Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei
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Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei
DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei Materialsammlung Anwerbung Reise nach Deutschland Fremdheiten DOMiT Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei DOMiT Materialsammlung zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei: Anwerbung, Reise nach Deutschland, Fremdheiten; herausgegeben von DOMiT – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei. Aytaç Eryılmaz, Bengü Kocatürk-Schuster, Wulf Schade im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln 2000 © Ministerium für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen DOMiT „Viele von ihnen werden in Deutschland ein neues Leben aufbauen, sie werden dort Wurzeln schlagen und ihr Heimatland nur noch als Gäste besuchen.“ Theodor Marquard Direktor der Deutschen Verbindungsstelle Istanbul, 1966 Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung DOMiT Die Arbeitsmigration aus der Türkei Zum Inhalt der Arbeitsmappe Im Oktober 2001 jährt sich zum 40. Male der Jahrestag der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und der BRD. Man kann dieses Datum als Beginn der offiziellen, geregelten Arbeitsmigration aus der Türkei bezeichnen. Mittlerweile leben unter uns fast zweieinhalb Millionen Bürger/-innen aus der Türkei bzw. deren Nachkommen. Trotzdem kommen sie in der Betrachtung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so gut wie gar nicht vor. Zwar wird in offiziellen Ansprachen oftmals die wirtschaftliche Leistung der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aufgeführt, aber die Hintergründe für ihre Existenz in unserem Land werden nicht aufgearbeitet. Sie werden immer noch nicht von der Mehrheitsgesellschaft als Teil der Gesamtgesellschaft betrachtet. Dieses Arbeitsmappe will beginnen, diesen Mangel zu beheben, in dem sie in leicht verständlicher Form die Anfänge der Arbeitsmigration aus der Türkei aus geschichtlicher Perspektive für die Bildungsarbeit mit einem breiten Bevölkerungskreis darstellt. Damit soll durch das Liefern geschichtlicher Fakten, Dokumente und zeitgenössischer Abbildungen auch ein Beitrag gegen die sich in den letzten Jahren verstärkende Fremdenfeindlichkeit geleistet werden. Einer der Gründe für die Fremdenfeindlichkeit – sicherlich nicht der zentrale – ist der Mangel an Wissen über die Entstehung der Arbeitsmigration, über die Wege, die die Migranten/-innen zurücklegen mussten, bis sie nach Deutschland kamen und hier auf das Unbekannte, was Unsicherheit schaffte, stießen. Es ist vielen Angehörigen der angestammten Bevölkerung gar nicht bewusst, dass die Menschen in den Anwerbestaaten nur schweren Herzens beschlossen, die Heimat – und sei es auch nur für wenige Jahre – zu verlassen. Diese Wissenslücke will diese Arbeitsmappe schließen helfen. Es wird gezeigt, dass es nicht so einfach war, mal eben nach Deutschland zu fahren, um dort Geld zu verdienen und dann wieder als ‘reicher’ Mensch zurückzukehren. Dadurch soll deutlich gemacht werden, dass es hier nicht um Ausnutzung eines anderen Landes geht, sondern um persönlich schwere Entscheidungen. Deshalb zeigen wir im ersten Kapitel den in der Türkei zurückzulegenden Weg auf, Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Zum Inhalt der Arbeitsmappe 1 DOMiT der nach Deutschland führte: Behördengänge, Warten, Reisen nach Istanbul zur Deutschen Verbindungsstelle zur Untersuchung mit allen Risiken für die Familie. Dass es vor allem Deutschland war, das die Arbeitskräfte für den Wohlstand seiner Bevölkerung benötigte, wird ebenfalls gezeigt (Arbeitsblätter 1 – 3 „Wie geht man zum Arbeiten…“). Das folgende Kapitel führt dann nahtlos den Weg nach Deutschland weiter. Hier wird die Reise nach Deutschland gezeigt, die die nachhaltige Trennung von der Heimat und seinen Familien bedeutete. Das war den betroffenen Menschen durchaus bewusst. Denn man muss sich ja vor Augen führen: damals konnte man nicht einfach in ein Reisebüro oder zum Flughafen gehen, ein Ticket erwerben und mal für ein verlängertes Wochenende nach Hause fliegen. Eine Zugreise dauerte weit über 50 Stunden. Zwar gab es damals bereits internationale Telefonverbindungen, aber wer hatte damals schon ein Telefon? In Deutschland angekommen, fühlte man sich in ein Land versetzt, von dem man meist so gut wie nichts kannte. Man wusste, dass es dort eine andere Religion gab, die Esssitten andere waren, man dort ‘verbotene’ Speisen aß und Ähnliches mehr. Aber was das konkret bedeutete, wusste man vorher nicht. Dies führte bei vielen nach der Ankunft in Deutschland zu einer mehr oder weniger großen Unsicherheit und daraus folgenden Berührungsängsten mit der angestammten Bevölkerung. Diese Arbeitsmappe zeigt auf, wie dieses Neue den Migranten/-innen begegnete und wie sie die Probleme gemeistert haben. Es wird dadurch deutlich, dass eine teilweise sehr weitgehende Anpassung an das deutsche Leben erfolgte. Die Behandlung dieser drei Themen hat einen zweiten, sehr bedeutenden Aspekt. Sehr viele der heutigen Migrantenkinder und –jugendlichen wissen fast nichts über die Geschichte der Anwerbung. Indem der Lebensweg der Eltern und/oder Großeltern nachvollzogen wird, wird auch die Achtung vor deren Leistung steigen und so vielen helfen, Stabilität und Selbstbewusstsein als Migrantenkinder zu entwickeln. Die Arbeitsmappe ist auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Deutschland unabhängig von der ethnischen Herkunft geeignet. Es gibt im Wissen über die Ursprünge der Arbeitsmigration gar keine so großen Unterschiede unter den Kindern und Jugendlichen der Bevölkerung insgesamt. Deshalb kann die Arbeitsmappe gut in ‘gemischten’ Gruppen eingesetzt werden – gleich welcher Nationalität, denn wie das Schicksal der Arbeitsmigranten/-innen aus der Türkei, so ähnlich begann auch das Schicksal der anderer Staaten. Die Jugendlichen – und nicht nur sie – müssen Fremdes als etwas Normales betrachten, was ihnen ständig begegnen wird und zum Leben dazu gehört. Statt Angst davor muss wieder die Neugier entstehen. Wenn diese Arbeitsmappe hilft, das Gefühl der Bedrohung durch das Fremde anzukratzen, Neugier dementgegen zu setzen, hat sie einen wichtigen Teil ihrer Funktion erfüllt. Bei den Leittexten stützen wir uns hauptsächlich auf den von Aytaç Eryılmaz (DOMiT) und Mathilde Jamin (Ruhrlandmuseum) herausgegebenen Katalog „Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei – Yaban, Sılan olur. Türkiye’den Almanya’ya Göçün Tarihi“. Wir empfehlen dieses Buch allen an dem Thema Interessierten. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Zum Inhalt der Arbeitsmappe 2 DOMiT Hinweise zur Arbeitsmappe Die Arbeitsmappe ist eine Material- und Quellensammlung zu den drei Themen „Anwerbung in der Türkei“, „Die Reise nach Deutschland“ sowie „Fremdheiten“ und ist zum Gebrauch für Multiplikatoren in der Jugendarbeit wie auch in der Bildungsarbeit mit allen Altersgruppen gedacht. Sie richtet sich in erster Linie an bereits interessierte, aber wenig informierte Jugendliche und stellt Hintergrundinformationen zur Geschichte der Migranten/-innen aus der Türkei zur Verfügung, damit sie unter Gleichaltrigen besser argumentativ bestehen können. Die Arbeitsunterlagen sind so gehalten, dass sie ohne weitere Bearbeitung eingesetzt werden können, sei es auf Folien gezogen für einen Tageslichtschreiber oder fotokopiert als Tischvorlage für die Teilnehmer/-innen. Die Arbeitsmappe versteht sich in erster Linie als Material- und Quellensammlung, aus der sich der oder die Unterweisende auf Grund einer Problemanalyse der vorhandenen Situation bedient. Jeder Abschnitt beginnt mit einem einleitenden Text, der in das jeweilige Thema einführt. Dieser Text ist hauptsächlich für die/den Unterweisende/n gedacht und so gehalten, dass er Informationen liefert und Zusammenhänge aufzeigt, nach denen wahrscheinlich im Laufe der Unterweisung von den Teilnehmern/-innen gefragt wird. Darauf folgen einige Seiten mit Kurzbeschreibungen der einzelnen Informationsblätter, die entsprechend durchnummeriert worden sind. Diese Durchnummerierung ist nicht verbindlich, auch wenn die einzelnen Vorlagen durchaus aufeinander aufbauen. Der/die Unterweisende muss sich je nach Fragestellung die entsprechenden Vorlagen heraussuchen und sie für seine/ihre Zwecke entsprechend ordnen. Zur vertieften Information ohne langwieriges Einarbeiten in das Thema empfehlen wir v.a. drei Bücher: Aytaç Eryılmaz/Mathilde Jamin, Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. –Yaban, Sılan olur. Türkiye’den Almanya’ya Göçün Tarihi, Essen 1998 sowie Zur Geschichte der Gastarbeiter in München: „für 50 Mark ein Italiener“, hrsg. vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Franziska Dunkel; Gabriela Stramaglia-Faggion; München 2000 (zitiert auf den Arbeitsblättern: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München, München 1999) und 50 Jahre Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Hinweise zur Arbeitsmappe 1 DOMiT Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung: Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Jan Motte ... (Hg.), Frankfurt/Main 1999. Diese Literatur zeichnet sich v.a. durch ihre leichte Lesbarkeit aus, obwohl sie wissenschaftlich fundiert ist. Die drei Themen der Arbeitsmappe können sowohl als jeweils eine Einheit genommen werden wie auch einzelne Vorlagen aus den Einheiten je nach Bedarf zu einer eigenen Arbeitseinheit zusammengestellt werden. Viele der Informationen sind sowohl für die Jugendlichen aus der angestammten Bevölkerung, wie auch für die gleichaltrigen Jugendlichen aus der Migrantengruppe neu bzw. interessant, so dass auch gemeinsame Informationstreffen durchgeführt werden können. Die meisten der berücksichtigten Aspekte sind oftmals auch für die ‘Gastarbeiterinnen’ und ‘Gastarbeiter’ aus anderen Länder zutreffend, so dass man mit dieser Mappe ebenso die Jugendlichen aus diesen Gruppen erreichen kann. Beim Gebrauch einer Material- und Quellensammlung zu diesen Themen besteht die Gefahr, bereits vorhandene Vorurteile zu verstärken. Wenn z.B. gezeigt wird, dass viele Arbeitsmigrantinnen als selbstbewusste Frauen nach Deutschland kamen, könnte damit u.U. die Geringschätzung gegenüber den heute kopftuchtragenden Frauen verstärkt werden. Damit aber wird schnell die Kluft zwischen den deutschen und den entsprechenden türkischen Kindern bzw. Jugendlichen vertieft, denn wer ist schon gerne mit jemandem befreundet, der seine Mutter nicht respektiert. Hier ist eine große Sensibilität beim Gebrauch der Arbeitsmappe gefordert. Die Arbeitsmappe wurde aus zwei verschiedenen Arten von Materialien und Quellen zusammengestellt. Zum einen sind es objektive Unterlagen: Schreiben von Behörden, Konsulaten, Betrieben, Formulare, Ausweise, Broschüren usw.; zum anderen sind es subjektive Quellen. Hierzu zählen wir Privatfotos und Gegenstände mit ihrer spezifischen Geschichte, die DOMiT von den Arbeitsmigranten/-innen aus der Türkei übergeben worden sind, aber auch Zitate aus der Migrationsliteratur zum Thema wie auch Zitate aus Interviews, die DOMiT mit über 100 Arbeitsmigranten/innen – meist aus der ersten Generation stammend – durchgeführt hat. Durch diese Zitate wie auch die Privatfotos konnte die Sicht der Migranten/-innen auf auch ihre Geschichte authentisch gemacht werden. Unter dem Titel Einige allgemeine Fakten haben wir Informationen zusammengestellt, nach denen während unserer Arbeit, z.B. während des Diavortrags Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei immer wieder gefragt wurde. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Hinweise zur Arbeitsmappe 2 DOMiT Einige allgemeine Fakten Das Verhältnis zwischen Berwerbern/-innen und angebotenen Stellen Von 1961 bis November 1973 bewarben sich insgesamt 2.659.512 Personen um einen Arbeitsplatz in Deutschland. Lediglich 648.029 von ihnen, das sind 24,34 %, wurden im gleichen Zeitraum tatsächlich vermittelt und nahmen eine Arbeit in der Bundesrepublik auf. Dass die Anzahl der Interessenten die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze bei weitem übertraf, gab den deutschen Arbeitgebern und der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul die Möglichkeit, bei der Auswahl äußerst wählerisch vorzugehen. Bewerbungen von außerhalb Istanbuls Nahezu 80% aller Vorstellungen, die der Deutschen Verbindungsstelle Istanbuls vorgestellt wurden, kamen von außerhalb Istanbuls. Einige Vorraussetzungen für die Annahme der Bewerbung beim türkischen Arbeitsamt Bestimmte Altersgrenzen durften nicht überschritten sein, die für qualifizierte Arbeiter bei 40 Jahren, für Frauen bei 45, für Bergarbeiter bei 35 und für unqualifizierte Arbeiter bei 30 Jahren lagen. Angeworbenenzahlen und die Zahl der Rückkehrer/-innen Man kann davon ausgehen, dass zahlenmäßig ungefähr die Hälfte aller zwischen 1961 und 1973 zur Arbeit nach Deutschland angeworbenen Arbeitsmigranten/-innen aus der Türkei wieder dorthin zurückgingen. Ausgebildete Arbeitskräfte Fast jede dritte angeworbene Arbeitskraft war ein Facharbeiter oder eine angelernte Arbeitskraft. Damit war der Anteil dieser Arbeitskräfte im Vergleich mit denen anderer Anwerbeländer (Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Marokko usw.) deutlich am Höchsten. Frauenanteil Der Frauenanteil an den angeworbenen Arbeitskräften betrug 20%. Anteil der abgelehnten Bewerber/-innen nach der Gesundheitsüberprüfung Der Anteil derjenigen, die nach der bei der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul durchgeführten Gesundheitsprüfung abgelehnt wurden, betrug 10,1% im Jahre 1962 und 10,6% im Jahre 1963, nach leichtem Rückgang stieg die Zahl der Ablehnungen steil an: 1971 betrug der Anteil 19,9%, 1972 – 18,3% und 1973 - 17,3%. Bezahlung der Untersuchungen und der Reisekosten Die Deutsche Verbindungsstelle organisierte die Reise der bei ihr angeworbenen Arbeitskräfte nach Deutschland und mit Hilfe ihrer Verbindungszentrale in München zu dem jeweiligen Arbeitgeber. Für diese Dienstleistung erhob die BAAV (BAA) von dem Arbeitgeber zunächst 165,- DM, später 300,- DM, ab dem 1. September 1973 schließlich 1000,- DM für jeden Arbeiter. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Einige allgemeine Fakten DOMiT Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Die ersten Bemühungen, auf offiziellem Wege Arbeiter oder Handwerker aus der Türkei in die Bundesrepublik zu holen, begannen 1956 mit einer Initiative des der Universität Kiel angeschlossenen Weltwirtschaftsinstituts beim deutschen Außenministerium. Ein Jahr später, 1957, machte Bundespräsident Theodor Heuss während seines Türkei-Besuches in Ankara das Angebot, im Rahmen beruflicher Ausbildungsmaßnahmen junge Berufsschulabsolventen in die Bundesrepublik einzuladen. So kamen 1958 ca. 150 junge Menschen aus der Türkei nach Deutschland. Ein Teil von ihnen nahm eine Tätigkeit bei den Ford-Werken in Köln auf. Noch jahrelang erinnerte man sich voller Sympathie an diese jungen Leute als die „Heuss-Türken“. Einige von ihnen arbeiteten bis zu ihrem Eintritt ins Rentenalter Ende der 80er Jahre bei Ford. Darüber hinaus gab es eine Vielzahl an betrieblichen Eigeninitiativen zur Anwerbung von Arbeitskräften in der Türkei. 1961 wurde dann durch den Abschluss eines Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) die Anwerbung in geregelte Bahnen gelenkt. In Istanbul wurde im gleichen Jahr die Deutsche Verbindungsstelle, eine Außenstelle des deutschen Arbeitsamtes, eingerichtet. Ihr erster Leiter war Hans Meier. Ihr Personal belief sich einschließlich der Ärzte auf sieben Mitarbeiter. 