Pressestatement von KR`in Heike Baehrens
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Pressestatement von KR`in Heike Baehrens
Es muss ein Ruck durchs Land gehen für die ambulante Pflege Krankenkassen müssen ambulante Pflege ordentlich bezahlen Verhandlungen müssen einfacher und unbürokratischer werden Stuttgart, 22. November 2012: Die wirtschaftliche Situation der gemeinnützigen ambulanten Pflegedienste wie Sozial- oder Diakoniestationen wird immer angespannter. Seit Jahren werden die steigenden Kosten bei der Häuslichen Krankenpflege nicht mehr auskömmlich refinanziert. Zudem gestalten sich die Verhandlungen mit den Kassen immer schwieriger und aufwendiger. Angesichts der derzeitig guten Kassenlage der Krankenkasse ist es unverantwortlich, dass es auch nach langwierigen Verhandlungen nicht möglich war, eine Vergütungserhöhung zu erzielen, die den nachweislich vorhandenen tariflichen und sonstigen Kostensteigerungen entsprochen hätte. Um langfristig eine flächendeckende Versorgung von Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg gewährleisten zu können, müssen sich die Krankenkassen bewegen und von ihrer restriktiven Haltung Abstand nehmen. Die Ergebnisse der Überprüfungen durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen zeigen: Die Pflege in Baden-Württemberg ist von hoher Qualität. Die ambulanten Pflegedienste in Baden-Württemberg werden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen durchschnittlich mit der Note 1,3 bewertet, der Bereich Häusliche Krankenpflege sogar mit 1,2. Diese hohe Qualität ist nur Dank des hohen Engagements der Geschäftsführungen, Pflegedienstleitungen und Mitarbeitenden in Pflege und Hauswirtschaft zu erreichen. Dennoch muss um eine der guten Qualität entsprechende Vergütung ständig gerungen werden. So sind die Kosten in den letzten neun Jahren allein durch Tarifsteigerungen um 17 Prozentpunkte gewachsen. Nicht eingerechnet sind dabei die gestiegenen Sachkosten wie z.B. die Benzinpreise oder Kosten durch immer mehr gesetzliche Anforderungen zur Qualitätssicherung und Dokumentation. Dem steht im Bereich der Häuslichen Krankenpflege eine Erhöhung der Pflegevergütung um lediglich acht Prozentpunkte gegenüber. Das bedeutet: Über die Hälfte der Personalkostensteigerungen in den letzten neun Jahren wurden nicht refinanziert. Da ist es nicht überraschend, dass immer mehr ambulante Pflegedienste rote Zahlen schreiben. Bei Caritas und Diakonie in Baden-Württemberg sind es derzeit gut 60 Prozent aller Pflegedienste. Nur durch die Unterstützung von Krankenpflegevereinen, Kirchengemeinden oder vereinzelt durch Kommunen sowie durch Spenden konnten die Dienste die Versorgung der kranken- und pflegebedürftigen Menschen in unserem Land aufrechterhalten. Immer kritischer wird von diesen Partnern jedoch nachgefragt: Warum sollen wir für Defizite einstehen, die eigentlich von den Kranken- und Pflegekassen getragen werden müssten. Die Finanzierung der ambulanten Pflege ist schon vom Ansatz her sehr kompliziert: Die ambulanten Pflegedienste werden durch zwei Abrechnungskreise finanziert. Für die Grundpflege ist die die Pflegeversicherung (SGB XI) zuständig, für die Häusliche Krankenpflege die Krankenkassen (SGB V). Beide Leistungsbereiche haben unterschiedliche Regelungen und werden getrennt abgerechnet. Rund 41 Prozent der Umsätze der ambulanten Pflegedienste werden von den Krankenkassen, rund 46 Prozent aus Leistungen der Pflegekassen refinanziert – der Rest sind Umsätze aus sog. Selbstzahlerleistungen (z.B. Mahlzeitendienst). Im SGB XI ist glücklicherweise 2 gesetzlich vorgeschrieben, dass im Land „gemeinsam und einheitlich“ ein Rahmenvertrag zu schließen ist, in welchem die Rahmenbedingungen der Leistungsabrechnung miteinander zu vereinbaren sind. Demgegenüber gibt es im Bereich der Häuslichen Krankenpflege (SGB V) aufgrund des Wettbewerbs der Kassen untereinander inzwischen vier verschiedene Verträge. So musste mit vier verschiedenen Kassengruppe vereinbart werden, nach welchen Kriterien und mit welcher Vergütung die teilweise auch noch unterschiedlich definierten Leistungen erbracht und abgerechnet werden dürfen. Dies führt zu einem enormen Verwaltungsaufwand bei den Pflegediensten. Denn die ambulanten Dienste müssen sich – weil sie Versicherte aller Kassenarten pflegen – für die gleichen Pflegeleistungen jeweils