamilie geboren und erlernte schon früh einige
Kunststücke der Artistik.
Peters Mutter hatte die beiden verlassen, als Peter neun Jahre alt war. Aufgrund mehrerer
Eifersuchtsstreitigkeiten mit Peters Vater kehrte sie dem Zirkus den Rücken und war von
einem auf den anderen Tag verschwunden. Peter konnte dies nur schwer nachvollziehen.
Als kleiner Junge war er oft als Clown mit seinem Vater in der Manege, wo dieser einige
Zaubereien zum Besten gab und der kleine Peter sie postwendend verriet oder aufdeckte.
So hatte das Publikum immer etwas zu lachen.
Später durfte er dann einen erwachsenen Clown neben seinem Vater spielen, der die
Erziehung sehr ernst nahm. Somit wurden aus den „2 ½ Bentos“, die „Drei Bentos“.
Schon kurz nach dem Irene im Zirkus angefangen hatte zu arbeiten, verlobten sich Peter
und sie. Allerdings gab es keine Verlobungsfeier, da Herr Bento dies aufgrund Irenes
jüdischer Abstammung für zu riskant hielt.
Irene arbeitete illegal als Weißclown. Mit ihrer Fähigkeit, das Saxophon-Spielen schnell zu
erlernen, erwarb sie den Respekt und die Anerkennung ihres Schwiegervaters. Das freute
Irene sehr, da Herr Bento sonst eher kühl ihr gegenüber war. Ihres Erachtens rührte seine
Haltung daher, dass sein Sohn nun auch einem anderen Menschen Zuneigung
entgegenbrachte, nicht nur ihm.
Da einer seiner Artisten Mitglied der NSDAP war, wusste er sehr genau, dass er gegen die
Gebote der Reichstheaterkammer verstoß, indem er eine Jüdin bei sich beschäftigte. Irene
war im Zirkus immer als die „kleine Italienerin“ bekannt und sogar Herr Althoff und seine
Frau blieben dabei, Irene so zu nennen.
Einmal wurde ein Nationalsozialist aufmerksam auf Irene und ermahnte den Direktor, sie
zu entlassen. Herr Althoff entgegnete höflich, dass Irene ja nicht arbeiten, sondern nur
assistieren würde (Kostüme bringen etc.). Dies war gleichermaßen provokant wie
unvorsichtig von ihm, denn er hätte wissen müssen, dass ihn dies negativ ins Licht der
Partei hätte rücken können. Glücklicherweise hatte dies zunächst keine Folgen.
(Der Clown und die Zirkusreiterin, Kap. 3, S. 56-68)
5 Leben im Zirkus Althoff während des Nationalsozialismus
Während des Nationalsozialismus wurde die Unterhaltung der Menschen immer wichtiger,
da sie von den schrecklichen Erlebnissen abgelenkt werden wollten. Keiner wollte so
richtig darüber nachdenken, was zu dem Zeitpunkt in der Welt an Leid passierte. Das
schrieb am 17. September 1939 auch das Fachblatt „Die Deutsche Artistik“.
(Der Clown und die Zirkusreiterin, Kap. 5, S. 96)
Irenes Sorgen erreichten erneut einen Höhepunkt, als sie bemerkte, dass sie schwanger
war. Sie schämte sich sehr, denn Irene und Peter waren nicht verheiratet. Jedes Mal,
wenn Peter einen Antrag auf Erlaubnis der Hochzeit stellte, scheiterte es am fehlenden
Arier-Nachweis von Irene. (S. 104)
Für den 11. August 1942 wurde eine Verdunklung angekündigt. Am Abend fielen Bomben
und viele Menschen wurden verletzt oder getötet. Die erste Bombe, die den Zirkus traf,
ließ sich noch mit einigen Sandsäcken ersticken. Das Mitführen dieser war Pflicht für einen
Zirkus und Herr Althoff war in diesem Moment sehr dankbar dafür.