1973 hatte die Deutsche Verbindungsstelle 170 Mitarbeiter. Sie beschäftigte neben deutschen auch einheimische Angestellte. Die ‘Abteilung für Auslandsdienste’ (YHD) des türkischen Arbeitsamtes, das ‘Anstalt für die Vermittlung von Arbeit und Arbeitskräften’ (‹‹BK) hieß, war in der Türkei der Ansprechpartner des deutschen Arbeitsamtes, der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Die Anforderung des deutschen Arbeitgebers, der sich mit dem „Vermittlungsauftrag – Türkische Arbeitskräfte“ an das örtliche Arbeitsamt in der BRD wandte, wurde über das deutsche Arbeitsamt an seine Zweigstelle in Istanbul, die Deutsche Verbindungsstelle übersandt. Diese leitete die Anforderung wiederum an die Abteilung für Auslandsdienste des türkischen Arbeitsamtes weiter. Ähnlich war das Verfahren auch in Italien, Spanien, Griechenland oder Portugal. Zusammenarbeit zwischen türkischem und deutschem Arbeitsamt Die Vermittlungstätigkeit der ‹‹BK und der Deutschen Verbindungsstelle war in drei Bereiche unterteilt: 1. Bewerbungen, 2. Offene Stellen und Anforderungen, 3. Vorstellung und Transfer. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Einleitung 1 DOMiT Der von Arbeitgebern in der Bundesrepublik angemeldete Bedarf einer bestimmten Anzahl von Arbeitern mit bestimmten Qualifikationen wurde als „Anforderung“ bezeichnet. Es gab zwei verschiedene Arten von Anforderungen: 1. anonyme Anforderungen und 2. namentliche Anforderungen. Diese Anforderungen wurden über die Deutsche Verbindungsstelle an die Abteilung für Auslandsdienste des türkischen Arbeitsamtes weitergeleitet. Die Abteilung für Auslandsdienste lud die Bewerber, die sich bei den örtlichen Arbeitsämtern in der Türkei für einen Arbeitsplatz in Deutschland beworben haben, durch das an die Zweigstellen übersandte Formblatt F 43 nach Istanbul ein. Namentliche Anforderungen waren weitgehend unproblematisch, da auf jede Anforderung ein Bewerber kam, so dass sie schnell bearbeitet werden konnten. Die anonymen Anforderungen jedoch erforderten einen erheblichen Organisationsaufwand und stellten eine problematische Aufgabe dar, die viel Verantwortungsgefühl erforderte und auch nicht kleinste Mängel und Fehler zuließ. Registrierung beim türkischen Arbeitsamt Wollte ein türkischer Staatsangehöriger bzw. eine türkische Staatsangehörige eine Arbeit in Deutschland aufnehmen, musste die erste Bewerbung, im Volksmund als „Registrierung bei der Anstalt“ oder „Registrierung für Deutschland“ bezeichnet, an die Zweigstellen und Büros der ‹‹BK der jeweiligen Provinz oder des Gebietes gerichtet werden, in dem er oder sie wohnte. Die Anwärter für Deutschland benötigten für die Registrierung (Arbeitsblatt 7): 1. ein Lichtbild, 2. einen Personalausweis, 3. einen adressierten und mit 2 Lira (zuerst 50 Kurufl, dann 100 Kurufl) frankierten Briefumschlag und 4. Angaben zum Beruf nebst Arbeitszeugnis, Arbeitsbescheinigung oder Schulzeugnissen, falls vorhanden. Ein Registerbeamter unterzog den Bewerber oder die Bewerberin einem kurzen berufsbezogenen Test und trug ihn in die „Karte für Bewerber um einen Arbeitsplatz im Ausland“ ein. Außerdem füllte er die „Arbeiterindexkarte“ aus, die lediglich Angaben über Beruf, Zweitberuf, Registrierungsdatum und nummer enthielt. Dann wurde der Bewerber unter dem aktuellen Datum und mit laufender Nummer in das „Register der Bewerber um einen Arbeitsplatz im Ausland“ eingetragen. Die zentralen Daten wurden an die zuständige Direktion der Abteilung für Auslandsdienste des türkischen Arbeitsamtes in Ankara oder Istanbul übersandt. Zunahmen oder Rückgänge der Zahl der Bewerbungen waren von vielerlei Einflüssen abhängig. So zog eine steigende Anzahl an Anforderungen aus der Bundesrepublik stets auch eine Zunahme der Bewerbungen nach sich. Erzählungen von Arbeitern, die ihren Urlaub in der Türkei verbrachten oder endgültig zurückkehrten, aber auch Briefe aus Deutschland und insbesondere Fotos sorgten gebietsweise für eine Zunahme der Bewerbungen. Bewerbung, Anforderung und Auswahl In der Praxis durchlief eine Anforderung etwa folgende Stationen: Ein deutscher Arbeitgeber forderte zum Beispiel über die Deutsche Verbindungsstelle 20 Dreher an – falls er es für erforderlich hielt, konnte er an jeder Phase des Auswahlprozesses teilnehmen. Über die Abteilung für Auslandsdienste wurde die Information in die Provinzen A und B weitergeleitet. In den Provinzen A und B wurden 90 Dreher angeschrieben. Aus diesen wurden dreißig ausgewählt, die nach Istanbul gingen. Die Deutsche Verbindungsstelle siebte weitere 10 aus und schickte die verbleibenden 20 Dreher in die Bundesrepublik. Für 20 qualifizierte Arbeitskräfte, die nach Deutschland fahren sollten, wurden also 90 Menschen nebst ihren Familien und ihnen nahestehenden Personen in Aufregung versetzt, was sich auch auf ihre Arbeitsplätze, ihr soziales Leben und ihre beruflichen Entscheidungen auswirkte. Dieses Verhältnis konnte bei der Auswahl von ungelernten Arbeitern bis eins zu zwanzig betragen. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Einleitung 2 DOMiT Aufgrund der Anforderung stellte die lokale Kommission in der Provinz fest, wer unter Berücksichtigung des Datums der Bewerbung und der geforderten Voraussetzungen in Frage kam, und lud diese Personen ein. Diese Einladung erfolgte mit dem Formblatt F 49 (Arbeitsblatt 8), „Einladung zur Arbeitsvermittlung“, mit den Briefumschlägen, die bei der ersten Registrierung von den Bewerbern frankiert und adressiert worden waren. Für den Fall, dass der Bewerber aus beruflichen oder persönlichen Gründen der Einladung nicht Folge leisten konnte, sollte er den als Anlage beigefügten Antwortbrief F 49/A benutzen. Andernfalls hatte sich der Bewerber zur angegebenen Zeit bei der Anstalt einzufinden. Meistens wurde eine Frist von 16 Tagen gewährt. Hielt er diese nicht ein, verwirkte er zwar nicht das Recht, nach Deutschland zu gehen, verlor jedoch seinen Platz auf der Warteliste. Zur Erleichterung der Auswahl für die lokale Kommission wurden für jede Anforderung drei bis fünf Bewerber eingeladen. Bei der Auswahl „beachtete die Kommission insbesondere folgende Punkte“: Bevorzugt berücksichtigt werden Personen, deren Ausreise keinen Nachteil für die Industrie des Landes darstellt; die zu diesem Zeitpunkt in keinem Beschäftigungsverhältnis stehen und arbeitslos sind; die eine Erlaubnis des derzeitigen Arbeitgebers vorweisen können; oder die als Selbständige tätig sind. Darüber hinaus wurden einige besondere Umstände und Faktoren geregelt, die sich auf die Reihenfolge der Warteliste auswirkten: Bevorzugt nach Deutschland entsandt wurde, 1. wer Deutsch, Englisch oder Französisch beherrschte, 2. Eheleute, sofern sie gemeinsam gehen wollten, 3. wer aufgrund von Massenentlassungen arbeitslos geworden war 4. wer durch Naturkatastrophen wie Überschwemmung, Erdbeben oder einen Brand geschädigt worden war (z.B.: Erdbeben von Varto und Gediz), 5. Gesellschafter von Dorfkooperativen: wer gemäß einer Anweisung des Ministerpräsidenten an das Ministerium für Dörfliche Angelegenheiten aus dem Jahre 1965 in den Dörfern an der Gründung einer Kooperative im Rahmen des „Projekts zur Gewinnung von Arbeitskräften in Kooperativen“ beteiligt war und bestimmte Auflagen erfüllte. Die Bewerber mussten folgende Unterlagen beschaffen: a) Personalausweis mit Angaben zum Militärdienst b) Schul- oder Arbeitszeugnis c) Bescheinigung der Staatsanwaltschaft d) 8 Lichtbilder im Format 4x6 e) Impfbescheinigung (Pockenschutzimpfung). Den nach Istanbul einbestellten Bewerbern wurden gemäß Dienstanweisung der Leitung der Dienststelle für Bewerbungen folgende Hinweise gegeben: „Sie sollten 1. Türkentum und Nationalgefühl hochhalten, nicht auf schädliche Propaganda hereinfallen und solcher kein Gehör schenken 2. auf saubere Kleidung achten 3. genügend Geld bei sich führen, da es in Istanbul zu Wartezeiten bis zu einer Woche kommen könnte 4. mit Gebühren in Höhe von 20-25 Lira (1962) für Transitvisa für Bulgarien und Jugoslawien rechnen.“ Damit wurden die Kandidaten für Deutschland zur Abteilung für Auslandsdienste in Istanbul oder Ankara geschickt. Inzwischen musste der Bewerber die Reisevorbereitungen für Deutschland getroffen haben. Er musste also seine Koffer gepackt und sich von seiner Familie verabschiedet, gegebenenfalls auch sein Vermögen verkauft haben. Denn sollte er bei der Deutschen Verbindungsstelle akzeptiert werden, hätte er keine Zeit mehr gehabt, noch einmal in seinen Heimatort zurückzukehren. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Einleitung 3 DOMiT Die Deutsche Verbindungsstelle – das Tor nach Deutschland Die vom türkischen Arbeitsamt ausgewählten Kandidaten für Deutschland wurden nach Istanbul bestellt und der Deutschen Verbindungsstelle vorgestellt. Dort mussten sie fünfzehn Stufen durchlaufen, bis sie erfuhren, ob sie eine Arbeit in Deutschland bekamen oder nicht. Die Abteilung Vermittlung stellte die erste Abteilung bei der Deutschen Verbindungsstelle dar und hatte die Aufgabe, herauszufinden, ob die von der Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung vorgestellten Deutschland-Kandidaten tatsächlich den gewünschten beruflichen Anforderungen entsprachen. Als erstes jedoch ließ man sie dort ein, zwei Abschnitte eines Informationsblattes vorlesen, um herauszufinden, ob sie des Lesens und Schreibens kundig waren. Sodann begann die eigentliche Prüfung, wobei der deutsche Vermittler dem Kandidaten mit Hilfe eines Dolmetschers Fragen zu seinem Beruf stellte. Auf diese Weise wurden bereits hier diejenigen ausgesiebt und abgelehnt, die nicht die gewünschten beruflichen Qualifikationen mitbrachten. Konnte dies bei der mündlichen Prüfung nicht ausreichend festgestellt werden, so wurde der Kandidat zu einem kleinen Betrieb gebracht, wo er seine Fähigkeiten praktisch unter Beweis stellen musste; ab 1970 wurde die berufliche Auswahl dann an Modellarbeitsplätzen getroffen, die sich im Untergeschoss des Zentrums der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul-Mecidiyeköy befanden. Kandidaten, die aus beruflichen Gründen abgelehnt wurden, war es freigestellt, sich in ihrem Heimatort mit ihrem etwaigen Zweitberuf oder aber als unqualifizierte Arbeiter erneut zu bewerben; sie mussten sich hierzu jedoch wieder neu auf die Warteliste setzen lassen. An den Prüfungen konnten auch Vertreter des deutschen Arbeitgebers teilnehmen, was insbesondere bei Massenanforderungen oder besonders wichtigen Anforderungen geschah. So richtete zum Beispiel die Istanbuler Vertretung von Siemens in Istanbul eine Kursstätte mit nahezu privatem Status ein. Dort wurden weibliche Anwärterinnen zwischen 18 und 35 Jahren gesucht und für einen Arbeitsplatz in der Produktion und Montage von elektronischen Kleinteilen vorbereitet; eine Arbeit, die nur mit Lupe verrichtet werden konnte. Bei Bedarf reiste man auch nach Anatolien und suchte in Städten wie Zonguldak, Trabzon, Diyarbakır oder Adana Arbeitskräfte aus. Auf der Grundlage eines Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei aus dem Jahr 1971 begannen das türkische Bildungsministerium und die türkische Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung in verschiedenen Regionen der Türkei in 10 Berufsschulen qualifizierte Arbeitskräfte für Deutschland auszubilden. Wer die erste Stufe der deutschen Prüfung bestanden hatte, wurde zur Gesundheitsprüfung in den ersten Stock des Gebäudes geschickt (Arbeitsblatt 9). In den ersten Jahren wurde die ärztliche Untersuchung in staatlichen Krankenhäusern, insbesondere in Samatya, unter Aufsicht deutscher Ärzte oder im Deutschen Krankenhaus in Istanbul vorgenommen. Mit der Erhebung der Laborbefunde und der Röntgenuntersuchung wurden private Laboratorien in Istanbul beauftragt. Erst nachdem man im Jahre 1970 nach IstanbulMecidiyeköy umzog, wurden sämtliche Untersuchungen unter einem Dach vorgenommen, wo sich das Labor, die Röntgen- und die ärztliche Abteilung befanden. Dies also war der Albtraum der Deutschland-Kandidaten aus allen Gegenden Anatoliens, die eine Unzahl von Hindernissen überwunden, Hab und Gut verkauft und alle Hoffnung hierein gesetzt hatten. Denn hier entschied es sich, ob man für ungeeignet befunden wurde und in seine Heimat zurückkehren musste, was man oftmals als persönliche Niederlage auffasste, oder ob man auserlesen wurde und ein ganz neues Leben beginnen konnte (Arbeitsblätter 10 + 12). Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Einleitung 4 DOMiT Bei der Gesundheitsprüfung wurden der Blutdruck gemessen und Blut- und Urinproben untersucht; sodann betrat man in Gruppen von 10 – 15 Personen das Arztzimmer. Vor dem deutschen Arzt und einer Arzthelferin, die gleichzeitig auch die Aufgabe der Dolmetscherin übernahm, musste die Gruppe, bis auf die Unterhose entkleidet, einige einfache körperliche Übungen vollführen. Man achtete darauf, ob die Personen irgendwelche körperliche Behinderungen oder Operationsnarben hatten. Bei dieser körperlichen Untersuchung schaute man auch die Geschlechtsorgane und die Leistengegend an, was für die Menschen aus Anatolien wahrscheinlich das Schlimmste war. Man untersuchte Augen und Ohren und begutachtete die Röntgenaufnahmen. Wurden leichtere Beschwerden wie fehlende oder schlechte Zähne, zu niedriger oder zu hoher Blutdruck oder die Notwendigkeit einer Ohrenspülung festgestellt, bekamen die Betroffenen einen Termin für eine erneute Vorstellung. Diejenigen, bei denen man ernstere Beschwerden feststellte, oder die Narben von anderen Operationen als einer Blinddarmentfernung aufwiesen, schwangere Frauen und Personen, auf deren Röntgenaufnahmen auch nur der kleinste Schatten zu sehen war, wurden für ungeeignet befunden und abgelehnt. Es gab keinerlei Widerspruchsrecht gegen die Entscheidung. Darüber hinaus wurden die Feststellungen vermerkt, so dass diese Menschen jede Chance verloren, auf legalem Wege nach Deutschland zu gehen (Arbeitsblatt 11). Hauptziel der Gesundheitsuntersuchungen bei der Deutschen Verbindungsstelle war es, gesundheitlich ‘geeignete’ Arbeitskräfte für die jeweiligen Arbeitsstellen zu finden, die den deutschen Krankenkassen langfristig nicht zur Last fallen würden. Alle diejenigen, die der Deutschen Verbindungsstelle von außerhalb Istanbuls vorgestellt wurden - dies waren nahezu 80% aller Vorstellungen – hatten sich bereits vorher schon einer Gesundheitsprüfung unterziehen müssen. Darüber hinaus wurden diese Menschen in Deutschland noch einmal untersucht, bevor sie in einem großen Betrieb eingestellt wurden. Die meisten Arbeitskräfte aus der Türkei mussten sich also dreimal einer Gesundheitsprüfung unterziehen. Die Bewerber, die von der Deutschen Verbindungsstelle hinsichtlich der beruflichen Qualifikation und der Gesundheit für geeignet befunden wurden, mussten ihre Pässe und Transitvisa bereithalten. Dann unterschrieben sie zusammen mit je einem Vertreter der Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung und der Deutschen Verbindungsstelle einen zweisprachig verfassten Arbeitsvertrag (Arbeitsblatt 13) und erhielten ihre auf ein Jahr beschränkte Legitimationskarte, die für das erste Jahr die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis ersetzte. Außerdem teilte man ihnen Tag und Zeit der Abreise nach Deutschland mit. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Einleitung 5 DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Übersicht 1 DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Übersicht 2 DOMiT Anwerbung für Deutschland – erwünscht und notwendig Arbeitslose und offene Stellen in der Bundesrepublik 1961 94 856 Arbeitslose 572 758 Offene Stellen 1973 221 905 Arbeitslose 647 602 Offene Stellen (Statistische Angaben der Bundesanstalt für Arbeit, zitiert nach: Statistische Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland sowie Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit, 16.10.1974) Keine Deutschen für den Bergbau „Die in den letzten Jahren bei uns angelegten erwachsenen deutschen Arbeiter waren sowohl in ihrem Leistungswillen als auch in Bezug auf ihre Einsatzfreudigkeit keinesfalls besser als die ungelernten Ausländer. Hinzu kommt noch, daß der größte Teil dieser deutschen Arbeiter nicht in der Absicht zu uns kam, einen Dauerarbeitsplatz einzunehmen, sondern hauptsächlich aus einer momentanen Notlage heraus den Bergbau vorübergehend aufsuchte (Wohnung, Bettplatz, Pfändungen, hohes Krankengeld usw.). Die Zahl der Berglehrlinge hat in den letzten Jahren so rasch abgenommen, daß mit Recht gesagt werden kann „die deutsche Jugend lehnt den Bergmannsberuf ab“. Dies muß festgestellt werden, trotzdem die Berglehrlinge eine viel größere Erziehungsbeihilfe erhalten als die Lehrlinge aller übriger Industrien, trotzdem die weiteren Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten im Bergbau gegenüber den anderen Industriezweigen viel besser, billiger und aussichtsreicher sind. Weder ein hoher Lehrlingslohn, noch kostenlose Ausbildung, leichtere Aufstiegschancen, bessere Bezahlung je Arbeitsstunde, nahe gelegener Arbeitsplatz mit billiger Wohnung, bessere Kranken- und Altersversorgung, hat es bisher vermocht, dem Bergbau den so dringend benötigten jungen Nachwuchs zuzuführen.“ (aus: Bericht über den Ausländereinsatz, in: Protokoll über die Sondertagung „Umgang mit fremdsprachigen Mitarbeitern“ am 4./5. September 1964 in der Wasserburg Rindern bei Kleve des Ruhrbergbaus, Hervorhebung im Bericht selbst [„angelegt“ bedeutet „eingestellt“]) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 1 DOMiT Deutschland brauchte Arbeitskräfte Deutschland wird in den nächsten 10 Jahren 500.000 türkische Arbeiter anwerben Quelle: Cumhuriyet vom 4.8.1965 Übersetzung: Bengü Kocatürk-Schuster DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Der Vorsitzende des deutschen Arbeitgeberverbandes Wilhelm Keller hat gestern bei einer Pressekonferenz im Hilton Hotel gesagt, dass Deutschland in den nächsten 10 Jahren 500.000 Arbeiter aus der Türkei anwerben will. Der deutsche Geschäftsmann, der seit zwei Tagen in unserer Stadt ist, bemerkte, dass in seiner eigenen Firma 120 türkische Arbeiter beschäftigt sind und wenn in der Zeit kein Krieg ausbricht, dass Deutschland noch 10 Jahre auf die türkischen Arbeiter angewiesen sein wird. Er betonte: „Ich bin persönlich mit den türkischen Arbeitern sehr zufrieden. Die anderen Firmen teilen auch meine Meinung“. Auf eine Frage hin erläuterte der Vorsitzende des deutschen Arbeitgeberverbandes, dass die türkischen Arbeiter schätzungsweise in 8.000 Firmen arbeiten, dass die türkischen Arbeiter wissen was Arbeit ist, mit Leib und Seele arbeiten und dass zwischen den Gehältern der türkischen und deutschen Arbeiter kein Unterschied besteht. Ferner wird Wilhelm Keller Gespräche wegen der Übergabe der Arbeiter mit den zuständigen Personen führen und wenn diese Prozedur in der Türkei nicht vereinfacht wird, fühlt er sich gezwungen Arbeiter aus Brasilien, Portugal, Griechenland und Spanien anzuwerben. Nach Keller hat Deutschland zur Zeit 200.000 Arbeiter aus der Türkei erbeten. Er betonte auch, dass ab Januar 1966 die Arbeiter in der Baubranche eine Lohnerhöhung erhalten werden und dass er in Deutschland Maßnahmen ergreifen wird, damit die Reisebedingungen der Arbeiter in den Urlaubszeiten sich verbessern und damit die Möglichkeiten sich erweitern. Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 2a DOMiT Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 12. Juli 1963 Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung DOMiT-Archiv Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 2b DOMiT Warum wir in Deutschland arbeiten wollten „Diejenigen, die aus unserem Dorf (nach Deutschland) gegangen waren, kamen mit einem Kofferradio in der Hand. Das war Ende 1962, es gefiel mir. Sie sagten: wir sehen fern, und so; Mensch, die lügen doch das Blaue vom Himmel herunter, sagte ich mir; es kam einem unerreichbar vor. Anfang 1963 habe ich mich als Bergarbeiter für Deutschland beworben.“ (Adil S., 1963 als Bergarbeiter nach Deutschland gekommen) 1963 Foto: DOMiT-Archiv „Der Traum aller Freunde, die hierher kamen, war, einen Amerikanischen Chevrolet zu kaufen und dann sofort in die Türkei zurückzukehren.“ (‹hsan T., 1958 nach Deutschland gekommen, Lehre bei Ford-Köln als Presser in der Gießerei) Nach dem Militärputsch von 1960 wurde Güntekin B. 3 Monate verhaftet, da er von der konservativen DP war; nach einem ein Jahr lang andauernden Gerichtsverfahren wurde er freigesprochen: „Ich fühlte eine Leere in mir und bekam die fixe Idee, meinen Wohnort zu wechseln; deshalb kam der Vorschlag dieses Freundes [ihn nach Deutschland zu bringen] wie ein Rettungsring... Unsere Rechnung, von meiner Frau und von mir, war, 5 Jahre hier zu arbeiten...“ (Güntekin B., 1962 nach Deutschland gekommen) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 3a DOMiT „Als wir die letzten Jahre an dieser Schule absolviert hatten – die Schule war zugleich Berufsschule, aber auch allgemeinbildend –, hat man am sogenannten Schwarzen Brett bekannt gemacht, dass Firmen aus Deutschland uns anwerben. Es stand dort geschrieben, dass junge Leute, die natürlich auch einen Beruf gelernt haben, gerne dort arbeiten könnten. Nach dem Krieg brauchte man in Deutschland natürlich sehr viele Arbeitskräfte. Irgendwie wurde da mein Interesse geweckt. Mein Bruder war schon zwei Jahre hier und hatte uns natürlich Briefe geschrieben oder Bilder geschickt. Der hat mich irgendwie auch etwas animiert. Wir haben damals, im Jugendalter, auch gedacht, im Beruf weiterzukommen, auch vielleicht – wenn es möglich war – zu studieren.“ (Selahattin B., Türkei) [aus: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München, München 1999, S. 69] Die ersten Krankenschwestern im damaligen städtischen Krankenhaus Schweinfurt, 1963 Foto: DOMiT-Archiv „Ich bin nach Deutschland gekommen, um mich in meinem Beruf weiterzubilden.“ (Makbule A., OP-Krankenschwester, als 23-Jährige 1963 nach Deutschland gekommen) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 3b Die Arbeitgeber fordern die Aufhebung der Rotation Bundesarchiv Koblenz/DOMiT-Archiv DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 4 DOMiT Die Aufhebung der Zwei-Jahresrotation „Die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation ... zwingt zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer. Da die Hereinnahme und die Einarbeitung ausländischer Arbeitskräfte für die Betriebe mit erheblichen Unkosten verbunden sind, ist es verständlich, wenn die deutsche Wirtschaft [!] den Wunsch äußert, eingearbeitete ausländische Arbeitnehmer, insbesondere wenn diese selbst den entsprechenden Wunsch äußern, über die Dauer von zwei Jahren hinaus zu behalten.“ Die Zwei-JahresFrist erschwere auch „die Einordnung der Ausländerkontingente [!] in die Betriebe ebenso wie in die Bevölkerung“. Sprachschwierigkeiten ergäben sich für alle Beteiligten immer wieder neu. Die BDA würde daher eine Aufhebung der ZweiJahres-Begrenzung in der Vereinbarung mit der Türkei „dankbar begrüßen“. Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 20. Juli 1964 an die Türkische Botschaft (...) C. In Ziffer 9 der Vereinbarung wird der vierte Satz („Die Aufenthaltserlaubnis wird über eine Gesamtaufenthaltsdauer von 2 Jahren hinaus nicht erteilt.“) gestrichen. (...) Verbalnote der Türkischen Botschaft vom 30. September I964 an das Auswärtige Amt Die Türkische Botschaft beehrt sich, dem Auswärtigen Amt den Empfang seiner Verbalnote vom 20. Juli 1964, No. V 6 83.SZV/3-92.42, folgenden Inhalts zu bestätigen. (...) Die türkische Botschaft beehrt sich, das Einverständnis der türkischen Regierung zu dem vorstehenden Text höflichst mitzuteilen, und benutzt diesen Anlaß, das Auswärtige Amt erneut ihrer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern. Der Referent des Bundesarbeitsministeriums vermerkte am 9. Januar 1963, er habe der BDA mitgeteilt, daß er die Zustimmung des Bundesinnenministeriums einholen und dann die gewünschte Neuregelung in die Wege leiten werde. 10 Tage später antwortete das Bundesinnenministerium, die Zwei-Jahres-Frist sei eingeführt worden, „um den vorübergehenden Charakter des Aufenthalts und der Beschäftigung zu betonen; insbesondere sollten der Nachzug der Familien und die damit im Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten wie Unterbringung, Betreuung usw. vermieden werden“. Auf die Begrenzung könne deshalb nur verzichtet werden, „wenn der vorübergehende Charakter des Aufenthalts und die Unerwünschtheit des Familiennachzugs an anderer Stelle ausgedrückt wird“. (aus: „Fremde Heimat“, M. Jamin, Die deutsch-türkische Anwerbevereinbarung von 1961 und 1964, S.78 – 79) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 5 DOMiT Oftmals kamen sehr selbstbewusste Frauen „Wir waren eine türkische Familie, aber zwischen Söhnen und Töchtern wurde kein Unterschied gemacht. Die Töchter haben genau so die Schule besucht und studiert - sie waren frei. Also da gab es keinen Zwang. Natürlich, gegenüber unseren Nachbarn waren wir frei. Aber da gibt es nun mal diese Tradition. Wenn ich einen Vergleich mache mit der Freiheit in Deutschland, dann war das sehr weit davon entfernt. Aber in unserem engeren Umfeld waren wir frei – also wirklich, ich sowieso. (...). Aber ich wollte unbedingt ins Ausland. Was Neues sehen. Dieser Drang war da. (...). Mein Gott, man war jung und wollte was erleben. Nachdem mit Amerika nichts war, dachte ich: ‘Na, dann gehe ich einfach nach Deutschland!’ Man wusste, dass es um Arbeitskräfte geht, und da dachte ich: ‘Na gut, dann gehst du mal nach Deutschland. Da kannst du dann auch arbeiten. Aber wie schaffst du das?’ Man durfte nicht alleine gehen als Frau. (...). Mein Vater wollte nicht. Also es war ganz schwer, die Erlaubnis vom Vater zu erhalten. Ich hatte alle seine Freunde so weitgebracht, dass sie auf ihn einwirkten, dass ich dann gehen konnte. Und schließlich sagte er: ‘Aber nicht alleine!’ Eine Schwester, die jetzt mit mir zusammen lebt, die hatte damals die Fachoberschule besucht. Die ist Modedesignerin, aber sie wollte nicht! Sie wollte nicht mitkommen. Ich habe sie dann lange bearbeitet – ich habe gesagt: ‘Pass auf, geh’n wir mal hin! Schauen wir, und wenn es uns nicht gefällt, kommen wir wieder zurück. Dann haben wir, eben eine Reise gemacht.’ Dann sagte sie zu, aber nicht aus Überzeugung. Und so sind wir nach Deutschland gekommen. (...). Ich hatte ja monatelang dafür gekämpft, dass ich dann nach Deutschland kam! Ich habe dann alles positiv erzählt natürlich! Ich habe entweder geschwiegen oder nur schöne Sachen erzählt.“ (Evser Y., Türkei) [aus: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München, München 1999, S. 107 – 109] Foto: DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 6 DOMiT Notwendige Dokumente zur Registrierung für Deutschland (Auswahl) Türkischer Personalausweis An die Dienststelle des Landrates Gümüflhacıköy Mein Wunsch: Da ich gemäß der Direktion des Arbeitsamtes in Maltepe Ankara, mit einem 7.2.1973 datierten und A/41 nummerierten Einladungsbrief, als Arbeiter ins Ausland gehen werde, bitte ich Sie zu gestatten, die notwendigen Formalitäten zu erledigen. 13.2.1973 Aus dem Dorf Köseler, Sohn von Hasan und Melek, 1948 geborener XXXXXXX Die sorgfältige Überprüfung der im Antrag genannten Person hat ergeben, dass diese auf keinem Vorstrafenregister auftaucht. Wir bitten um Kenntnisnahme der Dienststelle des Landrates. 13/2/973 Staatsanwalt: 14213 fi. Nazım Delibaltalı Hat keine Bindungen zum Wehrdienst Nehmen Sie in Kenntnis, dass der im Antrag erwähnte XXXXXX mit unserer Abteilung in keiner Verbindung steht. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Polizeiliches Führungszeugnis (Übers.: B. Kocatürk-Schuster) Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 7 DOMiT Die Einladung ANSTALT FÜR ARBEITSVERMITTLUNG Zweigstelle Istanbul, den 2. Juli 1973 EINLADUNG ZUR ARBEITSVERMITTLUNG (Formblatt Nr. 49) Akten-Nr.: 474/73 Vor- und Familienname der eingeladenen Person: Ismail N. DOMiT-Archiv 1 - Aus den bei unserer Zweigstelle geführten Registereintragungen geht hervor, dass die Reihe zur Vermittlung ins Ausland an Sie gekommen ist. 2 - Bitte erscheinen Sie unbedingt am nachstehend aufgeführten Tag zur angegebenen Stunde, da dann die Vorauswahl bezüglich Ihres Antrages erfolgen wird. 3 - Falls Sie diesen Termin nicht wahrnehmen können, beachten Sie bitte die Erklärungen des Ihnen in der Anlage übersandten Antwortvordruckes (Formblatt Nr. 49/A). Kreuzen Sie bitte einen oder mehrere der dort aufgeführten Gründe an, die Sie an der Wahrnehmung des Termins hindern. Schicken Sie diesen Antwortvordruck bitte so ab, dass er spätestens am 5.8.1973 bei unserer Zweigstelle eingeht. (Verspätungen auf dem Postweg werden nicht als Entschuldigungsgrund berücksichtigt!) 4 - Tragen Sie Ihre Anschrift auf dem Antwortvordruck ein und legen Sie sie diesem zusätzlich als gesonderte Anlage bei. Übersenden Sie sie in einem mit einer 200-Kuru˛-Marke versehenen Umschlag. Sollten Sie kleiner als -/- sein, brauchen Sie nicht zu erscheinen. Sollten Sie mehr als 4 Kinder im Alter von unter 18 Jahren haben, brauchen Sie ebenfalls nicht zu erscheinen (gilt für Männer). Sollten Sie mehr als 4 Kinder im Alter von unter 18 Jahren haben, brauchen Sie nicht zu erscheinen (gilt für Frauen). Sollten Sie ein Kind im Alter von weniger als 12 Monaten haben oder schwanger sein, brauchen Sie ebenfalls nicht zu erscheinen (gilt für Frauen). Sollten Sie des Lesens und Schreibens unkundig sein, brauchen Sie nicht zu erscheinen. ZWEIGSTELLE: Zweigstelle Istanbul, Abteilung für Bewerbungen um Arbeitsplätze im Ausland Bitte erscheinen Sie am 9. Juli 1973 um 8.30 Uhr Ort 1. Stock, Zimmer Nr. 8 anforderndes Land Deutschland Art der Arbeit Schreiner Anlage 1: Antwortvordruck Anlage 2: Vordruck „Auszug aus dem Personenstandsregister Anlage 2: zur Vorlage bei der Sozialversicherungsanstalt“ Übersetzung: Jutta Schmale-Özbey/Tekin Özbey Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 8a DOMiT ANMERKUNG: Dieser DER ARBEITER: Akten-Nr. Lfd. Nr. 121 Datum des Antrages Berufskennziffer Teil ist von der Zweigstelle auszufüllen. 474/73 10.6.69 7.71.50 ANTWORTVORDRUCK DOMiT-Archiv (Formblatt Nr. 49/A) ANSTALT FÜR ARBEITSVERMITTLUNG AN DEN LEITER DER ZWEIGSTELLE Ihre Einladung vom -/-, die Sie mir an meine Anschrift übersandt haben, habe ich erhalten. Aus dem nachstehend angekreuzten (bzw. angegebenen) Grund kann ich der Einladung nicht Folge leisten: I- HINDERUNGSGRÜNDE, DIE EINER ARBEITSAUFNAHME IM AUSLAND ENTGEGESTEHEN 1. Ich bin des Lesens und Schreibens unkundig. 2. Innerhalb der letzten 5 Jahre wurde ich wegen einer unehrenhaften und schweren Straftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. II - AN DIE ANFORDERUNG GEKNÜPFTE BEDINGUNGEN 1. Meine Körpergröße in cm beträgt ...... (ohne Schuhe). 2. Ich habe ..... Kinder im Alter von unter 18 Jahren. 3. Ich habe ein Kind im Alter von ..... Monaten. 4. Ich habe keinen Schulabschluss. III - BESONDERE WÜNSCHE 1. Ich möchte erst nach diesem Datum ins Ausland gehen: .......... 2. Ich möchte nur nach .......... gehen. 