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braunschweiger beiträge
für theorie und praxis von ru und ku
118
4/2006
issn 0172-1542
herausgegeben vom
KIRCHENCAMPUS Wolfenbüttel
schriftleitung: hans-georg babke und heiko lamprecht
arbeitsbereich religionspädagogik und medienpädagogik
der ev.-luth. landeskirche in braunschweig
postfach 16 64, 38286 wolfenbüttel
telefon: [05331] 802-507 oder -504 • fax: [05331] 802 713
http://www.arpm.de • e-mail: [email protected]
impressum
Schriftleitung:
Pfarrer Dr. Hans-Georg BABKE, ARPM, Wolfenbüttel
Pfarrer Heiko LAMPRECHT, ARPM, Wolfenbüttel
in Kooperation mit Axel KLEIN, Dozent für Konfirmandenarbeit und schulnahe Jugendarbeit, Wolfenbüttel
Mitarbeiter dieses Heftes:
Mareike Ahrens, Im Dorfe 8a, 29313 Hambühren
Prof. Dr. Manfred BÖNSCH, In der Bebie 54, 30539 Hannover
Ute-Agnes guth, Hohes Feld 6, 38531 Rötgesbüttel
Prof. Dr. Heino R. MÖLLER, Am Dorfbrunnen 28, 30989 Gehrden/Everloh
Layout:
Veronika SCHNEIDER, ARPM, Wolfenbüttel
Druck:
Druckerei KOTULLA, Wolfenbüttel
‘braunschweiger beiträge’ erscheinen viermal im Jahr. Preis im Abonnement 9,00 EURO; Einzelheft 3,00 EURO
Auflagenhöhe ‘bb’ Heft 118-4/2006: 2.000 Exemplare
Bestellaufnahme:
Arbeitsbereich Religionspädagogik und Medienpädagogik
der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig
Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, 38300 Wolfenbüttel
Tel.: [05331] 802 507 • Fax: [05331] 802 713
http://www.arpm.de • e-mail: [email protected]
Landeskirchenkasse Wolfenbüttel, EKK Hannover, Konto 65 05, BLZ 250 607 01
Ab- und Raubdrucke sowie Fotokopien und sonstige Vervielfältigungen sind dringend erwünscht.
Bitte Quellenangaben nicht vergessen, zwei Exemplare immer als Beleg an uns.
Wir freuen uns, danke!
Quellen:
Titelfoto: Fortbildung im Ausland „Zypern im Schnittpunkt der Kulturen“, 18.-25.10.2006
Liebe Leserin, lieber Leser!
Wie bereits für die Kernfächer Deutsch, Mathematik und 1. Fremdsprache sind mittlerweile Bildungsstandards auch
für das Fach Evangelische Religion durch eine Expertengruppe am Comenius-Institut Münster – zumindest als erster
Entwurf – vorgelegt worden. Entsprechend der durch KMK-Beschluss verbindlichen funktionalistischen Bildungstheorie definieren fachspezifische Bildungsstandards diejenigen Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler am Ende
der Sekundarstufe I nachweislich erreicht haben sollen. Schulische Bildung macht sich künftig nicht mehr fest an
behandelten Stoffen, sondern an den kognitiven Fähigkeiten und praktischen Fertigkeiten, die für die Schüler/-innen
zur Bewältigung theoretischer und praktischer Herausforderungen ihrer Lebenswelt verfügbar sind, sowie an der
Bereitschaft, diese Fähigkeiten und Fertigkeiten auch in den unterschiedlichsten Situationen einzusetzen (Weinert).
Dadurch soll die Qualität des Unterrichts verbessert werden.
Nicht nur nach unserem Verständnis bedeutet das ein radikales Umdenken in Bezug auf die Unterrichtsvorbereitung
und -gestaltung. Darauf hat auch Professor Dr. Olaf Köller, Präsident des Berliner KMK-Instituts für die Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), beim diesjährigen Tag des Religionsunterrichts der Ev.-luth. Landeskirche in
Braunschweig hingewiesen.
Der erste Schritt besteht darin, dass komplexe Aufgaben für das letzte Halbjahr in Klasse 10 (bzw. 9 in der Hauptschule) entwickelt werden müssen, die alle verbindlichen Kompetenzen abdecken. Sodann sind aus diesen Aufgabenvorschlägen die Unterrichtsvoraussetzungen zu analysieren, die erforderlich sind, damit die Schüler/-innen die Aufgaben lösen können. Diese Unterrichtsvoraussetzungen müssen in der Abschlussklasse eingeübt oder wiederholt worden
sein. In einem weiteren Schritt sind die Teilkompetenzen zu definieren, die am Ende von Klasse 8, 6 und 4 erworben
sein müssen. Sodann sind auch für die Teilkompetenzen geeignete Testaufgaben zu entwickeln, aus denen wiederum
die Unterrichtsvoraussetzungen für den jeweiligen Doppeljahrgang zu erheben sind. Da es sich bei den Kompetenzen
um habituell eingeregelte Fähigkeiten und Fertigkeiten handelt, ist es erforderlich, dass sie immer wieder trainiert,
eingeübt, aber auch auf höherem Niveau erweitert werden, damit sie verfügbar sind. Nach der funktionalistischen
Logik werden die Kompetenzen von oben nach unten definiert, müssen aber von unten nach oben sukzessive und
kumulativ aufgebaut werden. In dieser gegenläufigen Bewegung liegt die Schwierigkeit des Unterrichtens nach den
Bildungsstandards. Das hat zur Folge, dass für alle Kompetenzen und Kompetenzbereiche Trainingsmodule entwickelt
werden müssen, die in jeder Jahrgangsstufe mit variierenden Inhalten zu wiederholen sind. Die Frage wird in Zukunft
nicht mehr sein: Wie bereite ich die festgelegten Inhalte der Rahmenrichtlinien entwicklungsgerecht auf?, sondern: Mit
welchen Inhalten kann ich die festgelegten Kompetenzen einüben, erweitern und verstetigen?
In der Bundesrepublik arbeiten zurzeit einige Teams von Religionslehrkräften an der Entwicklung von komplexen
Test- und Übungsaufgaben, an der Zergliederung von Unterrichtsvoraussetzungen und der Zuweisung der Unterrichtsvoraussetzungen an bestimmte Jahrgangsstufen. Ein Team ist auch beim ARPM Wolfenbüttel angesiedelt. Mit
ersten Ergebnissen wird Ende 2008 gerechnet. Die „braunschweiger beiträge“ werden in Zukunft eine Plattform für
die Zwischen- und Endergebnisse dieses Paradigmenwechsels sein, sowohl in theoretischer Hinsicht als auch mit
kompetenzorientierten Unterrichtsentwürfen. Es ist uns ein Anliegen, Ihnen in diesem Umbruch Hilfestellung für Ihre
Unterrichtspraxis zu geben.
Ihr
u-einheit:
umgang mit trauer
ute-agnes guth
Wege zum Kerncurriculum
1. Schritt:
Zu Beginn des Schuljahrs haben wir den schuleigenen Stoffverteilungsplan durchgesehen und die Themen den Leitfragen des Kerncurriculums zugeordnet. Die dort genannten Kompetenzen haben wir als Intention (Lernziele) verstanden.
März
April
Aus Trauer wird
Freude – Passion
und Ostern
1
3
5
-
-
-
-
wissen, dass Trauer und Freude
Grunderfahrungen menschlichen
Lebens sind
kennen die Geschichte vom Sterben
Jesu und von den Frauen am leeren
Grab
wissen um die Trauer und Freude
kennen das Osterfest als Ausdruck
der Freude über die Auferstehung
Sachkompetenz: fachspezifisches Wissen
ökumenische Ausrichtung
Methodenkompetenz: Symbole erkennen
und zuordnen
Soziale Kompetenz: Gemeinschaftliche
Aktion
2. Schritt:
Basteln einer Kompetenzscheibe (Sechskant)
Die inhaltsbezogenen Kompetenzbereiche
wurden farbig markiert und die zu erwartenden
Kompetenzen der einzelnen Leitfragen und
Schuljahrgänge auf entsprechendes Papier
kopiert. Jetzt konnten die Kompetenzen möglichen Themen zugeordnet werden. (Themenpuzzle)
3. Schritt:
Planung einer Unterrichtseinheit.
Unser Kalender ist von der Erinnerung an
wichtige Ereignisse im Leben Jesu geprägt.
Die Vermittlung von Fachwissen zu den großen
Festtagen der Kirchen ist Aufgabe des RU. Auch
sollen Schüler religiöse Motive und Elemente
identifizieren, reflektieren und die Bedeutung
erklären können. Dazu muss der RU den religiösen Hintergrund gesellschaftlicher Traditionen
und Strukturen erkennen und darstellen.
Wie kann der RU in einer ersten oder zweiten Klasse aussehen, der einerseits dem Kerncurriculum entspricht, andererseits aber auch den Kindern gerecht wird?
Da es sich für mich ausschließt, Weihnachten die Geburt Jesu und Ostern Tod und Auferstehung Christi zu vermitteln, suche ich nach den Möglichkeiten, die das Kerncurriculum uns nun bietet: bei den lebensweltlichen Erfahrungen
der Schülerinnen und Schüler anzusetzen und die Verständniswege anzubahnen, die sie brauchen, um Kreuz und Auferstehung auf Christus hin deuten zu können (Erwartete Kompetenzen 3./4. Klasse)
2
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Eine Unterrichtseinheit für den
Anfangsunterricht
-
Das neue Kerncurriculum für Ev. Religion ist in Kraft, und
wir alle suchen nach Möglichkeiten der Umsetzung. Unter
der 1. Leitfrage „Nach dem Menschen fragen“ findet sich
folgender Hinweis:
„Im Religionsunterricht lernen die Schülerinnen und
Schüler Ausdrucks- und Verstehenswege kennen,
ihre Fragen und Erfahrungen wahrzunehmen, auszudrücken, gemeinsam zu deuten und die religiöse
Dimension des Lebens aufzuspüren.“ (Kerncurriculum S. 14)
Emotionen, Empfindungen und Gefühle gehören zu uns
und unserem Leben. Sie sind Reaktionen auf alltägliche
Situationen. Besonders im Anfangsunterricht der Grundschule beobachten wir täglich mehrfach bei unseren
Schülerinnen und Schülern: Lange bevor ein Denkprozess
in Gang gesetzt wird, reagiert unser Körper auf der emotionalen Ebene. Nicht nur wir Lehrerinnen und Lehrer werden immer wieder mit „Gefühlsausbrüchen“ konfrontiert,
sondern auch die Kinder. Sie machen betroffen, besonders
wenn sie negativ sind.
Was können wir tun, um zu den zu erwartenden Kompetenzen zu kommen?
Wie muss der Unterricht aussehen, damit diese auch überprüft werden können?
Zunächst einmal müssen wir die
- Selbstwahrnehmung fördern, d.h. die eigene
Gefühlswelt wahrnehmen
- Sprachmuster aufbauen, um mit anderen darüber sprechen zu können
Mit der Unterrichtseinheit „Umgang mit Trauer“ möchte
ich die auf S. 14 genannten Kompetenzen erarbeiten:
Die Schülerinnen und Schüler
- nehmen Freude, Trauer, Angst, Wut und Geborgenheit als Erfahrungen
menschlichen Lebens bei sich und anderen wahr und
drücken sie aus.
- nehmen wahr, dass Leben Anfang und Ende hat
kennen die Bedeutung menschlicher Beziehungen
und gestalten sie.
3
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-
-
Einfühlungsvermögen fördern und schulen, um
die Gefühle anderer wahrzunehmen und verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen
Selbstbeherrschung einüben, um emotional
unterschiedlich und angemessen zu agieren,
bzw. zu reagieren
Traurigkeit ist eine sehr belastende Emotion, die immer
eine tiefe Betroffenheit beinhaltet. Die Ursachen können
der Tod eines Menschen oder Tieres, Ablehnung, nicht
erfüllte Erwartungen, Verfehlung eines selbstgesteckten
Ziels oder der Verlust einer sozialen Beziehung sein.
Um Strategien entwickeln zu können, aus der Trauer
oder der „Blockade“ herauszukommen, müssen die Kinder
eine „Sprache“ haben, mit der sie ihre Gefühle ausdrücken
können. Dazu gehört auch der Gesichtsausdruck, die Körperhaltung und der Tonfall.
Eine Klassenlehrerin hat viele Gelegenheiten, hilfreiche
Haltungen im Unterrichtsalltag einzuüben.
Im Fachunterricht jedoch kann ich nicht darauf warten,
dass sich eine Situation von allein ergibt, sondern ich
muss solche Lernprozesse initiieren. Darin sehe ich auch
eine ganz große Chance.
Umgang mit Trauer
1. Klasse
2. Klasse
1. Std.
Trauer und Freude ausdrücken
Über Freude und Trauer
reden
1. Stunde (vgl. Bilder im Anhang)
Vorbereitung
Aus einem roten und gelben Tuch (Dreieck) ein Haus (M1)
legen und Sch. vermuten lassen
Ich vermute, dass...
das eine Schule ist
1. Bild eines Schulkindes (Hanna, M2a)
Das ist Hanna. Sie geht gern in die Schule...
Bestimmt weißt du, warum Hanna so gern in die
Schule geht.
Das Bild wird im Kreis herum gegeben.
Wer mag, darf sagen...
Hanna geht gern in die Schule, weil...
Das Bild wird in die Schule gelegt.
2. Lehrererzählung: Wenn Hanna mittags nach Hause
kommt, fliegt der Ranzen in die Ecke, die Jacke auf
den Boden und Hanna stürmt in die Küche, um Mama
zu erzählen, wie toll es heute wieder in der Schule
war.
Aber heute ist es anders: Hanna stellt ihren Ranzen
ab, hängt die Jacke an die Garderobe und geht in die
Küche. Sie setzt sich auf den Stuhl. Doch sie bleibt
heute still.
3.
2. Std.
Arbeit mit dem Bilderbuch Visuell unterstützte Leh„Leb wohl Chaja“
rererzählung „Leb wohl
lieber Dachs“
3. Std.
Individuelle Auseinandersetzung durch bildliche
Gestaltung eines Minibuchs
Unterrichtsschritte
Individuelle Auseinandersetzung durch bildliche
Gestaltung – Wandfries
4. Std. Trauerverarbeitung mit dem Bilderbuch „Wie
der kleine rosa Elefant einmal sehr traurig war und
wie es ihm wieder gut ging“.
Gemeinschaftsarbeit: Plakat mit Eule und ihren drei
Ratschlägen
Bild in die Mitte legen: Hanna ist traurig (M2b).
„Was ist los Hanna?“ will die Mama wissen.
„Was ist passiert?“
Ein Körbchen mit blauen Glassteinen wird gezeigt.
Wenn du weißt, warum Hanna zum Weinen zumute
ist, dann nimm dir eine „Träne“ aus dem Körbchen
und gib es an den Nachbarn weiter.
Jeder, der einen Glasstein genommen hat, darf den
Grund sagen und dabei die Träne an das Bild legen.
Die Lehrerin beginnt.
Hanna ist traurig, weil die Lehrerin sie beim Lesen
nicht drangenommen hat. Die Lehrerin legt die Träne
ab.