Doch kurze Zeit später erfasste die Druckwelle einer Sprengbombe das Elefantenzelt,
sodass die Decke des Zeltes zerrissen wurde. Die Elefanten erschreckten sich und
ergriffen die Flucht. Adolf Althoff und einige seiner Mitarbeiter hatten Mühe, sie wieder
einzufangen, doch letztlich gelang ihnen, sie heil zurückzubringen.
Infolgedessen begab sich der Zirkus Althoff auf die Flucht, wobei die Elefanten die Wagen
bis zum Güterbahnhof zogen. Dort schlug eine weitere Bombe ein und traf diesmal den
Güterbahnhof. Zum Glück wurde niemand verletzt, doch der Salonwagen der Althoffs
stand in Flammen und eine weitere Bombe traf den Wagen der Bentos.
Im letzten Moment erreichten die Althoffs den Bunker - Irene, Peter und Herr Bento waren
bereits dort.
Zu dieser Zeit war Irene schon im 6. Monat schwanger.
Auf die Bitte des Oberbetriebsmannes verließ Irene den Zirkus Althoff und ging zurück
nach Eschollbrücken, um ihr Kind zu bekommen. Die Abreise fiel ihr schwer, denn Peter
blieb im Zirkus und die Rückkehr nach Eschollbrücken, wo Irene so vielen Demütigungen
ausgesetzt war, bedrückten sie sehr. Peter versprach ihr, sie so oft wie möglich zu
besuchen, doch ihre Angst war größer als der Trost.
Am 20. Dezember 1942 wurde ihr Kind geboren. Bei der Geburt stand ihr niemand der
Familienangehörigen bei, da sie sich nicht mehr bis Darmstadt in die Stadt trauten. Sie litt
unter großen Schmerzen, denn im Krankenhaus gingen alle sehr grob mit ihr um. „Jeder
duzte mich, jeder gab mir Befehle“ sagte sie. Trotzdem war Irene froh, im Krankenhaus
aufgenommen zu werden. Immerhin hätte sie auch abgelehnt werden können. Doch sie
fühlte sich nicht wohl. Die Fruchtblase wurde mit einer Zange gesprengt, anschließend
kam ihr Kind per Kaiserschnitt auf die Welt. Auf Betäubungsmittel verzichtete man bei ihr,
mit dem Argument, diese würden für die Soldaten dringender gebraucht werden als für
eine Jüdin. Trotz ihrer Wundinfektion kümmerte sich keiner um sie. Irene litt unter solchen
Schmerzen, dass sie sich kaum an die Geburt erinnern konnte.
Nach 6 Wochen konnte sie das Krankenhaus verlassen. Doch nach dieser Geburt war es
ihr nicht mehr möglich, als Akrobatin tätig zu sein, da ihre Bauchmuskeln in einem
miserablen Zustand und nicht wieder herstellbar waren. (S. 112)
Am 7. November 1938 erschoss der jüdische Emigrant Herschel Grynszpan den
Botschaftsangehörigen Ernst von Rath. Das ist für Hitler und seinen Propagandaminister
Goebbels Anlass genug, die Ausschreitungen gegen Juden zu verschärfen. Immer mehr
Menschen wurden in die Konzentrationslager gebracht und auch Irenes Familie blieb
davon nicht verschont.