3. Ich möchte nicht nach .......... gehen. 4. Ich möchte die mir angebotene Arbeit nicht annehmen. ANMERKUNG: Bevor Sie den Antwortvordruck ausfüllen, lesen Sie bitte die Erläuterungen auf der Rückseite. Unterschrift Vor- und Familienname Anschrift Übersetzung: Jutta Schmale-Özbey/Tekin Özbey Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 8b DOMiT BITTE BRINGEN SIE FOLGENDE UNTERLAGEN MIT: 1 - Amtlichen Personalausweis mit aktuellem, beglaubigtem Lichtbild (mit lesbarem Dienstsiegel), in welchem die letzte Musterung bzw. Reservemeldung bei der Militärbehörde eingetragen ist, sowie eine Kopie davon 2 - Falls vorhanden, Zeugnis über Schulabschluss sowie Arbeitszeugnisse (Dienstzeugnisse) 3 - Führungszeugnis der Staatsanwaltschaft (Es ist nützlich, dies bereits vor Ihrem Erscheinen zu beschaffen.) 4 - 8 Passfotos im Format 4x6 (auf Photoplatte oder Film aufgenommen) 5 - Bringen Sie das in der Anlage übersandte Formblatt „Auszug aus dem Personenstandsregister“ vom zuständigen Personenstandsamt (bzw. Personenstandsbehörde) ausgefüllt und beglaubigt wieder mit. 6 - Gilt nur für Frauen: a) Notariell beglaubigte Bescheinigung, aus welcher hervorgeht, dass Ihr Ehemann seine Erlaubnis zu Ihrer Ausreise ins Ausland gibt. b) Im Falle, dass Ihr Ehemann seine Zustimmung zu Ihrer Ausreise versagt: Bescheinigung darüber, dass Ihnen durch Gerichtsbeschluss die Ausreise gestattet ist. c) Sofern Sie die vorstehenden Bescheinigungen nicht beibringen, ist es erforderlich, dass Sie zusammen mit Ihrem Ehemann hier erscheinen. WICHTIGE ERLÄUTERUNGEN 1 - Halten Sie bitte für Ihre Ausreise ins Ausland einen Anzug, ein Hemd und eine Krawatte in sauberem Zustand bereit. (Personen mit schmutziger oder schadhafter Kleidung können nicht geschickt werden.) 2 - Wenn bei der unter beruflichen Gesichtspunkten erfolgenden Vorauswahl, die in unserer Zweigstelle durchgeführt wird, festgestellt werden sollte, dass Sie den gestellten beruflichen Anforderungen nicht entsprechen, können Sie auf diese Anforderung hin nicht vermittelt werden. 3 - Wenn Sie bei dieser ersten Vorauswahl berücksichtigt wurden, erfolgt eine weitere berufliche Prüfung sowie eine ärztliche Untersuchung bei dem Kontaktbüro Ihres Ziellandes. Sollten Sie diese nicht bestehen, können Sie nicht vermittelt werden. 4 - Falls Sie die angeforderten Unterlagen unserem zuständigen Sachbearbeiter nicht vollständig übergeben, wird keine weitere Bearbeitung vorgenommen. 5 - Falls Sie wegen unehrenhafter und schwerer Straftaten in den letzen fünf Jahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, können Sie nicht vermittelt werden. 6 - Beachten Sie bitte: Auch wenn die Bearbeitung durch unsere Anstalt kostenlos ist, entstehen Ihnen bis zu Ihrer Ausreise ins Ausland Kosten für ärztliche Untersuchung, Reisepass und Visa. Bitte bedenken Sie: Diese Einladung bedeutet noch nicht, dass Sie mit Sicherheit ins Ausland vermittelt werden. Daher sollten Sie Ihre derzeitige Beschäftigung keinesfalls aufgeben, bevor Sie einen endgültigen Bescheid haben. 7 - Sollte von anderer Stelle ein Auszug aus dem Vorstrafenregister in Bezug auf Sie angefordert werden, können Sie dieses telegraphisch veranlassen, indem Sie die entsprechenden Gebühren bei der zuständigen Staatsanwaltschaft einzahlen. 8 - Um ins Ausland gehen zu können, wenden Sie sich bitte ausschließlich an unsere Anstalt. Nehmen Sie keinen anderen Vermittler in Anspruch und schlagen Sie im Vertrauen auf falsche Versprechungen keine illegalen Wege ein! WICHTIGE MITTEILUNG Bitte erscheinen Sie unbedingt am festgesetzten Tag zur festgesetzten Uhrzeit in unserer Zweigstelle, auch wenn Sie zu diesem Termin noch nicht alle angeforderten Unterlagen beibringen können. Diese können Sie auch nach der Teilnahme an der Vorauswahl noch nachreichen. Anderenfalls gilt dies als „auf Einladung nicht erschienen“, so dass Sie nicht berücksichtigt werden können und die Vorauswahl unter den pünktlich erschienen Personen erfolgt Übersetzung: Jutta Schmale-Özbey/Tekin Özbey Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 8c DOMiT Die Gesundheitsuntersuchung verletzte viele Gefühle „...splitterfasernackt ausgezogen, von unserem männlichen Glied, entschuldigen Sie bitte, bis zu unserem hinteren Anus, durch deutsche Ärzte untersucht. Die Regierung der Türkischen Republik hat uns an Europa wie das Vieh auf dem Viehmarkt verkauft. Wir wurden sehr detailliert untersucht, angefangen von unseren Zähnen in unseren Mündern bis zu Operationsstellen an unseren Körpern, von A bis Z. Und sie nahmen 25 Personen in ein Zimmer und alle 25 mussten sich zusammen splitterfasernackt ausziehen: Zum ersten Mal habe ich daran gedacht, wie die schwarzen Sklaven in Afrika verkauft wurden, so sind wir auch durch einen Sklavenmarkt geschleust worden.“ (Erol S., 1965 als Arbeiter nach Deutschland gekommen, war vorher in der Türkei Student an der Technischen Hochschule Istanbul) Sehtests in der Deutschen Verbindungsstelle Istanbul, 1973 Foto: Jean Mohr/DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 9a DOMiT „Als Kind war ich am Ohr operiert worden, das haben sie herausgefunden. Sie haben mich in eine Ecke genommen, und einige Zahlen geflüstert. Erst nach der Feststellung, dass mein Ohr hörte, war es für mich möglich, nach Deutschland zu kommen. Manche Freunde hatten Probleme mit Urin, Harnstoff, Zucker. Während dieser Untersuchung nahmen sich die, die ihre Probleme kannten, Urin von uns. „Um Gotteswillen lieber Erol, pinkele Du doch einmal hier rein, deins ist bestimmt sauber“ und so. Und wir machten das in der Schlange, wir halfen damit den Freunden. Zum Beispiel wenn ihnen Zähnen fehlten, dann machte ein Friseur oder so, Leute, die keine – Zahnärzte waren, aus dem Metall aus Flaschendeckeln Zähne damit es so aussieht, als hätte er Zähne in seinem Mund.“ (Erol S., 1965 als Arbeiter nach Deutschland gekommen, war vorher in der Türkei Student an der Technischen Hochschule Istanbul) „Und die Gesundheitskontrollen wurden gemacht, indem man seine Zähne, seinen Urin, sein Blut untersuchte, als kaufe man Vieh auf dem Viehmarkt. Im Anschluss an diese Kontrollen nahm man die gesündesten und jüngsten Menschen. Damit bezweckte man, dass die Menschen, die hierher kamen, den Krankenversicherungen und den sozialen Einrichtungen nicht zur Last fallen sollten.“ (Bekam B., kam 1963 als Botschaftsattaché nach Deutschland, arbeitete in der Türkei als Richter und beim Justizministerium) „Dort hat uns ein deutscher Arzt einen nach dem anderen splitternackt ausgezogen und untersucht...Zu je fünf holte man uns rein... Entschuldigen Sie bitte, man hat sogar unseren Hintern untersucht... - War es nicht schwer für Sie? Was haben Sie empfunden? - Wir waren jung, starkes Verlangen nach Deutschland, es war nicht mal eine Not, aber trotzdem waren diese Untersuchungen sehr schwer. Du verstehst ja nicht mal, was er [der Arzt] sagt... Unser Wunsch war, hier ein bisschen Geld zu machen und dann wieder wegzugehen. Und auch noch Europa zu bereisen und zu sehen...“ (Alaattin ‹., kam 1965 als Arbeiter nach Deutschland, in der Türkei war er Praktikant am Stadttheater in Adana, beim Militär Trommel-Major) „Dort die Hosen herunterlassen, entschuldigen Sie, bücken zu lassen und mit dem Finger bis in dein Gesäß, auch das habe ich erlebt. - Deutscher oder türkischer Arzt? - Deutscher Arzt, türkischer Arzt, und Dolmetscherin sind natürlich auch dabei. - Fiel es Ihnen nicht schwer? Ob es mir nicht schwer fiel? Was für eine Frage. Dort, als man uns sagte, zieht euch aus, als man mit dem Bücken anfing machte ich mich dran, meine Hose wieder hochzuziehen und es aufzugeben. Ein Mädchen kam und sagte, Bruder, da ist doch nichts dabei, auch in Deutschland werdet ihr so untersucht, sie wollen wissen, ob ihr gesund seid. Sie hat getröstet und somit blieb ich bis zum Schluss der Untersuchung.“ (Mehmet A., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland, war in der Türkei LKW-Fahrer bei der Feuerwehr) „Was mich störte, weiß ich noch genau, dass man uns alle zusammen reingenommen hat, das heißt, mich störte, dass man uns wie beim Militär behandelte.“ (Filiz Y., kam 1964 als Arbeiterin nach Berlin) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 9b DOMiT Durchgefallen Der Arzt blickte noch einmal tief hinein in den Mund, den seine Gummihandschuhe auseinander hielten. Feyzullah merkte plötzlich, wie alle Hoffnungen seines Herzen dahinschwanden. Er zitterte. Mit Augen und Ohren klebte er geradezu am Mund des Arztes. Der Arzt wandte sich zur Schwester um und sagte ihr etwas auf deutsch. Das Ergebnis lag nun der Schwester auf der Zunge. „Tritt einen Schritt vor“, sagte sie. Feyzullah begriff auf der Stelle, dass er den unfruchtbarsten Schritt seines Lebens tun würde. „Bitte sehr, Frau Schwester“, sagte er mit einer Stimme, in der Flehen mitschwang. Die Schwester hatte Feyzullahs Kommissionsbericht vom Tisch genommen. „Du kannst nicht fahren.“ Ihre Stimme klang so nett, als würde sie das Gegenteil sagen. Feyzullah begriff, dass für ihn kein Zug pfeifen würde. Die Mandolinen, die Fahrräder würden weiter im Schaufenster stehen, dachte er dann, seine Frau wieder mit dem ersten Autobus fahren müssen. Als ihm einfiel, dass er obendrein tagelang, ja vielleicht monatelang Arbeit suchen musste, wurde er bleich. „Aber warum denn?“ fragte er. „Mein Gutachten Medizinische Untersuchung in ist doch von meiner Regierung beglaubigt.“ der Deutschen Verbindungs- „Dir fehlen Zähne“, sagte die Schwester. „Du stelle Istanbul, 1973 musst sie dir alle machen lassen.“ Foto: Jean Mohr/DOMiT-Archiv „Aber Frau Schwester...“ Jetzt zeigte der Arzt auf die Tür. Und die Schwester drückte Feyzullah das Gutachten in die Hand. „Also los jetzt“, sagte sie, „sonst wird der Arzt noch wütend.“ Feyzullah stand immer noch da. „Geh doch bitte hinaus“, sagte einer der beiden anderen. „Verpatz es nicht auch uns!“ Die Schwester hielt ihm die Tür auf. Feyzullah ging aus dem kleinen Zimmer wie einer, den man verhaftet hatte und der nun das Untersuchungsgefängnis betreten musste. (Aus: Yıldız, Bekir, Drei Kameraden, Original: Yıldız, Bekir; Üç Yoldafl, aus: derselbe, Sahipsizler, ‹stanbul 1972, S. 43-59; Übersetzung: Carl Koß) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 10 DOMiT Formular zum Verzicht auf Regressansprüche Bearbeitet Akten-Nr.: 16/79 (Formblatt Nr. 23) Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung An die Abteilung für Auslandsdienste Tophane / ISTANBUL —————————— Bezüglich der Arbeit, für die ich angefordert wurde, sowie der Lebensbedingungen des Landes, in welches ich gehen werde, habe ich die erforderlichen Informationen erhalten. Für meine Entsendung werde ich jetzt zur Abteilung für Auslandsdienste in Istanbul geschickt. Dort soll zunächst eine Prüfung zur Feststellung meiner beruflichen Kenntnisse durchgeführt werden. Mir ist bekannt, dass ich abgewiesen werde, falls ich diese Prüfung nicht bestehe. Ferner ist mir bekannt, dass ich zu einer ärztlichen Untersuchung geschickt und abgewiesen werde, falls ich die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfülle. Ich werde mich entsprechend verhalten und für den Fall, dass ich den beruflichen oder gesundheitlichen Anforderungen nicht entsprechen sollte, keinerlei Ansprüche an die Anstalt stellen. Wenn mir nach Erledigung aller Formalitäten ein Termin zur Unterschrift des Arbeitsvertrages mitgeteilt wird, die ausländische Verbindungsstelle jedoch keinen Vertrag ausstellt, da die Anforderung plötzlich zurückgezogen wurde, werde ich ebenfalls keinerlei Ansprüche stellen, falls es zum mir mitgeteilten Termin nicht zu meiner Entsendung kommt. Dies erkläre ich hiermit verbindlich. Vor- und Familienname Berufskennziffer Lfd. Nr. Datum der Bewerbung : : : : ‹smail N. 7.71.50 121 10.6.1969 UNTERSCHRIFT gez. Unterschrift Anmerkung: Wird in zwei Ausfertigungen ausgestellt eine wird dem Arbeiter übergeben, die andere wird in der Personalakte des Arbeiters in der Abteilung aufbewahrt. (Übersetzung: Jutta Schmale-Özbey/Tekin Özbey) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 11 DOMiT Ergebnis der Vorstellung bei der Deutschen Verbindungsstelle „Beim Auswahlverfahren hat man Wert drauf gelegt, dass das Leute waren, die schon ein bisschen Metallberufe erlernt hatten. Bei BMW war es wichtig, dass der Kandidat nicht solche Hände hatte wie ich, sondern Schwielen – da war man dann sicher, dass der gearbeitet hat. Sie wissen ja, er durfte nicht Analphabet sein. Deutsche Verbindungsstelle: das Ergebnis, 1973 Foto: Jean Mohr/DOMiT-Archiv Die mussten dann eine Leseprobe machen; und selbst wenn die Zeitung verkehrt gehalten war, hat der türkische Dolmetscher gesagt, „tamam“, geht in Ordnung. Ich würde unterstellen, dass der halt vorher präpariert wurde, der Dolmetscher. Ich war zwei- dreimal eine ganze Woche in Istanbul zur Anwerbung. Das war dann immer ein eigener Sonderzug für BMW – wo so 600 bis 800 Leute ausgewählt wurden. Es war schon damals von meinem Eindruck her ein fürchterliches Verfahren. Die waren ja schon vom Heimatland vorausgewählt, kamen nach Istanbul; waren zum Teil auch schon ihr ganzes Geld los, bis sie überhaupt die ganze Prozedur überstanden haben und waren dann bitter enttäuscht, wenn sie nicht zum Zuge kamen. Das Auswahlverfahren fing früh um sechs an und hörte mittags auf.“ (Karl Heinz M., Personalbüro) (aus: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München, München 1999, S. 73) Von 1961 bis November 1973 bewarben sich insgesamt 2.659.512 Personen um einen Arbeitsplatz in Deutschland. Lediglich 648.029 von ihnen, das sind 24,34 %, wurden im gleichen Zeitraum tatsächlich vermittelt und nahmen eine Arbeit in der Bundesrepublik auf. Dass die Anzahl der Interessenten die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze bei weitem übertraf, gab den deutschen Arbeitgebern und der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul die Möglichkeit, bei der Auswahl äußerst wählerisch vorzugehen. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 12 Der Arbeitsvertrag DOMiT-Archiv DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 13a DOMiT-Archiv DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Wie geht man zum Arbeiten nach Deutschland? Arbeitsblatt 13b DOMiT Die Reise nach Deutschland Von Istanbul-Sirkeci nach München – die Namen dieser beiden Bahnhöfe haben sich den Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland gingen, so tief ins Gedächtnis eingegraben, dass sie sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen werden. Sirkeci, das bedeutete auch Abschied nehmen von der Heimat, München bedeutete Ankunft in einem bis dahin unbekannten Land (Arbeitsblätter 2, 3, 6 und 8). Von Istanbul-Sirkeci fuhren die angeworbenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer meistens in Sonderzügen nach Deutschland. Diese Reisen wurden von türkischer wie auch von deutscher Seite zunächst meist als „Transport“ oder Sammeltransport bezeichnet. Später verwendete man den Begriff „Sammelreisen“. Bis zum November 1971 führte die Reiseroute durch Griechenland (über Edirne-Pythia), danach direkt von der Türkei aus durch Bulgarien (über Edirne-Kapıkule). 