Alle, die eine „Träne“ aufgenommen haben, äußern
sich nacheinander und legen den Glasstein ab.
4. Die Mama ist ganz betroffen und überlegt, wie sie
Hanna trösten kann.
Die Lehrerin hat gelbe Papierstreifen vorbereitet, die
sie nun zeigt.
Wenn du weißt, wie Mama Hanna trösten kann,
nimmst du dir einen Streifen.
Nacheinander sagen die Kinder ihre Sätze und
decken die Träne damit zu.
Die 2. Klasse kann auf die Streifen auch einen Trostsatz
schreiben = Unterbrechung der langen Phase im Sitzkreis.
5.
4
Bestimmt geht es Hanna jetzt wieder besser.
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Vielleicht kann sie sogar schon wieder lachen, so wie
der Smily.
Eine Pappscheibe wird hochgezeigt.
> diese kann gebastelt werden oder das Lied: „Wenn
ich fröhlich bin...“ (M3a) aus dem Projekt „Klasse
wir singen“, schließt die Stunde.
2. Stunde
Leb wohl Chaja (Arbeit mit dem Bilderbuch)
1. Wir falten gemeinsam ein Minibuch (M3b).
2. Im Sitzkreis liegt ein „Geheimnis“ – ein braunes
Tuch, in dem etwas verborgen ist. Jedes Kind deckt
einen Zipfel auf: (Rücksichtnahme wird geübt). Zum
Vorschein kommt ein Stein, drei gelbe Federn und ein
kleines Holzkreuz (aus Ästen) gefertigt.
3. Die Schülerinnen und Schüler äußern ihre Vermutungen dazu.
Sie erzählen vom Tod eines Haustiers, von Vögeln
und Käfern, die sie begraben haben. Manchmal
erzählen sie auch vom Tod eines nahen Verwandten.
Ich lege das Bilderbuch „Leb wohl Chaja“ dazu und
lasse wieder Vermutungen äußern. Die Kinder erfassen schnell, dass es sich um einen gelben Wellensittich handelt, der stirbt.
4. Ich weise auf das folgende Bilderbuchkino hin und
die Schüler bilden Sitzreihen vor dem Lehrertisch.
5. Die Präsentation der Geschichte erfolgt als Lehrervortrag eng an die Vorlage angelehnt als Erzählung
(1. Klasse) oder wird vorgelesen (2. Klasse).
6. Nach spontanen Äußerungen erfolgt die individuelle
Auseinandersetzung durch bildliches Gestalten des
Minibuchs. (siehe Faltanleitung)
Medien
-
-
-
-
Kerncurriculum für die Grundschule Nieders. Kultusministerium
Hannover 2006
Lied aus dem Projekt Klasse wir singen, www.Klassewirsingen.
de Braunschweig 2006
Bilderbuch: Leb wohl Chaja Nord- Süd- Verlag 1998
Bilderbuch: Wie der kleine rosa Elefant ... bohem press 1999
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Umgang mit Trauer
Eine Unterrichtseinheit für den Anfangsunterricht
M1
Umgang mit Trauer
Eine Unterrichtseinheit für den Anfangsunterricht
6
1
2
3
4
5
6
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M2a
M2b
M3a
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M3a
M3b
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u-stunde:
das gleichnis vom barmherzigen
samariter
mareike ahrens
1. Curriculare Einbindung der Stunde in die Einheit
Std.
Stundenthema
Didaktischer Schwerpunkt
-
In Bildern sprechen – Bildworte der
Alltagssprache
2
-
SuS sollen sich mit dem Charakteristischen bildhafter Redensarten (Mehrdeutigkeit) bezogen auf Alltagssprache auseinandersetzen.
SuS sollen bildhafte Vergleiche untersuchen und formulieren, um
ein tieferes Verständnis von Gleichnissen anbahnen zu können.
1
In Bildern sprechen – Bildworte der Bibel
SuS sollen auf Grundlage des ausgewählten Jesaja-Textes (Jes 11,
6-8) für das Verstehen von Gleichnissen eine Vorstellung vom „Reich
Gottes“ anbahnen.
1
Das Gleichnis vom barmherzigen
Samariter
SuS sollen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter inhaltlich
durch schauendes Erzählen kennen lernen, sich den Begriff „barmherzig“ semantisch erschließen und die Aussage des Gleichnisses
mit eigenen Worten schriftlich formulieren.
1
Der barmherzige Samariter – heute
SuS sollen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf andere
ihnen bekannte Situationen übertragen und Konsequenzen für ihr
eigenes Handeln daraus ableiten.
1
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn
SuS sollen das Gleichnis mit Hilfe eines Diavortrags kennen lernen,
das Verhalten des Vaters beschreiben, erklären und auf Gott bzw.
Gottes Reich übertragen.
*
aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich auf die zusätzliche Nennung weiblicher Personenbezeichnungen im Text. Sie werden
nachfolgend unter der männlichen Form subsumiert. Die Abkürzungen L und SuS in den Tabellen und Zielen stehen für den Lehrer und die
Schülerinnen und Schüler.
2. Lernziele
2.1. Grobziel der Unterrichtseinheit
Die SuS sollen Gleichnisse als bildhafte Erzählungen kennen lernen, mit denen Jesus die Menschen auf Gerechtigkeit
und Liebe sowie auf Gott und Gottes Reich hinweist, um menschlichem Handeln eine Richtung zu geben, indem sie sich
exemplarisch die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter und vom verlorenen Sohn erschließen.
2.2. Grobziel der Unterrichtsstunde
Die SuS sollen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter inhaltlich durch schauendes Erzählen kennen lernen, sich
den Begriff „barmherzig“ semantisch erschließen und die Aussage des Gleichnisses mit eigenen Worten schriftlich formulieren.
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2.3. Feinziele
Die SuS sollen...
FZ 1 ... das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
inhaltlich kennen lernen, indem sie dem Lehrervortrag in Form des schauenden Erzählens auditiv
und visuell folgen. (kognitiv-affektiv)
FZ 2 ... das Ungewöhnliche an der Hilfe des Samariters
verbalisieren können, indem sie seine Hilfeleistung
vor dem Hintergrund der feindlichen Beziehung
zwischen Juden und Samaritern reflektieren.
(kognitiv-affektiv)
FZ 3 ... den Begriff „barmherzig“ semantisch erfassen
können, indem sie Synonyme und Antonyme in
einer Tabelle an der Tafel entsprechend zuordnen.
(kognitiv)
FZ 4 ... die Kernaussage des Gleichnisses formulieren
können, indem sie diese in Partnerarbeit mit eigenen Worten in entsprechende Sprechblasen für den
Schriftgelehrten bzw. für Jesus schreiben. (kognitiv-affektiv)
2.4. Prozessuales Lernziel
Die SuS sollen kooperativ auf ein gemeinsames Ergebnis hinarbeiten können, indem sie untereinander ihre
Meinungen und Gedanken diskutieren und sich einigen.
(sozial-kognitiv)
3. Sachanalyse
Gleichnisse gehören zum Redestoff der Bibel und sind vor
allem in den synoptischen Evangelien überliefert. Es handelt sich um von Jesus gesprochene Erzähltexte zur Verkündigung der Gottesherrschaft, die dazu bestimmt sind,
eine Wahrheit einzuprägen oder eine bestimmte Frage
zu beantworten. Mit ihrem metaphorischen Sinn verweisen sie über das unmittelbar Gesagte hinaus auf etwas
anderes (Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie...). In
der Regel will ein Gleichnis die Zuhörer in Erstaunen versetzen und veranlassen, über das Gehörte auch jenseits
der Erzählebene nachzudenken. Die Gleichnisse werden in
drei Gattungen eingeteilt (nach Conzelmann/Lindemann
2000, S.102ff.):
1. Gleichnisse im engeren Sinn erzählen den Adressaten vertraute Vorgänge und Erfahrungen (Saat und
Ernte, Suchen von etwas Verlorenem), die mit der
Gottesherrschaft in Relation gesetzt werden (Vergleich).
2. Bei der Parabel hingegen handelt es sich um eine
Geschichte, die von einem einmaligen, individuellen
Ereignis erzählt, bei dem es meist zur plötzlichen,
unerwarteten Wendung im Geschehen kommt (z. B.
Der verlorene Sohn).
3. Als dritte Gruppe werden die Beispielerzählungen
benannt, die nur im lukanischen Sondergut zu finden
10
sind. Die Besonderheit liegt auf der direkten Schilderung einer Figur als positives oder negatives Exempel für das eigene Verhalten (z.B. Der barmherzige
Samariter).
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört als Beispielerzählung zum Sondergut des Lukas (10, 25 – 37).
Die erzählte Geschichte ist Teil eines Gesprächs zwischen
Jesus und einem Schriftgelehrten, das die Rahmenhandlung (Lk. 10, 25 – 29 und Lk. 10, 36 – 37) ausmacht. Als
Antwort auf die provokante Frage des Gelehrten nach
seinem „Nächsten“ erzählt Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter:
Auf dem gefährlichen Weg von Jerusalem nach Jericho
schlagen Räuber einen Reisenden nieder. Er bleibt verwundet und hilflos liegen. Ein vorbeiziehender Priester,
der im Tempel von Jerusalem arbeitet, sieht den Verletzten
zwar, hilft ihm aber nicht. Auch ein Levit, der ebenfalls
im Tempel Dienst tut und als Zweiter vorbeikommt, geht
achtlos weiter. Erst ein Samariter bzw. Samaritaner (mit
Juden verfeindete, ausländische Volksgruppe) erbarmt
sich des Verletzten. Er versorgt seine Wunden und bringt
den Mann in eine Herberge, wo er obendrein für dessen
weitere Pflege bürgt.
Am Ende der Rahmenhandlung geht Jesus auf die
anfängliche Frage des Gelehrten (Wer ist mein Nächster?)
wieder ein, formuliert sie aber hier aus der Perspektive
des Opfers (Wer war dem am nächsten?). Dass die Antwort auf den Samariter, den Außenseiter und Feind fällt,
verdeutlicht, dass lediglich das Tun von Barmherzigkeit
(indem man sich in den anderen hinein versetzt) und nicht
die Zugehörigkeit zu einer Gruppe darüber entscheidet,
ob und wem man zum Nächsten wird. In seiner abschließenden Aufforderung, es dem Samariter gleich zu tun,
macht Jesus deutlich, dass die Frage nach dem Nächsten
sich nicht theoretisch klären lässt, sondern nur im entsprechenden Tun.
4. Didaktische Überlegungen
In den Rahmenrichtlinien des Faches evangelische Religion wird das Thema „Gleichnisse“ für das 3. und 4. Schuljahr vorgeschlagen. Die Schüler sollen diese biblischen
Texte „als bildhafte Erzählungen kennen lernen, mit denen
Jesus die Menschen auf Gott und Gottes Reich hinweisen will“
(RRL, S. 21). Sie sollen ferner erfahren, dass Jesus durch
die Gleichnisse Gerechtigkeit und Liebe veranschaulichen
und damit menschlichem Handeln Hoffnung und Richtung
geben will (vgl. RRL, S. 21). Dafür ist es wichtig, dass
die Kinder lernen die bildhafte Sprache der Gleichnisse
zu erfassen und so das Gemeinte hinter dem Gesagten zu
verstehen, um darin letztlich die Bedeutung für ihr eigenes Leben suchen zu können. (vgl. RRL, S.5).
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bietet sich
für die Arbeit in einer Grundschulklasse m. E. an, da
es durch seinen unmittelbaren Charakter starke innere
Bilder bei den Kindern hervorrufen kann. Es spricht die
Schüler emotional an, weil es sie in die Erzählung mit
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hineinzieht und ihnen so ein Angebot macht, sich intensiv
mit dem Geschehen auseinander zu setzen. Dabei kann
das Erfahrene vorerst in der biblischen Bilderwelt selbst
verarbeitet und verstanden werden. Eine Übertragung
auf reale Situationen und Handlungen wäre dann erst
der nächste Schritt. Auf Grund der Anknüpfungsmöglichkeiten, die diese biblische Beispielgeschichte bietet, lässt
sie sich in aktuelle Situationen des Alltags der Schüler
transformieren. Mit dem Gleichnis eröffnet sich so die
Möglichkeit, über eigene Verhaltensweisen und Denkmuster zu reflektieren und so über neues/anderes Handeln
und Verhalten nachzudenken. Die in der Rahmenhandlung gestellte Frage nach dem Nächsten ist auch bereits
in der Grundschule aktuell und kann die Grundlagen für
den Erwerb von Sozialkompetenz der Schüler legen (vgl.
Richter o. J., S. 14). Da Freunde in diesem Alter sehr
wichtig sind, kann auch ein Augenmerk auf Menschen
gelenkt werden, die nicht zu ihren Freunden zählen. Mit
der Erzählung vom barmherzigen Samariter wird dieser Sachverhalt veranschaulicht. Dabei sollen die Kinder zu der Erkenntnis gelangen, dass jeder, unabhängig
von Nationalität und sozialem Stand, ihr Nächster sein
könnte, nicht nur ihre engsten Freunde. Diese Erkenntnis
kann dann bedeutende Konsequenzen für ihr zukünftiges
soziales Verhalten auch über die Grundschule hinaus
haben. Zudem „gelten Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft
und in diesem Sinne auch Nächstenliebe durchaus als ethische
Leitvorstellungen unserer Gesellschaft“ (Müller u. a. 2002,
S. 180), die für die Schüler immer dann an Relevanz
gewinnen, wenn sie ihrer Erfahrungswelt in unmittelbare
Nähe rücken.
Der Umgang mit dem Gleichnis vom barmherzigen
Samariter kann exemplarisch der Betrachtung des Verhältnisses von Gott bzw. Jesus zu den Menschen und der
Menschen untereinander dienen. Die Kinder bekommen
die Möglichkeit sich darüber Gedanken zu machen, wie
die Welt eigentlich ist und wie sie (von Gott gedacht)
eigentlich sein sollte. Indem das Gleichnis zur Identifikation und Perspektivübernahme einlädt, können die Schüler darüber reflektieren und Konsequenzen für ihr eigenes
Denken und Handeln ziehen. Sie erhalten Gelegenheit die
Welt für einen Moment „mit den Augen Gottes“ bzw. „mit
den Augen der Liebe“ wahrzunehmen und so ihr Denken
von/über Gott zu erweitern (vgl. Guth o. J., S. 1f.).
Durch den bildhaften Charakter der Gleichnisse kann
auch fächerübergreifend gearbeitet werden. So bietet sich
im Fach Deutsch ein ergänzendes Arbeiten durch das
Erschließen von Redensarten und Sprichwörtern sowie
die Behandlung der Textgattung Fabel an. Im Kunstunterricht könnte die bildhafte Rede in konkreten, wörtlich
genommenen Bildern dargestellt und diskutiert werden.
5. Methodische Überlegungen
Da der Schwerpunkt der Stunde auf der Erschließung des
Gleichnisses vom barmherzigen Samariter liegt, sollen
die Schüler den Inhalt durch einen Lehrervortrag in Form
des schauenden Erzählens kennen lernen. Die Präsen-
tation betrachten sie im Sitzhalbkreis vor der Tafel, um
einen guten Blick auf die Darbietung zu gewährleisten.