an unterschiedlichen Regelungen und Vergütungsvereinbarungen orientieren. Und für die Preisverhandlungen, die auf Landesebene geführt werden, bedeutet es: Um neue Preise im Bereich der Häuslichen Krankenpflege zu erreichen, ist ein echter Verhandlungsmarathon zu führen. Die Liga-Verhandlungsgruppe muss also für die gleichen Sachverhalte Verhandlungen mit vier verschiedenen Krankenkassengruppen führen. Da es meist ein Ringen um viele Einzelbestandteile der Leistungen und der Vergütung ist, sind oftmals mehrere Verhandlungsrunden notwendig. Auch hier also ein enormer Verwaltungsaufwand und in der Konsequenz unterschiedliche Preise für gleiche Leistungen. Diese Verwaltungskosten werden nicht refinanziert. In Baden-Württemberg ist diese Unterschiedlichkeit besonders ausgeprägt. In den anderen Bundesländern wie Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt es diese Aufsplitterung nicht. Warum jedoch gelingt es nicht, bei den langwierigen Verhandlungen zu angemessenen Ergebnissen zu kommen, ja, warum entsteht der Eindruck, es seien Scheinverhandlungen? Die Krankenkassen berufen sich bei den Vergütungsverhandlungen regelmäßig auf den Grundsatz der Beitragssatzstabilität, der in § 71 SGB V verankert ist. Nach dieser Bestimmung dürfen Vergütungserhöhungen nicht zu einer Erhöhung der Krankenkassenbeiträge führen. Hier gilt die sogenannte jährliche Steigerung der Grundlohnsumme für die Krankenkassen als Obergrenze. Obwohl die Vertreter der Kassen regelmäßig Nachweise der kalkulierten Kostensteigerungen von den Pflegeanbietern fordern, sind sie nicht bereit, einer Vergütungserhöhung im nachgewiesenen Umfang zuzustimmen. Sie ziehen sich vielmehr auf den jeweils vom Bundesministerium für Gesundheit festgestellte Steigerung der beitragspflichtigen Einnahmen (also der Entwicklung der Löhne und Gehälter) und bezeichnen dies als maximalen Verhandlungsspielraum. Warum aber erhalten Ärzte regelmäßig Vergütungssteigerungen, die weit höher liegen? In diesem Jahr erhalten sie zwischen drei und vier Prozent mehr, während die ambulanten Pflegedienste lediglich 1,98 Prozent erhalten. Das zeigt deutlich: es wird mit unterschiedlichem Maß gemessen. Und es ist gewiss, dass die dringend notwendige Erhöhung im Bereich der Häuslichen Krankenpflege mit Sicherheit nicht den Grundsatz der Beitragssatzstabilität gefährdet. Denn die Ausgaben für die Häusliche Krankenpflege machen bei den Krankenkassen nicht einmal zwei Prozent ihrer Gesamtausgaben aus. Angesichts der hohen Überschüsse und Rücklagen in diesem Jahr bei den gesetzlichen Krankenkassen ist es ein Affront gegenüber den 3 engagierten Dienstleistern in der ambulanten Pflege, wenn zwar die gute Qualität gelobt, aber die angemessene Bezahlung fachlich guter Leistungen verwehrt wird. Die Dienste der freien Wohlfahrtspflege werden von diesen Restriktionen in besonderer Weise getroffen, weil sie in hohem Maße tarifgebunden arbeiten. In diesem Jahr stiegen beispielsweise die Gehälter für die Beschäftigten der Pflegedienste, die sich am TVöD orientieren – und dies gilt für fast alle Dienste der Liga der freien Wohlfahrtspflege – um 3,5 Prozent. Können die Preise wie in diesem Jahr geschehen nur um 1,98 Prozent erhöht werden – und bei einzelnen Kassen nicht einmal für alle Leistungen(!) – dann bedeutet es für die Dienste ein Defizit, das sie nie mehr aufholen können. Denn ein Ausgleich ist den Diensten, deren Personalkostenanteil bei etwa 90 Prozent liegt, nicht über andere Leistungsbereiche möglich. Nachdem diese Vorgehensweise von den Kassen seit Jahren praktiziert wird, ist ein Einlenken dringend nötig, um den Fortbestand der flächendeckenden Versorgung im Land zu gewährleisten. Neben der strukturellen Unterfinanzierung gibt es weitere Probleme im Umgang der Krankenkassen mit den ambulanten Pflegediensten, die ich nur noch kurz streifen möchte. Bei der häuslichen Krankenpflege können die Dienste nur solche Leistungen erbringen, die die Ärzte verordnen, wie Wundversorgung, Medikamentengabe etc. Die Zusammenarbeit mit den Ärzten ist hier im Regelfall sehr gut. Problematisch ist jedoch, dass Kassen oft ärztlich verordnete Leistungen ablehnen oder Verordnungen verändern. Denn im Gegensatz zu anderen ärztlichen Verschreibungen gibt es hier den Genehmigungsvorbehalt durch die Kassen. Beispiele sind: Trotz vorliegender ärztlicher Verordnungen