Egon Lorch, ein Onkel von Irene, war einer der ersten, der in das Konzentrationslager
nach Buchenwald verschleppt wurde. Die Familie Lorch war sehr verzweifelt. Zwar konnte
Großmutter Sessie ihren Sohn mit einem Erbe freikaufen, doch musste er binnen 48
Stunden Deutschland verlassen. Als Sessie und Egon wieder nach Hause kamen,
erkannte Irene ihn zunächst nicht. Er war kahl geschoren und nur noch „Haut und
Knochen“. Sie packten rasch das Nötigste zusammen und verließen das Haus. Der
weitere Weg Egons ist unbekannt. Seine Mutter sah ihn nie wieder. (S. 118/119)
Auch wenn die Freude über das neue Familienmitglied groß war, hatte die Familie Lorch
große Angst, bald ihr Haus verlassen zu müssen. Von Bekannten hatten sie gehört, dass
viele Juden aus ihren Häusern vertrieben worden waren und in anderen Häusern auf
engstem Raum zusammen gepfercht wurden. Wenn es dunkel wurde, liefen Irene und ihre
Schwester zu ihrem Nachbar, um Butter und Milch zu holen. Er war einer der wenigen, der
sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung nicht verachtete, sondern weiterhin wie normale
Menschen behandelte. Ein paar andere Geschäfte waren ihnen ebenfalls wohlgesonnen,
sie ließen sie anschreiben oder gaben ihnen Lebensmittel die ihnen, aufgrund der
Lebensmittelkarte nicht mehr zustanden.
Das schrecklichste Erlebnis für Irene geschah am 07. März 1943.
Zwei Männer in Ledermänteln stürmten ihr Haus und nahmen Irenes Großmutter mit.
Mutter Alice und Schwester Gerda hatten sich auf dem Dachboden versteckt.
Irene sah vom Fenster aus, dass sie die Großmutter ins Auto setzten, wo bereits Egon
saß.
Im Mai bekamen sie ein Schreiben, dass Oma Sessie an Herzversagen gestorben sei.
Doch Jahre später, nach dem Krieg, fanden sie heraus, dass Oma Sessie erst im August
verstorben war. Sie wurde umgebracht. Als Todesdatum wurde der 25. August 1943 in
eine Liste eingetragen. Noch im hohen Alter verfolgten Irene dieses Erlebnis in ihren
Träumen und sie litt sehr darunter. (S. 122-124)
Als Irene zur Frühjahrssaison 1943 wieder im Zirkus bei Peter Bento war, blieb Irenes drei
Monate alter Sohn bei ihrer Mutter Alice in Eschollbrücken. Auch in dieser Zeit musste
Irene jederzeit damit rechnen, dass ihre Mutter abgeholt würde. Immer noch war Irene
gewohnt, im Zirkus auf italienisch zu antworten. Denn es bestand die Gefahr von einem
Denunzianten gehört und verraten zu werden, sobald sie angesprochen wurde. Irene
belasteten die Quälerei, die ihr und ihrer Familie widerfahren war, sehr. So ging Peter
Bento eines Tages zu Herrn Althoff und erzählte ihm, wie schlecht es Irenes Familie ginge
und wie verzweifelt sie wäre. Auf die Anfrage, ob er nicht etwas unternehmen könne,
antwortete Herr Althoff: „Sie können alle herkommen, das kriegen wir schon hin.“ „Ich weiß
von nichts. Und nun lass dir etwas einfallen!“ (S. 133)
Schon am nächsten Tag fuhr Peter nach Eschollbrücken und weihte Gerda und Alice in
seinen Plan ein. Dankbar nahmen sie diese Möglichkeit an. Mit der Hilfe eines mutigen
Nachbars schafften sie es, unbemerkt abzureisen.
Hans Danner hatte schon vor längerer Zeit angefangen, bei Herrn Althoff zu arbeiten,
sodass die ganze Familie am nächsten Tag wieder vereint war.
Auch Alice und Hans waren sehr glücklich, endlich wieder zusammen zu sein. Allerdings
wagte sich Alice nie nach draußen auf das Zirkusgelände. Maria Althoff kümmerte sich
fürsorglich um die Familie, indem sie ihnen beispielsweise etwas zu Essen brachte.
Gleichzeitig bereitete ihnen die Anwesenheit der Familie Lorch auch Sorgen, da der
Zirkus sehr oft kontrolliert wurde. So blieben auch die Althoffs nicht vor der Angst
verschont, entdeckt zu werden.
(S. 139)
Adolf Althoff hatte gute Ideen die Nationalsozialisten zu besänftigen. Er war sehr
gastfreundlich, verschenkte Freikarten an sie und ihre Familien, goss reichlich Cognac ein,
deckte guten Kuchen auf und unterhielt sie mit Geschichten aus der Vergangenheit.