Der Einbezug der bildlichen Ebene bietet sich hier an, da
der Gleichnischarakter selbst eine Nähe zu Bild und zum
Denken in Bildern ausweist (vgl. Lenhard 1996, S. 129)
und den Kindern so einen, ihrem Alter angemessenen,
Zugang zum Gleichnisinhalt eröffnet. In dieser Weise wird
zugleich eine didaktische Reduktion vorgenommen, da
die Schüler sich nicht mit dem (oft schwer verständlichen)
Originaltext auseinandersetzen müssen. Die Präsentation
findet mit Hilfe von Klanginstrumenten und Kett-Materialien (siehe Anhang, S. e) statt. Da die vier Personen
des Gleichnisses lediglich durch geknotete Tücher als
sogenannte „Knotenpuppen“ dargestellt und die Szenen
generell schlicht gehalten werden, können sich die Schüler besser auf die Handlung konzentrieren und diese nach
Bedarf individuell imaginär ausschmücken. Die klangliche
und symbolische Gestaltung des Gleichnisses soll ihnen
das Hineinversetzen in die Stimmung und das Verinnerlichen der Erzählung erleichtern. Anschließend sollen sich
die Kinder über entsprechende Impulse durch die Lehrerin
zum Gehörten und Gesehenen äußern. Dabei sollen sie
einerseits den Inhalt wiedergeben, andererseits auch das
Ungewöhnliche und Besondere an der Hilfeleistung durch
den Samariter vor dem Hintergrund der Feindschaft zwischen Juden und Samaritern feststellen.
In der Phase der Erarbeitung sollen die Kinder ihre
Eindrücke und Meinungen zum Verhalten der Personen
des Gleichnisses dann in sprachlichen Ausdrücken wiederfinden und strukturieren. Der Begriff „barmherzig“
steht dabei im Mittelpunkt der Betrachtung und wird
durch die anderen (synonymen und antonymen) Begriffe
semantisch erschlossen (siehe Tafel 2/3, Anhang, S. c).
Durch die Zuordnung, die die Schüler an der Tafel vornehmen, können sie sich die Bedeutung des heutzutage recht
seltenen und für Kinder oftmals fremden Begriffs selbstständig erschließen und mit dem gewonnenen Wissen
über Barmherzigkeit aus dem Gleichnis verknüpfen.
In der dritten Arbeitsphase sollen sie ihre eigenen
Erkenntnisse über „barmherzig sein“ dann auf die beiden
Personen der Rahmenhandlung transferieren, indem sie
Jesus und den Schriftgelehrten sprechen lassen (siehe
Tafel 4). Dabei ist es wichtig, dass hier keine allgemeingültigen Lehrsätze (wie Gebote) formuliert werden sollen.
Die Schüler sollen vielmehr zeigen, dass sie verstanden
haben, dass Jesus mit dem Gleichnis noch mehr meinte,
als er gesagt hat.
Die Einteilung in Partnergruppen soll einer Differenzierung gleichkommen und besonders schwächeren
Schülern die Möglichkeit der Orientierung geben. Zusätzlich sind die jeweiligen Sprechblasen für die Gruppen
vorstrukturiert, indem Satzanfänge vorgegeben sind,
die das Formulieren erleichtern sollen. Als didaktische
Reserve halte ich ein Arbeitsblatt bereit, auf dem die
Bilderfolge des Gleichnisses in die richtige Reihenfolge
gebracht werden muss und das die Geschichte inhaltlich
zusätzlich festigt (siehe Anhang, S. g).
11
'bb' 118-4/2006
12
'bb' 118-4/2006
10:50
Abschluss
10:40
Ergebnissicherung
FZ 4
10:30
Erarbeitung III
FZ 3
10:25
Erarbeitung II
-
-
-
-
schließt die Stunde
Erwartetes Schülerverhalten
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Arbeitsform/ Medien
Das Material wird symbolisch eingesetzt und
unterstützt die Erzählung visuell und emotional.
SuS sollen hier über das bloße „Nett- zueinander- Sein“ hinausdenken und das Ungewöhnliche an der Hilfeleistung des Samariters, vor dem Hintergrund der Feindschaft,
erkennen.
Die Bilder unterstützen die Vorstellung eines
Gesprächs von Schriftgelehrtem und Jesus.
Das Singen gehört zum festen Ritual des RU
und motiviert die SuS für den Stundeninhalt.
Didaktisch-methodischer Kommentar
Frontal
Didaktische Reserve (AB)
Partnerarbeit
Untersch. Sprechblasen
Frontal
Meldekette
Durch die Erarbeitung in Partnergruppen ist
eine Ergebnissicherung aller Sprechblasen
möglich.
Die Plakate bleiben im Klassenraum zur
Ansicht.
Die didaktische Reserve festigt noch einmal
den Inhalt des Gleichnisses.
Plakatfarben (rot/grau) symbolisieren den
(warmen/kalten) Inhalt der Begriffe.
Die Einteilung in Partnergruppen soll differenzierend wirken und weitere Maßnahmen
überflüssig machen.
Die Sprechblasen enthalten Satzanfänge, die
ein Fortsetzen vereinfachen sollen.
Semantische Erschließung des relativ unbeStummer Impuls
Tafel: Wortkarten, 2 Plakate kannten Begriffs „barmherzig“.
Stummer Impuls
lesen ihre Sprechblasen vor
Schülervortrag
kleben sie zum entsprechenden Kopf an TA
der Tafel
räumen auf
frontal
4 Gruppen füllen die Sprechblasen für
Jesus mit der Kernaussage des Gleichnisses
stellen das Ungewöhnliche an der Hilfeleistung eines Feindes heraus
betrachten das Tafelbild
formulieren selbstständig einen Arbeitsauftrag: die Karten sollen richtig zugeordnet werden!
ordnen die Karten zu
finden sich in ihren Partnergruppen
stellen ggf. Fragen
5 Gruppen füllen die Sprechblasen für
den Schriftgelehrten mit dem Erkenntnisgehalt der Stunde
Ritual
Sitzhalbkreis
„Wo ein Mensch Vertrauen
gibt“
gespannte und konzentrierte Aufmerk- Tafel: 2 Bilder Lehrervorsamkeit, evtl. emotionale Reaktionen
trag: Gleichnis Material:
auf die Erzählung in Form von Lauten
Seile, Kett - Knotenpuppen,
Herz, Steine, div. Instrumente
äußern sich ggf. zum Verhalten der Per- U-Gespräch, Meldekette,
sonen, berichten von der Hilfeleistung
stumme Impulse
durch den Samariter
-Begrüßung
-
setzen sich vor die Tafel
-
singen mit
-
teilt entsprechend markierte
Sprechblasen aus
beendet die Arbeitsphase durch ein
Signal
bitte um Präsentation der Ergeb-
nisse
-
stellt dann den Arbeitsauftrag für
die Partnergruppen: Ausfüllen der
Sprechblasen für den Schriftgelehrten bzw. Jesus
-
-
-
präsentiert Impulskarte für Feinde
aus der Geschichte
öffnet die Tafel, in der Wortkarten zwischen den beiden Überschriften „passt zu barmherzig“
und „Gegenteil von barmherzig“
hängen
teilt die Klasse in zwei Gruppen
-
10:15
Erarbeitung I
hängt Bild von Jesus und dem
Schriftgelehrten an die Tafel,
erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und legt das
Bodenbild
wartet auf Schülerreaktionen,
ansonsten Knotenpuppen als
Impulse
-
-
FZ 2
Geplantes Lehrerverhalten
-Begrüßung
-
gibt Zeichen zum Sitzhalbkreis
-
stimmt das gemeinsame Lied an
10:10
Hinführung
FZ 1
Zeit/ Phase
Lernziel
10:05
Einstieg
7. Stundenverlauf
8. Literatur
Conzelmann, Hans und Lindemann, Andreas (2000). Arbeitsbuch
zum Neuen Testament. 13. Aufl.. Tübingen: Mohr Siebeck.
Guth, Ute-Agnes (o.J.). Jesus erzählt Gleichnisse. Rötgesbüttel.
Lenhard, Hartmut (1996). Arbeitsbuch Religionsunterricht. 3. Aufl.
Gütersloh.
Müller, Peter u.a. (2002). Die Gleichnisse Jesu. Stuttgart: Calwer
Verlag, S. 172 – 186.
Niedersächsisches Kultusministerium (1984). Rahmenrichtlinien für
die Grundschule – Religion. Hannover: Schroedel.
Richter, Esther (o.J.). Der barmherzige Samariter. In: Religion erleben.
Stuttgart: Raabe Verlag.
Geplante Tafelbilder
Tafel 1
Tafel 2
passt zu
„barmherzig“
herzlos
Ein Herz aus Stein
gefühllos
gutherzig
warmherzig
gutmütig
Gegenteil von
„barmherzig“
grausam
hilfsbereit
erbarmungslos
Herz aus Gold
Tafel 3
passt zu
„barmherzig“
Gegenteil von
„barmherzig“
gutmütig
hilfsbereit
gutherzig
warmherzig
Herz aus Gold
herzlos
gefühllos
erbarmungslos
grausam
Herz aus Stein
Tafel 4
13
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I. Schauendes Erzählen: Der barmherzige Samariter (vgl. Lukas 10, 25 – 35)
Die Liebe zu Gott und den nächsten Mitmenschen war für fromme Juden das allerwichtigste Gebot. Wer
aber war zu diesen nächsten Mitmenschen zu rechnen und wer nicht?
Ein kluger Mann, der sich schon viele Gedanken darüber gemacht hatte, wollte diese Frage von Jesus
beantwortet haben: „Wen von meinen Mitmenschen muss ich lieben und wen nicht?“
Da erzählte ihm Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter (sandfarbenes Tuch ausbreiten):
Ein Mann, ein Jude (Knotenpuppe), ist auf dem Weg von der Stadt Jerusalem (Wortkarte ans eine Ende
legen) in den Ort Jericho (Wortkarte an andere Ende legen). Der Weg (zwei Seile) zwischen Jerusalem und Jericho ist gefährlich. Rechts und links gibt es hohe Berge und tiefe Täler (schwarze, graue und
braune Tücher zu Bergen aufstellen).
Der Weg ist gefährlich, denn hinter den Bergen lauern Räuber. Sie fallen über die Reisenden her und plündern sie aus. Und das geschieht auch, als der Mann von Jerusalem nach Jericho unterwegs ist: Räuber
stürzen aus dem Dunkeln hervor, fallen über den Mann her, schlagen ihn nieder, plündern sein Gepäck,
nehmen ihm all sein Geld weg und verschwinden. Blutend und hilflos liegt der Mann am Boden – allein
am Straßenrand (Stille).
Plötzlich hört er etwas... (Schläge auf Holzblocktrommel, erst leiser, dann stärker schlagen). Da ist
jemand, jemand der näher kommt (die Schläge hören plötzlich auf). Ja, jemand ist gekommen. Ein Priester (Knotenpuppe) aus dem Tempel in Jerusalem. Er bleibt bei dem Verwundeten stehen, er sieht den
Mann am Boden liegen. Doch der Priester dreht sich um und geht weiter. (Schläge werden allmählich
leiser).
Sein Herz ist hart und kalt (einen Stein auf den Weg legen).
Allein liegt der Verwundete am Straßenrand. (Stille)
Doch da ist nochmals etwas zu hören... (Schläge auf Holzblocktrommel, erst leiser, dann stärker schlagen). Nochmals kommt jemand vorbei (die Schläge hören plötzlich auf). Auch er bleibt stehen. Es ist
ein Levit (Knotenpuppe). Auch er arbeitet im Tempel von Jerusalem, genau wie der Priester vor ihm. Der
Levit sieht den blutenden Mann am Boden liegen. Doch auch er dreht sich um und geht weiter (Schläge
werden allmählich leiser).
Sein Herz ist hart und kalt (einen weiteren Stein auf den Weg legen).
Dem verwundeten Menschen am Boden geht es immer schlechter. Ihm wird schwarz vor Augen (Stille).
Doch da, ist da nicht wieder etwas? (Schläge auf einem Schellenkranz, erst leiser, dann stärker rasseln).
Man hört die Hufe eines Tieres. Ein Esel kommt näher. Auf ihm sitzt ein Mann aus Samaria, ein Samariter also (Knotenpuppe) – ein Fremder. Normalerweise wandert ein Samariter nicht durch ein Judengebiet,
denn Juden und Samariter mögen sich nicht besonders. Sie sind Feinde (Feindkarte hochhalten). Doch
diesmal ließ es sich für den Samariter nicht vermeiden. Er reitet auf seinem Esel bis zu dem verwundeten
Mann (Rasseln des Schellenkranzes hört auf). Dann zieht er an den Zügeln (pantomimisch darstellen)
und der Esel bleibt neben dem Verwundeten stehen. Der Samariter sieht den Mann am Boden und er hat
Mitleid mit ihm. Schnell steigt der Samariter vom Esel, er geht auf den Verwundeten zu und beugt sich
über ihn. Der Samariter streichelt den Verwundeten, dann verbindet er die blutenden Wunden. Schließlich
hebt er den Mann auf seinen Esel.
Der Samariter bringt den Verwundeten in eine Herberge, in ein sicheres Haus. Hier ist ein Bett für ihn,
hier wird er gesund gepflegt. Wie gut, dass der Samariter geholfen hat! Wie gut, dass er ein Herz hatte für
den Menschen, der am Boden lag! (ein rotes Herz auf den Weg legen) Er war barmherzig, der „Barmherzige Samariter“.
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II. Geplantes Bodenbild
III. Vorlage für die Sprechblasen (Jesus/ Schriftgelehrter)
Jesus:
Schriftgelehreter:
15
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IV. Didaktische Reserve
Klebe die Bilder in der richtigen Reihenfolge auf und male sie an!
Quelle: Heiner Müller – Bildergeschichten zum neuen Testament (Persen Verlag, Horneburg 1987)
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kursthema: kirche und synagoge
hans-georg babke
0. Grundsätzliches
Eines der Zentralabiturthemen für das Jahr 2007 ist das
Thema „Kirche und Synagoge“. Zu begrüßen ist, dass der
interreligiöse Dialog mit den Themen „Islam“ (2006) und
„Judentum“ (2007) wegen der Abiturrelevanz nun auch
einen prominenten Ort im Oberstufenunterricht bekommen hat. Dieser Vor­teil ist aber auch zugleich der Nachteil
dieses Themas. Denn bei fremden Religionen handelt es
sich um Lebensformen, die einem nicht so vertraut sind
wie die eigenen. Das gilt für die Unterrichtenden genauso
wie für die Schüler. Diese mangelnde Vertrautheit verursacht Unsicherheit. In der eigenen Lebensform ist man
immerhin so weit zuhause, dass man zumindest grob
angeben kann, welchen Stellenwert eine religiöse Praxis
oder ein Glaubensartikel im Leben der Kirche bzw. im
Glaubenssys­tem als ganzem hat. So hat man als jemand,
der im christlichen Kontext sozialisiert wurde, wenigstens eine Ahnung davon, dass die Lehre von Christus ein
herausragendes Gewicht hat, dass die christologi­schen
Aussagen eng verbunden sind mit der christlichen Lehre
vom Heil und dass die Ethik nach herr­schender reformatorischer Auffassung zwar wichtig, aber nicht heilsrelevant ist. Wie aber ist das im Islam oder im Judentum?