1970 begann man mit Flügen, die speziell den Frauen die Strapaze der langen Reise ersparen sollten. In den Jahren 1972 und 1973 kam mehr als die Hälfte der Angeworbenen mit dem Flugzeug. Aus Kostengründen entschied das Bundesarbeitsamt sich dagegen, bereits früher und häufiger das Flugzeug zu benutzen: Die Bahnreise kostete durchschnittlich rd. 100,- DM, die Flugreise rd. 200,- DM pro Arbeitnehmer. Die von den Arbeitgebern an das Bundesarbeitsamt gezahlte Pauschale von 165,- DM, später 300,- DM pro Arbeitnehmer hatte die Kosten der Anwerbung und vor allem die Reisekosten zu decken. Insgesamt machten die Fluggäste deshalb von allen Angeworbenen der Jahre 1961 bis 1973 nur etwa ein Viertel aus. Die überwiegende Mehrheit trat die Reise nach Deutschland mit dem Zug an. Im Juli 1964 verfügte die Bundesanstalt, dass künftig zur besseren Auslastung der Sonderzüge die Frauen im selben Zug wie die Männer, aber in getrennten Waggons reisen sollten. Die Zugfahrt Die Zugfahrt von Istanbul nach München war sehr anstrengend, sie dauerte mehr als 50 Stunden (Arbeitsblatt 5). In den ersten Jahren wurde aus der Gruppe der Reiseteilnehmer selbst von diesen ein Reiseleiter bestimmt, der für seine Tätigkeit eine Entschädigung von 10,- DM erhielt. Diese an sich schon durch ihre Dauer strapaziöse Reise wurde noch dadurch erschwert, dass die Bundesbahn statt normaler Fernreisewaggons mit Abteilen einzusetzen, Nahverkehrswagen mit Mittelgang verwendete (Artbeitsblatt 4). Darin befanden sich pro Wagen über 50 Sitzplätze mit niedrigen Rückenlehnen, so dass die Reisenden während der zwei Tage und drei Nächte dauernden Fahrt durch Bulgarien, Jugoslawien, Österreich und Deutschland – insgesamt über 3.000 km lang – den Kopf nicht anlehnen konnten. Erst in den späten 60er Jahren änderte sich das und die Bundesbahn setzte fast nur die viel bequemeren Fernreisewaggons ein. Nachdem 1971 – zehn Jahre nach Beginn der Migration – die Condor Jumbo-Jet (B 747)-Flüge von Istanbul nach München und, in einigen Situationen, auch nach Düsseldorf und Frankfurt aufnahm, organisierte das Bundesarbeitsamt immer häufiger die Reise der Angeworbenen nach Deutschland mit dem Flugzeug. Die Flugreisen wurden hauptsächlich für Frauen eingerichtet. Nun setzte die Bundesbahn – ab November 1971 – auch Liegewagen und Speisewagen in den Sonderzügen ein. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandEinleitung 1 DOMiT Vor der Abfahrt des Zuges bekamen die Reisenden ein Verpflegungspaket, dessen Zusammensetzung mehrfach geändert wurde. Da Wurst und Fleisch verdarben, wurde auf Fleischkonserven umgestellt; aus Kostengründen wurden aber nur zwei Dosen ausgegeben. Seit Juli 1963 erhielt jeder Reisende eine eigene Zweieinhalb-Liter-Plastikflasche, die er selbst bei einem Zughalt mit Wasser nachfüllen musste. Vorher teilten sich je 12 Reisende einen Kanister. 1966 und dann wieder ab 1968 gab es warme Mahlzeiten im Speisewagen. Die erste von der Deutschen Verbindungsstelle organisierte Sammelreise türkischer Arbeitnehmer brachte vom 24. bis 27. September 1961 68 Arbeiter für die Ford-Werke in einem durchgehenden Sonderwagen von Istanbul nach Köln. Der von der Gruppe selbst bestimmte türkische Reiseleiter äußerte sich nach der Fahrt im Allgemeinen zufrieden, beklagte aber, dass die Reiseverpflegung nicht ausgereicht habe, da das Fleisch schon am zweiten Tag verdorben war. Die „Weiterleitungsstelle München“ Für die aus der Türkei angeworbenen Arbeitnehmer endete die Reise wie für die aus Italien, Griechenland und Jugoslawien Kommenden in München, Gleis 11. Dort im Hauptbahnhof wurden die völlig erschöpften Menschen von den Mitarbeitern der „Weiterleitungsstelle“, einer Außenstelle des Landesarbeitsamtes Südbayern, in Empfang genommen, mit einer Mahlzeit versorgt und später zu den Zügen gebracht, mit denen sie zu ihren Arbeitgebern in der gesamten Bundesrepublik weiterfuhren. Manche wurden bei der Ankunft auch ärztlich behandelt, denn nach 50- bis 55-stündigem Sitzen hatten viele Kreislaufprobleme oder andere Reisebeschwerden. München Hauptbahnhof, Gleis 11 - das war das erste, was diese Menschen sahen in dem von vielen von ihnen ersehnten Moment, in dem sie zum ersten Mal deutschen Boden betraten. Die „Weiterleitungsstelle München“ erhielt die notwendigen Angaben über die Reiseteilnehmer telegraphisch oder per Fernschreiber von den Deutschen Verbindungsstellen oder Kommissionen. Sie musste dann die Zugverbindungen, Fahrkarten und Platzreservierungen für die Weiterreise organisieren und die notwendigen Informationen für die Reisenden in der jeweiligen Sprache zusammenstellen. Sie informierte auch das zuständige Landesarbeitsamt, wenn der Arbeitnehmer in München eingetroffen war. Für die Verpflegung sorgte die „Weiterleitungsstelle“ dadurch, dass sie die bevorstehende Ankunft der ‘Gastarbeiter’ und ‘Gastarbeiterinnen’ in München dem Caritasverband angekündigte, der die Mahlzeiten ausgab. Je nach Aufenthaltsdauer erhielten die Reisenden bei der Ankunft eine kalte oder warme Mahlzeit sowie ein Verpflegungspaket für die Weiterreise (3 Brötchen mit Salami und Streichkäse, Kaffee, Bananen, Kekse und Schokolade, als warme Mahlzeit „serbisches Reisgericht“ mit Rindfleisch oder Ravioli). Bei der Ankunft der ersten Arbeitnehmer aus der Türkei 1961 war die Verpflegung wie üblich, aber die Wurst enthielt kein Schweinefleisch. Seit 1972 wurde für türkische und tunesische Arbeitnehmer Tee statt Kaffee ausgegeben. Türkische, tunesische und marokkanische Arbeitnehmer erhielten eine um 20 Pfennig teurere Verpflegung als italienische, jugoslawische und griechische; die warme Mahlzeit für alle enthielt nur noch Rindfleisch. Seit März 1973 bekamen die Ankommenden aus der Türkei Käse statt Wurst. Die Zahl der in München eintreffenden Sonderzüge nahm bei einem Anziehen der Konjunktur kurzfristig stark zu. 1969 nahm die „Weiterleitungsstelle“ rd. 227.000 ausländische Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Empfang, 1970 ca. 260.000, das waren „arbeitstäglich etwa 1000“. Am 27. November 1969 begrüßte die Weiterleitungsstelle München ihren millionsten Ankömmling seit 1957 (Arbeitsblatt 7). Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandEinleitung 2 DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandÜbersicht 1 DOMiT Reisedokument für die Fahrt nach Deutschland DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 1 DOMiT Erinnerung an die Heimat „Hier fängt die Geschichte in Deutschland an“ Erste Seite aus einem Familienalbum der Familie Musluo¤lu, die 1964 nach Deutschland kam Foto: DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 2 DOMiT Die Abfahrt nach Deutschland „Der Zug mit 1.500 Reisenden wurde von mehr als 3.000 Menschen verabschiedet. Bei jedem Ruck, den der Zug machte, erhob sich ein Heulen über Sirkeci. Wie ein letzter Aufschrei vor der Trennung... Bis Ende 1971 dauerte die Reise mit dem Zug bis München 50 – 55 Stunden. Bei den Menschen, die auf diese Reise ständig sitzen mussten, waren Kreislaufprobleme und geschwollene Füße festzustellen.“ (Tarık Ç., von 1963 – 1975 als Ortskraft bei der Deutschen Verbindungsstelle beschäftigt) Ali Osman ging 1970 nach Deutschland, um das Geld für einen solchen Traktor zu verdienen. Hier sieht man ihn mit seinem neuen Mantel kurz vor der Abfahrt. Bekannte sagten zu ihm: „In Deutschland musst du Dich warm anziehen!“ Foto: DOMiT-Archiv „Es war eine große Gruppe. Der Zug war ganz voll. Die Wagen für Frauen waren getrennt. Im Abteil entstand eine sehr nette Freundschaft. Die Reise ist gut verlaufen.“ (Saim Ç., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland zu BMW, später war er Maschinenschlosser in Hamburg; in der Türkei arbeitete er als Konstrukteur bei der staatlichen Stahlfabrik) „Wir, 1800 Personen, sind mit dem Zug gekommen... In Sirkeci sind wir eingestiegen. In den drei Wagen am Ende des Zuges waren Frauen. Es war verboten, dass Frauen und Männer zusammen waren. Wenn der Zug in Jugoslawien in die Kurve rein kam, sahen wir uns und schwenkten Handtücher einander zu. In Belgrad hat der Zug 5 – 6 Stunden gewartet. Wir waren 21 Leute, im gleichen Alter, aus dem gleichen Wohnviertel.“ (Alaattin ‹., kam 1965 als Arbeiter nach Deutschland, war in der Türkei Praktikant am Stadttheater Adana, beim Militär Trommel-Major) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 3a DOMiT „Man hat uns Tüten in die Hand gedrückt, zusammen mit einem Wasserkanister aus Plastik. So sind wir in Sirkeci in einen Zug, ähnlich einem Vorortzug eingestiegen.... Als wir ausstiegen; wie ein Haufen Lumpen, ... hat man uns in Doppelreihen aufstellen lassen. Einem Dolmetscher mit einem Megafon in der Hand mussten wir Folge leisten und so, nicht wahr: bleibt in Reihen zusammen und so, praktisch eine militärische Behandlung. Unter dem Bahnhof gab es unterirdische Gänge, man hat uns dorthin gebracht. In einem riesigen Topf war ein sehr dünner Tee. Mit einer Kelle haben sie Tee verteilt, jedem einen Sandwich in die Hand gedrückt mit französischem Käse. Der roch nach Ammoniak und obendrauf war eine Schicht Camembert. Noch heute kann ich diesen Käse nicht essen. Ich habe ihn weggelassen, habe nur das Brot gegessen...“ (Erol S., kam 1965 als Arbeiter nach Deutschland, war vorher in der Türkei Student an der Technischen Hochschule Istanbul) „Ich werde es nie vergessen, man hat uns auch Lebensmittel in einer Papiertüte in die Hand gegeben. Diese Lebensmittel sollten bis nach Deutschland ausreichen, wir haben es aber bereits in Kapıkule [Grenzstadt Türkei-Bulgarien] aufgegessen. Darin war ein Apfel, eine Birne und eine Hähnchenkeule, glaube ich. Wir hatten in unseren Koffern zusammen mit Bettdecken auch die Lebensmittel für ein Monat mitgenommen, wie Salami, Schinken. Es war ein harter Winter in jenem Jahr. Man hat uns bei der Kälte in Zagreb Hals über Kopf aus dem Zug rausgeschmissen, hetzend rannten wir zum anderen Zug und kriegten ihn gerade noch. Später führte man uns in München unter die Erde und wir wurden ausgewählt. Man hat uns dort Wurst gegeben. Einer sagte: das ist Schwein. Keiner hat sie gegessen, als Ganzes haben wir sie in die Mülleimer geworfen. Wir haben gegessen, was wir so bei uns hatten: Käse, Brot und so.“ (Metin T., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland zu Ford-Köln, war in der Türkei Absolvent einer technischen Hochschule) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 3b DOMiT Abschied am Bahnhof Istanbul-Sirkeci Istanbul 1973 Foto: Jean Mohr/DOMiT-Archiv 1964 Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Foto: DOMiT-Archiv Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 3c DOMiT Die Reisebedingungen waren schlecht „So sind wir in Sirkeci in einen Zug, ähnlich einem Vorortzug eingestiegen. Ohne Abteile, offen. Es war eine dreieinhalbtätige Reise – in dem Zug, entschuldigen Sie mich bitte, aber es gab nicht mal Wasser, um sich den Hintern zu waschen. Auch unrasiert waren wir. Sie haben uns in dreieinhalb Tagen nach München gebracht. Abwechselnd haben wir uns auf Zeitungspapier in den Gängen hingelegt, auf den Plätzen, die für Gegenstände vorgesehen waren. In einem Zustand aus Qual und Pein sind wir angekommen...“ (Erol S., kam 1965 als Arbeiter nach Deutschland, war vorher in der Türkei Student an der Technischen Hochschule Istanbul) In einem Schreiben an die Bundesbahn wies das Bundesarbeitsamt im Januar 1966 auf „erhebliche Mängel“ hin und bat um deren Abstellung: „Die Züge verfügen bei einer Reisedauer von über 50 Stunden über kein Wasser und teilweise auch über kein Licht. Besonders nachteilig wirkt es sich jedoch aus, wenn dazu über lange Strecken auch die Heizung ausfällt.“ „Die viel diskutierte Sauberkeit“ lasse „wegen ungenügender Versorgung mit Wasser wieder mehr zu wünschen übrig.“ Im August 1968 wurde ein Zug 47 Stunden lang nicht gereinigt, es waren kaum Toilettenpapier und Abfallkörbe vorhanden. Anfang 1969 „häuf[t]en sich die Klagen der Reiseleiter“ über Unsauberkeit, unzureichende Wasserversorgung und schlechte Beheizung, teilweise friere das Wasser in den Toiletten ein. Außerdem hänge die jugoslawische Eisenbahn aus Mangel an Wagen regelmäßig einige Waggons von den vorher bereits voll besetzten Zügen einfach ab. In einem Auf solchen Sitzen mussten die angeworSchreiben an die Bundesbahn stellte benen Frauen und Männer 50 – 55 Stunden die Bundesanstalt für Arbeit fest: „Der ausharren am ....10. Februar mit drei Stunden Foto: Jens Nober/DOMiT-Archiv Verspätung eingetroffene Sonderzug ... befand sich in einem menschenunwürdigen Zustand“. Die Wagen waren nur teilweise beheizt und zum Teil ohne Licht. Einige Türen waren zugefroren, in Jugoslawien hatte man zwei Wagen abgehängt, Wasser war „dieses Mal vorhanden“, aber eingefroren. (Aus: Schreiben des Bundesarbeitsamtes an die Deutsche Bundesbahn in den Jahren 1966 – 1969, zitiert aus: Fremde Heimat...., Mathilde Jamin, Essen 1998, S. 157) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 4 DOMiT Bericht einer Behörde über die Zugfahrt DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 5a DOMiT DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 5b DOMiT Die Ankunft in Deutschland „Pro Woche kam zwei mal ein Zug aus der Türkei. In jedem Zug waren gewöhnlich zwischen 1000 und 1100 Arbeiter. Wir führten sie in einen Saal ähnlich wie eine Kantine, der sich zwei Stock unter dem Münchener Bahnhof befand. Zuerst gab man ein Frühstück aus....Man gab ihnen Tee mit einer Kelle, nach Militärart. Es gab dort Beamte, die solche Arbeiten machten. Wie in der Kantine standen die Leute in der Schlange. Dort konnten sie ihren Tee, Kaffee, Marmelade, ihren Proviant bekommen. ...!!!... Zum Proviant gab es zu meiner Zeit ein halbes Hähnchen und ähnliches...“ (‹lkil A., kam 1961 als Arbeiter nach Deutschland, übernahm dann die Funktion als Dolmetscher) Der Dolmetscher verteilt die Ankommenden auf die Züge zur Weiterfahrt in andere Städte, 1965 Foto: DOMiT-Archiv „Ich studierte in München Wirtschaft. In den Jahren 1964 – 66 arbeitete ich als Dolmetscher für die türkischen Arbeiter, die zweimal in der Woche zwischen 5.45 und 6.15 Uhr auf Gleis 11 mit dem Zug aus Sirkeci eintrafen. Dies war immer ein sehr langer Zug, die Arbeiter stiegen mit ihren Koffern und Taschen und ihren Arbeitsverträgen aus. Ihre Hoffnungen waren noch größer als ihre Koffer. Ihre Bärte waren ein paar Tage alt, und sie standen dort furchtsam, müde und voller Erwartung. Die meisten waren sehr darauf bedacht, ihre Krawatten umzubinden, bevor sie ausstiegen. Die Frauen achteten sehr auf ihre Kleidung. Sie sahen immer so aus, als ob sie vor einem Spiegel stünden und es war nicht so, dass auffallend viele von ihnen Kopftücher getragen hätten. Was mich immer verwundert hat, war die Tatsache, dass sie nicht wussten, welche Arbeit sie tun würden. Alle fragten, wie viel Geld sie bekommen würden, in welcher Stadt und in welchem Betrieb sie arbeiten würden, wie hoch der Brutto- oder Nettolohn sein würde (offen gesagt, das wussten wir Dolmetscher auch nicht). Diejenigen, die als Hilfsarbeiter kamen, meinten, dies sei eine leichtere Arbeit, bei der sie eben den anderen helfen sollten.“ (Çelik K., kam Anfang der 60er Jahre als Student nach Deutschland, arbeitete u.a. als Dolmetscher) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 6a DOMiT „Die Leute, die morgens zwischen 7 und 8 Uhr kamen, wurden bis 12 Uhr für die weitere Fahrt in die Züge gebracht, die zu den verschiedenen Orten in Deutschland fuhren (...) Nachdem die Unterlagen überprüft waren, brachten wir manche in Gruppen, manche einzeln in andere Züge. Einen Zettel drückten wir ihnen in die Hand. Wir sagten: mit diesem Zug wirst du 3 Stunden fahren. 15.35h wirst du am Ort so und so aussteigen; dort wirst du eine halbe Stunde warten und in den Zug so und so einsteigen und mit dem 45 Minuten fahren und an der Station so und so aussteigen. Dort wirst du den Bus so und so nehmen und 5 Haltestellen später aussteigen und die Firma finden. Das zu verstehen war natürlich für diese Menschen ein Unding. Bei denen, die in Gruppen fuhren, ging es. Aber die, die allein zur Firma weiterfahren mussten, haben sich ausschließlich und total verfahren und verlaufen. Wenn wir auch noch an die schweren Koffern denken, wäre es auch eine Wunder gewesen, wenn sie sich nicht verfahren und verlaufen hätten...