Diesem Verhalten hatten sie zu verdanken, dass sie vor negativen Konsequenzen
verschont blieben.
(S. 146)
Die „Endlösung der Judenfrage“ und der organisierte Massenmord lösten auch unter der
Bevölkerung eine Hetzjagd aus. Kein Jude konnte mehr sicher vor Denunzianten sein somit auch der Zirkus Althoff.
Peter Bento bemerkte als erster, dass ein Denunziant unter ihnen lebte. Dieser verriet
Peters besten Freund Mohamed, einen Marokkaner, der daraufhin den Zirkus verlassen
musste.
Das tat den Bentos und den Althoffs sehr Leid. Herr Althoff betonte immer, dass in seinem
Zirkuszelt Artisten jeglicher Nationalität, Hautfarbe und Religion herzlich willkommen seien.
Für ihn sei nur die Leistung von Bedeutung. (S.154) Erst nach dem Krieg konnten die
Freunde wieder Kontakt aufnehmen.
Seit dem Bombenangriff auf Mainz, war der Wohnwagen von Irene und Peter zerstört,
sodass sie, wenn der Zirkus Althoff an einen neuen Gastspielort fuhr, nach einem Zimmer
suchen mussten, was nicht einfach war, da ihnen viele Menschen mit Misstrauen
begegneten. Zwar sahen sie gerne die Shows der Artisten, doch im Privatleben blieben sie
lieber getrennt vom Zirkusvolk. Aus diesem Grund musste ihnen manchmal auch der
Elektrowagen des Zirkus als Schlafplatz dienen. (S. 148-161)
Wenn die Nationalsozialisten mal wieder eine Kontrolle des Zirkus' durchführen wollten,
wusste Herr Althoff durch einen guten Freund meist schon Bescheid.
Der Oberbetriebsmann Franz, ein weiterer guter Freund der Althoffs, war Mitglied in der
Partei der NSDAP und wurde von ihr im Zirkus Althoff als Betriebsmann eingesetzt. Er
hatte die Aufgabe, dort Wache zu halten und gegebenenfalls Verstöße gegen die Gesetze
der NSDAP zu melden. Stattdessen half er Irene und ihrer Familie, indem er sie
vorwarnte, sobald sich eine Kontrolle bei ihm anmeldete.
Allerdings wurden auch nicht angemeldete Kontrollen durchgeführt. Somit mussten Irene,
Peter, deren gemeinsames Kind und Irenes Mutter vom Zirkusplatz manchmal innerhalb
weniger Minuten fliehen und sich verstecken. Das verabredete Geheimzeichen war ein
dreimaliges Klopfen an der Wohnwagentür und der Hinweis, sie müssen mal wieder
„angeln gehen“. Für solche Fluchtfälle hatte Peter Bento seinen Angelschein zusammen
mit seinem Pass in der Hosentasche. Später kehrten sie vorsichtig wieder zurück. (S. 157159)
An einem Julitag im Kriegsjahr 1943 war die Zeit zu knapp, um auf normalem Wege zu
fliehen. Gemeinsam mit Mohamed und dem Kind unter ihrem Arm, flüchtete Irene durch
einen schmalen Gang hinter einem Schränkchen, während vorne schon die
Nationalsozialisten an die Wohnwagentür klopften und direkt eintraten, ohne auf ein
Zeichen gewartet zu haben. Der Gang führte in den Elefantenstall, der ihnen ein gutes
Versteck bot. In dieser Zeit wurde Mohamed zu ihrem engsten Vertrauten. (S. 164)
Als Irene erneut schwanger wurde, trieb sie in ihrem Wohnwagen mit Tabletten heimlich
ab, da ihre Angst vor einer zweiten Geburt zu groß war.