Was nimmt dort die Stelle Christi, die Stelle des Reprä­
sentanten Gottes in der Welt, ein, in dem dieser sich zeigt,
wie er ist? Welche Heilsbedingungen gelten dort? Und gibt
es Differenzen zwischen einer elaborierten Theologie und
der Volksfrömmigkeit, wie z.B. bei der christ­lichen Trinitätslehre? Oder welchen Stellenwert haben die heiligen
Schriften, Qur’an und Tora? Sind sie menschliche Glaubenszeugnisse, wie die Bibel im christlichen Verständnis?
Oder haben sie einen höheren Stellenwert, nämlich den
der Inkarnation Gottes in der Welt? Kann man sie überhaupt einfach vergleichen? Aus der Außenperspektive ist
das auch auf den zweiten Blick nur schwer ersichtlich.
Vor allem die Unterschiede einzelner Glaubenslehren,
was ihren Ort im Glaubenssystem betrifft, ver­ursacht die
Schwierigkeiten eines angemessenen Verständnisses der
fremden Religionen und des Reli­gi­onsvergleichs.
Um eine fremde Religion fair zu behandeln, ist es
zunächst einmal geboten, sie aus ihrem internen Selbstverständnis wahrzunehmen. Zu diesem Zweck hat das
ARPM zur Vorbereitung auf dieses Zent­ralabiturthema
mehrere Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt, in
dem vor allem Vertreter des Judentums (Rabbiner Jonah
Sievers von der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig,
Hartmut Bomhoff vom Berliner Abraham-Geiger-Kolleg
zur Rabbiner-Ausbildung in Deutschland, und die jüdische
Theologin Ruth Lapide) die jüdischen Glaubenslehren
aus der Binnenperspektive ihrer Lebensform darge­stellt
haben. Hierbei wurden die Differenzen vor allem beim
Schrift- und Ämterverständnis so­wie beim Menschenbild
deutlich.
Neben der mangelnden Vertrautheit mit fremden Lebensformen besteht eine zweite Schwierigkeit der interreligiösen Thematik darin, dass die Unterrichtsmaterialien über
andere Religionen, insbesondere die Quellentexte und
Realienabbildungen, sich überwiegend auf dem Niveau der
Sekundarstufe I be­finden und nicht auf dem der gymnasialen Oberstufe.
Bei der Vorbereitung auf diesen Kurs muss daher
zunächst einmal die Transponierung auf ein erhöhtes
An­spruchsniveau geleistet werden. Im Folgenden wird ein
Kurscurriculum dargestellt, das sich am Selbstverständnis des Judentums orientiert, das vergleichbar ist mit dem
Niveau christlicher Themen im Kursunterricht und das
erfolgreich erprobt wurde.
Auswahl verfügbarer Unterrichtsmaterialien
• Werner Trutwin, Judentum, Patmos: Düsseldorf
20053 (Reihe „Die Weltreligionen) [geeignet als Lehrbuch auch für Schüler, allerdings mit wenigen und
wenig brauchbaren Quellentexten]
• Verena Dohrn/Peter Antes/Manfred Pöppel, Thema:
Weltreligionen: Judentum, Klett: Leipzig/ Stutt­gart/
Köln 2003 [ähnlich wie Trutwin]
• Herbert Jochum, Im Dialog Bd. 4: Kirche und Synagoge [Materialien auf Sek-I-Niveau]
• Dieter Petri/Jörg Thierfelder (Hg.), Grundkurs
Judentum, Teile 1 u. 2, Calwer: Stuttgart 20022 [Mate­
rialien auf Sek-I-Niveau]
• Torsten Söder, Lernen an Stationen zum Thema
„Judentum“, in braunschweiger beiträge 116, 8 ff. [UEntwurf für die Sek I mit guten Abbildungen]
• Materialkoffer zum Judentum in der Medienzentrale
des ARPM Wolfenbüttel (M1)
[Anmerkung zum Materialkoffer: Dieser Koffer ist
ausschließlich zur Verwendung der Dar­stellung
von Realien gedacht – wie die Ausstellung in
einem jüdischen Museum -, nicht aber zum „Spie-
17
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len“ der jüdischen Lebensform, was auf Grund des
oben Gesagten hinsichtlich der Fremdheit anderer
Le­bensformen nicht nur nicht verantwortlich, sondern authentisch ohnehin nicht möglich ist.]
Darüber hinaus gibt es in unserer Medienzentrale
eine Fülle von Dokumentarfilmen zu den in­dividu­
ellen Festen und den Festen im Jahreskreislauf
(Beschneidung, Bar-Mizwa, Hochzeit, Pessach, Suk­
kot, Purim, Rosch Haschana, Jom Kippur, Simchat
Tora, Tischa b’Aw), aber auch zu Ester und Eccle­sia
und Synagoga.
Das Kurscurriculum gliedert sich in folgende Themenbereiche:
1. Jüdische Feste als Schlüssel zum Verständnis des
Judentums
2. Die Geschichte des Judentums und die Achsenzeiten
3. Jüdisches Schriftverständnis (schriftliche und mündliche Tora)
4. Jüdisches Menschenbild (Die Freiheit des Willens)
5. Von der Diskriminierung zur Vernichtung
6. Das jüdische Gottesbild und das Theodizeeproblem
7. Eschatologie und Messiaserwartung
Die Schwerpunkte des Curriculums liegen auf dem
jüdischen Schriftverständnis, der unterstellten Willensfreiheit des Menschen sowie auf der Theodizeefrage. Was
das Schriftverständnis und die Wil­lensfreiheit angeht,
bestehen hier Differenzen zwischen dem Christentum
protestantischer Prägung und dem Judentum. Der Entwurf geht davon aus, dass das Lernen an Differenzen
eine angemessene Methode für das interreligiöse Lernen
darstellt
1. Jüdische Feste als Schlüssel zum
Verständnis des Judentums
•
•
•
•
Von Mond- und Sonnenkalender
Herausarbeiten der Jahreskreisfeste und ihrer Bedeutung anhand des „Kalenders der Feste der Religionen“ (unter www.eawre.org ) und mit Hilfe von
Dokumentarfilmen aus der Medienzentrale i.V.m.
Trutwin, S. 78 f.
Die Feste im Lebenslauf (Dokumentarfilme [s.o.]
i.V.m. Trutwin, S. 79 ff.)
Exemplarische Ganzlektüre des Ester-Buches zum
Verständnis des Purim-Festes (dabei wird auf das
Vorkommen des Begriffs „Gott“ geachtet, der nicht
erscheint. Problematisierung: Warum trotzdem in der
Bibel? – Geschichtshandelnder Gott als Lenker der
Geschichte und als ausglei­chende Gerechtigkeit)
2. Die Geschichte des Judentums und
die Achsenzeiten
•
(Trutwin, S. 18 ff.; bedauerlicherweise sind bei
Trutwin noch nicht die archäologisch-historischen
Erkenntnisse über die vorexilische Zeit eingearbeitet
worden. Vgl. Israel Finkelstein/ Neil Asher Silberman, Keine Posaunen vor Jericho, Beck: München
2002: Danach hat sich das Judentum mit seiner
differenten Religion frühestens am Ende des 7.Jhdts.
v.Chr herausgebildet oder gar erst im Exil. Vorher
waren die Bewohner Israels und Judas integraler Teil
der Bevölkerung Palästinas. Der Jahwe-Kult war eine
regionale Abart des Baal-Kultes. Eine in den 1970er
Jahren gefundene Stele preist den Gott Jahwe und
seine Aschera. Der Jahwe-Kult wurde vermutlich als
Staatskult zunächst im Nordreich Israel unter den
Omriden im 9.Jhdt.v.Chr. eingeführt. Indiz dafür sind
die in dieser Zeit vermehrt auftretenden Jahwe-haltigen Namen [Eli-ja = Mein Gott ist Jahwe]. Dh die
biblische Überlieferungsgeschichte entspricht nicht
der Historie.)
•
Erläuterungen der Achsenzeiten
Exil (Entstehung des Judentums, vom Henotheismus
zum Mono­theismus), Makkabäerzeit (Entste­hung der
zur Zeit Jesu relevanten Gruppen), Tempelzer­störung
(Von der mündlichen Tora zur schriftlichen Fixierung
der Mischna und später der Jerusa­lemer und Babylonischen Gemara), Mit­telalter (Maimonides, Raschi
und Tosephot, Abschluss des Talmud, Verfolgungen
und Auswei­sungen in Europa), Neuzeit mit Aufklärung, Assimilation und Schoa
Literaturhinweis: Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden, wbg: Darmstadt 20002
3. Jüdisches Schriftverständnis
[Literaturhinweis: Roland Gradwohl, Was ist der Talmud? – Einführung in die ‚Mündliche Tradition’ Israels,
Calwer: Stuttgart 19892 ]
•
•
•
•
•
Schriftliche und mündliche Tora
(Gleichwertigkeit der schriftlichen Tora und der
mündlichen Überlieferung, die später in Mischna und
Gemara fixiert wurde. Die mündliche Überlieferung
gehört ebenso in das Offenbarungsgeschehen am
Sinai wie die schriftliche Tora. Daraus folgt, dass
die tendenziell pluralistische interpretative Fortent­
wicklung der Tora durch das Offenbarungsgeschehen
gedeckt ist und der Offenbarungscharakter der Tora
nicht notwendigerweise zum Fundamentalismus
führt.)
Entstehungsgeschichte des Talmud (von 70 n.Chr. bis
zu Beginn der Neuzeit) (Trutwin, S. 32 ff.)
Die Arbeitsweise der Talmudisten
Der Aufbau einer Talmudseite (M2)
Der innerjüdische Pluralismus trotz der Offenbarungsqualität des Talmud (Gespräch Mose mit Gott
über Rabbi Aqiba, M3)
Tabellarischer Überblick ab Babylonischem Exil
18
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•
•
Exemplarische Erarbeitung der unterschiedlichen
Talmudkommentare zur Bedeutung des ius tali­onis
M4
Vergleich mit christlicher Auffassung von der Bibel
als menschlichem Glaubenszeugnis und der historisch-kritischen Methode
•
4. Jüdisches Menschenbild (mit dem
Akzent auf dem freien Willen)
[Hier wurde die rabbinische Methode des Schreibgesprächs bei der Abfassung von Mischna und Ge­marot
gewählt]
(Nach jüdischer Auffassung begründet der Sündenfall in
Gen. 3 nicht die Auffassung von der Erb­sünde, wie sie von
Augustin und Luther vertreten wurde. Es handelt sich um
eine Momentanentschei­dung ohne ontologische Konsequenzen. Dagegen wird nach christlich-protestantischer
Auffassung im Sündenfall die originäre Sündhaftigkeit
des Menschen deutlich, die ihm von Geburt anhaftet,
nämlich das Sein-Wollen wie Gott, d.h. das Vertrauen auf
die eigene Leistungskraft zur Rechtfertigung des eigenen
Daseins, nachdem man ungefragt in die Welt geworfen
worden ist. In diese krampfhafte Nei­gung zur Selbstrechtfertigung sind nicht nur die moralisch bösen Taten einbezogen, sondern auch die moralisch guten Taten, sofern
sie den Zweck haben, das eigene Dasein nachträglich zu
legitimie­ren. Nach jüdischer Auffassung ist „Sünde“ nur
moralisch, nicht existenziell-ontologisch zu verstehen.
Eine der jüdischen ähnliche Auffassung hat in der Neuzeit
Albert Schweitzer als Vertreter eines libe­ralen Christentums vertreten M5)
•
•
•
Eigene Produktion von Kommentaren zu Gen.1
[Erläuterung der Aussage von der Gotteseben­
bildlichkeit des Menschen: Gruppe 1 schreibt
Mischna, Gruppe 2 schreibt Kommentar zur Mischna,
Gruppe 3 schreibt Kommentar zum Kom­mentar;
jede Gruppe schreibt Texte auf allen Ebenen. Hier
gibt es Bezugnahmen auf das 1. Se­mester, in dem
das Thema „Jesus Christus“ be­handelt wurde und
in dem im Zuge des trinitari­schen Dogmas auch die
neuplatonische Emanati­onslehre mit der Vorstellung
der Substanzentspre­chung (analogia entis) zwischen
göttlicher Geistsubstanz und menschlicher Vernunftsubstanz zur Sprache kam.]
Eigene Produktion von Mischna und Gemarot zu Gen 2
[Erläuterung der Stellung der Frau, Bear­beitung wie
vorher, jedoch begrenzt auf zwei Gruppen]
Eigene Produktion von Mischna und Gemarot zu Gen 3
[Erläuterung des Sündenfalls, Bearbeitung wie vorher, jedoch begrenzt auf zwei Gruppen]
(Die Ergebnisse sind als M6 dokumentiert.)
Unterschiedliche semantische Füllungen des Sündenbegriffs
(moralisch als Verstoß gegen göttliche Gebote, wobei
der Mensch mit dem freien Willen die Fä­higkeit hat,
sie einzuhalten/ existenziell im Sinne des grundsätzlichen Sein-Wollens wie Gott [Gen.3,5], in das nicht
nur die moralischen Verfehlungen, sondern auch die
moralisch guten Taten einbezogen sind, sofern Sünde
in der Selbstrechtfertigung des Menschen besteht =
„Erbsünde“.)
•
Martin Luther, Vom unfreien Willen
(Vgl. Hans-Georg Babke, Der menschliche Wille –
frei oder unfrei, in: braunschweiger beiträge 111,
Text 4, S. 51, und Text 1, S.50). Die Position des
Eras­mus steht der jüdischen Auffassung nahe. Her­
auszuarbeiten sind die Argumente Luthers für den
un­freien und gegen den freien Willen.
•
Der unfreie Wille in der gegenwärtigen naturalistischen Hirnforschung und Vergleich mit Luther
(Interview mit Wolfgang Prinz, M7) (bei Luther
Unfreiheit nur in Heilsangelegenheiten, in der Hirn­
for­schung grundsätzlich)
5. Von der Diskriminierung zur
Ausrottung
•
Ecclesia und Synagoga – zwei Frauengestalten in der
Bildenden Kunst
(Video VC 2887 Ecclesia und Synagoga, Dietlind
Fischer/Volker Elsenbast, Grundlegende Kom­pe­
tenzen religiöser Bildung, Münster 2006, S. 40 ff.)