“ (‹lkil A., kam 1961 als Arbeiter nach Deutschland, übernahm dann die Funktion als Dolmetscher) „Es war am Abend. Eine europäische Stadt, beleuchtet, bunt. Wie ich schon sagte, man ist in dem Moment schwermütig.“ (Nurten M., kam 1969 als Arbeiterin für Siemens nach Deutschland, war in der Türkei Laborantin) Bei der Ankunft im Müchener Hauptbahnhof, Gleis 11 werden an die erschöpften Menschen Verpflegungstüten ausgeteilt, 1962 oder 1963 Foto:Selahattin Kaya/DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 6b DOMiT Ausländerfeindlichkeit: Gestern wie heute – die gleichen Argumente Bundesarchiv Koblenz/DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 7 DOMiT Ankunft von ‘Gastarbeitern’ aus der Türkei nach 50 Stunden strapaziöser Zugfahrt, München Hauptbahnhof, Gleis 11, 1963 Foto: Selahattin Kaya/DOMiT-Archiv Aras Ören Dreieinhalb Jahre wartete Fazıl Usta, bis die Reihe kam an ihn. Als in München der Zug in die Bahnhofshalle fuhr, da murmelte er „In Gottes Namen“, schnappte seine Koffer, und während die Griffe in seine Hände drangen, setzte er, wie der Glaube es will, den rechten Fuß zuerst, ein wenig nervös auf den Boden von Almanya. Der Lautsprecher rief sie zum Zug nach Essen. Sie stellten sich in eine Reihe, und der Herr Dolmetscher prüfte ihre Personalien. (Aus: Aras Ören, Der kurze Traum aus Ka¤ıthane (Auszug), Berlin: Rotbuch-Verlag 1974, S. 6 – 7. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Verlagsanstalt/RotbuchVerlag, Hamburg) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Die Reise nach DeutschlandArbeitsblatt 8 DOMiT Fremde Heimat, fremde Umgebung „Wir haben Arbeiter gerufen, es kamen Menschen.“ Dieser Satz ist sehr zutreffend, denn es macht deutlich, dass die in Deutschland lebende angestammte Bevölkerung viel zu wenig über die Lebensgewohnheiten der Menschen aus den Anwerbeländern gewusst hat. Umgekehrt kannten auch die Angeworbenen nicht die Lebensgewohnheiten in Deutschland und in Folge dessen mussten sie mit diversen Problemen kämpfen. Diese Menschen hat man vor der Abreise nicht ausreichend informiert und als sie dann in Deutschland waren, sind sie mit vielen Problemen allein gelassen worden. Sie waren mit großen Hoffnungen gekommen und wohl nur Wenige von ihnen hatten mit soviel Fremdheit gerechnet. Ein Dolmetscher, der die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in München empfangen hatte, sagte: „Ihre Hoffnungen waren größer als ihre Koffer“. Bei vielen sind diese Hoffnungen nur zum Teil erfüllt worden. Das größte Problem, womit die Menschen konfrontiert waren, war die Bewältigung des Alltags (Arbeitsblätter 1 und 2). Eine wesentliche Ursache dieses Problems lag darin, dass sie die deutsche Sprache nicht beherrschten. Viele trauten sich nur selten aus den Heimen heraus, sei es zum Einkaufen oder einfach um die neue Umgebung zu erkunden. In Gruppen haben sie sich sicherer und stärker gefühlt. Dieses Kernproblem zog auch andere Probleme mit sich: wie Einkaufen, Essen und das Verhältnis zu den Deutschen. Man kann vielleicht sagen, dass das Problem ‘Essen’ sie am Anfang am meisten belastet hat (Arbeitsblatt 4). Im islamischen Glauben ist der Verzehr von Schweinefleisch verboten. Um dies zu vermeiden haben sich die Arbeiter und Arbeiterinnen einseitig ernährt. Genau aus diesen Gründen vermieden sie auch das Kantinen- und Restaurantessen, aus Angst eventuell Schweinefleisch zu verzehren. Diese mangelhafte Ernährung führte später zu verschiedenen Krankheiten. Die Arbeiter hatten nicht nur das Problem, dass sie kein Fleisch kaufen konnten, sondern es gab in Deutschland viele landestypische Lebensmittelsorten nicht, die sie gewohnt waren, in ihrer Heimat zu essen. Auch südländisches Gemüse und Obst – viele Sorten wurden erst durch die ‘Gastarbeiter’ in Deutschland bekannt - konnte man damals in deutschen Läden nicht bekommen. Durch die Sprachprobleme fühlten sich Arbeiter in vielen Situationen völlig unbeholfen und in dem fremden Land überfordert (Arbeitsblatt 3). Die Dolmetscher, die zwischen dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Kontakt herstellen sollten, waren für die Arbeiter auch im Alltag unentbehrlich. Viele Arbeitsmigranten haben sich über die Sprache nicht viel Gedanken gemacht, da sie sowieso nicht vorhatten über einen langen Zeitraum in Deutschland zu bleiben. Die deutschen Behörden und Arbeitgeber haben sich auch nicht besondere Mühe gegeben den Arbeitnehmern spezielle Kurse anzubieten, da in den Köpfen der Begriff ‘Gastarbeiter’ verankert war und man wollte für die ‘Gäste’ nicht langatmige Vorkehrungen treffen. Ein Teil der Migranten hat die Sprachkurse für Arbeitnehmer besucht, wobei diese Kurse meistens auf die jeweiligen Tätigkeitsbereiche der Firmen und Fabriken beschränkt waren und nur sehr geringfügige Umgangssprachkenntnisse vermittelt haben. Überdies haben einige private Sprachkurse besucht, die sie auch selbst finanziert haben. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten 1 DOMiT Ein anderes Problem war die Nutzung der Toiletten (Arbeitsblätter 8 und 9). Sitztoiletten waren für einen Teil der Migranten aus der Türkei wie auch für andere südländische Migranten neu. Dass man für die Intimreinigung nur Toilettenpapier und kein Wasser benutzt, war auch nicht mit dem türkischen Hygieneverständnis zu vereinbaren. Die Deutschen ignorierten dieses Problem und verstanden nicht, dass es auch andere Vorstellungen von Hygiene gibt und das damit verbundene religiöse Verpflichtungen große Probleme dem Einzelnen bereiten können. Man hat lediglich durch Zeichnungen auf Flugblättern versucht, den Migranten die „richtige“ Methode einzuprägen. Das Verhältnis zur angestammten deutschen Bevölkerung entwickelte sich ebenfalls problematisch (Arbeitsblätter 10 – 14). Die meisten Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten haben oberflächliche Kontakte zu den Deutschen, am Arbeitsplatz gab und gibt es zwischen den beiden Parteien keine Probleme, aber privat sind sie oft lieber unter sich. Ein Teil der ersten Generation meint, diese Situation sei aufgrund der Sprachbarriere entstanden und seitdem hat sie sich nicht gebessert. Auch unterschiedliche Lebensgewohnheiten, Moralvorstellungen und religiöses Verständnis verstärken die Barrieren zwischen den beiden Gruppen. Die Deutschen fühlten sich den anderen gegenüber kulturell überlegen. Zwar gab es auch während der 60er und 70er Jahren Ausländerfeindlichkeit, aber in den 80er und 90er Jahren verstärkten sich fremdenfeindliche Zustände. Dadurch haben auch die ‘Gastarbeiter’ aus der Türkei mehr und mehr den Kontakt mit den Deutschen vermieden. Es kommt immer wieder zu Missverständnissen und Reibungen zwischen den beiden Gruppen, da beide die Sichtweisen der anderen nicht akzeptieren, ganz im Gegenteil als ‘falsch’ abstempeln. Einige der Migranten, meistens diejenigen, die aus ländlichen Verhältnissen stammten, kamen mit der neuen Lage, in der sie sich befanden und die dadurch entstandenen Veränderungen nicht zu recht (z. B. die Rolle der Frau in der Familie und in der Gesellschaft). Es gab auch viele Familien, die aus diesen Gründen auseinander gegangen sind. Viele haben versucht ihre Angst vor den Veränderungen durch Enthaltsamkeit und Passivität zu ertragen. Was wiederum dazu führte, dass die deutsche Gesellschaft immer weniger über die Schwierigkeiten der ausländischen Mitbürger mitbekommen, geschweige den sie nachfühlen konnte. Viele Deutsche haben heute noch klischeehafte Vorstellungen über die Türken und deren Heimatland. Viele Kinder und Kindeskinder der ‘Gastarbeiterinnen’ und ‘Gastarbeiter’ sind sehr selbstbewusst und fühlen sich in ihren Taten in Deutschland sicherer als ihre Eltern. Die Jugendlichen betrachten Deutschland als ihre Heimat und viele sprechen besser Deutsch als Türkisch. Der Wunsch, den religiösen Verpflichtungen nachkommen zu können (Arbeitsblätter 5 – 7), wurde von der deutschen Gesellschaft zwar ernstgenommen und fand auch seinen Niederschlag z.B. in den Arbeitsverträgen, in der Praxis jedoch wurden auch hierzu wenig oder gar keine Vorkehrungen getroffen. Die türkischen Arbeiter suchten sich selbst eine Ecke in ihrem Heim, wo sie ihre Gebete verrichten konnten, wofür die Heimverwalter in der Regel Verständnis aufbrachten. Vereinzelte positive Initiativen, wie die 1965 erteilte Erlaubnis, das Ramadangebet im Kölner Dom abhalten zu dürfen, blieben die Ausnahme. Mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden, bedurfte es gegenseitiger Information, aber auch Trost. Sofern man die Wochenenden nicht im Heim verbrachte, traf man sich in Gruppen auf den Bahnhöfen, nicht zuletzt wegen der Erinnerung an die Ankunft hier. Darüber hinaus waren das Orte, wo türkische Zeitungen zu kaufen waren, wo man Bekannte und Freunde traf, die in anderen Betrieben arbeiteten. Bei der Aufzählung der Probleme darf man aber auch nicht übersehen, dass Deutschland es nicht nur mit niedergeschlagenen, verängstigten Menschen zu tun hatte. Viele haben die aufgeführten Schwierigkeiten auch aktiv überwunden, versuchten das neue Land für sich zu entdecken. Die meisten anderen haben es mit der Zeit verstanden, sich zu arrangieren und ihr Leben so weit möglich, ihren Vorstellungen gemäß zu organisieren. Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten 2 DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten-Übersicht 1 DOMiT Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten-Übersicht 2 DOMiT Alles war unbekannt, fremd ... „Sie sind von den Dörfern gekommen; nicht mal Ankara haben diese Menschen gesehen, in das Flugzeug gestiegen und hierher gekommen. Die begangenen Fehler fangen eigentlich da an. Die Leute hätten einen Kurs besuchen müssen. Das alles haben wir hier jahrelang nicht berichtigen können.“ (Selahattin Y., kam 1961 als Arbeiter nach Deutschland, war in der Türkei bei der Turkish-Air-Lines tätig, gründete später in Deutschland eine eigene Fluglinie) „Im Laufe der Zeit haben diejenigen aus ländlicher Gegend sehr viele Strapazen durchmachen müssen. Einer hat mich einmal nach der Arbeit zu sich nach Hause eingeladen. Bruder, du bist bestimmt müde, wir haben einen Swimmingpool zu Hause, ich werde für dich ausgiebig Persil in den Swimmingpool rein tun, du kannst dich baden und entspannen, sagte er. Ein anständiger Junge aus Anatolien, er wusste den Unterschied zwischen Seife und Waschpulver nicht. Ich kriegte eine Gänsehaut. Und die Badewanne hielt er für einen Swimmingpool. Ich habe ihn darauf hingewiesen. Diese Menschen sind zu sehr unvorbereitet hierher gekommen und sind allein gelassen worden. Und am Arbeitsplatz hat man uns nur als eine Maschine gesehen. Wie auch der Schweizer sagte, der Spruch, wir erwarteten Arbeiter, es kamen Menschen, drückt es sehr gut aus.“ (‹hsan T., kam 1958 nach Deutschland, arbeitete als Presser bei Ford-Köln) „In jenen Zeiten war der Zustand des seelischen Befindens der türkischen Arbeiter sehr schlecht. Ich schließe mich dabei mit ein, keiner hatte das vorgefunden, was er sich erhofft hatte.... In den ersten Tagen versuchte ich sehr zurückzukehren. Aber gehen ist eine Schande und nicht zurechtzukommen und zurückkehren eine andere. Deshalb waren wir gezwungen, die Zähne zusammenzubeißen.“ (Metin T., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland, arbeitete bei Ford-Köln, war in der Türkei Absolvent einer türkischen Hochschule) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 1 DOMiT Unsicher in der neuen Umgebung „Zwei-drei Mal am Tag wurde es schwer. Das, was ich den Schmerz an der Nase nenne. Das erste Mal, dass es mir schwer wurde, passierte, als ich den Inhalt meines Koffers in den Schrank dieses Heims legte. Die Ratlosigkeit hielt eine Woche an. In der zweiten Woche hieß es, im Stadtzentrum sei eine Kirche. Alle würden dahingehen. Zusammen mit einigen Freunden ging auch ich dahin. Wir sahen uns zwar um, aber vorsichtig und ängstlich. Ganz so, als ob ... Eine Woche oder zwei konnten wir uns von der Kirche nicht entfernen. Es verging eine ziemlich lange Zeit. Erst als wir uns ganz sicher eingeprägt hatten, was alles in der Umgebung ist und sie soweit beschritten hatten, dass wir bei jedem Schritt die Spuren unserer Freunde finden konnten, fingen wir an, uns langsam zu öffnen. Doch diese Öffnung war keinesfalls beliebig. Den Bienen gleich, bewegten wir uns zwischen Wabe und Blume. Und wie sie, nahmen auch wir den gleichen Weg zurück, auf dem wir gekommen waren und zwar vor dem Sonnenuntergang. Der Tag kam, an dem unsere Schritte den Weg bis zur Rheinbrücke, die auf gleicher Höhe mit der berühmten Kirche liegt, bezwangen. Wir hatten uns geöffnet, das konnten wir jetzt. Wir verloren einander auch nicht mehr und wenn das doch einmal passierte, konnten wir uns, ohne Laternen oder sonstwas zu zählen, einfach erriechen. Lach nicht! Wenn die Fremde eine frische Träne ist, die das Auge noch nicht verlassen hat, wird man einen einsamen Augenblick finden und an seinem Koffer riechen. Dann streichelst du den Griff, den von dir Geliebte angefasst haben, wie ein Katzenjunges. Es ist zur Regel geworden: Wie treue Vögel, die die Farbe der Moscheen annehmen, sahen wir an Samstagen und Sonntagen, dass unsere Fremde mit kurzem Kalender aber sehr großer Entfernung unser Gesicht brennt. Wir suchten uns sogar eine abgelegene Ecke aus und weinten. Dieses Weinen, weißt du, das ist wahr. Bald zog es immer größere Kreise. Es kam die Zeit, dass wir uns auf der Brücke stundenlang an die Geländer lehnten und warteten. Worauf? Auf die Gemüsefrachter, die mit ihrer Flagge mit Halbmond und Stern am Mast vorbeiziehen und ihre Sirene mit brüchigem Ton heulen lassen. Wir schauten ihrem Ruderwasser hinterher. Wir schickten Hoffnungen, Gebete, Sehnsüchte los und weinten wie die alten Völker, die den Zorn ihrer Götter erregt hatten. Wenn wir die Nachrichten, die in jenen Tagen über die Brücke wanderten und alle richtig! waren und an die man glaubte oder nicht glaubte, nicht so töricht gewesen wären zu vergessen, wäre es heute nicht nötig, Seiten voll zu schreiben. Die Essenz, die Wahrheit unserer Geschichte war in jenen Nachrichten verborgen. Und vielleicht weil es so war, mussten sie verloren gehen. Sie waren schön, diese Nachrichten. Sogleich glaubten wir an sie. Hätten wir nicht geglaubt und die nächtlichen Träume, die sich unsere Landsleute untereinander erzählten, in einem unvorsichtigen Moment falsch gedeutet, wäre diese Fremde nicht auszuhalten gewesen. Denn von diesen Nachrichten, weißt du, enthielten sogar die schlechtesten ein wenig Hoffnung.“ (Auszug aus: ‹flsever, A. Naci, Und die meisten kamen mit dem Zug, Original: Ço¤u Trenle Geldi, aus: derselbe, Almancı Dedi¤in, Gelsenkirchen 1987, S. 172 – 173, Übersetzung: Recai Hallaç) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 2 DOMiT Ohne Sprache ist man so hilflos.... „Auf den Straßen suchte ich Türken und lauschte den Leuten, die sich unterhielten. Saim ärgerte sich deshalb über mich. Sehr wenig Türken waren hier.“ (Fatma Ç., kam 1962 als Ehefrau zu ihrem Mann nach Deutschland) „...beim Einkaufen, da man die Sprache nicht beherrscht, war man gezwungen, immer ‘ja, ja’ zu sagen. Dies kränkte mich sehr.