In Folge bekam sie starke Blutungen und Schmerzen. Doch als sie ein drittes Mal
schwanger wurde, entschied sie sich für das Leben des Kindes. Herr Althoff kannte einen
Arzt, Herrn Dr. Grobe, den er in Irenes Geschichte einweihte. Er half Irene am 6. Februar
1944 bei der Geburt ihres zweiten Sohns Jano, der per Kaiserschnitt auf die Welt kam.
Dabei entfernte Herr Dr. Grobe die Geschwüre, die sich aufgrund der letzten so brutalen
Geburt bei Irene im Bauch gebildet hatten, sodass Irene ihre weiteren Kinder ganz normal
bekommen konnte. Irene schämte sich vor Peter oft für die großen Narben an ihrem
Bauch, doch ihn störte das nicht. Er hielt weiterhin zu ihr.
Eine besondere Beziehung hatte Irene zu ihrer Schwester Gerda, die ihre Gefühle von
Sorge und Demütigung teilte.(S. 176)
Eine Ablenkung spürte Irene nur, wenn sie mit dem Zirkuswohnwagen unterwegs waren.
Aber auch hier war es nicht gefahrlos und Irene musste sich Strategien überlegen,
brenzlige Situationen zu überstehen, beispielsweise in der Form, dass sie ihre Kinder zur
Ruhe anhalten mussten, wenn sie unerkannt bleiben sollten. Dies gelang mit einem in
Zuckerwasser getauchten Schnuller.
Das letzte Jahr vor Kriegsende verbrachte der Zirkus in Linz und Umgebung. Dieses Jahr
war geprägt von Luftangriffen der Alliierten auf deutsche Städte. (S. 185)
„Nach der Landung der Alliierten in der Normandie und dem misslungenen Attentat auf
Adolf Hitler war Reichspropagandaminister Joseph Goebbels am 25. Juli 1944 zum
„Reichsbevollmächtigten“ für den totalen „Kriegseinsatz“ ernannt worden. Zwei Monate
später wurden selbst alte Männer, beziehungsweise Jugendliche, die fast noch Kinder
waren, zur Volkssturm-Einheit aufgestellt.“ Adolf Althoff musste einiges tun, um nicht selbst
noch als Soldat eingezogen zu werden.
Am 20. Juli 1944, dem Tag nach dem Attentat auf Hitler versammelte Herr Althoff seine
Mitarbeiter um ihnen eine schlechte Nachricht zu überbringen. Der Zirkus durfte keine
Vorstellungen mehr geben. Alle Vergnügungsstätten wurden geschlossen. Er bot seinen
Mitarbeitern an, dass sie die Wahl hätten, nach Hause zu gehen oder – ohne Gage - zu
bleiben. Für Irene und ihre Familie ist der Zirkus zur Heimat geworden, sodass sie bis
Kriegsende bei ihm blieben.
Mit Traktor und Anhänger transportierte Herr Althoff auch Diebesgut der
Nationalsozialisten aus der Tschechoslowakei und machte sich somit für die
Nationalsozialisten nützlich, um nicht negativ aufzufallen. Außerdem machte Herr Althoff
wieder von seiner Methode der Dummheit Gebrauch, sodass er bei einem
Tauglichkeitstest so ungeschickt wirkte, dass er wieder nach Hause geschickt wurde. Er
machte den Offizieren schon von Anfang an deutlich, dass man die Artisten vom Zirkus im
Krieg nicht gebrauchen konnte. Auch die Tauglichkeit von Peter, seinem Vater,
Schwiegervater, Mohamed und seinem alter Onkel wurde getestet, indem sie einen
Panzergraben ausheben mussten. Als sie sich bei dem Offizier beklagten, dass auch sie
ungeeignet dafür wären und sich außerdem die Hände verletzen würden, hatte er Gnade
mit ihnen und ließ sie fliehen. Zu einem weiteren „Kriegseinsatz“ in Österreich kam es
nicht.