M8
Beschreibung und Deutung anhand von Matth. 25
[Gleichnis von den zehn Jungfrauen]
•
Martin Luther und die Juden
[Vgl. Robert Gericke], Die Reformation in Deutschland, Teil 1: Luthers Weg nach Worms, Bei­heft:
Martin Luther und die Juden, hrsg. von Hans-Georg
Babke, Wolfenbüttel 2006) Auszug M9
•
Paulus über die Juden (Röm 9-11): Vergleich mit
Luther
•
Die Inanspruchnahme Luthers durch die Nationalsozialisten (Gericke, aaO) M10
•
Schuldbekenntnis der Ev.-luth. Landeskirche von
2004 (ebd.) M11
•
Problematisierung: Die Neudefinition der Zugehörigkeitskriterien zum Volk Gottes durch Paulus und ihre
Gültigkeit M12
19
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6. Das jüdische Gottesbild und das
Theodizeeproblem
•
•
Erarbeitung der Gottesprädikate anhand des kleinen geschichtlichen Credos (Dt. 6, 20-23) und des
Sch’ma Israel (Dt. 6, 4-9) (Geschichtshandelnder
Gott, Volksgott mit tendenziell universaler Macht,
persona­ler Gott, solidarischer und befreiender Gott)
Das Theodizeeproblem (Theologie nach Auschwitz): [Rekurs auf RU in Klasse 11, in dem die
Un­terscheidung von Leibniz zwischen metaphysischem, physischem und moralischem Übel behan­
delt wurde, sowie auf die Gottesattribute „Liebe,
Allmacht und Verstehbarkeit“. Lösungen des Theodizeeproblems bestehen geschichtlich darin, dass
entweder das Attribut der Verstehbarkeit eliminiert
wurde (u.a. Stoa, Luther) oder das Prädikat der
Allmacht – entweder vorübergehend (u.a. im apokalyptischen Weltbild, Pannenberg] oder grundsätzlich
(Hans Jonas mit einer Nähe zur christlichen KenosisLehre gemäß Phil. 2, 1ff.) M13/M14
•
Luthers Lösung des Theodizeeproblems und Diskussion der Plausibilität
4 Arbeitsgruppen, die den Text unter folgenden Hinsichten untersuchen:
a. Das Wirken Gottes; b. Gott/Satan; c. Allmacht/Verstehbarkeit; d. Die Fähigkeit des Menschen
(Luther-Text bei Babke, aaO, S. 54) Auszug M15
7. Eschatologie und Messiaserwartung
•
Pluralität der eschatologischen Erwartungen mit und
ohne Messias (Trutwin, S. 84 ff. und 100 ff.
Zum Abschluss des Kurses findet ein Besuch in der neuen
Braunschweiger Synagoge sowie ein Ge­spräch mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde statt.
Mose im Gespräch mit Gott über R. Aqiba
M3
Es sagte R. Jehuda im Namen Rabs:
Als Mose in die Höhe stieg, traf er den Heiligen, gepriesen sei er, an, wie er dasaß und den Buchsta­ben
Kronen wand [wie einzelne Buchstaben in Torahandschriften mit „Kronen“ verziert sind].
Er fragte ihn: Was hält dich [mit solchen Vorsichtsmaßnahmen] auf? [Gott] antwortete ihm: Es ist ein
Mensch, der nach einigen Generationen auftreten wird; Aqiba ben Josef ist sein Name. Aus jedem
einzelnen Häkchen [der Tora] wird er Haufen um Haufen von Halakhot ableiten.
Er bat ihn: Herr der Welt, zeige ihn mir! Dieser antwortete: Drehe dich um! Da ging er und setzte sich
hinter die achte Reihe [im Lehrhaus des R. Aqiba]. Doch er verstand nicht, was sie redeten. Da er­lahmte
seine Kraft.
Als [Aqiba] zu einer bestimmten Sache kam, fragten ihn seine Schüler: Rabbi, woher weißt du das?
Er antwortete ihnen: Es ist eine Mose am Sinai gegebene Halakha.
Da beruhigte sich Mose wieder
Er kam wieder vor den Heiligen, gepriesen sei er, und sagte vor ihm: Herr der Welt, da hast du einen
Menschen wie ihn und gibst die Tora durch mich?
Er antwortete ihm: Schweig! So ist es mir eben in den Sinn gekommen.
Da bat er ihn: Herr der Welt, du hast mir seine Tora-Kunde gezeigt; zeige mir auch seinen Lohn!
Er sagte: Drehe dich um!
Er drehte sich um und sah, wie sie sein Fleisch [des Aqiba bei seinem Martyrium] im Schlachthaus
wogen.
Da sagte er vor ihm: Herr der Welt! Das ist seine Tora-Kunde, und das ist sein Lohn?
Er antwortete ihm: Schweig! So ist es mir eben in den Sinn gekommen.
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M4
„Auge für Auge, Zahn für Zahn“ – Ex 21, 24 (Baba Qamma 83 b—84 a)
A.
Wer seinen Nächsten verletzt, schuldet ihm fünf Dinge: Schadenersatz, Schmerzensgeld,
Heilungskosten, Verdienstentgang und Entehrung[sgeld].
Wie [erfolgt der] Schadenersatz?
Wenn einer jemandem dessen Auge geblendet, dessen Hand
abgeschnitten, dessen fuss gebrochen hat, betrachtet man [den Verletzten] wie einen Sklaven, der
auf dem Markt verkauft wird, und schätzt, wieviel er zuvor wert war und wieviel er jetzt wert
ist…
B. Warum [Ersatz]? „Auge für Auge“ (Ex 21, 24) hat der Barmherzige gesagt! Ich sage: wirklich ein Auge.
Das falle dir nicht ein; denn es wird gelehrt:
Man könnte glauben:
Hat einer des anderen Auge geblendet, blende dieser dessen Auge, hat er ihm seine Hand abgeschnitten, schneide
auch er ihm die Hand ab, hat er ihm den Fuß gebrochen, breche auch er ihm den Fuß.
Doch die Bibel lehrt:
„Wer einen Menschen (er)schlägt... Wer ein Stück Vieh erschlägt“ (Lev 24, 17-18)1
Wie jemand, der ein Stück Vieh erschlägt, Schadenersatz leisten muss2, muss auch der Schadenersatz leisten, der
einen Menschen schlägt.
Und wenn du etwas dagegen sagen willst, siehe die Bibel sagt:
„Ihr sollt kein Sühnegeld annehmen für das Leben eines Mörders, der schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt ist“
(Num 35, 31).
Für das Leben eines Mörders darfst du kein Sühnegeld nehmen; wohl aber darfst du Sühnegeld nehmen [sogar] für
die wichtigen Organe, die nicht nachwachsen.
C. Wie ist makke [schlägt oder erschlägt] zu verstehen? Wenn du sagst: „Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss
es ersetzen; wer aber einen Menschen erschlägt, wird mit dem Tod bestraft“ (Lev 24, 21), ist das von einem Mörder
geschrieben. Vielmehr ist es von hier [abzuleiten]:
„Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen: Leben für Leben“ (Lev 24, 18).
Und darauf folgt:
„Wenn jemand einen Stammesgenossen verletzt, soll man ihm antun, was er getan hat“ (24, 19).
Da heißt es aber nicht „schlägt“!
[Doch!] Hier wie dort reden wir von „Schlagen“ [dem Sinn nach]. Wie das Schlagen, von dem gegenüber einem
Tier die Rede ist, mit einer Ersatzzahlung [gesühnt wird], wird auch das Schlagen, von dem gegenüber einem Menschen die Rede ist, mit einer Ersatzzahlung [gesühnt].
Aber es steht ja geschrieben: „Wer einen Menschen erschlägt, wird mit dem Tod bestraft“ (Lev 24, 17)!
Vom Geldersatz [ist hier die Rede].
Woher [weiß ich], dass vom Geldersatz [die Rede ist]? Ich würde sagen: von einer wirklichen Tötung.
Das falle dir nicht ein! Es wird ja verglichen mit [dem Vers]: „ Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen“ (24,
18), und außerdem steht danach geschrieben: „Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat, soll ihm zugefügt
werden“ (24, 20).
Daraus ist abzuleiten, dass es um einen Geldersatz geht.
D. Was heißt dann: „Wenn du etwas dagegen sagen willst...“? [in B]
Der Meister hatte noch dieses Problem:
Warum hast du es für richtig gehalten, von „ Wer ein Stück Vieh erschlägt...“ einen Schluss zu ziehen? Man sollte
doch von „Wer einen Menschen (er-)schlägt“ einen Schluss ziehen!3
Ich sage: Man vergleicht Schädigung mit Schädigung, nicht aber vergleicht man Schädigung mit Tötung.
Im Gegenteil: Man vergleicht Fälle, die Menschen betreffen, nicht aber vergleicht man einen Fall, der einen Menschen betrifft, mit einem Fall, der ein Tier betrifft.
Deshalb lehrt er:
Wenn du etwas dagegen sagen willst, siehe die Bibel sagt:
„Ihr sollt kein Sühnegeld annehmen für das Leben eines Mörders, der schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt ist“
(Num 35, 31).
24
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Für das Leben eines Mörders darfst du kein Sühnegeld nehmen; wohl aber darfst du Sühnegeld nehmen
[sogar] für die wichtigen Organe, die nicht nachwachsen.
E. Soll [dieser Vers]: „Ihr sollt kein Sühnegeld annehmen für das Lehen eines Mörders“ nicht etwa die wichtigen Organe ausschließen, die nicht nachwachsen?
Dies[er Vers] ist vielmehr notwendig, damit der Barmherzige sagt:
vollziehe an [dem Mörder] nicht zwei [Strafen], indem du sein Geld nimmst und ihn tötest. Das geht ja schon aus
[der Wendung] hervor: „wie es seinem Verbrechen entspricht“ (Dtn 25, 2). Du kannst ihn für ein Verbrechen bestrafen, nicht aber kannst du ihn für zwei Verbrechen bestrafen4.
Noch immer ist dies[er Vers Num 35, 31] notwendig, damit der Barmherzige sagt: Nimm nicht Geld von ihm und
lasse ihn frei.
Wenn es so ist, sollte der Barmherzige schreiben: Ihr sollt kein Sühnegeld annehmen für den, der des Todes schuldig ist.
Wozu steht „für das Leben eines Mörders“?
Lerne daraus:
Für das Leben eines Mörders darfst du kein Sühnegeld nehmen; wohl aber darfst du Sühnegeld nehmen [sogar] für
die wichtigsten Organe, die nicht nachwachsen.
F. Nachdem aber geschrieben steht: „Ihr sollt kein Sühnegeld annehmen“ (Num 35, 31), wozu brauche ich
noch das zweimalige „(er)schlägt“ [um eine Geldstrafe für das Ausschlagen des Auges abzuleiten]?
Ich sage:
Wenn [das Gesetz bloß] von hier [Num 35, 31] abzuleiten wäre, könnte ich sagen: Wenn [der Angreifer] will, kann
er sein Auge geben, und wenn er will, kann er Geld für das Auge geben.
So aber lehrt man uns aus dem [Vergleich mit dem] Tier:
Wie der, der ein Tier erschlägt, Sühnegeld zahlen muss, muss auch der, der einen Menschen schlägt, Sühnegeld
zahlen.
G. Es wurde gelehrt: R. Dostai ben Jehuda sagt: „Auge für Auge“ [bedeutet] Geld[ersatz]. Du sagst: Geld; ist
es aber nicht doch wirklich ein Auge? So sagst du?! Siehe, das Auge des einen Menschen ist groß und das Auge des
anderen Menschen ist klein. Wie kann ich das „Auge für Auge“ nennen?
Und wenn du sagst, in einem solchen Fall soll er von ihm Geld nehmen, entgegnet die Tora: „Gleiches Recht soll bei
euch gelten“ (Lev 24, 22), das gleiche Recht für euch alle5.
Was ist das für ein Einwand [gegen das wörtliche Verständnis von „Auge für Auge“]? Vielleicht [ist es so zu verstehen]: das Augenlicht hat er ihm genommen, und so sagt der Barmherzige, das Augenlicht werde auch ihm genommen.
Denn wenn du nicht dieser Meinung bist, wie könnten wir einen kleinen [Menschen] hinrichten, der einen großen
getötet hat, oder einen großen [Menschen], der einen kleinen getötet hat? Die Tora sagt ja: „Gleiches Recht soll bei
euch gelten“ (Lev 24, 22), das gleiche Recht für euch alle!
Vielmehr [ist es so]: Das Leben hat er ihm genommen; das Leben, sagt der Barmherzige, werde auch ihm genommen.
Ebenso: das Augenlicht hat er ihm genommen; das Augenlicht, sagt der Barmherzige, werde auch ihm genommen.
H.Eine andere Lehre: R. Simeon ben Jochai sagt: „Auge für Auge“ [bedeutet] Geld[ersatz]. Oder nicht doch
wirklich das Auge?
Siehe: wenn ein Blinder einen anderen blendet, ein Verstümmelter [einem anderen ein Glied] abhaut, ein Lahmer
einen anderen lähmt, wie erfülle ich da [das Wort] „Auge für Auge“?
Und die Tora hat doch gesagt: „Gleiches Recht soll bei euch gelten“, das gleiche Recht für euch alle.
Ich erwidere: das ist doch keine Schwierigkeit! Vielleicht ist so zu sagen: wo es möglich ist, ist es möglich; wo es
aber nicht möglich ist, ist es nicht möglich, und wir lassen ihn frei.
Denn wenn du nicht so sagst, wie sollen wir dann mit einem Todkranken verfahren, der einen Gesunden getötet
hat?
Vielmehr: wo es möglich ist, ist es möglich; wo es aber nicht möglich ist, ist es nicht möglich, und wir lassen ihn
frei.
25
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I. Die Schule des R. Jischmael lehrt:
Die Bibel sagt: „so soll ihm zugefügt werden“ (Lev 24, 20; wörtl. „gegeben werden“). „Geben“ bezieht sich immer auf
Geld.
Von da her [müsste man] aber auch „Wenn jemand einen Stammesgenossen verletzt“ (24, 19; wörtl. „eine Verletzung
gibt“) von Geld verstehen! Ich sage: die Schule des R. Jischmael legt einen Bibeltext als überflüssig aus. Wenn schon
geschrieben steht: „Wenn jemand einen Stammesgenossen verletzt, soll man ihm antun, was er getan hat“ (24, 19),
wozu brauche ich [dann noch]: „soll ihm zugefügt werden“ (24, 20)? Lerne daraus: [es ist von] Geld [zu verstehen]6.
Wozu brauche ich dann [den Satz]: „Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat“ (24, 20)?
Da [die Bibel] schreibt: „soll ihm zugefügt werden“, hat sie ebenso geschrie­ben: „Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat“7.
J. Die Schule des R. Chijja lehrt:
Die Bibel sagt: „Hand für Hand“ [Dtn 19, 21; auch „Hand in Hand“ über­setzbar]: etwas, was von Hand in Hand
gegeben wird. Und was ist das? Geld.
Von da her [müsste man] aber „Fuß für Fuß“ ebenso verstehen! Ich sage: die Schule des R. Chijja legt einen Bibelvers als überflüssig aus. Wenn schon geschrieben steht: „dann sollt ihr mit ihm so verfahren, wie er [der falsche
Zeuge] mit seinem Bruder verfahren wollte“ (Dtn 19, 19), wozu brauche ich [dann noch] „Fuß für Fuß“, wenn du es
wörtlich verstehen möchtest?!
Lerne daraus: [es ist von] Geld [zu verstehen]. Wozu brauche ich dann „Fuß für Fuß“?
Nachdem schon geschrieben steht „Hand für Hand“, steht ebenso geschrieben „Fuß für Fuß“8.
K. Abaje sagt:
[die Geldentschädigung] ist aus der Lehre der Schule Chizqijjas abzuleiten. Denn die Schule Chizqijjas lehrt:
„Auge für Auge“, „Leben für Leben“ (Ex 21, 24.23), und nicht: „Leben und Auge für Auge“.