“ (Metin T., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland, arbeitete bei Ford-Köln, war in der Türkei Absolvent einer türkischen Hochschule) „ Zum Beispiel, ein Mann hatte wohl einzig das Wort ‘ich möchte’ gelernt. Drei Jahre lang hat er hier nur mit diesem Wort gelebt. Angefangen vom Arbeitsplatz bis zum Einkaufsladen, mit dem Finger zeigte er und sagte: ich möchte. Auf dieser Art hat er hier drei Jahre gearbeitet und ist nach drei Jahren mit seinem ganzen Geld, das er zusammensparen konnte, zurückgegangen.“ (‹lkil A., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland, später Dolmetscher) „Ich sagte, der Mensch beweist sein Mensch-Sein nur durch seine Sprache und dement- Sprachunterricht in Velbert, 196oer Jahre sprechend wird er behandelt. Foto: DOMiT-Archiv Aus dem Grund war der erste Gedanke, den ich im Kopf hatte, dass ich die Sprache erlerne und denen beweise, dass ich ein Mensch bin und dass ich zumindest denen gleichwertig bin.“ (Erol S., 1965 als Arbeiter nach Deutschland gekommen, war vorher in der Türkei Student an der Technischen Hochschule Istanbul) „Außerdem waren wir natürlich durch den Akkord bei Telefunken immer sehr erschöpft, um eine bestimmte Anzahl zu erreichen. Erstens durchschauten wir das System nicht, wir machten viel zu viel fertig, um uns zeigen zu können, um zu gefallen. Da wir die Sprache nicht beherrschten, kamen wir uns doof vor. Stattdessen versuchten wir durch Anstrengungen mit körperlicher Energie, den Mangel wettzumachen.“ (Filiz Y., kam 1964 als Arbeiterin nach Deutschland, arbeitete bei Telefunken Berlin) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 3 DOMiT Unbekannte deutsche Lebensmittel, unbekannte aus der Türkei „Das Essen war ein anderes Problem. Die Leute konnten kein Fleisch kaufen, wegen dem Schweinefleisch. Alles, was wir aßen, waren Eier, Kartoffeln. Oliven, Käse, Sucuk (türkischer Knoblauchwurst), Pastırma (Rinderschinken), Bulgur (Weizengrütze). Es gab gar nichts, was wir essen konnten.“ (Metin T., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland, arbeitete bei Ford-Köln, war in der Türkei Absolvent einer türkischen Hochschule) „Auf uns allein gestellt, haben wir sehr viel Eier gegessen, es herrschte Angst vor dem Schweinefleisch. Wenn wir im Laden Marmelade und ähnliches sahen, haben wir das gekauft. Das, was wir aßen, war nichts, die Ernährung war sehr mangelhaft. Wenn wir das Bild eines Fisches sahen auf der Dose, kauften wir sie, und Honig, meistens Ei...“ (Alaattin ‹., kam 1965 als Arbeiter nach Deutschland, in der Trükei war er Praktikant beim Stadttheater Adana und beim Militär Trommel-Major) „Es gab kein Olivenöl in Deutschland, nur in der Apotheke, sie würden es als Medizin verwenden. Ich bin in die Apotheke gegangen und habe Olivenöl verlangt, welches Medikament ich machen werde, hat man mich gefragt, ich sagte: ich brauche es für meinen Salat.“ (Gündüz A., kam 1958 als Student nach Deutschland, arbeitete dann aber bei Dunlop als Arbeiter) „Ich habe aus der Türkei Essen bekommen, 10 Kilo, von meinem Vater, Schwager und Verwandten: Oliven, Käse, Helva, Sucuk (türkischer Knoblauchwurst), Sucuk war verdorben, habe ich weggeschmissen...Ich bin zu meiner deutschen Freundin gegangen, habe gesagt, dass ich morgen das Frühstück anrichten werde...Sie hat sich die Oliven angeguckt, sagte: was ist das, Oliven, wir haben beide Oliven gegessen und die Kerne aus dem Fenster geworfen. Unten im Garten waren 8 – 10 schwarze Olivenkerne. Am Montag bekomme ich einen Anruf, diese Dame, komm sofort nach Hause, ich arbeite was ist los, dann ist sie gekommen. Die Mieter unter uns hätten gedacht, dass wären Kot von Feldmäusen, im ganzen Garten hätte man Rattengift verteilt, überall Zettel angebracht, wegen den Tieren und den Kindern. Überall Alarmbereitschaft, Leute, die mit Jagdgewähren warten, sie warten auf die Mäuse. Sag bloß nicht, dass sie Olivenkerne sind, man hat schon so viel Geld ausgegeben, sonst musst du alles bezahlen, sagte sie. Die Kerne hätten sie mit Pinzetten und Handschuhen genommen und zur Untersuchung geschickt, aber sie hätten nicht rausgefunden was sie sind, nur, dass sie pflanzliche Kerne sind.“ (Gündüz A., kam 1958 als Student nach Deutschland, arbeitete dann aber bei Dunlop als Arbeiter) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 4a DOMiT Hier konnte man sicher einkaufen.... Berlin, 1970er Jahre Fotos: Gudrun Ebert Berlin, 1970er Jahre Frankfurt/Main, 1970er Jahre Foto: Gudrun Ebert Berlin, 1970er Jahre Foto: Gudrun Ebert Foto: Erika Sulzer-Kleinemeier Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 4b DOMiT Die eigene Religion nahmen sie mit Erstes Gebet von Moslems in der Berufsschule in Schweinfurt, 1963 Foto: DOMiT-Archiv Im Kölner Dom durften Moslems ihr Ramadangebet praktizieren, 1965 DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung FremdheitenArbeitsblatt 5a DOMiT Die eigene Religion im neuen Kulturkreis Fragen an die Anstalt für Religiöse Angelegenheiten In einer Broschüre beantwortet die Abteilung religiöse Fragen, die im Ausland lebende Migranten an sie gerichtet hatten, so unter anderen folgende: Sual: Hergün mutad iflimizden sonra birçoklarımız, umumi bir banyoda üryan (çıplak) vaziyette yıkanmaktayız. Bu davranıfl do¤ru mudur? Frage: Jeden Tag gehen viele von uns nach getaner Arbeit in ein öffentliches Bad, um sich dort nackt vor aller Augen zu waschen. Ist dieses Verhalten richtig? Sual: ‹fl yerinde namaz kılmak caiz midir? Frage: Darf man am Arbeitsplatz sein Gebet verrichten? Sual: Muhtelif Alman flehirlerinde pusula esasına göre kıble tayini nasıl olacaktır? Frage: Wie lässt sich in verschiedenen deutschen Städten der Standort Mekkas mit dem Kompass bestimmen? Sual: ‹flleri a¤ır ve mesaileri oruç tutmaya imkan vermeyen iflçilerimiz oruç tutmalı mıdırlar? 1966 Frage: Müssen türkische Arbeiter, die schwere körperliche Arbeit verrichten und deren Arbeitszeiten keine Möglichkeit zum Fasten lassen, trotzdem fasten? Sual: Gıda alamamak, oruç tutmamayı gerektirir mi? Frage: Ist jemand, der sich keine Nahrungsmittel leisten kann, vom Fasten befreit? DOMiT-Archiv Sual: Domuz eti zaruret halinde yenebilir mi? Frage: Darf man in einer Notlage Schweinefleisch essen? Sual: Su yerine likör veya bira içiliyor. Likör veya birada alkol var mıdır, içilmesi mahsurlu mudur? Frage: Anstelle von Wasser werden auch Likör und Bier getrunken. Enthalten Likör und Bier auch Alkohol? Ist ihr Genuss bedenklich? Sual: Zina yapmak mı, yoksa domuz eti yemek mi daha fazla günahtır? Frage: Welche Sünde wiegt schwerer, Ehebruch oder der Genuss von Schweinefleisch? Sual: Kilisede bayram namazı kılınabilir mi? Frage: Darf man in einer Kirche sein Feiertagsgebet verrichten? Sual: Gayr-i müslim bir kadınla zina caiz midir? Frage: Ist Ehebruch mit einer nicht-moslemischen Frau gestattet? Sual: ‹slam dininde kadın boflamak hofl görülür mü? Frage: Verzeiht der Islam die Verstoßung der Frau? Sual: Gayr-i müslim bir kadınla müslüman bir erke¤in, müslüman bir kadınla gayr-i müslim bir erke¤in evlenmesi caiz midir? Frage: Ist die Heirat einer Nicht-Muslimen mit einem Muslim bzw. die Heirat eines Nicht-Muslims mit einer Muslimen gestattet? Sual: Namahrem bir kadınla dans etmek caiz midir? Frage: Ist es gestattet, mit einer Frau zu tanzen, die nicht zur Familie gehört? (Aus: Veröffentlichungen der Anstalt für Religiöse Angelegenheiten: Die Antworten, zu den religiösen Fragen, die unsere Arbeiter im Ausland gestellt haben, Zusammengestellt von der hohen Kommission für religiöse Angelegenheiten; Ankara 1966; Übersetzung: Halil Balta) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 6 DOMiT Anfrage eines Arbeitgebers DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 7 DOMiT Unterschiedliche Hygienegewohnheiten „In der Toilette brauchen sie kein Wasser Ihren Hintern waschen sie nicht Vor Gott und den Menschen schämen sie sich nicht Pfui über diese Deutschen!“ Metin Türköz Westeuropäische Toilette Stehtoilette Foto: Jens Nober/DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 8 DOMiT [Abschrift] FREIE UND HANSESTADT HAMBURG GESUNDHEITSBEHÖRDE Öffentlicher Gesundheitsdienst 4 G. Z. 4/542-02.2 (Bei Beantwortung bitte angeben) Hamburg, Gesundheitsbehörde, 2 Hamburg 13, Teodorpfstraße 8 15.6.71 Fernsprecher 44195 278 (Durchwahl) Behördennetz 948 Herrn Dr. XXXXXX Ltd. Med.- Direktor 468 Wanne-Eickel Hauptstr. 94 Betr. : Toilettenhygiene ausländischer Arbeitnehmer Bezug: Ihr Schreiben vom 5.4.1971 Sehr geehrter Herr XXXXXX, in Beantwortung Ihres o.g. Schreibens wird Ihnen folgendes mitgeteilt: In mißverstandener Auslegung des Korans pflegen Moslems aus Entwicklungsgegenden noch heutzutage und auch bei Vorhandensein moderner hygienischer Toilettenmöglichkeiten in unserem Lande kein Papier zur Reinigung nach der Notdurft zu benutzen. Stattdessen verwenden Sie etwas Wasser, das auf die linke Hand gegeben wird, zur Reinigung des Afters und stellen sich dabei mit den Schuhen auf die Toilettenbrille, um die ihnen gewohnte Reinigungsart vorzunehmen. Dabei kommt es nach neueren Untersuchungen des Hygienischen Institutes in Hamburg zu einer bakteriologisch massiv nachweisbaren Verschmutzung der linken und dann sekundär auch der rechten Hand, sowie Lichtschaltern, Küchengegenständen usw. Im Hinblick auf die 1970 bis in die Türkei vorgedrungene Choleraepidemie hat sich die hiesige Gesundheitsbehörde entschlossen, den Lebensmittelbetrieben zu empfehlen, Moslems von der direkten Gefährdung von Lebensmitteln fernzuhalten, da es sich nach vorliegenden Mitteilungen bisher nicht als möglich bzw. praktikabel erwiesen hat, hier eine Umerziehung bei den Genannten vorzunehmen. Für die Moslems, die in anderen Bereichen arbeiten, sollte jedoch bereits eine Einfüh rung in unsere hygienischen Gebräuche durch geeignete Dolmetscher stattfinden, um insgesamt von den genannten Gebräuchen ausgehende Gefahren zu verringern. Daher hat die Gesundheitsbehörde Merkblätter und Toilettenaushänge drucken lassen, von denen Ihnen je 15 Exemplare mitgeschickt werden. Mit freundlicher Begrüssung (Prof. Dr. Führer) Anlagen DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 9a DOMiT [Abschrift] Merkblatt für Toilettenhygiene Hier sind Deine besten Freunde: – Papier, Wasser, Seife, Handtuch – Toilette und Waschbecken dienen der Reinhaltung. Sorgfältige Hygiene bedeutet Gesundheit für den eigenen Körper und Schutz vor ansteckender Krankheiten. 1. Das Becken der Toilette ist bei uns zum Darauf-Sitzen gemacht. Man setzt sich auf die „Brille“ – und stellt sich nicht in der Hocke darauf ! Wenn kein Papier vorhanden ist, klappen Männer, die nur Wasser lassen müssen, die „Brille“ hoch, damit sie zum „Daraufsitzen“ sauber bleibt. 2. Bevor man sich auf die „Brille“ setzt, kann man zum eigenen Schutz bei öffentlichen Toiletten den gesamten Rand der Brille mit sauberem Papier abdecken, bevor man sich darauf setzt. 3. Nach der Entleerung des Darmes putzt man den After sorgfältig mit mindestens zwei übereinandergelegten Toilette-Papierblättern solange, bis der After ganz sauber ist. Dazu gebraucht man die linke Hand und kann mit jeweils neuem Papier den Vorgang so oft wiederholen, wie es zur guten Sauberkeit nötig ist. Das gebrauchte Papier ist in das Toilettenbecken zu werfen, damit es fortgespült wird. 4. Jetzt spült man Wasser durch das Becken: d.h. Ziehen oder auf den Knopf des Spülbeckens drücken, damit die Wasserspülung einsetzt. 5. Sofort nach dem Verlassen der Toilette wäscht man sich beide Hände kräftig mit Seife und Wasser. Das fließende Wasser aus dem Hahn muß über die Hände laufen, dann reibt man das Stück Seife mehrmals zwischen den Händen, bis sich Schaum entwickelt. Jetzt reibt man die Hände mehrmals kräftig umeinander, dann spült man den Seifenschaum mit viel Wasser von den Händen herunter. 6. Mit einem Handtuch aus Papier reibt man die Hände wieder trocken. Das benutzte Papierhandtuch gehört in den Abfallkorb. (Es gibt z.B. Papierhandtuchautomaten). Ein Handtuch aus Stoff darf nur von derselben Person benutzt werden. Jeder nimmt sein eigenes Handtuch – niemals mehrere Personen dasselbe. Jeder braucht zwei Handtücher aus Stoff: eines für Gesicht, Hände und Oberkörper und eines für den Körper vom Bauchnabel abwärts. Wenn solche Handtücher benutzt werden, dann müssen sie häufig gekocht und gewaschen werden. 7. Wenn am Ausgang der Toilette eine Schale mit einem für die Desinfektion vorbereiteten Händedesinfektionsmittel steht, dann taucht man beide Hände kurz in die Flüssigkeit ein und lässt sie wegen nachhaltiger Wirkung am besten auf der Haut trocknen. Es gibt auch Desinfektionsmittelspender über dem Waschbecken, die durch Ellbogen- und Fußhebelbedienung konzentriertes Desinfektionsmittel in der Menge etwa eines halben Teelöffels auf die Hand geben. Durch Zusatz von etwas Wasser und Verreiben der Hände wie beim Waschen mit Seife wird ebenfalls eine gute Händedesinfektion gewährleistet. Sauberkeit ist eines der wichtigsten Gebote der Gesunderhaltung ! Wenn in den Aborträumen der Gemeinschafts-Wohnunterkunft oder der Arbeitstelle keine Seife, Papierhandtücher, funktionierenden Toiletten oder Waschbecken vorhanden sind, muß sofort eine Meldung beim Vertrauensmann gemacht werden. Derartige Missstände sind, wenn sie nicht abgestellt werden, den örtlichen Gesundheitsämtern bekanntzumachen. Sie sollen auch bei gleichzeitigen massenweise auftretenden Durchfällen und anderen ansteckenden Krankheiten informiert werden. Menschen, die nicht lesen können, müssen durch diejenigen in diesen Regeln unterrichtet werden, die das Lesen erlernt haben. DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 9b DOMiT Verhaltenshinweise zur richtigen Benutzung der Toilette Bitte denken Sie bei Benutzung der Toilette daran, daß eine lange Fahrstrecke vor Ihnen liegt und Sie, auch im Interesse der anderen Reiseteilnehmer, durch richtiges Verhalten zur Sauberhaltung der Toilette beitragen müssen. Nur wenn Sie die Toilette so benutzen, wie es auf der Skizze dargestellt ist, kann eine starke Verschmutzung und Verstopfung vermieden werden. DEUTSCHE VERBINDUNGSSTELLE [Abschrift] Ende der 1960er Jahre wurde diese Skizze im Zug und Flugzeug an die Toilettentüren geheftet. Bundesarchiv Koblenz/DOMiT-Archiv Ruhrgebiet, Anfang 1960er Jahre DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten 9c DOMiT Durch den Nachzug der Familie veränderte sich viel – v.a. für die Frauen Frage: Welche Probleme wurden an Sie herangetragen, als der Nachzug von Frauen und Kindern einsetzte? Fuat Bultan: Für die im Rahmen des Familiennachzugs später hierher gekommenen Ehefrauen, insbesondere für die Hausfrauen, die nicht arbeiten gingen, war das größte Problem die Anpassung. Es gab psychische Probleme infolge der Unsicherheit, die aus der Unkenntnis der Sprache, der ungewohnten Umgebung und dem Gefühl des Fremdseins resultierte. Dies führte zu einer starken Isolation der Frauen, denn ihre gesellschaftlichen Kontakte waren sehr eingeschränkt. Sie lebten in einem äußerst begrenzten Umfeld, in welchem nur türkisch gesprochen wurde, besuchten meist nur einige wenige andere Familien, und hatten keine Gelegenheit, Sprachkenntnisse zu erwerben. Die Kinder dagegen fanden sich schnell in der neuen Umgebung und der neuen Sprache zurecht. Das führte dazu, dass sie und ihre Mütter, die einen Kulturschock erlebten und sich nicht anpassen konnten, Schwierigkeiten hatten, einander zu verstehen. Die Probleme von Frauen in einer solchen Situation waren wirklich sehr schwerwiegend, und viele machten psychische Krisen durch. Ein weiteres Problem war es, dass das Gefühl, nur zu Hause zu sitzen und zu nichts nutze zu sein, sie bedrückte. Die Situation der arbeitenden Frauen dagegen stellte sich ganz anders dar. An dieser Stelle Köln, 1965 Foto: DOMiT-Archiv möchte ich daran erinnern, dass es auch viele Frauen gab, die in den 60er Jahren allein hierher gekommen waren. Da sie manuell sehr geschickt waren, waren sie insbesondere zur Beschäftigung in der Elektroindustrie herangezogen worden. Sie gehörten sozusagen zur Avantgarde der Arbeiter. Ihre Situation wich vom Normalfall ab: Sie waren es, die ihre Männer später nachholten. Ein Problem, das in diesen Jahren sehr verbreitet war, bestand darin, dass die in der Türkei gebliebenen Männer sich ihrer Frauen nicht sicher waren. Es kam zu Eifersuchtsszenen und es wurden Drohbriefe verschickt. Es wäre sicherlich falsch zu sagen, dass diese Zweifel völlig ungerechtfertigt gewesen wären, denn es war bei diesen Frauen ein neues Selbstbewusstsein festzustellen, das aus ihrem Leben in einer völlig unterschiedlichen Gesellschaft sowie aus der Unterstützung resultierte, die sie insbesondere durch ihre deutschen Arbeitskolleginnen erfuhren. Ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und das Fehlen sozialer Kontrolle in ihrem Umfeld führten zu einer Veränderung ihrer Lebensform, was damals eine Reihe von Scheidungen und Trennungen nach sich zog. Es kamen damals viele Frauen zu uns ins Büro und beklagten sich darüber, dass sie von ihren Ehemännern in der Türkei unter Druck gesetzt würden. Natürlich hatten die Ehemänner in der Türkei die Erwartung, dass ihre Frauen sie so schnell wie möglich nachholten. Damals war es Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 10a DOMiT noch möglich, dass jemand, der hier arbeitete und für seinen in der Heimat lebenden Ehepartner ebenfalls eine Stelle fand, diesen durch „namentliche Anforderung“ über die Bundesanstalt für Arbeit hierher holen konnte. Wenn es hierbei zu Verzögerungen kam, d.h. wenn unsere Frauen für ihre in der Türkei wartenden Männer keine Arbeit fanden, erhielten sie Briefe voller Beleidigungen. Die Männer waren erfüllt von dem Vorurteil, diese Verzögerungen seien beabsichtigt. Nachdem dann die Ehemänner hierher gekommen waren, kam es in den Familien oft zu schweren Zerrüttungen, denn diese Männer hatten ihre klassische dominierende Rolle innerhalb der Familie verloren. An die Stelle der vom Mann abhängigen Frau war eine Frau getreten, die sich wirtschaftliche Unabhängigkeit erarbeitet und ein neues Selbstbewusstsein entwickelt hatte. In dieser Situation versuchten viele Männer, sich durch Gewalt ihre frühere dominierende Rolle zurückzuerobern. Doch die Frauen, die so behandelt wurden, zogen es vor, ihre Männer zu verlassen und sich von ihnen zu trennen. Viele der Frauen, die in unser Büro kamen, beklagten sich über die Zerrüttung ihrer Ehe. „Ich sage zu ihm: Ich arbeite jetzt soundso viele Jahre, ich verdiene mein Geld Köln, 1960er Jahre Foto: DOMiT-Archiv genauso wie du, komm, wir wollen uns gemeinsam ein schönes Leben machen. Von Untreue oder so kann überhaupt keine Rede sein, aber er hört überhaupt nicht auf mich.“ Solche oder ähnliche Beschwerden bekamen wir häufig zu hören. Einige Tage später kamen dann die dazugehörigen Ehemänner ins Büro und beschwerten sich darüber, dass ihre Frauen ihnen nicht mehr gehorchten und aufsässig seien. Ich kann wohl sagen, dass diese Situation, die eine Bedrohung für die Familienzusammengehörigkeit darstellte, eines der wichtigsten Probleme jener Zeit war.(...) F.: (...) Gibt es Probleme in jungen Familien durch den Nachzug eines „Schwiegersohns oder einer Schwiegertochter aus der Heimat“, wenn beispielsweise ein hier aufgewachsenes junges Mädchen einen jungen Mann aus der Türkei heiratet? F. B.: Ja, bei ihnen beobachten wir dieselben Probleme, ganz genau wie damals. Natürlich kann man das nicht verallgemeinern. Letztendlich ist entscheidend, wen man heiratet, und nicht, wer wo aufgewachsen ist. Doch wenn sich die Ehepartner in der Türkei kennengelernt haben oder die Ehe durch die Vermittlung von Verwandten oder Bekannten zustande gekommen ist, tauchen vielfach Probleme auf, die daraus resultieren, dass der nachgezogene Ehepartner sich in der Gesellschaft hier nicht zurechtfindet, keine Arbeit finden kann, das Gefühl hat, zu nichts nutze zu sein und eifersüchtig ist, weil er sieht, dass seine Frau hier ein größeres Umfeld hat. Da der Ehemann nicht mehr automatisch das letzte Wort hat und nicht mehr unbedingt als Oberhaupt der Familie behandelt wird, gibt es Schwierigkeiten. (Aus: ...jetzt fürchten sie sich selbst vor den Folgen..., Interview mit Fuat Bultan, in: Fremde Heimat, S. 307) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 10b DOMiT Das Verhältnis zu den Deutschen wurde schwieriger „Als wir kamen, da waren die Italiener schlecht angesehen. Ältere Deutschen sagten, dass die Italiener den Hitler reingelegt haben, sich hinterhältig verhalten haben. Uns Türken behandelte man nett. In den ‘70er Jahren fing es an, anders zu werden. Man hat die Italiener vergessen, die Türken waren nun dran. Als ich z.B. bei der Montage arbeitete, hatte ich kein Auto. Ein deutscher Freund aus Münster holte mich in Dinslaken ab und wir fuhren zusammen zur Arbeit nach Bremen. Ohne irgend eine Gegenleistung zu erwarten, ohne irgendeinen Vorteil zu haben, tat er das. Solche Beziehungen sind mit der Zeit verschwunden.“ (Hüseyin A., kam Ende der 50er Jahre als 15-jähriger Berglehrling nach Deutschland) „Als wir hierher kamen, warteten auf uns zwei mit Blumen ausgeschmückte Busse.“ (Güntekin B., kam 1962 als Arbeiter nach Deutschland) Hanife Ç. mit einer deutschen Freundin. Dieses Bild schickte sie in den 60er Jahren in die Türkei zu ihren Verwandten: „Das ist meine deutsche Freundin, sie ist sehr nett. Mein Foto soll vor mir die Türkei sehen, euch sehr liebende. Hanife Ça¤lar.„ Foto: DOMIiT-Archiv „– Gab es nicht Probleme während des Kennenlernens in den Tanzlokalen? – Nein. Damals gab es eine Sympathie für die Türken. Auf die Italiener waren sie sehr wütend. Da die Anzahl der Türken sehr gering war, gab es eine Sympathie für uns. Unsere Gruppe bestand aus ordentlichen Menschen, die Fachabitur hatten. Wenn sie auch nicht tanzen konnten, lernten sie es schnell. – Gab es nicht Schlägereien wegen den Frauen? – Zu unserer Zeit gab es das nicht. Später, als der Anzahl der Männer anstieg, soll es das gegeben haben. Nur, damals waren viele Amerikaner in München. Unsere gingen zu deren Lokalen. Da hielten sich viele deutsche und türkische Mädchen auf. Wenn unsere sie belästigten, kam es zu Schlägereien mit den Amerikanern. Unter den Türken nicht.“ (Saim Ç., kam 1962 als Akkordarbeiter nach Deutschland, arbeitete erst bei BMW-München, dann als Maschinenschlosser in Hamburg, war in der Türkei als Konstrukteur bei einer staatlichen Stahlfabrik tätig) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 11 a DOMiT „– Wie ist das Leben der Türken in Deutschland seit über 35 Jahren verlaufen? – Erstens, die Türken sind natürlich älter geworden. Ein Mensch, der im Alter von 25 Jahren hierher kam, ist jetzt 55-60 Jähre alt. Ich glaube nicht, dass die Probleme der Menschen, die hierher kamen, im Vergleich vor 30-35 Jahren im Allgemeinen weniger geworden sind. Trotz aller geleisteten Hilfe sind sie mehr geworden, denke ich. Ein Mensch, der vor -30-35 Jahren hierher kam, war in einer besseren Lage und genoss einen besseres Ansehen. Er hatte auch nicht so viele Sorgen wie jetzt: Zum Beispiel, bei einer Versammlung stellte man diese Frage: Fuat Bey, wissen sie, was es heißt, in einem Haus zu schlafen, in dem keine einzige Deutsche wohnt, sondern nur Türken? Dies war nach den Ereignissen von Mölln und Solingen, und über diese Frage habe ich sehr viel nachgedacht. Unsere Menschen sind nicht mal um ihre Kinder sicher, die sie zu Schule schicken, und um einen ruhigen Schlaf in ihren Wohnungen. Das Ergebnis ist, dass unsere Menschen ein unbehaglicheres Leben als früher führen. Da sie auch weniger Chancen haben, in die Türkei zurückzukehren, müssen sie bis zum Schluss hier leben. Es mag sein, dass es ihnen in ökonomischer Hinsicht besser geht, das ist aber auch alles. In psychologischer Hinsicht, seelisch fühlen sie diesen Druck, sie empfinden ihn. Deshalb, glaube ich, werden auch ihre Probleme zunehmen...“ (Fuat B., kam 1959 nach Deutschland, absolvierte in der Türkei ein technisches und betriebswirtschaftliches Studium) Berlin, Ende 1970er Jahre Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Foto: Kemal Kurt/DOMiT-Archiv Fremdheiten Arbeitsblatt 11b DOMiT Auch Anpassung reicht nicht immer – obwohl es einen ganz schön verändert... „Junge Leute gingen meistens zu den Samstags- und Sonntags-Veranstaltungen in den Lokalen oder abends in die Discos, Big Apfel, Pien Club, Babalu und so. Wir hatten das Bedürfnis, dorthin zu gehen und Kontakt zu jungen Leuten herzustellen... Wir änderten unsere Kleidung und Frisur, damals gab es Beatles, lange Haare ist die Mode, Stiefel mit hohen Absätzen und so weiter, so gingen wir in die Discotheken, wobei wir sowohl Leute kennerlernten als auch unsere Sprachkenntnisse erweiterten.“ (Erol S., kam 1965 als Arbeiter nach Deutschland, war vorher in der Türkei Student an der Technischen Hochschule Istanbul) Ahmet Ayten Unser Deutschland (Bizim Almanya) Was hat uns Deutschland nicht alles beigebracht, unsere Sitten und Bräuche haben sich von Grund auf verändert, im Dampfbad hatten wir uns geschämt, nur einen Lendenschurz zu tragen, hier gewöhnten wir uns daran, mit Frauen in die Sauna zu gehen. Wir versteckten unsere Zigaretten, wenn Ältere kamen, jetzt paffen wir ungeniert vor den Leuten, trinken Bier und Schnaps und sagen Prost dabei. Beim Fasching machen wir allen möglichen Blödsinn, schlingen Bratwürste in uns hinein. Wir sind Deutschländer geworden, haben uns angepasst und Türkisch zu sprechen mit der Zeit vergessen. (Ayten, Ahmet; Bizim Almanya, aus: Almanya’da Yabancı Türkiye’de Almancı, Neu-Ulm 1995, S. 109; Übersetzung: Carl Koß) Murat Erike Da staunte der Deutsche Er sah mich Oliven essen und staunte Sah mich Börek essen und staunte Sah, daß ich kein Schweinefleisch esse, und staunte Ich gab ihm eine Zigarette, er staunte Er sah mich Wasser trinken und staunte Sah, wo ich rasiert bin, und staunte Sah meinen Schnurrbart und staunte Sah unseren Lokus und staunte Sah mein Ding und staunte Er staunte, ich staunte Sie staunten, wir staunten Wir staunten und scherzten miteinander (Aus: Murat Erike, fiafltı Alman, aus: Seslenifl, Berlin, o. J., S. 7, Übersetzung: Carl Koß) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 12 DOMiT Trotz aller Fremdheit sind sie heimisch geworden... Jetzt taucht eine völlig neue Kategorie von Türken auf. Die der Deutschland-Türken. Eine Masse von annähernd einer Million Menschen, so viel wie die Bevölkerung eines kleinen Landes... Mehr als die der meisten der afrikanischen Republiken... Kinder, die im Alter von acht vor zehn, fünfzehn Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland kamen, sind heute zu ausgewachsenen Mädchen im heiratsfähigen Alter, zu jungen Männern geworden, die das Wehrdienstalter schon hinter sich haben. Zu jungen Mädchen, die eigenartig sprechen. Zu jungen Männern, die eigenartig sprechen... Und erst recht die, die in Deutschland geboren und dort aufgewachsen sind, ihre Sprache ist zumeist nicht einmal mehr eigenartig. Ihre Gefühle und ihre Erziehung stehen unter der Spannung eines Gummiseils, an dem von beiden Seiten gezogen wird. Sie haben den Kopf voller Probleme... Probleme, die schwer Berlin 1987 Foto: Kemal Kurt,DOMiT-Archiv zu lösen sind... Ein schwieriges Gewerbe, sich beide Gesellschaften zugleich und in demselben Maße zu eigen machen zu müssen. Türkei? Deutschland? Sie sind aus Varto, aus Kırflehir, aus Van, aus Istanbul gekommen. Hinter ihnen liegen Tausende von Gründen, schillernd in allen Farben wie ein Pfauenschwanz. Das Hauptproblem ist zweifellos das wirtschaftliche. Aber ist es nur das?... Was gibt es nicht alles außer dem Sattwerden... „Gründe“, bei denen es mit dem Sattwerden noch lange nicht getan ist... Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 13a DOMiT Ein glücklicheres Leben, mehr Möglichkeiten, eine befriedigendere Innenwelt... Immer tragen sie etwas aus der Geschichte in die Zukunft hinein... „(.....) Die Kinder dagegen machen sich nicht viel aus dem, was passiert. Sie gehorchen nicht einmal...“ „Warum gehorchen sie nicht?“ „Das will ich erklären. Ich habe vier Kinder. Man könnte sagen, alle sind hier aufgewachsen. Es ist jetzt fünfzehn Jahre her, dass wir hergekommen sind. Ich bin sicher, dass sie nicht in die Türkei zurückgehen werden. Sie sagen es nicht offen, aber es ist klar, dass sie nicht zurückgehen werden... Auch wenn wir zurückkehren wollten, es wirklich wollten und sie auch noch überreden würden, wäre das inzwischen eine schwierige Sache... Dafür gibt es ökonomische Gründe. Und ebenso viele psychologische wie ökonomische Gründe. Es ist schwer, in der Türkei ein neues Leben aufzubauen... Es gibt politische Gründe. Nicht meinetwegen, wegen meiner Kinder schrecke ich davor zurück. Schließlich haben wir sehr gut gelernt, Schwarz Weiß und Weiß Schwarz zu nennen. Aber die Kinder sind anders... Es sind junge Menschen, sie sagen, was sie gerade denken. Sie lesen ganz neue Sachen... [...] Ja, die Kinder sind nicht zu bremsen. Hier sagt ihnen keiner was. Dort aber... Was ist nicht alles vorgekommen in den letzten Jahren!... Ich habe Angst, ich will nicht, dass ihnen etwas passiert. Welche Eltern wollen das schon. Ich kann doch nicht ihre Gehirne beaufsichtigen... Meine Tochter ist letzten Sommer, als die Zwischenfälle immer schlimmer wurden, in die Türkei gefahren. Als sie zurückkam, hat sie von Dingen erzählt, bei denen sogar ich Angst bekam.(...) Es ist nicht einfach... Im Grunde ist nichts einfach... Mit den Deutschen zurechtzukommen, ist auch nicht einfach... Im allgemeinen sagen sie nichts... Aber bei dem geringsten Streit ist das erste, was sie sagen: Dann geh doch in dein Land zurück. Das eigentliche Problem liegt im ‘Morgen’. Das Morgen ist ein Problem für uns. Meine Frau und ich, wir spinnen immer denselben Traum. Den Traum, unsere letzten Jahre in der Türkei zu verbringen. Unsere vier Kinder hier zurückzulassen und zu gehen... Aber habe ich denn so viel gewonnen, dass ich meine Kinder zurücklassen könnte, und was soll ich stattdessen mitnehmen?... Das ist eine gute Frage... Uns ist klar, ohne sie würde uns die Türkei nichts bringen als Einsamkeitsgefühle... Wir können sie nicht zwingen... Ich weiß, dass sie sich an die Verhältnisse in der Türkei nicht anpassen können. (.....) Was die Deutschen wollten, steht in krassem Gegensatz zum Wesen des modernen Menschen. Als die Deutschen aus dem Ausland „ausländische Arbeitskräfte“ anforderten, dürften sie nicht daran gedacht haben, dass es dabei um Menschen geht... Das heißt, die Arbeitskräfte sollten kommen, für sich allein existieren, die Straßen fegen, Häuser bauen, Maschinen bedienen, Beton aufbrechen, elektroschweißen, dabei aber völlig unsichtbar bleiben... Sie sollten nicht in Häusern leben, nicht in die Anlagen gehen, nichts essen, unbekannt bleiben, sich nicht lieben... Der berühmte Schriftsteller Max Frisch hat es einmal so ausgedrückt: „Deutschland wollte Arbeitskräfte, und es sind Menschen gekommen...“ (Auszüge aus: Üstün, Nevzat; Deutschlandherren; Original: Almanya Beyleri, Istanbul 1975, Übersetzung: Carl Koß) Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 13b DOMiT Mit Ironie oder Zynismus kann man auch vieles deutlich machen Wohnungssuchanzeige von Hüseyin A. in der Mittelhessischen Anzeigenzeitung vom 16. Juni 1996 DOMiT-Archiv Zur Geschichte der Arbeitsmigration-Materialsammlung Fremdheiten Arbeitsblatt 14