Irene war sich immer unsicher gewesen, ob wirklich geheim blieb, dass Herr Althoff Juden
im Zirkus versteckte. Nach dem Krieg offenbarte ihnen ein Dorfbewohner, dass er von
Herrn Althoffs Gesetzesbruch wusste, doch hatte er sie nicht verraten.
Während des Krieges ernährte sich die Familie hauptsächlich von Grießbrei, da es daran
nicht mangelte. Manchmal erhielten sie kleine Lebensmittelrationen von ihren Nachbarn,
wenn sie ihnen als Gegenleistung ihr Radio zur Verfügung stellten, damit sie den
verbotenen englischen Sender BBC hören konnten.
Als das Jahr 1945 anbrach, war Irene zum dritten Mal schwanger.
Die sogenannten Todesmärsche nahmen gegen Ende des Krieges zu, als die
Konzentrationslager in den osteuropäischen Ländern während der großen Offensive der
Roten Armee im Osten und der alliierten Landungen im Westen aufgelöst wurden.
Diese Todesmärsche waren lange Fußmärsche, die Juden oder andere verfolgte
Minderheiten ohne Wasser und Nahrung absolvieren mussten. Dabei hatten die Aufseher
keine Gnade mit ihnen. Wer von den Gefangenen zusammenbrach wurde entweder direkt
erschossen oder einfach liegen gelassen. Mohamed, Peter und Adolf Althoff wurden
Zeugen des Vorfalles eines ungarischen Juden.
Um Irene nicht zusätzlich zu beängstigen, behielt Peter Bento diesen Vorfall für sich.
Im Frühjahr 1945 wurden im Edlhof, wo der Zirkus Althoff sich noch immer aufhielt,
deutsches Militär einquartiert. (S. 197)
Manche jungen Soldaten, die fast noch Kinder waren, nahmen Zuflucht beim Zirkus vor
dem Elend des Krieges. Der Zirkus stattete sie mit warmen Kleidern und Essen aus und
verhalfen ihnen zur Flucht.
Am 25. März 1945 landeten die Amerikaner in der Gegend von Micheldorf.
Als diese kamen, um zu prüfen, ob es sich bei den Althoffs wirklich um einen Zirkus
handelte, entstand freundschaftlicher Kontakt. Am Abend kamen sie zum Zirkus Althoff
und brachten einige Lebensmittel mit. Herr Althoff freute sich über das Wohlbefinden der
Amerikaner in seinem Zirkus. Schon bald stellt der Zirkus fest, dass unter den
Amerikanern auch Juden waren. Da verließ Irene ihren Wohnwagen und rief immer
wieder: „Ich bin Jüdin. Ich bin frei!“ Da Irenes Mutter Alice sehr gut Englisch sprach,
gewann sie schnell hohes Ansehen unter den Amerikanern. Bald fühlte sie sich wieder wie
die elegante Frau von früher. Sie erfuhr von ihnen auch, dass sie zu den Österreichern
weniger freundlich wären.
Nun hatte Irene keine Angst mehr vor der Geburt ihres dritten Kindes. Am 28. Juni 1945
kam die Tochter Mary zur Welt – die erste normale Geburt. Zu ihrer Verwunderung halfen
ihr sieben Ärzte ohne finanzielle Forderung. Die Show in Linz erlebte die Artistin mit einem
neuen Gefühl von Freiheit und Selbstachtung.
Ihr Respekt vor der Familie Althoff war seitdem noch größer geworden. Nach der
langersehnten Hochzeit von Peter Bento und Irene Bento am 8. Dezember 1945 kamen
noch zwei weitere Töchter zur Welt: Daisy 1949 in Stuttgart und Astrid 1959 in München.
Wie die Familie Lorch später erfuhr, war Eschollbrücken am Ende des Zweiten Weltkriegs
judenfrei. Das Haus war zwischenzeitlich im Besitz des Staates, wurde aber im März 1952
an Egon Lorch und Alice Danner zurück gegeben. Irene und Peter gehörten bis 1949 zu
den Althoffs - auch in den Wintermonaten lebten sie mit ihren Kindern im Wohnwagen, den
Herr Althoff ihnen zur Verfügung gestellt hatte.