Wenn du es aber wörtlich verstehen möchtest, [gäbe es] Fälle, wo es zu „Leben und Auge für Auge“ kommt; dann
nämlich, wenn man jemanden blendet und er daran stirbt. Das ist doch keine Schwierigkeit! Vielleicht schätzen
wir ihn ab. Wenn man findet, dass er es verträgt, tun wir es ihm; findet man, dass er es nicht verträgt, tun wir es
ihm nicht. Wenn man aber gefunden hat, dass er es verträgt, wir es ihm getan haben und er [dann trotzdem] daran
stirbt, – wenn er stirbt, stirbt er eben!
Wir haben ja bezüglich der Geißelung gelernt (Makkot III, 14): Wenn man ihn eingeschätzt hat, und er
[trotzdem] unter seiner Hand stirbt, ist er frei.
L. Rab Zebid sagte im Namen Rabas: Die Bibel sagt: „Wunde für Wunde“ (Ex 21, 25). Man gibt [also]
Schmerzensgeld, wo schon Schadenersatz [erfolgte]. Wenn du es aber wörtlich verstehen möchtest: da dem einen
Schmerzen entstanden sind, würden ja dem andern auch Schmerzen entstehen!‘ Das ist doch keine Schwierigkeit!
Vielleicht [sagen wir]: Es gibt Leute, die empfindlich sind und die es mehr schmerzt, und es gibt Leute, die unempfindlich sind und die es weniger schmerzt. Was geht [aus dem vom Schmerzensgeld verstandenen Vers] hervor?
[Das schließt das wörtliche Verständnis von „Wunde für Wunde“ nicht aus, sondern ergänzt es nur:]
Er soll die Differenz geben [zwischen den gegenseitig zustehenden Schmerzensgeldern].
M.Rab Papa sagte im Namen Rabas:
Die Bibel sagt: „Und er muss für die Heilung aufkommen“ (Ex 21, 19). Man zahlt [also] Heilungskosten, wo schon
Schadenersatz [erfolgte]. Wenn du aber [„Wunde für Wunde“] wörtlich verstehen möchtest: So wie dieser Heilung
braucht, braucht ja auch jener Heilung! Das ist doch keine Schwierigkeit? Vielleicht [sagen wir]:
Der Körper des einen heilt schnell, der Körper des anderen heilt nicht schnell. Was geht daraus hervor? Er soll die
Differenz geben [zwischen den jeweiligen Heilungskosten].
N. Rab Aschi sagte:
[Die Geldentschädigung] ist aus dem wiederholten „für“ vom Rind abzuleiten.
Hier steht geschrieben: „Auge für Auge“ (Ex 21, 24), und dort steht geschrieben: „soll er das Rind ersetzen, Rind für
Rind“ (Ex 21, 36). Wie hier Geldersatz gemeint ist, so auch dort Geldersatz. Warum hältst du es für richtig, aus dem
wiederholten „für“ einen Analogieschluss vom Rind zu ziehen? Ziehen wir doch aus dem wiederholten „für“ einen
Analogieschluss vom Menschen!
Denn es steht geschrieben: „dann musst du geben: Leben für Leben“ (Ex 21, 23).
Wie das hier wörtlich [gemeint ist], so auch dort [bei „Auge für Auge“]. Ich sage: Man folgert von Schädigung auf
Schädigung, nicht aber folgert man von der Tötung auf die Schädigung. Im Gegenteil! Man folgert [von der Schädi-
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gung] eines Menschen auf [die Schädigung] eines Menschen; nicht aber folgert man von der [Tötung] eines Tieres
auf [die Schädigung] eines Menschen.
Daher hat Rab Aschi gesagt: [Die Geldentschädigung] ist aus [dem Vers] abzuleiten: „weil er sie [die von ihm Vergewaltigte] sich gefügig gemacht hat“ (Dtn 22, 29)10.
[Das ist ein Schluss] von einem Menschen auf einen Menschen und von einer Schädigung auf eine Schädigung
[und somit korrekt].
O. Es wird gelehrt: R. Eliezer sagt: „Auge für Auge“ ist wörtlich [zu verstehen].
Wörtlich? Was fällt dir ein! Ist R. Eliezer nicht einer Meinung wie alle diese [bisher genannten] Lehrer?
Es sagte Rabba: [R. Eliezer wollte nur] sagen, dass man [den Verletzten] nicht wie einen Sklaven schätzt.
Es entgegnete ihm Abaje: Sondern wie wen? Wie einen Freien? Wem gleicht denn ein Freier?
Rab Aschi sagte hingegen: [R. Eliezer wollte nur] sagen, dass man nicht den Geschädigten schätzt, sondern den
Angreifer.
Das biblische Talionsgesetz schränkt die Selbstjustiz auf das genaue Maß des Schadens ein, den man selbst erlitten
hat. Zu biblischen Zeiten war das sicher ein Fortschritt. Die Rabbinen verstehen jedoch biblische Texte prinzipiell
nicht im historischen Zusammenhang, sondern als Basis der eigenen Halakha; diese sieht in der Mischna (A), dem
gewandelten Rechtsbewusstsein gemäß, Schadenersatz statt Verstümmelung des Angreifers vor. Sicher entspricht
das dem Geist des biblischen Gesetzes. Doch die Rabbinen wollen ihre Praxis wörtlich in der Bibel begründet finden, auch wenn der Bibeltext dabei misshandelt wird.
B begründet das übertragene Verständnis von „Auge für Auge“ mit einem Analogieschluss: das gemeinsame
Wort makke („schlägt, erschlägt“) in Lev 24, 17 und 18 soll die Schadenersatzzahlung rechtfertigen. Dabei übergeht
man, dass hier gar nicht von Verletzung, sondern von Tötung die Rede ist. Der zu Lev 24, 17 treffend zitierte Text
Num 3 5, 31 wird durch die Annahme umgebogen, dass ein Satz dadurch, dass er etwas für einen bestimmten Fall
ausschließt, dies für die anderen Fälle einschließt, und zwar nicht nur als Möglichkeit, sondern als Pflicht.
C sieht die Unmöglichkeit der Wortanalogie aus makke für eine Deutung auf Scha­denersatz, da Lev 24, 17. 21
dies ausschließt, und zieht daher eine bloße Sachanalogie zwischen Lev 24, 18 und 19 vor.
D kommentiert den letzten Teil von B. Wieso wird dort Num 35, 31 zitiert, das das Wort makke nicht enthält
und außerdem vom Mörder spricht, nicht von jemandem, der den anderen bloß verletzt, wie Lev 24, 17 verstanden
wird? Num 35, 31 zeigt, wie unsachgemäß Lev 24, 17 erklärt wurde. Diesen Eindruck versucht man jetzt zu verwi­
schen: in diesem Einwand mit Num 35, 31 sei es nur um die richtige Anwendung des Analogieschlusses gegangen.
E führt die Auslegung von Num 35, 31 weiter. Gegen den Schluss von B=D könnte der Vers verwendet werden, um wichtige Organe von einer Geldentschädigung auszu­schließen. Denn dass der Mörder hingerichtet werden muss, steht ja im zweiten Teil von Num 35, 31 ausdrücklich. „Ihr sollt kein Sühnegeld annehmen für das Leben
eines Mörders“ ist daher, so die Logik des Textes, nur dann nicht überflüssig, wenn man es für einen Umkehrschluß
verwendet: „Für einen Nicht-Mörder musst du Sühnegeld nehmen“, und zwar auch für wichtige Organe, die vielleicht im Analogieschluß aus makke (Anfang von B) nicht eingeschlossen wären.
F begründet mit Num 35, 31 die Möglichkeit des Geldersatzes, mit dem Analogieschluss aus makke die
Pflicht, mit Geld und nicht mit einem eigenen Glied den Schaden zu ersetzen.
G und H bieten in symmetrischem Aufbau tannaitische Deutungen von „Auge für Auge“. Wie in den anderen
Abschnitten wird auf die Auslegung, damit sei eine Geldzahlung gemeint, anonym mit dem wörtlichen Verständnis
des Textes entgegnet. Der Antwort, dass eine völlig gleiche Vergeltung körperlich nicht möglich und diese daher
völlig auszuschließen sei, folgt jeweils ein Argument für das wörtliche Verständnis, das siegreich bleibt.
I und J sind ebenfalls parallel aufgebaut. Die Argumente für das übertragene Verständnis – hier eine Wortanalogie mit „geben“, dort die grammatikalisch mögli­che, doch kontextwidrige Auffassung von „Hand für Hand“
als „Hand in Hand“ -wird jeweils ad absurdum geführt. Doch rechtfertigt dann der Kommentator die Aussage der
Schule Jischmaels bzw. Chizqijjas damit, diese hätten eine überflüssige Bibelstelle ausgedeutet: da sie nicht unnötig
sein darf, muss sie etwas Zusätzliches aussagen. Dem treffenden Einwand, dass man dann auch andere Textteile als
überflüssig deuten müsste, folgt jeweils die lahme Entgegnung, dort sei es nur eine stilistische Parallele.
K antwortet auf das Argument Abajes, eine genau gleiche Vergeltung sei nicht möglich (vgl. G und H) und
daher sei ein Geldersatz zu leisten: darauf kommt es nicht an; unvorhergesehene Folgen der Körperstrafe sind nicht
zu berücksichtigen.
L und M sind symmetrisch zu K aufgebaut: die Zahlung von Schmerzensgeld und Heilungskosten schließt
ein wörtliches Verständnis von „Auge für Auge“ aus; dem Angreifer erwachsen aus seiner Bestrafung ja ebenfalls Schmerzen und Heilkosten. Wenn er zahlen muss, ist damit die Gleichheit von Schaden und Strafe verletzt.
Dagegen wird eingewandt, dass man das wörtliche Verständnis aufrechterhalten kann, wenn der Angreifer – der
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automatisch als weniger schmerzempfindlich und schneller geheilt angenommen wird – dem Angegriffenen nur
die Differenz zwischen den jeweils zustehenden Schmerzensgeldern und Heilungskosten bezahlt.
In N leitet Rab Aschi das übertragene Verständnis von „Auge für Auge“ durch eine Wortanalogie aus tacbat,
„für, weil“, ab, da die Analogie aus makke, „(er)schlägt“, in B zu schwach ist. Dabei kann er auch den für dieses Verständnis problematischen Text Lev 24, 17 übergehen. Auch formal ist dieser Analogieschluss annehmbarer, da hier
die verglichenen Texte jeweils von Menschen zugefügten Schädigungen sprechen.
Da aber das wörtliche Verständnis von „Auge für Auge“ noch immer das einfachste ist und dafür R. Eliezer
zitiert wird, müht sich O, einfach die Aussageabsicht des R. Eliezer umzudeuten und somit den zuvor genannten
Lehrern anzupassen, was Rab Aschi allerdings nicht ohne Gewalt gelingt.
Der gesamte Text ist somit eine durchgehende Kontroverse zwischen namentlich angeführten Rabbinen, die
halakhagemäss „Auge für Auge“ im Sinn einer Ersatzzahlung verstehen wollen, und den anonymen Vertretern des
wörtlichen Verständnisses des Bibeltextes. Deren Argumente sind zwar meist textgemäßer, können jedoch nicht
gegen die bestehende Halakha durchdringen. Der Text zeigt somit auch, wie an sich logische Auslegungsregeln den
Text der Bibel immer zum gewünschten Ergebnis umdeuten können.
_____________________
1Hebr. makke bedeutet sowohl „schlägt“ wie „erschlägt“. In Lev 24, 17.18 ist das zweite gemeint. Der Talmud zitiert diese Stellen ohne Kontext und versteht es beim Menschen als „schlagen“. Anders in der Fortsetzung, die den Vers nochmals zitiert.
2 Lev 24, 18 sieht ausdrücklich eine Ersatzzahlung für das erschlagene Stück Vieh vor.
3 Wo das Prinzip der Vergeltung und nicht das des Geldersatzes anzuwenden ist.
4 Im Bibelvers steht „Verbrechen“ immer in der Einzahl! In Makkot 4a-b gilt derselbe Vers als Begründung, dass der Falschzeuge, der einen
Menschen um Geld schaden wollte, nicht Ersatz zahlt und gegeißelt wird, sondern nur die Geißelung erhält.
5 Somit steht fest, dass man für den Verlust von Körperteilen und Organen Geld gibt.
6 Da kein Wort der Bibel unnötig sein darf, muss die Wiederholung eine neue Bedeutung bringen. An sich spricht der Text von einer körperlichen Vergeltung; doch macht der Zusatz klar, dass es das nicht sein kann – sonst wäre der Zusatz nicht notwendig; – und so verweist der
Begriff „geben“ auf den Geldersatz.
7 „Zufügen“ (wörtl. „geben“) ist in 24, 20 zuerst explizit von körperlichen Schäden gesagt. Wenn ich von „geben“ einen Analogieschluss ziehe,
ergibt sich eine körperliche Vergeltung. Da das für den rabbinischen Ausleger aber nicht sein darf, erklärt er das „geben“ im Nachsatz als
bloß stilistische Parallele zum Vordersatz.
8 Vgl. analog die Anmerkungen 6-7.
9 Der Bestrafte müsste demnach auch wieder Schmerzensgeld erhalten.
10 „Weil“ ist hier im Hebräischen dasselbe tachat wie das „für“ in „Auge für Auge“.
Quelle: Günter Stemberger „Der Talmud. Einführung. Texte. Erläuterungen.“, Verlag C. H. Beck München, 1987.
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M5
Wie der Täufer sieht auch Jesus seine Aufgabe vor allem darin, die Menschen über die zum Teilhaben am Reich
geforderte Gesinnung zu belehren und sie in ihnen zu wecken. […] Während der Täufer nur ganz allgemein die
neue Gesinnung verlangt, führt Jesus aus, worin sie be­steht. Bis dahin war das Ideal der Frommen gewesen, durch
Beobachtung des Gesetzes und dazu noch der Vorschriften, die nach der von den Alten geschaffenen Tradition das
gesetzestreue Leben bis in die Kleinigkeiten regeln sollten, Gott wohlgefällige Gerechte zu werden und damit die
Gewissheit zu ha­ben, zum Reiche ein­zugehen. Jesus aber lehrt, daß dieses Gerechtsein nicht ausreicht, sondern
daß noch ein höheres, das in dem Halten der Gebote ihrem Geiste nach besteht, gefordert wird. […]
In der Bergpredigt (Mt.5-7) und in den anderen Reden führt Jesus aus, in was das Gerechtsein, das höher ist
als das der Schriftgelehrten, besteht. Ihm zufolge hat es das Gesetz nicht nur mit dem und jenem Sündigen,
sondern auch mit den Gedanken, die dazu führen können, zu tun. In dem Verbote des Tötens sind mitgemeint Haß
und Unversöhnlichkeit (Mt.5, 21-26). In dem des Ehebrechens wird das Hegen der sündigen Begehrlichkeit der
sündigen Tat gleichgesetzt. In dem des Falscheides wird zugleich die Fragwürdigkeit des Eides als solchen offenbar.