werden von den Krankenkassen bei den Pflegediensten zusätzliche Dokumente (Wundprotokoll, Medikamentenplan etc.) angefordert, bevor über eine Leistung entschieden wird. Krankenkassen kürzen Dauer und Häufigkeit von ärztlich verordneten Leistungen, wodurch die Erreichung des Therapieziels in Frage gestellt ist. All dies führt zu einem erhöhten Abstimmungsaufwand für den Pflegedienst mit Arzt, Versichertem und Krankenkasse. Da die Pflegebedürftigen und ihre Angehörige oft überfordert sind, sind es vor allem die Pflegedienste, die sich dann für die Pflegebedürftigen engagieren, ohne dass diese Leistung bezahlt wird. Unsere Erfahrung zeigen, dass Krankenversicherungen immer häufiger vor allem die Kosteneinsparung und nicht die Interesse ihrer Versicherten im Blick haben. All dies, was bisher aufgeführt wurde, gilt nicht nur für die Häusliche Krankenpflege, sondern auch für die Haushaltshilfe, die sogenannte Familienpflege. Oft werden Einsätze gar nicht und wenn doch, dann mit viel zu geringem Zeitkontingent genehmigt. Wenn kein Netzwerk wie Großeltern, Nachbarn etc. zur Verfügung steht, bringt das viele Familien, bei denen die haushaltsführende Person krankheitsbedingt ausfällt, in große Schwierigkeiten bringen. Das Defizit ist dort noch weit höher als bei der Häuslichen Krankenpflege weil die Erstattung mit 26,50 Euro pro Stunde die Kosten bei weitem nicht deckt. Den gesetzlichen Weg der Konfliktklärung über eine Schiedsperson gibt es dort nicht. Man hat also keinerlei Druckmittel, um Verbesserungen zu erreichen. Viele ambulante Pflegedienste haben deshalb diese Leistung schon eingestellt. Die Situation der ambulanten Pflegedienste ist also schwierig - die genannten Punkte werden aus unserer Sicht zu einer Destabilisierung der ambulanten Versor- 4 gungsstruktur im Land führen. Wurde die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren teilweise durch verbesserte Arbeitsabläufe und weitere Maßnahmen zur Effizienzsteigerung aber auch durch Einsatz von eigenen finanziellen Mitteln noch aufgefangen, ist nun eine Grenze erreicht. Den Mitarbeitenden in den Pflegediensten ist ein weiterer Druck nicht mehr zuzumuten zumal eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen immer mehr die Attraktivität des Berufs schmälert. Die Dienste können die Defizite nicht länger tragen. Darum muss ein Ruck durchs Land gehen für die ambulante Pflege, um die flächendeckende Versorgung pflegebedürftiger Menschen sichern. Darum fordern wir: Der politisch gewollte Grundsatz „ambulant vor stationär“ muss sich auch in der Finanzierung widerspiegeln. Tarifbedingte Kostensteigerungen der ambulanten Pflegedienste müssen voll refinanziert werden. In der nächsten Verhandlungsrunde braucht es eine deutliche Preiserhöhung um die strukturelle Unterfinanzierung der ambulanten Pflege zu vermindern. Die Zusammenarbeit und die Verhandlungen zwischen den Krankenkassen und den Pflegediensten sowie deren Verbänden sollten zukünftig wieder mehr vom Vertrauen statt vom Misstrauen geprägt sein. Beide Seiten stehen gleichermaßen in der Verantwortung gegenüber kranken und pflegebedürftigen Menschen. Durch gemeinsame Anstrengung kann eine gute Versorgung gewährleistet werden. Im Interesse der Patienten sind ärztliche Verordnungen von den Krankenkassen anzuerkennen und dürfen nicht durch lange Überprüfungsschleifen herausgezögert werden. Der Wettbewerb zwischen den Kassen darf nicht zu Lasten der kleinsten Anbieter im Pflegemarkt ausgetragen werden. Wir fordern die gesetzlichen Krankenkassen auf, die Verhandlungen über die Leistungsinhalte der häuslichen Pflege wieder gemeinsam zu führen und gemeinsam mit den Leistungserbringern einheitliche Kriterien für die Qualifikation der einzusetzenden Mitarbeitenden, für eine bessere Vergütung und einheitliche Abrechnungsregelungen im Land zu erarbeiten. Der derzeitige bürokratische Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Landesregierung und Bundespolitik sollten politisch darauf hinwirken, dass auch im SGB V Regelungen verankert werden, die gewährleisten, dass tarifbedingte Personalkostensteigerungen refinanziert und nicht durch das Prinzip der Beitragssatzstabilität ausgehebelt werden. Kirchenrätin Heike Baehrens Mitglied im Vorstand der Liga der freien Wohlfahrtspflege Baden-Württemberg Stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg