Robertson Reaktionen kleiner Kinder auf kurzfristige
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Robertson Reaktionen kleiner Kinder auf kurzfristige
Reaktionen kleiner Kinder auf kurzfristige Trennung von der Mutter im Lichte neuer Beobachtungen1 James und Joyce Robertson, London Übersicht : Die Autoren berichten ausführlich über die Ergebnisse ihrer systematischen Beobachtung des Verhaltens kleiner, von ihren Müttern (wegen der Geburt eines zweiten Kindes) getrennter Kinder. Frühere Beobachtungsergebnisse von Robertson gaben die Basis für J. Bowlbys allgemeine Theorie des Trennungsverhaltens ab. Die jetzigen Beobachtungen waren darauf gerichtet, die das Trennungsverhalten auslösenden Faktoren zu differenzieren. Indem anstelle der Heimunterbringung die Kinder in geeignete Pflegefamilien gegeben wurden, zeigte es sich, daß das Pflegeheim-Milieu sehr viel eher als die bloße befristete Trennung von der Mutter das Trennungsverhalten determiniert. Jede Trennung im frühen Lebensalter birgt freilich Risiken, für deren Bewältigung die jeweils erreichte Stufe der Ichentwicklung und Objektkonstanz von größter Bedeutung sind. In den letzten fünfundzwanzig Jahren wurde viel über die Auswirkungen einer Trennung von der Mutter in früher Kindheit veröffentlicht, meist in Form retrospektiver Falldarstellungen. Die wenigen Untersuchungen, die auf direkter Beobachtung basierten, wurden hauptsächlich in Krankenhäusern oder anderen Institutionen durchgeführt ... Sie führten zu einem Konsens darüber, daß kleine Kinder, die der Heimfürsorge anheimgegeben sind, gewöhnlich mit tiefer Verzweiflung reagieren, der ein langsamer und schmerzhafter Prozeß der Anpassung folgt. James Robertson (...) beschrieb die Phasen von Protest, Verzweiflung und Verleugnung, später "Abwendung" genannt. Diese auf Heimbedingungen bezogenen Untersuchungen haben sich in vieler Beziehung als wertvoll erwiesen, aber sie unterliegen doch der Einschränkung, daß es auch anhand der von ihnen gelieferten Angaben nicht möglich ist, die Reaktion auf die Trennung von der Mutter zuverlässig vom Einfluß widriger Begleitumstände, z.B. Krankheit, Schmerzen, Gebundenheit an das Bett, wechselnde Pflegepersonen und Verwirrung infolge des Wechsels vom Elternhaus in eine fremde Umgebung, zu unterscheiden. Die Autoren machen zwar regelmäßig auf den Einfluß der Begleitumstände aufmerksam, ohne jedoch imstande zu sein, deren relative Bedeutung zu bestimmen. Mangels Differenzierungsmöglichkeiten bleibt die Literatur über frühe Trennung deshalb wesentlich Literatur über ein Sortiment von Faktoren mit unbekanntem Gewicht, unter denen der Verlust der Mutter nur einer ist. Bowlby (...) hingegen, der vor allem die von James Robertson gesammelten Fakten zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nahm, kommt zu allgemeinen Feststellungen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen : 1 Auszug aus einer Veröffentlichung, erschienen in psyche, 1975, Heft 7, S. 626 – 664. Die hier wiedergegebenen Teile beziehen sich vorrangig auf die Kinder Jane und John. Die zugrundeliegenden Filme wurden im Rahmen der Fachtagung gezeigt. 33 a) Akuter Kummer ist eine übliche Reaktion kleiner Kinder (im Alter von 6 Monaten bis zu 3 – 4 Jahren) auf die Trennung von der Mutter, unabhängig von den Umständen und der Qualität der Ersatzpflege, woraus folgt, daß es keine unterschiedlichen Reaktionen dieser Kinder auf verschiedenen Entwicklungsstufen gibt. b) Der zu beobachtende Kummer ist inhaltlich und in seiner Ausprägung mit der Trauer von Erwachsenen, die einen schmerzlichen Verlust erlitten haben, identisch. Zweck und besondere Problemstellung der Untersuchung Bei dem Versuch, die Trennung als solche besser zu verstehen, suchten wir eine Trennungssituation herzustellen, in der viele der Faktoren, die Untersuchungen in Institutionen komplizieren, ausgeschaltet waren, und die emotionalen Bedürfnisse so weit wie möglich durch einen uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Mutterersatz befriedigt wurden. Das sollte uns auch Gelegenheit geben, den Einfluß solcher Variablen wie Niveau der Ich-Reife und Objektkonstanz, frühere Eltern-Kind-Beziehung, Dauer der Trennung zu beobachten. A. Familienpflege. Dieser Ansatz implizierte u.a., daß wir selber die gesamte Fürsorge für die Kinder übernehmen mußten, um so eine einheitliche Handhabung und umfassende Beobachtung zu gewährleisten. Wir waren daher Pflegeeltern und Beobachter zugleich, und während des Aufenthalts des Kindes wurde das gewöhnliche Familienleben weitergeführt. Ein vorangegangener Pflegeversuch lieferte die Grundlage für eine realistische Einschätzung des Aufwands an Zeit und Mühe, der für die gesamte Fürsorge, Beobachtung und regelmäßige Notizen notwendig sein würde. Es ergab sich, daß nicht mehr als vier Kinder nacheinander einbezogen werden konnten. Entsprechend den Untersuchungen, die zu diesem Problem bis dahin veröffentlicht worden waren, nahmen wir an, daß eine Trennung von zehn Tagen ausreichen würde, um Protest und Verzweiflung in Erscheinung treten zu lassen, die Phase der Abwendung hingegen – wenn überhaupt – nur in ihrem Anfangsstadium. B. Heimpflege. In einer Kontrastuntersuchung, die umfassende realistische Beobachtungen von Reaktionen auf Heimpflege erbringen sollte, wurde ein Kind, dessen Status sich mit dem der Pflegekinder vergleichen ließ, während eines neuntägigen Aufenthalts in einem Heim beobachtet. Auswahl der Kinder Als geeignete Testpersonen wurde erste und einzige Kinder ausgewählt, die a) eineinhalb bis zweieinhalb Jahre alt waren (die Altersstufe, auf die sich ein großer Teil der Trennungs-Literatur bezieht); die b) mit beiden Eltern zusammenlebten; die c) nicht vorher von der Mutter getrennt gewesen waren, außer gelegentlich für ein paar Stunden und in der Obhut einer vertrauten Person; deren Mütter d) für ungefähr zehn Tage in ein Krankenhaus gingen, um ein zweites Kind zu gebären. (Da es immer einen Grund für eine Trennung geben muß, erschien es am besten, daß er in allen Fällen gleich sein sollte – die Mutter geht, um ein 34 zweites Kind zu bekommen, in ein Krankenhaus, wo sie zehn Tage bleiben muß und der Besuch von Kindern nicht erlaubt ist. Natürlich entlassen viele Krankenhäuser die Mutter nach viel kürzerer Zeit). Die Pflegekinder wurden mit Hilfe der Wöchnerinnenstationen und Kinderfürsorgeämter gefunden : es waren die ersten vier, die den Kriterien entsprachen. Tatsächlich blieben zwei der Kinder länger als die vorgesehenen zehn tage, nämlich 19 bzw. 27 Tage, da sich bei ihren Müttern während der Geburt Komplikationen ergeben hatten. Charakteristik der beiden Formen von Ersatzpflege A. Familienpflege. Ungefähr einen Monat vor der Trennung wurde das Kind mit dem Pflegezuhause und der Pflegefamilie vertraut gemacht, so daß es in eine Umgebung überwechselte, die es bereits kannte. Dies geschah durch eine Reihe gegenseitiger Besuche der beiden Familien. Unsere Familie bestand aus den Pflegeeltern, einer fünfzehnjährigen Tochter, die noch zur Schule ging, und einer zwanzigjährigen Tochter, die gelegentlich von der Universität nach Hause kam. Die künftige Pflegemutter besprach mit den Eltern die Eigenheiten des Kindes, Reinlichkeitsgewohnheiten, Eßlaunen, Schlafmuster, Trostmittel, und erhielt durch Beobachtungen und Diskussionen eine Vorstellung von der Art und Weise, wie die Eltern das Kind behandelten – so daß viele Kennzeichen des Elternhauses in den Trennungsrahmen eingebracht werden konnten und durch ihre Vertrautheit zur Sicherheit des Kindes beitrugen. Das Kind brachte in die Pflegefamilie sein eigenes Bett, Spielsachen und Stofftiere und eine Photographie seiner Mutter mit. Die Pflegemutter bemühte sich, die Vorstellung von der Mutter lebendig zu halten, indem sie von ihr sprach und ihr Bild zeigte. Den Vätern war es freigestellt, so oft sie wollten zu Besuch zu kommen. Gewöhnlich kamen sie am frühen Abend nach der Arbeit, manchmal nahmen sie zusammen mit ihrem Kind eine Mahlzeit ein. Die Pflegemutter war dabei, wenn das Kind am Ende der Trennungszeit seine Mutter wiedersah. In den folgenden Wochen und Monaten besuchte die Pflegemutter das Kind öfter, um ihm bei der Rückkehr zur Mutter zu helfen und außerdem die Reaktionen des Kindes auf die Pflegemutter als eine mit der Trennung verbundene Person zu beobachten. B. Heimpflege. Mit John war die Kontaktaufnahme erst wenige Tage, bevor er ins Heim gebracht wurde, möglich; er hatte zu dieser Zeit dort schon einen Besuch mit seinen Eltern gemacht. Die Eltern hatten diese Form der Pflege nach einer Konsultation des Hausarztes ausgesucht. John kam in einen Raum für Krabbelkinder, zusammen mit fünf anderen Kindern, die genauso alt waren wie er. Die meisten anderen Kinder waren seit ihrer Geburt im Heim. Die jungen Schwestern waren nicht mit der Betreuung einzelner Kinder beauftragt; sie erledigten die Arbeit, die gerade anfiel. Daß sie häufig wechselten, war durch ihre Arbeitszeit bedingt und dadurch, daß sie auch noch andere Pflichten zu erfüllen hatten. Das verhinderte eine kontinuierliche mütterliche Fürsorge. 35 Methoden der Beobachtung und Berichterstattung A. Familienpflege. Vor allem war für das Wohlbefinden des Kindes zu sorgen, dem bestmögliche Pflege zuteil werden mußte, und dabei wurde dann beobachtet, in welchem Maße und auf welche Weise das Kind reagierte. Die Pflegemutter, Joyce Robertson, war zugleich der Hauptbeobachter. Ihre Bemühungen waren direkt, klinisch, kontinuierlich und wurden als fortlaufender Bericht auf einem stets zugänglichen Schreibblock festgehalten und, wenn es die Zeit erlaubte, vervollständigt. James Robertson, der Pflegevater, benutzte eine Handfilmkamera, um jeden Tag bestimmte Episoden zu filmen und besondere Ereignisse und Veränderungen im Verhalten bei den jeweiligen Ereignissen – z.B. Mahlzeiten, Schlafenszeit, Besuche des Vaters – festzuhalten. Die wichtigsten Räume – Wohnzimmer, Schlafzimmer des Kindes, Bad und Küche) waren für die Benutzung eines high-speed-Films ausreichend indirekt beleuchtet. Kinder ignorieren erwiesenermaßen eine Schmalfilmkamera in den Händen einer Person, die sie kennen, schnell, und sie beeinflußt ihr Verhalten nicht (...). An jedem Tag wurden nicht mehr als zwanzig Minuten gefilmt ... B. Heimpflege. In Anbetracht der bevorstehenden Aufnahme des Kindes machten wir der Familie einen kurzen Besuch, um uns ein Bild von Johns Entwicklungsstand und seiner Beziehung zur Mutter zu machen. Während der Trennungsdauer konnten wir das Kind, solange es wach war, fast ständig beobachten, schriftliche und Filmaufzeichnungen über sein Verhalten machen, ähnlich wie bei unseren Pflegekindern. Um nicht zu sehr aufzufallen, trug Joyce Robertson einen Schwesternkittel; sie beteiligte sich zwar nicht an der Betreuung der Kinder, half aber den Schwestern bei den Mahlzeiten. Fallgeschichten (... ) Jane, 17 Monate Jane war 10 Tage bei uns in Pflege ( ...) Sie war ein lebhaftes, anziehendes Kind; ihre Eltern waren jung und lebten in bescheidenen Verhältnissen. Sie wohnten im selben Block wie wir; beide Familien kannten sich jedoch nur vom Sehen, bevor wir durch unser Studienprojekt zusammenkamen. Jane hatte bis dahin ein ruhiges Leben mit minimalen Kontakten zur Außenwelt geführt. Die Mutter widmete sich ganz der Pflege des Kindes und bot ihm in phantasievoller Weise Möglichkeiten der Betätigung. Quengeln und Schreien waren verpönt, ein hohes Maß an Gehorsam verlangt. Janes Vater war die meiste Zeit mit seinem Studium beschäftigt, griff aber auch in die Erziehung ein. Jane verstand mit ihren siebzehn Monaten schon viele der elterlichen Verbote. Jane hatte mehr Mühe als die anderen Kinder, sich in der Pflegefamilie einzugewöhnen. Solange die Mutter verfügbar war, nahm Jane nur flüchtiges Interesse an der Pflegemutter. Deshalb dauerte es einige Wochen, bis Ansätze zu einer Beziehung hergestellt waren. Jane hatte unerwartete Schwierigkeiten, sich mit der Anordnung unserer Wohnung vertraut zu machen, vor allem deshalb, weil sie die elterlichen Gebote auf die neue Umgebung übertrug. So wollte sie z.B. nicht ins Badezimmer gehen, weil dort eine 36 ähnliche Waschmaschine stand wie die ihrer Mutter; diese nicht anzurühren, hatte man ihr mühevoll beigebracht. Dennoch war sie einigermaßen ruhig, als die Trennungszeit begann; sie war auch schon ohne ihre Mutter kurz bei uns gewesen. Als die Eltern mitten in der Nacht ins Krankenhaus fuhren, war Jane wach. Aber die Pflegemutter, jetzt schon eine ganz vertraute Figur, war anwesend, ehe die Eltern weggingen. Jane lag noch eine Stunde wach in ihrem Bettchen; dann schlief sie ein. Die Pflegemutter blieb, bis Jane um acht Uhr morgens aufwachte, führte sie durch die leere Wohnung und nahm sie dann mit in die Wohnung der Pflegeeltern. Dort stürzte sie sich voller Freude auf die Kiste mit den Spielsachen. 1. Woche der Trennung Jane ließ sich sofort ganz von der Ersatzmutter versorgen und entwickelte eine warme und freundliche Beziehung zu ihr. Während der ersten Tage ging alles glatt; sie aß allein, schlief gut, spielte angeregt und weinte nicht. Sie war fröhlich und lebhaft und lächelte die Pflegeeltern herausfordernd an. Mit diesen Grimassen forderte sie ihre Umgebung deutlich auf, ihr Lächeln zu erwidern, und das gelang ihr auch. (Einige dieser lachend-grimmassierenden Episoden konnten gefilmt werden; die maskenhafte Künstlichkeit zeigt sich im Film ganz deutlich.) Die fröhliche Überaktivität und das intensive Lächeln wurden als Abwehr, als Mittel zur Bekämpfung der Angst verstanden. Hörte sie zu lächeln auf, war ihr Ausdruck leer und gespannt. Dieses Lächeln wurde nach den ersten Tagen seltener, man sah es nur noch unmittelbar nach dem Schlafen, so als ob Jane sich bei jedem Aufwachen versichern müßte, sie sei an einem freundlichen und sicheren Ort. Als die Mutter den Film von diesen ersten Tagen sah, sagte sie dazu : "Jane lächelt sehr oft so, wenn ich mit ihr böse bin und sie mich versöhnen möchte." Am vierten Tag wich die Fröhlichkeit einer Unruhe, und die Toleranzschwelle für Versagungen war herabgesetzt. Sie zeigte ein der Situation eher angemessenes, ärgerliches, negatives Verhalten. Jane spielte nicht mehr so ausgeglichen, lutschte häufig am Daumen und verlangte, gehätschelt zu werden. Keine dieser Veränderungen war sehr auffällig, aber alle zusammen ergaben das Bild eines Kindes, das unter Druck steht und manchmal verwirrt ist. Sie weinte zwar nicht, verlangte aber immer mehr Beachtung und Gesellschaft. Am fünften Tag lächelte sie noch weniger und weinte häufig gereizt. Sie wollte öfter im Arm gehalten werden und sträubte sich gegen die routinemäßige Pflege. Während der ersten vier Tage hatte sie in einem Park gespielt, ohne an ihr eigenes Gartentor zu gehen oder es auch nur zu beachten, obschon die Umgebung ihr vertraut war. An diesem Morgen aber ging sie an ihr Gartentor und versuchte, es zu öffnen. Das gelang ihr nicht. Sie schaute über die niedrige Mauer in den leeren Garten, wo sie mit ihrer Mutter gespielt hatte, schüttelte den Kopf und wandte sich ab, während ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht lag. Sie rannte ein paar Meter in den Park und blieb dann stehen, als ob sie nicht wisse, wohin sie gehen solle. Am sechsten Tag ging Jane wieder zu ihrem Gartentor, diesmal ließ es sich öffnen. Sie lief den Weg zum Haus hinunter und versuchte, die Wohnungstür zu öffnen. Dann kehrte sie um und rannte mit verzerrtem Gesichtsausdruck zurück zum Gartentor. Sie schloß das Tor sehr sorgfältig, blieb aber eine Weile in seiner Nähe stehen. Sie versuchte, über die Gartenmauer zu sehen und spähte zwischen den Gitterstäben des Tores auf das leere Haus. Dann weigerte sie sich zum erstenmal, ins Haus der Pflegeeltern zu gehen, und zum erstenmal seit der Trennung sprach sie das Wort "Mama" aus. 37 Janes Vater kam jeden Tag für eine Stunde zu Besuch. Anfangs spielte sie glücklich mit ihm, weinte aber, wenn er wegging. Dann, als ihre allgemeine Toleranz für Versagungen geringer geworden war, wurde sie böse mit ihm. Später konnte sie ihn während der Dauer seines Besuches mit Absicht übersehen, wollte er jedoch weggehen, hängte sie sich an ihn und weinte. Zweite Woche Auch in der zweiten Woche hatte Jane ein herzliches Verhältnis zu unserer ganzen Familie. Sie hatte ein neues Wort gelernt – "Blume" –, das mit den Blumen auf der Schürze der Pflegemutter in Verbindung brachte. Obwohl sie stiller war und ihr bei der geringsten Versagung die Tränen kamen, aß und schlief sie doch weiterhin gut. Bei dem Besuch einer Spielgruppe, die die Pflegemutter wöchentlich einmal leitete, war Jane ganz unbefangen und verhielt sich den anderen Kindern gegenüber adäquat. Am 10. Tag hatte Jane sich schon ganz an die Pflegemutter angeschlossen und nannte sie "Blume". An diesem Morgen war sie lustlos und wurde aufgeregt, wenn die Pflegemutter sich von ihr entfernte. Als ihre Mutter kam, um sie abzuholen, erkannte Jane sie und ging nach kurzem Zögern auf sie zu. Zuerst war sie unsicher und scheu, aber dann zeigte sie ein liebes, lächelnd-schmeichelndes Verhalten – die alte Art, Aufmerksamkeit und Zustimmung der Mutter zu gewinnen. Wortlos forderte sie die Mutter auf, sie wieder zu sich zu nehmen. Erst wollte sie ihr "Töpfchen" haben, dann ergriff sie ihre Haarbürste, dann mußte ihr Kleidchen beachtet werden. Beim Eintreffen der Mutter waren Jane und die Pflegemutter mit dem Spiel beschäftigt, Pennies in eine Börse zu stecken. Dieses Spiel wurde von der Mutter übernommen, und Jane wich nun auf schelmische Art der Pflegemutter aus, mit der sie so vertraut gewesen war. Nach der Wiedervereinigung Während der ersten zwei Tage verwandelte sich das einschmeichelnde Verhalten den Eltern gegenüber in das Gegenteil : sie tat ganz bewußt, was diese ärgern mußte. Klapse und Versagungen führten nun zu schweren Weinkrämpfen; das war neu. Sie war nicht mehr die folgsame Jane aus der Zeit vor der Trennung, die durch einen Klaps auf die Finger oder ein scharfes Wort zur Beachtung der Verbote gebracht werden konnte. Es dauerte einige Wochen, bis sie sich nicht mehr so herausfordernd gegen ihre Mutter benahm. Aber der mühelose Gehorsam stellte sich nicht wieder ein, und mit einem zweiten Kind in der Familie waren die Eltern auch nicht mehr so streng. Obwohl Jane ihre Mutter freudig wiedererkannt hatte, wollte sie doch die Pflegemutter nicht aufgeben. So kam die Pflegemutter in den nächsten Wochen einige Male zu Besuch, damit das Kind nicht durch den plötzlichen Abbruch einer guten Ersatzbefriedigung leiden mußte. Anfänglich wurde sie herzlich begrüßt, und Jane trennte sich nur ungern von ihr. Als aber die Beziehung zur Mutter sich wieder festigte, schwankte Jane bekümmert zwischen den beiden Mutterfiguren. Eine Woche nach ihrer Heimkehr rannte sie auf die Pflegemutter zu, aber die Mutter streckte ihr einladend die Hand entgegen und veranlaßte sie, die Richtung zu ändern. Jane erreichte weder Mutter noch Pflegemutter, sondern fiel zwischen beiden hin und verletzte sich am Mund. Zwei Wochen später hatte Jane sich von der Pflegemutter gelöst. Doch die Beziehung zu ihr blieb zutraulich und herzlich, wenn sie ihr auch nicht mehr so viel bedeutete. (...) 38 John, 17 Monate John war neun Tage lang in einem Kinderheim (...). John und seine Mutter hatten eine harmonische Beziehung. Er war ein umgängliches, leicht lenkbares Kind, das keine besonderen Ansprüche stellte; die Mutter behandelte ihn angemessen und ohne viel Getue. Das Reinlichkeitstraining hatte noch nicht begonnen. John war ein kräftiger, hübscher Junge, der gut aß und schlief und einige Worte sprechen konnte. Der Vater, ein junger Akademiker, war an einem kritischen Punkt seiner Ausbildung und konnte daher nicht für John sorgen, während die Mutter im Krankenhaus war. Der Hausarzt empfahl das örtliche Kinderheim, eine von den lokalen Behörden benutzte und als Ausbildungsstätte für Krankenschwestern anerkannte Institution. John begleitete seine Eltern, als sie das Kinderheim besichtigten. Die Lebhaftigkeit der Gruppe von fünf Kindern, zu der er gehören sollte, und die Freundlichkeit der jungen Schwestern beruhigten die Eltern. Sie wußten zwar, daß die Trennung John etwas aus dem Gleichgewicht bringen würde, glaubten aber, ihm darüber hinweghelfen zu können. Die Bedeutung dieses vorbereitenden Besuchs verstand John mit seinen 17 Monaten natürlich noch nicht. Die Wehen setzten in der Nacht ein, und als die Mutter unterwegs zur Frauenklinik war, wurde John ins Kinderheim gebracht. Er weinte eine halbe Stunde lang, dann schlief er ein. Als er aufwachte, fand er sich in einer fremden Umgebung wieder, einem Raum mit fünf anderen kleinen Betten, in jedem ein Kind so alt wie er, und jedes davon wollte angezogen werden. Er schaute zu, wie sie versorgt wurden, und als die achtzehnjährige Schwester Mary sich ihm mit einem Lächeln näherte, reagierte er darauf freundlich und ließ sich gern von ihr ankleiden. Auch mit Christine, einer anderen jungen Schwester, die ihn beim Frühstück fütterte, war er freundlich und ebenso zu den beiden anderen Schwestern, die tagsüber für ihn zu sorgen hatten. Jede dieser Schwestern hätte ein Mutterersatz werden können, aber gerade dies erlaubte das System des Heims nicht. Die jungen Schwestern waren nicht einzelnen Kindern zugeteilt, sondern übernahmen die Pflichten, die sich gerade ergaben. John fand die Schwestern zwar freundlich, hatte jedoch nur flüchtigen Kontakt mit ihnen; für ein Kind, das jemand sucht, der für es da ist, ist das enttäuschend. Die anderen Kinder, seit ihrer Geburt im Heim, waren laut, lärmend, aggressiv, anspruchsvoll und konnten sich durchsetzen. Sie hatten nie eine stabile Beziehung gekannt und kämpften auf viele Arten um ihren Platz in dieser gewalttätigen kleinen Gemeinschaft. Sie wußten aus Erfahrung, daß sie nicht erwarten konnten, man werde ihre Wünsche erraten und erfüllen. John war von dem Lärm verwirrt und hielt sich manchmal die Ohren zu. Als Familienkind war er der Aggressivität der anderen Kinder nicht gewachsen. Als sein Vater in diese fremde Umgebung kam, schaute John erst ganz erstaunt, bevor er ein Lächeln des Wiedererkennens zeigt. Als der Vater wegging, machte John keine Einwände. Mary, die Schwester, die ihn am Morgen angekleidet hatte, brachte ihn zu Bett. Wieder war er bereit, eine Beziehung herzustellen, doch Mary mußte anderen Pflichten nachgehen, und John weinte aus Protest und Enttäuschung. Am zweiten Tag wurde John mit der Situation ganz gut fertig. Während die Heimkinder herumtobten, um ihre Sachen stritten, spielte er konstruktiv in einer ruhigen Ecke wie zu Hause. Noch immer hoffte er, eine Schwester zu finden, die wie eine Mutter zu ihm 39 wäre. Seine Annäherungsversuche wurden meist gar nicht bemerkt, und die Schwestern kümmerten sich um die Kinder, die mehr Lärm machten. Entweder verdrängte ihn ein Kind, das sich besser durchsetzen konnte, wenn er einmal das Interesse einer Schwester gefunden hatte, oder die Schwester wandte sich von ihm ab und anderen Aufgaben zu. Die jungen Schwestern machten sich keine Gedanken wegen John; er aß gut, war anspruchslos und weinte nur, wenn er in sein Bettchen gebracht wurde. Als der Vater seinen Besuch beenden wollte, änderte sich Johns ruhige und klaglose Art, er schrie und wollte unbedingt mit ihm nach Hause. Schwester Mary tröstete John, und bald lächelte er ihr zu, in der Hoffnung, daß sie mit ihm spiele. Doch auch diesmal konnte die junge Schwester nicht bei ihm bleiben, und als sie von seinem Bett wegging, brach John in tränenreiche Klagen aus. Vom dritten Tag an wurde John immer unglücklicher. Die Schwestern reagierten auf seine Versuche, ihnen näherzukommen, nicht mit der Liebe und Aufmerksamkeit, die er gewohnt war. Niemand nahm Rücksicht auf seine Bedürfnisse; er wurde von dem lauten Geschrei und den Angriffen der anderen Kinder überwältigt. Noch immer weinte er nur selten, aber entweder stand er verloren am Ende des Raums oder er spielte still in einer Ecke und kehrte der Gruppe den Rücken zu. Als sein Vater ihn besuchte, schlug er wütend nach ihm und zerrte an seiner Brille. Der vierte Tag brachte eine deutliche Verschlimmerung. Er weinte lange traurig vor sich hin, was in dem Lärm der anderen Kinder unterging und von den Schwestern nicht beachtet wurde. Er spielte lustlos und lutschte am Daumen; oft strich er sich mit den Fingern über Gesicht und Augen. Er aß und trank kaum und ging mit langsamen, unsicheren Schritten umher. Noch immer versuchte John, wenn auch nicht mehr so gezielt, sich an die eine oder andere Schwester anzuschließen. Das glückte meist nicht, und ein paarmal verkroch er sich unter einem Tisch, um allein zu sein und zu weinen. Am 5. Tag sorgten die Schwestern sich ein wenig wegen seines anhaltenden Elends. Aber sie konnten ihn weder trösten, noch sein Interesse für Spielzeug wecken; den ganzen Tag über aß er nichts. Da keine der Schwestern direkt verantwortlich für ihn war, zerstreute sich ihre Besorgnis und blieb ohne Wirkung. Johns Gesicht war verzerrt und seine Augen verschwollen. Er weinte in stiller Verzweiflung und wälzte sich oft am Boden und rang die Hände. Manchmal schrie er zornig, ohne sich jedoch an eine bestimmte Person zu wenden, und als Schwester Marx sich ihm zuwandte, schlug er ihr ins Gesicht. John machte jetzt seltener Annäherungsversuche an die Schwestern, so als hätte er die Hoffnung aufgegeben, bei ihnen Trost zu finden, und wandte sich einem Teddybär zu, der größer war als er selber. Die anderen Kinder tobten herum oder balgten sich mit den jungen Schwestern; John saß irgendwo an seinen Teddybär geschmiegt. Manchmal betrachtete er alle Erwachsenen, als sei er auf der Suche nach jemand, der ihn auf den Arm nehmen würde. Schwester Mary nahm sich mehr Zeit für ihn als die anderen Schwestern; aber auch sie kam und ging wie der Turnus ihrer Pflichten und nicht wie Johns Bedürfnisse es verlangten. So war auch sie keine große Hilfe für ihn. Zwei Tage hatte Johns Vater ihn nicht besuchen können. Am 6. Tag war John elend und tat nichts. Als Schwester Mary Dienst hatte, sah man ihr an, daß sie sich seinetwegen Sorgen machte. Aber das System der Gruppen40 betreuung frustrierte sie beide, und ihre Besorgnis ging in dem lärmenden Gewühl der anderen Kleinen unter. Johns Mund zuckte vor verhaltenem Schluchzen. War er zu Beginn seines Aufenthaltes ein besonders lebhaftes und heiteres Kind, so war er jetzt unglücklich und verloren. Manchmal nahm ihn eine der Schwestern kurz auf den Arm, stellte ihn aber wieder ab, wenn andere Kinder ihre Aufmerksamkeit beanspruchten. Er weinte viel. Er hantierte mit dem großen Teddybär, den er im verzweifelten Bemühen, Trost zu finden, an sich preßte. Als sein Vater kam, kniff und schlug er ihn. Dann hellte sein Gesicht sich auf, voll Hoffnung ging er zur Tür, um ihm wortlos zu verstehen zu geben, daß er mit ihm nach Hause gehen wolle. Er holte seine Ausgehschuhe, und als der Vater sie ihm anzog, um ihn aufzuheitern, flog ein kleines Lächeln über sein Gesicht, als sei dies ein Zeichen, daß es jetzt heimgehe. Als der Vater aber keine entsprechenden Anstalten machte, bewölkte sich Johns Gesicht. Er ging zu Mary und schaute ängstlich zu seinem Vater zurück. Dann wandte er sich auch von Mary ab, setzte sich in eine Ecke und umklammerte seine Kuscheldecke. Am 7. Tag weinte John den ganzen Tag leise vor sich hin. Er spielte nicht, aß nichts, verlangte nichts und reagierte nur für ein paar Sekunden auf die flüchtigen Versuche, ihn aufzuheitern. Er hatte einen stumpfen und leeren Ausdruck; er war nicht mehr der lebhafte Junge, der vor einer Woche angekommen war. Es tröstete ihn ein wenig, wenn ihn jemand – ganz gleich wer – auf den Arm nahm. Aber immer wurde er nach kurzer Zeit wieder abgesetzt. Gegen Ende des Tages ging er manchmal auf einen Erwachsenen zu, wandte sich dann aber wieder ab, um in einer Ecke zu weinen, oder er blieb stehen, warf sich mit einer verzweifelten Gebärde auf den Boden, das Gesicht nach unten. Er klammerte sich an den großen Teddybär. Der Vater kam spät, und John schlief schon. Am 8. Tag war er noch elender. Wollte ihn ein anderes Kind von den Knien einer Schwester verdrängen, wurde sein Schluchzen zorniger. Er fand jedoch keine Linderung seines Unglücks. Lange Zeit lag er apathisch am Boden, den Kopf an den großen Teddybär gelehnt und blieb teilnahmslos, wenn andere Kinder zu ihm kamen. Noch immer aß er kaum. Als zur Teezeit sein Vater kam, war John so fassungslos, daß er weder essen noch trinken konnte. Krampfhaft schluchzte er über seiner Tasse. Als der Besuch zu Ende war, überwältigte ihn der Kummer, niemand konnte ihn trösten, nicht einmal seine Lieblingsschwester Mary. Als sie ihn auf den Schoß nehmen wollte, entwand er sich ihr und kroch auf dem Boden bis zum Teddybären. Dort blieb er liegen, ohne auf die verwirrte junge Schwester zu reagieren. Am 9. Tag weinte er vom Augenblick des Erwachens an, hing über seinem Gitterbettchen und war von Schluchzen geschüttelt. Alle Pflegerinnen außer einer waren neu für ihn, dieser lag er bewegungslos im Schoß, als seine Mutter kam, um ihn heimzuholen. Als er seine Mutter sah, wurde John plötzlich wieder lebendig. Laut schreiend warf er sich herum, und nach einem verstohlenen Blick auf seine Mutter sah er wieder weg. Einige Male schaute er sie an, dann wandte er sich mit lautem Schreien und verstörtem Ausdruck von ihr ab. Nach einigen Mitnuten nahm die Mutter ihn auf den Schoß, aber noch immer schrie er laut und sträubte sich, bog sich soweit zurück, bis er endlich am Boden war. Dann rannte er verzweifelt weinend zur Beobachterin. Diese beruhigte ihn, gab ihm etwas 41 zu trinken und reichte ihn wieder seiner Mutter. Er kuschelte sich an die Mutter, umklammerte seine Decke, schaute aber die Mutter nicht an. Bald darauf betrat der Vater den Raum, und John strebte von der Mutter weg in seine Arme. Er hörte auf zu schluchzen und schaute zum ersten mal direkt seine Mutter an. Es war ein langer harter Blick. Seine Mutter sagte :"So hat er mich nie vorher angesehen." Als wir diesen Fall später mit den Mitarbeitern des Kinderheims diskutierten, waren sie sich einig, "daß sie schon viele Kinder wie John gehabt hätten". Nach der Wiedervereinigung In der ersten Woche hatte John viele Wutausbrüche. Er lehnte seine Eltern auf allen Ebenen ab, wollte weder Liebe noch Trost annehmen, wollte nicht mit ihnen spielen und distanzierte sich physisch von ihnen, indem er sich in sein Zimmer zurückzog. Er weinte viel und ertrug nicht den kleinsten Aufschub bei der Erfüllung seiner Wünsche. Beim Spielen war er aggressiv und destruktiv. Statt mit seinen Spielsachen sorgsam umzugehen, warf er sie jetzt ärgerlich durch die Gegend. In der zweiten Woche hörten diese Ausbrüche auf, und er war anspruchslos. Meist spielte er friedlich in seinem Zimmer. In der dritten Woche aber gab es eine dramatische Wende. Die Ausbrüche kamen wieder : er weigerte sich entschieden zu essen, so daß er an Gewicht verlor. Nachts schlief er schlecht, ruhte auch tagsüber nicht und begann, sich an irgend jemanden anzuklammern. Die Eltern waren über diese Verschlimmerung sehr erschrocken, vor allem über den Abgrund, der sich zwischen ihnen und ihrem Kind aufgetan hatte. Sie reorganisierten ihr Familienleben: die wichtigste Aufgabe war es jetzt, John beizustehen, ihm ein Maximum an Interesse zu widmen. Sie wollten ihm zurückgewinnen helfen, was immer er verloren hatte. Einen Monat nach Johns Rückkehr hatte sich seine Beziehung zur Mutter wesentlich gebessert. Aber noch war sein "gutes" Befinden wenig gefestigt, und ein Besuch der Beobachterin warf ihn zurück in den früheren Zustand, in dem er Nahrung und alle Pflege seiner Eltern zurückgewiesen hatte. Innerhalb weniger Tage erholte er sich wieder, doch drei Wochen später (7 Wochen nach seiner Heimkehr) löste ein neuerlicher Besuch der Beobachterin wiederum eine heftige Störung aus, die diesmal fünf Tage dauerte und einen neuen Zug der Aggressivität gegenüber der Mutter enthielt. Wahrscheinlich reaktivierten die Besuche der Beobachterin Ängste und Befürchtungen, die mit dem Trennungserlebnis zusammenhingen. Drei Jahre nach seinem Aufenthalt im Kinderheim, mit viereinhalb Jahren, war John ein hübscher lebhafter Junge, der seinen Eltern viel Freude machte. Aber zwei Eigentümlichkeiten beunruhigten sie. Er hatte Angst, seine Mutter zu verlieren, und war verstört, wenn sie nicht dort war, wo er sie vermutete. Alle paar Monate kam es aus heiterem Himmel zu Perioden aufreizender Aggressivität gegen sie, die einige Tage andauerten. Dabei schien es sich um Nachwirkungen der traumatischen Erfahrungen des neuntägigen Aufenthalts in einem Heim zu handeln, in dem seine Gefühlsbedürfnisse nicht befriedigt worden waren. .... 42 Der Einfluß von Variablen Die Beobachtung der vier Kinder, die von einer Ersatzmutter in einem stützenden Milieu zureichend versorgt worden waren, ließ erstmals mit aller Klarheit den Einfluß von Variablen, nämlich a) des Grads der Ich-Reife und Objektkonstanz, b) der bestehenden Eltern-Kind-Beziehung und des Abwehrverhaltens, c) der Dauer der Trennung erkennen. Die Kontrastuntersuchung des Kindes John hingegen, das in einem Heim beobachtet wurde, machte die Bedeutung zusätzlicher Streßfaktoren wie d) unzureichende Ersatzbemutterung, wechselnde Pflegepersonen, e) fremde Umgebung deutlich. ... Diskussion Es wurde gezeigt, daß bei Ausschaltung der üblichen Streßfaktoren, die sich bei Untersuchung der Heimunterbringung kleiner Kinder zeigten, und durch Bereitstellung eines geeigneten Mutterersatzes vier Kinder, die 10 bis 27 Tage von ihren Müttern getrennt waren, nicht – wie es in der Literatur beschrieben wird – mit Trauer und Verzweiflung reagierten. In wechselndem Ausmaß, wie es dem jeweiligen Entwicklungsstand von Ich-Reife und Objektkonstanz entsprach, übertrugen alle vier die Objektbesetzung auf die Pflegemutter. Weil sie nicht von Affekten überwältigt wurden, wie es bei Kindern, die in Heime kommen, gewöhnlich geschieht, konnten sie vermöge ihrer inneren Hilfsquellen den Verlust der Mutter ausgleichen. Individuelle verschiedene Reaktionen, die im Falle einer Heimunterbringung aus dem Blickfeld geraten, wurden sichtbar. Bei keinem der Kinder war die Sequenz Protest, Verzweiflung und Ablehnung/Abwendung zu beobachten, die bei Heimkindern festgestellt wurde. In den ersten vier Tagen lachten alle vier Kinder mehr als üblich und zeigten eine gesteigerte Aktivität, was als Abwehr von Angst gedeutet wurde. Wenn sie weinten, dann vornehmlich, wenn die Väter nach einem Besuch sich wieder von ihnen verabschiedeten, aber das währte nie länger als eine oder zwei Minuten. Zu der Zeit, in der man von den Kindern erwartet hätte, daß sie (entsprechend früherer Untersuchungen) verzweifelt gewesen wären, das heißt am 2., 3. oder 4. Tage, waren sie ein wenig traurig, zeigten eine niedrigere Frustrationstoleranz und waren leicht aggressiv, doch konnte von Verzweiflung keine Rede sein. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedes Kind eine Beziehung zur Pflegemutter entwickelt, die ihm ausreichende Hilfe bot, und hatte begonnen, sich fest an sie anzuschließen. Durch die Beziehung zur Pflegemutter waren die Kinder dann in der Lage, ihre Angst zu beherrschen. Sie verlangten immer häufiger und mit wachsender Vertrautheit nach ihr. Obgleich sie die ganze Zeit unter erheblicher Belastung gestanden hatten, verhielten sich doch alle vier Kinder, die in der beschützenden Pflegesituation betreut wurden, angemessen und entwickelten ein gutes Verhältnis zu den Pflegepersonen. Sie erwarben neue Fähigkeiten und lernten neue Wörter, und sie freuten sich, als sie ihre Mütter wiedersahen. Die Trennung war nicht traumatisch; die Kinder waren nicht überwältigt worden. Ganz anders war es bei dem 17 Monate alten John, der im Kinderheim beobachtet wurde. Ohne einfühlsamen Mutterersatz den vielfältigen Belastungen durch die 43 Heimumgebung ausgesetzt, protestierte John und war verzweifelt. Sein Zustand verschlimmerte sich in jeder Beziehung, und als er seine Mutter wiedersah, brachte er mit Toben und verzweifeltem Weinen seine Ablehnung zum Ausdruck. Zu Beginn der Trennung war John bereit gewesen, eine Ersatzmutter zu akzeptieren. Der Verlust der Mutter machte, zusammen mit weiteren Streßfaktoren, aus der Trennungsangst ein Trauma. Unserer Meinung nach waren die Unterschiede zwischen den Reaktionen der Familienpflegekinder und den bei John beobachteten qualitativ und nicht nur graduell. Daß unsere Pflegekinder alles so gut überstanden, heißt nicht, daß die Gefahren, die mit früher Trennung verbunden sind, völlig ausgeschaltet werden können. In dieser frühen verletzlichen Phase der Entwicklung ist auch die beste Ersatzpflege kein sicheres Rezept gegen Risiken. Es darf nicht vergessen werden, daß nach der Rückkehr ins Elternhaus bei allen Kindern eine gesteigerte Feindseligkeit gegen die Mutter auftrat, die zwar wesentlich geringer war als bei John, aber doch ein gewisses Potential zu Disharmonie in der Mutter-Kind-Beziehung barg. ... Die beiden jüngeren Kinder, Jane und Lucy, kamen zusätzlich in Gefahr, zum zweiten Mal den Verlust einer geliebten Person erleben zu müssen, da sie sich in ihrer Unreife mit ganzem Herzen auf die Ersatzmutter eingestellt hatten. Diese Gefahren für ihr Wohlbefinden traten auf, obwohl die Kinder durch die optimal strukturierte Pflegesituation, die unter Alltagsbedingungen nicht immer herzustellen ist, weitgehend geschützt waren. Die Kinder waren gesund, waren nie von den Müttern getrennt gewesen, hatten viel Zeit gehabt, sich mit der Pflegefamilie vertraut zu machen und waren in der Obhut einer Pflegemutter, die immer für sie da war und auf Grund ihrer Ausbildung und Erfahrung auch besonders befähigt war, ihre Bedürfnisse zu verstehen und zu befriedigen. Normalerweise können kleinen Kindern Trennungen in Notfällen, etwa bei Krankheit oder der Geburt von Geschwistern, nicht erspart werden, und oft hat es bereits vorher Erlebnisse von Trennung und Störungen im Familienleben gegeben. Dazu können weitere Faktoren treten, die die Situation erschweren, selbst wenn ein zuverlässiger Mutterersatz vorhanden ist. Es handelt sich nicht um eine einfache Gegenüberstellung : hier Familienpflege, da Heimunterbringung. Auch die Familienpflege kann außer der Trennung von der Mutter viele Belastungen mit sich bringen, die entweder aus unglücklichen Zufällen oder schlechter Planung resultieren. Sogar in einer scheinbar günstigen Familienpflegesituation kann eine Kombination widriger Faktoren eintreten, die akuten Kummer und Verzweiflung hervorrufen (...). Die Komplikationen, die bei der Ersatzbetreuung aufzutreten pflegen, können die These, daß Trennung gefährlich ist und möglichst vermieden werden sollte, nur unterstreichen. (...) Es ist hoffentlich klar, daß wir hier nicht einer vereinfachenden Ansicht über Reaktionen auf die Trennung von der Mutter das Wort reden. Es gibt individuelle Unterschiede, die aus der Bilanz aller Faktoren hervorgehen – einige zugunsten, einige zuungunsten des Kindes wirkend; manche machen die Trennung leichter, erschweren aber die Heimkehr; andere bewirken das Gegenteil. Die Reaktion des einzelnen Kindes auf Trennung kann als Resultat des Zusammenspiels dieser Faktoren verstanden werden. 44