Schon das einfache Ja und das einfache Nein sollen eine nicht überbietbare Gültigkeit besitzen. „Eure Rede sei ja,
ja, nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“ (Mt.5, 33-37) […]
Weil er [Jesus] nur auf das Innerliche geht, die Pharisäer und Schriftgelehrten aber auch noch auf das Äußerliche,
sieht er in ihnen die Leiter des Volkes Gottes, die die richtigen Maßstäbe für Recht und Unrecht nicht besitzen,
die den Menschen unnötige Bürden auftragen und sie verhindern, den Weg zum Reiche Gottes zu gehen. […] Den
Willen Gottes zu tun, der sich nicht in Gebote und Verbote fassen lässt, sondern als ins Grenzenlose gehender Wille
zur Liebe den Menschen aus ihrem Herzen heraus gebietet: dies ist die tiefe, vergeistigte und verinnerlichte Ethik,
die zum Eingehen in das Reich erforderlich ist. […]
Welche Natur des Menschen setzt die Ethik Jesu voraus? Eine, die von sich aus des Guten fähig ist, wenn es dem
Menschen wirklich um dieses zu tun ist.
Auch wenn die Menschen im Vergleich zu Gott böse sind, so können sie doch ihren Kindern gute Gaben geben
(Mt.7, 11) […]
Jesus setzt voraus, daß es Gerechte gebe. Denen, die ihm vorwerfen, daß er mit Zöllnern und Sün­dern verkehre,
antwortet er: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu bekehren, sondern Sünder“ (Mt.9, 13). Er hält auch Menschen
für gut, sonst könnte er nicht sagen: „Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatze (seines Herzens) das Gute
hervor, der böse Mensch bringt aus bösem Schatze Böses hervor“ (Mt.12, 35). Und noch viel mehr traut er dem
Menschen in dem Bemühen um das Gute zu. Denen, die bei der Bergpredigt um ihn geschart sind, mutet er zu,
Leuchten des Guten für andere zu werden. „Ihr seid das Licht der Welt…Also lasset euer Licht leuchten vor den
Menschen, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt.5, 14-16).
Solange das Wort der Schrift noch etwas gilt, - und die Worte, die uns die älteste Kunde von Jesus geben, stehen
an erster Stelle – darf niemand einem Christen zumuten, die aufgrund der Erzählung von Adams Essen einer
verbotenen Frucht im Paradies im Spätjudentum* entstandene und von dort ins Christentum übernommene Lehre
von dem Fortwirken dieses seines Sündigens in der ganzen Menschheit als zum Wesen des christlichen Glaubens
gehörig anzusehen. Jesus kennt sie nicht. Es muß also Christen erlaubt sein, hierin zu denken wie er. In seinen
Reden läßt uns Jesus einen Einblick in das Wesen der Sünde gewinnen, der keiner Ergän­zung durch die Lehre von
der Erbsünde bedarf.
Albert Schweitzer (1875-1965), Jesu Ethik der Vorbereitung auf das Reich, in: ders. Reich Gottes und Christentum, Mohr: Tübingen
1967, 89-98 [in Auswahl]
*
Die Bezeichnung „Spätjudentum“ war bis in die zweite Hälfte des 20. Jhdts. eine gängige Bezeichnung für das Judentum kurz vor Jesu
Auftreten. Sie ist Ausdruck der christlichen Auffassung, dass das Judentum vom Christentum abgelöst wurde.
Arbeitsaufgaben:
1. Geben Sie den Gedankengang des Textes wieder und arbeiten Sie Schweitzers – im Rückgriff auf Jesus
gewonnene – Auffassung von der Natur des Menschen heraus!
2. Vergleichen Sie das Menschenbild Schweitzers mit dem Luthers!
3. Ziehen Sie Konsequenzen aus dem Menschenbild Schweitzers für die Funktion Jesu, für die Lehre der
Rechtfertigung allein aus Gnade und das Verständnis von Sünde!
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Mischna und Gemarot zu Gen. 1, 27 (P)
M6
Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf
sie als Mann und Weib.
1.
Gottebenbildlichkeit ist im Sinne der neuplatonischen Emanationslehre zu verstehen: Der Mensch hat mit seiner
Vernunft teil an der göttlichen Vernunft (analogia entis). Die Gottebenbildlichkeit aber hat der Mensch durch den
Sündenfall verloren.
2.
Gottebenbildlichkeit bedeutet nicht Gottgleichheit. Der Mensch ist ein geistiges Abbild Gottes, ihm aber qualitativ und rangmäßig untergeordnet.
3.
Neuplatonische Deutung durch 1. ist dem ursprünglichen jüdischen Denken fremd. Mit der Gottebenbildlichkeit
dürfte keine stoffliche Entsprechung, sondern eine beziehungsmäßige Entsprechung gemeint sein. Wie Gott Herr
über das Universum ist, so ist der Mensch Herr über die nicht-menschliche Natur.
1.
Gottebenbildlichkeit kann wegen des Bilderverbots im Dekalog keine körperliche Abbildung meinen, sondern eine
geistige Abbildung, aber qualitativ deutlich untergeordnet und wegen des Sündenfalls stark eingeschränkt (Vergänglichkeit).
2.
Gottebenbildlichkeit = Göttliche Stellung des Menschen.
3.
Verlust der ursprünglichen göttlichen Eigenschaften des Menschen durch den Sündenfall.
1.
Der Mensch als „Nachbild Gottes“, ausgestattet mit einem relativ freien Willen. Diese göttliche Eigenschaft verschafft dem Menschen Würde.
2.
Der Begriff des „Nachbildes“ bei 1. entspricht nicht der platonischen Stufung der Ebenen. Es müsste „Abbild“
heißen.
3.
Der Mensch hat einen absolut freien Willen. Seine Würde beruht jedoch nicht auf menschlichen Eigenschaften,
sondern ist dem Menschen von außen zugesprochen.
Mischna und Gemarot zu Gen 2, 18. 21-23 (J)
Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die
um ihn sei… Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er
nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe,
die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem
Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.
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1.
Schöpfung des Menschen/des Mannes aus Staub. Ebenbildlichkeit des Menschen durch göttlichen Atem. Frau
als Gehilfin des Mannes ist dem Mann untergeordnet und ihm nicht ebenbürtig. Sie ist aus dem Mann und ihm
zeitlich nachgeordnet. Sie ist zwar identischer Stoff, aber nur aus seiner Rippe.
2.
Kritik an 1: „Gehilfin“ muss nicht negativ im Sinne der Minderwertigkeit gemeint sein. Die soziale Verfasstheit
des Menschen und seine Geschlechtlichkeit werden positiv gewürdigt. „Odem“ ist Metapher für das produktive
Leben, nicht für die Ebenbildlichkeit.
1.
Wenn der Mensch von der Erde ist, woher kommt dann die Flüssigkeit? Möglicherweise ist „von der Erde“ nur
ein metaphorischer Ausdruck dafür, dass der Mensch Teil der Erde ist. Der Mensch hat die Macht zur Kultivierung der Erde, aber auch zur Ausbeutung ihrer Ressourcen.
2.
Die Schöpfung der Frau aus der Rippe des Mannes ist eine ätiologische Erklärung für die anatomische Besonderheit des Mannes. Der Mensch ist ein soziales Wesen a priori.
Mischna und Gemara zu Gen 3, 4-5. 22-23 (J)
Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem
Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und
böse ist… Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und
böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse
und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden…
1.
Die Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse ist offensichtlich eng verbunden mit dem Wunsch, wie Gott zu
sein. Nicht die Übertretung des Verbots ist die eigentliche Sünde, sondern der zugrunde liegende Wille, Gott zu
sein. Sünde ist deshalb nicht das Tun des Bösen, sondern das Vertrauen auf sich selbst, die Selbstvergottung,
und das mangelnde Vertrauen auf Gott. Die Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse ist die Bedingung der
Möglichkeit des Verurteilens von Mitmenschen, obwohl nur Gott richten darf. Bleibt die vollzogene Strafe hinter
der angekündigten zurück? – Nein, wie angekündigt, muss der Mensch in dem Sinne sterben, dass er sterblich
wird, was er vorher im Paradies nicht war.
2.
Der Mensch war auch im Paradies sterblich. Der Baum des Lebens ist doch ein Hinweis darauf. Die Strafankündigung, sterben zu müssen, meint tatsächlich den sofortigen Tod und nicht die Sterblichkeit.
31
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M7
Wolfgang Prinz: Der Mensch ist nicht frei – ein Gespräch
(aus: Christian Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit, suhrkamp: Frankfurt a.M. 2004, S. 20-27,
hier: S. 21-23)
Frage: Sie gehen von Ihrem Forschungsbereich der Handlungssteuerung immer wieder auch in philosophische
Bereiche, beschäftigen sich mit dem Leib-Seele-Problem, also der alten philosophischen Frage, wie Gehirn
und Geist zusammenwirken, oder genauer: ob es überhaupt einen Dualismus von Geist und Gehirn gibt, und
der Frage nach der Willensfreiheit. In diesem Zusammenhang haben Sie den Satz geprägt: „Wir tun nicht, was
wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“ Was meinen Sie damit?
Wolfgang Prinz: Die Formulierung bezieht sich auf die Experimente des Neurophysiologen Benjamin Libet von
1979, die dem Alltagsverständnis unseres Handelns widersprechen. Wir glauben, daß wir, wenn wir handeln,
uns erst entscheiden und dann tätig werden. Ich als mentaler Akteur kommandiere meinen physischen Körper:
Ich tue, was ich will.
Die Wissenschaft erklärt unser Handeln aber anders. Der Interpretation des Libet-Versuchs zufolge findet
eine Entscheidung früher im Gehirn als im Bewußtsein einer Person statt. Das kann nur bedeuten, daß unser
bewusster Willensimpuls so etwas wie das Ratifizieren einer Entscheidung ist, die das Gehirn schon getroffen
hat: Ich will, was ich tue. Allerdings muß man beachten, daß die Libet-Situation einen sehr engen Zeitrahmen
hat. Und wie weit man von dieser Situation auf andere schließen kann, ist noch eine offene Frage.
Frage: Sind die Libet-Experimente ein Hinweis darauf, daß wir durch unsere Gehirne determiniert sind?
Wolfgang Prinz: Ja. Aber um festzustellen, daß wir determiniert sind, bräuchten wir die Libet-Experimente nicht.
Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen nicht zu vereinbaren. Wissenschaft geht davon aus, daß alles, was geschieht, seine Ursachen hat und daß man diese Ursachen finden
kann. Für mich ist es unverständlich, daß jemand, der empirische Wissenschaft betreibt, glauben kann, daß
freies, nichtdeterminiertes Handeln denkbar ist.
Frage: Die meisten Menschen sind doch aber davon überzeugt, daß sie freie, autonome Akteure sind.
Wolfgang Prinz: Das sind unsere alltagspsychologischen Intuitionen. Die Alltagspsychologie ist dualistisch:
Sie unterscheidet zwischen mentalen und physischen Sachverhalten, und sie glaubt, daß der Geist den Körper regiert. Wenn wir wissenschaftlich denken, ist diese dualistische Position unhaltbar. Die Wissenschaft liebt
Monismus und Determinismus.
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M8
aus: Dietlind Fischer /
Volker Elsenbast (Hrsg.)
Grundlegende Kompetenzen
religiöser Bildung,
CI Münster 2006, S. 40-43
Von Jesus aus gesehen auf der linken Seite siehst Du diese Frauengruppe:
Von Jesus aus gesehen auf der rechten Seite befindet sich diese Gruppe:
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M8
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M9
5
10
15
20
25
30
1
1523 richtet Martin Luther an einen zum Christentum übergetretenen Juden, Bernhardus Gibbingnensis,
einen Brief, indem er seine Erwartungen an die Missionierung von Juden in einen historischen Zusammenhang stellt und theologisch begründet.
Zunächst berichtete er von dem furchtbaren Schicksal eines Hofjuden unter Kaiser Sigismund (141037).
[...]
Aber als Ursache solcher Infamie sehe ich weniger den Starrsinn und die Nichtsnützigkeit der Juden an
als das höchst lasterhafte und schamlose Leben der Päpste, Mönche und Studenten, die weder durch die
Lehre noch durch christliche Sitten auch nur einen Funken von Licht oder Wärme den Juden erweisen,
sondern völlig im Gegenteil jener (der Juden) Herzen und Gewissen abstoßen durch die Dunkelheiten und
Irrtümer ihrer Traditionen und durch Beispiele schlechtester Sitten. Nur den christlichen Namen stecken
sie sich an, wie man leider an jenem Wort Christi über sie erkennen kann: “Weh euch, Schriftgelehrte und
Pharisäer, die ihr Meer und Land durchzieht, um einen Proselyten1 zu machen; und wenn er es geworden
ist, macht ihr aus ihm einen Sohn der Hölle, doppelt so wie ihr selbst seid.“ (Matth. 23,15)
In diesem Sinne beschuldigen sie die Juden, nur zum Schein sich zu bekehren[...]
Das ist so, als wenn eine Kupplerin ein Mädchen zum Unzuchtsgewerbe anlernt, sie hernach aber anklagt,
nicht als Jungfrau zu leben. Dass unsere Sophisten und Pharisäer fürwahr eine solche Methode zur Bekehrung und Unterweisung der Juden anwandten, das bezeugt wohl deine eigene Erfahrung.
Jedoch, da jetzt aufgeht und leuchtet das goldene Licht des Evangeliums, besteht Hoffnung, dass viele
Juden sich ernsthaft und gläubig bekehren und so von Herzen zu Christus hingerissen werden, wie du hingerissen worden bist, und auch manche andere, die ihr übrig geblieben seid von der Nachkommenschaft
Abrahams, um durch Gnade gerettet zu werden (Röm 11,5). [...]
Deswegen schien es mir gut, dir beiliegendes Büchlein (lateinischer Text von Luthers Schrift >Dass Jesus
ein geborner Jude sei<) zu schicken zur Stärkung und Festigung deines Glaubens an Christus, den du
jüngst aus dem Evangelium kennen gelernt hast. Jetzt aber bist du schließlich auch geistlich getauft und
aus Gott geboren[...]. Ich möchte, dass dieser Gott durch dein Beispiel und dein Wirken auch bei anderen
Juden allgemein bekannt werde, damit diejenigen, die zuvor verordnet sind, berufen werden und auch hingelangen zu ihrem König David (Röm 8, 29-30; Eph. 1,11). [...]
Lebe wohl in Gott und bete für mich !
__________
1. Zur jüdischen Religion bekehrter Heide
35
Zitiert nach: Walther Bienert; a.a.O. S.72
2
40 Luthers Schrift > Wider die Juden und ihre Lügen< von 1543
[...] Erstlich, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit
Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserem Herren und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen sind
und solches öffentliches Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht
45 geduldet noch gewilligt haben. Denn was wir bisher aus Unwissenheit geduldet – ich hab’s selbst nicht
gewusst – wird uns Gott verzeihen. Nun wir’s aber wissen und darüber frei vor unserer Nase den Juden ein
solches Haus schützen und schirmen, darin sie Christen und uns belügen, lästern, fluchen, anspeien und
schänden - wie droben gehört - das wäre ebenso viel als täten wir’s selbst, und viel ärger, wie man wohl
weiß.