6 Als alles vorbei zu sein scheint...
Als Irene zum ersten Mal wieder in das Lorch-Haus in Eschollbrücken kommt, holten sie
die Träume von ihrer verstorbenen Großmutter wieder ein. Sie berichtete, ihr Gesicht habe
ausgesehen „wie die Gesichter der Überlebenden aus den KZ' s.“ (S. 215)
Nach ihrer Übersiedlung nach Eschollbrücken mied sie das Dorf und ließ Peter, ihren
Mann, einkaufen gehen. Ein einziges Mal wagte sie sich auf ein Fest. Doch als sie dort
einen der größten Nationalsozialisten wiedererkannte, der damals mit ihrer Erschießung
gedroht hatte, besuchte sie nie wieder ein Fest. Trotzdem füllte sich jedes Jahr, wenn sie
ihr Winterquartier in Eschollbrücken aufsuchten, die Straße mit Menschen, die die Lorchs
begrüßen wollten.
7 Ehrung des Ehepaars Althoffs
Irene betonte immer wieder, wie dankbar sie für alle sei, die ihr und ihrer Familie das
Überleben ermöglichten: Der Zahnarzt Wilhelm Eitmann, der Irene bei sich in der Praxis
arbeiten ließ, die Freundin Renate Kressin, die Irene nochmal ein Wiedersehen mit ihrem
Großvater ermöglicht hatte, die Nachbarn Werner und Kistinger, die die Lorchs mit Brot
und Milch versorgten, der Nachbar Ludwig Roth, der Irenes Angehörigen bei der Flucht in
den Zirkus Althoff half, der Pößnecker Arzt Dr. Grobe, der Irene durch eine Operation zu
weiterem Leben verhalf, ihr marokkanischer Freund, der sie oft beschützte und tröstete
oder ihr Gesellschaft leistete, wenn Peter verhindert war, ebenso natürlich ihr Mann Peter,
der einen großen Beitrag leistete, dass Irene überhaupt in den Zirkus Althoff gelangte, wo
sie dann Herr und Frau Althoff aufnahmen, beschützten und ihr viel Sicherheit gewährten.
Dafür wurden Maria und Adolf Althoff am 20. Februar 1995 vom Staat Israel geehrt und in
den Kreis der „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen. Diese Ehrung ist die höchste
Ehrung für Nichtjuden, die sich während des Nationalsozialismus für das Überleben der
Juden einsetzten und gleichzeitig ihr eigenes Leben gefährdeten. Sie erhielten eine
Medaille mit der Inschrift: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine
ganze Welt gerettet.“ Leider ist die Zukunft des Zirkusgewerbes aufgrund wirtschaftlicher
Schwierigkeiten auch in der heutigen Zeit gefährdet.
Vielleicht ist es aber noch einer der wenigen Orte, an dem Menschen verschiedener
Nationalität, Religion und Hautfarbe friedlich miteinander leben, weil ihr Leben an der
gemeinsamen Leidenschaft für den Zirkus und an den Fähigkeiten der Menschen
orientiert ist.
Irene Bento starb am 18.04.2006. Ihr Mann, Peter Bento lebte noch 7 weitere Jahre und
starb am 08.05.2013. Sie sind auf dem Friedhof in Eschollbrücken beigesetzt.
Einige ihrer Kinder hielten die Tradition des Zirkuslebens aufrecht. So zum Beispiel Daisy
und Mary die bekannte Zopfhang-Jongleusen wurden. Heute betreibt Daisy mit ihrem
Mann zusammen die Restauration im Zirkus Krone. Jano und Astrid gründeten mit ihren
Ehepartnern den Kinderzirkus Clowni.
8 Nachwort
Das Leben der Irene Bento ist für mich in mehrerer Hinsicht spannend.
Zum 1. finde ich es unglaublich, wie sie es in so vielen brenzligen Situationen schaffte,
den Nationalsozialisten und dem von ihnen veranlassten und systematisch betriebenen
Holocaust zu entkommen. Durch die Beschäftigung mit ihrer Lebensgeschichte habe ich
eine präzisere Vorstellung bekommen, wie Irene gelebt haben muss und mir ist noch
bewusster geworden, wie schrecklich diese Zeit für sie und viele Tausende gewesen sein
muss.Trotzdem wird es meiner Generation nie wirklich möglich sein, das Gefühl von
Scham und Angst nachzuvollziehen. Zum 2. verbrachte ich meine ersten Lebensjahre in
Pfungstadt-Hahn, einem Nachbarort von Eschollbrücken. Zum 3. finde ich das Leben der
Familie Lorch persönlich sehr interessant, da ich von früher Kindheit an einen besonderen
Draht zur Zirkuswelt hatte und später auch selbst in einem Kinder- und Jugendzirkus
trainierte. Das ist auch der Hintergrund, warum ich mich für dieses spezielle Thema
entschied. Ich habe schon immer besonders viel Begeisterung für Zirkus aufgebracht und
werde diese sehr wahrscheinlich auch nie verlieren.
In der Hoffnung, dass ich diesem Bereich nach dem Abitur wieder ein Stück näher komme,
habe ich mich für ein Freiwilliges Soziales Jahr bei einem pädagogischen Kinder- und
Jugendzirkus beworben, um dort anderen Kindern das weiter zu geben, was mir der Zirkus
im Leben gegeben hat.
Anhang
Sekundäre Quellen
–
–
Buch: Der Clown und die Zirkusreiterin; Ingeborg Prior
„Zuflucht im Zirkus“, ein Film über Irene Danner:
https://www.youtube.com/watch?v=MD0Fz4IaMlM
Primäre Quellen habe ich durch Zitate aus Film und Buch verwertet.
Bilder und Videos
– (Die Zirkusdynastie Althoff)
https://www.youtube.com/watch?v=D-DXVtYiiH8
– Adolf Althoff über seine Hilfe zum Überleben der Familie Lorch:
https://www.youtube.com/watch?v=wgO8jnNQKwI
Die Geschwister Lorch, Ikarier, ca. 1885-1890
Die Lorchs bei Circus Sarrasani in
Südamerika, Dezember 1923 bis
September 1925. Von links: Tante
Hedi Lorch, neben ihr Irene, Großvater Julius Lorch (mit Zigarette)
Arthur Lorch), Jeanette Lorch, oben
Sessie Lorch.
Unten: Alice Danner mit ihrer Tochter
Irene, im Juni 1925
Großmutter Sessie Lorch mit den Enkelinnen Irene (rechts) und Gerda.
Mai 1932
links: Alice Danner, Irene Danner (ca. 15 Jahre alt) und Hans Danner
rechts: Irene (rechts) und ihre Schwester Gerda beim Spitzentanz
Irene Danner und Peter Bento mit ihrem ersten Sohn Peter Junior bei Althoff in Pößneck
Oktober 1943
links: Die Bentos bei einem Auftritt im
Zirkus Althoff. Vorne Irene. Sie versteckt
ihre Schwangerschaft in einem weiten
Clownskostüm. Hinter ihr Margot, José
Bento, Peter Bento
rechts: Irene während der Jahre im
Versteck bei Althoffs, hier mit den Elefanten
von Maria Althoff
oben links: Peter Bento als junger Clown
oben rechts: Irene mit ihren damals drei Kindern Peter, Jano und Mary
unten: Die Bentos, von links: José Bento, Margot, Zwerg Carlo, Irene, Peter
links: Alice und Hans Danner.
1946 bei Althoff
unten: Irene Bento als Geigerin. ca. 1952
Adolf Althoff mit seinen Pferden .1955
Irene und Peter Bento (Bild steht im Heimatmuseum Pfungstadt)
Maria und Adolf Althoff. 1995

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