50 Zum andern, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben ebenso
dasselbige drinnen, das sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun
wie die Zigeuner, auf dass sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Lande, wie sie rühmen, sondern
im Elend1 und gefangen, wie sie ohne Unterlass vor Gott über uns Zeter schreien und klagen.
Zum dritten, dass man ihnen nehme alle Betbüchlein und Talmudisten2, darin solche Abgötterei, Lügen,
55 Fluch und Lästerung gelehrt wird.
35
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60
65
70
75
Zum vierten, dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren. Denn solch Amt
haben Sie mit allem Recht verloren, weil sie die armen Juden mit dem Spruch gefangen halten [...], sie
sollen ihren Lehren gehorchen bei Verlust des Leibes und der Seele, obwohl doch Moses daselbst klar
hinzufügt >Was sie dich lehren nach dem Gesetz des Herrn<. Solches übergehen die Bösewichter und
gebrauchen des armen Volkes Gehorsam zu ihrem Mutwillen wider das Gesetz des Herrrn, gießen ihnen
solch Gift, Fluch und Lästerung ein.
Zum fünften, dass man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe, denn sie haben nichts auf
dem Lande zu schaffen, weil sie nicht Herren, noch Amtleute, noch Händler oder desgleichen sind. Sie
sollen daheim bleiben. Ich lasse mir sagen, es soll ein reicher Jude jetzt aufs Land reiten mit zwölf Pferden
– der will ein Kochab3 werden – und wuchert Fürsten, Herren und Leute aus [...].
Zum sechsten, dass man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod und lege
es zur Verwahrung beiseite. Und dies ist die Begründung: Alles, was sie haben - wie droben gesagt - haben
sie uns gestohlen und geraubt durch ihren Wucher, weil sie sonst keine andere Nahrung haben. Solches
Geld soll man dazu brauchen – und nicht anders - wo ein Jude sich ernstlich bekehrt, dass man ihm davon
ein-, zwei- oder dreihundert Gulden auf die Hand gebe nach den persönlichen Lebensumständen, damit er
beginnen könne, eine Erwerbsmöglichkeit zu schaffen, um für sein armes Weib und die Kindlein sorgen zu
können. Auch unterhalte man damit die Alten und Gebrechlichen, denn solch böse gewonnenes Gut ist verflucht, wo man es nicht mit Gottes Segen in guten nötigen Gebrauch wendet[...].
Zum siebenten, dass man den jungen starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst4,
Spaten, Rocken5, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße der Nasen, wie Adams Kindern
(Gen 3, 19) auferlegt ist. Denn es taugt nicht, dass sie uns verfluchte Gojim6 wollten im Schweiße unseres
Angesichts arbeiten lassen und sie, die heiligen Leute, wollten es hinter dem Ofen mit faulen Tagen, Festen
und Pomp verzehren.
__________
1
in Sinne von >Ausland<
2
Schriften der Talmudgelehrten
3
jüdischer Freiheitskämpfer gegen die Römer
4Hacke
5
Gestell zur Befestigung des Spinngutes
6
verächtlicher Ausdruck der Juden für >Christen<
Zitiert nach: Walther Bienert a.a.O. S 149 f
aus: Robert Gericke, Beiheft zu: „Die Reformation in Deutschland“, Teil I: „Martin Luther und die Juden“.
36
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M10
Die evangelische Kirche und die NS - Judenpolitik
Am 10. November 1938 - es ist Luthers Geburtstag - brennen in Deutschland die
Synagogen
In seinem Vorwort zu einer Neuauflage von Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“, weist der evangelische Landesbischof von Thüringen auf Zusammenhänge hin:
Vom Deutschen Volk wird zur Sühne für die Ermordung des Gesandtschaftsrats vom Rath durch Judenhand die
Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt[...].
In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und
der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden[...].
Aus:http://www.theologe.de/theologe04.htm o. J. ; S. 57
Evangelische Landeskirchen berufen sich auf Martin Luther
Gemeinsame Erklärung zur Anordnung über die Einführung des Judensterns der
Landeskirchen Sachsen, Hessen-Nassau, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Anhalt,
Thüringen und Lübeck:
Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen evangelischen Landeskirchen
und Kirchenleiter in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der u.a. die Reichspolizeiverordnung über die
Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat. Wie schon Dr. Martin Luther nach bitteren Erfahrungen die Forderung erhob, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen
und sie aus deutschen Landen auszuweisen. Von der Kreuzigung Christi bis zum heutigen Tage haben die Juden
das Christentum bekämpft oder zur Erreichung ihrer eigennützigen Ziele missbraucht oder gefälscht.
Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart eines Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seinem
biologischen Sein nichts geändert.
Aus:http://www.theologe.de/theologe04.htm; o. J.; S.64f
__________
aus: Robert Gericke, Beiheft zu „Die Reformation in Deutschland“ Teil I, „Martin Luther und die Juden. Ein „vergessenes“ Thema ?“
37
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M11
Als Beispiel für einen späten - dafür aber grundsätzliche theologische Fragen nicht ausklammernden - Schritt
zur Abkehr von einer verhängnisvollen Tradition kann die Änderung der Verfassung der Landessynode der
evangelisch-lutherischen Kirche Braunschweig stehen, die im November 2004 erfolgte. Ihr voraus ging eine
>Kundgebung der Landessynode zum Verhältnis von Christen und Juden<
Beschluss:
Kundgebung der Landessynode Braunschweig zum Verhältnis von Christen und Juden
„Hat nicht der mich erschuf auch ihn erschaffen und der Eine uns im Mutterschoß bereitet ?“ (Hiob 31,15)
Christen und Juden lesen gemeinsam diesen einen Satz aus dem Buch Hiob; doch verstehen sie dasselbe ?
Öffentlich zu lesen ist dieses Zitat an der Gedenktafel am Bunker in der Alten Knochenhauer Straße in Braunschweig. Bis zum 9. November 1938, der „Reichspogromnacht“, stand an diesem Ort die Synagoge Braunschweigs.
I. Die Landessynode hat sich mit theologischen Überlegungen zum Verhältnis von Christen und Juden befasst
und erkennt folgende Ergebnisse:
1. Die Wurzel des Christentums ist mit Jesus Christus eindeutig im Judentum gelegt. Das Christentum gründet
im Handeln desselben Gottes von Juden und Christen.
2. Aus den paulinischen Schriften des Neuen Testamentes erfährt die Kirche von der bleibenden Erwählung
Israels, deshalb bedarf es keiner gezielten christlichen Mission im Sinne einer Bekehrung unter Juden.,
unbeschadet dessen, dass Christen gegenüber Juden Zeugnis ablegen.
3. Christen und Juden unterscheiden sich in der Wahrnehmung der Wirklichkeit Jesu als Christus. Doch die
gemeinsame Erwartung des Schalom im Kommen des Messias und in der Wiederkunft Christi beziehen
Juden und Christen im Blick auf die Zukunft aufeinander.
Die Landeskirche beschreibt in der Präambel ihrer Verfassung ihr Selbstverständnis, das sie mit folgender Erklärung verdeutlicht:
„Durch ihren Herrn Jesus Christus weiß sie (die Kirche) sich hineingenommen in die Verheißungsgeschichte
Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel.“
II. Das Verhältnis von Christen und Juden ist auch historisch zu beschreiben. Wie jede Theologie nicht unabhängig von ihrer historischen Situation geschrieben wird, kann auch die heutige Kirche in Deutschland nicht von
ihrer Geschichte im Verhältnis zu den Juden absehen.
Die Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig richtet ihren Blick auf die Geschichte von Christen
und Juden in dieser Region, wohl wissend, dass die regionale Geschichte in die allgemeine Geschichte eingebettet ist.
Mit Dankbarkeit kann die Synode feststellen, dass es im Bereich der Landeskirche im Laufe der Jahrhunderte
auch gelungenes Zusammenleben von Christen und Juden gab.
[...]
38
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Die Landessynode erinnert aber auch an die Geschichte der Ausweisung jüdischer Mitbürger, ihrer Verfolgung
und Demütigung – bis hin zur Shoa: der Folterung, Ermordung, Vernichtung.
Jedes Wort des Bekenntnisses von Schuld kann übertönt werden von den Tränen und Schreien, auch dem stummen Schrei jener, die aus den Städten und Dörfern, in denen wir heute leben, abtransportiert und in die Lager
zum Tod gebracht wurden.
Auch nach 60 Jahren muss die schamhafte Erinnerung daran wach bleiben, dass Christen nicht mutig genug
geglaubt, geliebt, Widerstand geleistet haben, sondern sich anpassten an den Geist der Zeit. Zur dunklen
Geschichte auch unserer Kirche gehört die Tatsache, dass Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter, die in der Zeit der
Verfolgung für die Juden Partei ergriffen haben, auch von der Kirche beschuldigt und angeklagt wurden.
Die Schuld, die auf unserer Kirche liegt, bekennen wir; um Vergebung können wir nur bitten.
Zur Umkehr gerufen, suchen wir Versöhnung mit unseren jüdischen Mitmenschen und treten jeder Form von
Judenfeindschaft entgegen.
[...]
__________
aus: Robert Gericke, Beiheft zu „Die Reformation in Deutschland“ Teil I, „Martin Luther und die Juden. Ein „vergessenes“ Thema ?“
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M12
Paulinische Neudefinition der Kriterien der Zugehörigkeit zum Volk Gottes
Jesus war Jude. Diese beinahe banale Feststellung hat historisch wie theologisch erhebliches Gewicht. Und auch
die Jesusbewegung, sowohl zu Lebzeiten Jesu wie nach seinem Tode, war eine jüdische Bewegung. Die ersten
Zeugen seiner Auferstehung – und mit dem Glauben an diese beginnt erst eigentlich das Christentum – waren
Juden. Und schließlich war auch der Wegbereiter einer heidenchristlichen Kirche, Paulus von Tarsus, ein Diasporajude.
Religionswissenschaftlich lässt sich das früheste Christentum in seinen Anfängen als heterodoxe [= abweichende] jüdische Bewegung charakterisieren, die ihr Zentrum in Jerusalem und Galiläa hatte. Daß die Aufnahme
von Heiden in die entstehenden christlichen Gemeinden zu einer heftigen Kontroverse führen konnte, ist ja
überhaupt nur verständlich, weil das junge Christentum sich als Teil des Judentums begriff. Dieses kannte den
Status des Proselyten, Heiden also, welche zur jüdischen Religion übertraten, sich – sofern sie Männer waren
– beschneiden ließen und dadurch nicht nur zu Angehörigen der jüdischen Religion, sondern auch zu Gliedern
des jüdischen Volkes wurden. Auch in das Christentum führte der Weg für Nichtjuden zunächst nur über das
Judentum… Christ konnte nach seinem Verständnis nur sein, wer Proselyt und das heißt ein Angehöriger des
jüdischen Volkes wurde. […]
Erst der pharisäische Schriftgelehrte Paulus von Tarsus stellte die jüdische Prämisse christlicher Existenz in
Frage… Paulus wusste sich zum Heidenapostel berufen, welcher Nichtjuden für den christlichen Glauben
gewinnen sollte, ohne diese zum Übertritt zum Judentum zu bewegen… Diese sollten Glieder des endzeitlichen
Gottesvolkes werden, ohne zu diesem Zweck sich beschneiden zu lassen und also dem jüdischen Volk beizutreten. Paulus begründete den Verzicht auf die Beschneidung von Nichtjuden damit, daß durch den heilsstiftenden
Kreuzestod Jesu von Nazareth das jüdische Gesetz, die mosaische Tora, seine für das Volk Gottes identitätsstiftende Bedeutung verloren habe...
So sehr Paulus bis zum Ende seines Lebens um den Zusammenhalt der heidenchristlichen Gemeinden mit dem
Judentum kämpfte, war es doch gerade sein Verständnis des endzeitlichen Gottesvolkes und der Bedingungen
der Zugehörigkeit zu ihm, welches schließlich zur Trennung der christlichen Gemeinde vom Judentum führte und
letztlich führen mußte. Seinem Wesen nach ist das Judentum eine Volksreligion, in welcher die Religionszugehörigkeit auf der Zugehörigkeit zum Volk basiert. Paulus aber behauptete, daß zwischen dem Volk Gottes als einer
endgeschichtlichen Größe und dem jüdischen Volk eine grundlegende Differenz bestehe. „Nicht alle“, so erklärte
er in Röm 9,6f, „die aus Israel stammen, sind Israel; auch nicht alle, weil sie Nachkommen Abrahams sind,
sind deshalb schon seine Kinder.“ Eine solche These mußte zum Bruch mit dem Judentum führen, welches doch
die Identität beider Größen voraussetzt… Zwar sind auch für Paulus die Angehörigen des wahren Israels Nachkommen Abrahams, aber die wirklichen Kinder Abrahams sind nicht diejenigen, die von einer jüdischen Mutter
geboren wurden, sondern jene, die an Jesus von Nazareth als den Messias bzw. Kyrios [Herrn] und Sohn Gottes
glauben, d.h. die Christusgläubigen aus Juden und Heiden. Nicht die Mose am Sinai gegebene und mündlich
weitertradierte und weiterentwickelte Tora, sondern Jesus als der Kyrios oder Messias konstituiert nach Paulus
das wahre Israel. Nicht Tora-Observanz, sondern das Bekenntnis zu Christus begründet die Zugehörigkeit zum
wahren Israel… Das Christusbekenntnis impliziert aber bei Paulus eine Absage an die nach jüdischem Verständnis fortbestehende Heilsbedeutung der Tora. Nicht das Bekenntnis zur Messianität Jesu als solches, sondern
das mit ihm bei Paulus verbundene Toraverständnis markiert den Bruch des paulinischen Christentums zum
jüdischen Glauben. Christus nimmt bei Paulus die Stelle der Tora ein, was Paulus zu der Behauptung führt, zwischen dem wahren Israel, d.h. dem endzeitlichen Gottesvolk, und dem empirischen Judentum sei theologisch zu
unterscheiden.
Ulrich H.J. Körtner, Volk Gottes – Kirche – Israel, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 1/1994, 51-79, hier: 61-64 [in Auswahl]
Arbeitsaufgaben:
1. Arbeiten Sie aus dem Text das dargestellte Verhältnis des frühen Christentums zum Judentum heraus!
2. Erläutern Sie den Umfang, den Charakter und die Bedeutung der Tora nach jüdischem Verständnis!
40
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1
2
3
4
5
6
41
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M14
Texte zur Theodizeeproblematik
a.
Entweder will Gott das Übel beseitigen und kann es nicht,
oder er kann es und will es nicht,
oder er kann es nicht und will es nicht,
oder er kann und will es.
Wenn er will und nicht kann, dann ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft.
Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist.
Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig als auch schwach und dann auch nicht Gott.
Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel, und warum nimmt er
sie nicht weg?
Epikur (341-270 v.Chr.)
b.
Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen! Er bleibt stehen, und rings um ihn legen sich die
angeschwollenen Gewässer. Ich Unglücklicher, daß mir dieses Schicksal widerfahren mußte! Nicht doch, sondern glücklich bin ich, daß ich trotz diesem Schicksal kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt,
noch von der Zukunft geängstigt! So etwas hätte ja jedem begegnen können, aber nicht jeder wäre dabei kummerfrei geblieben. Warum nun jenes eher ein Unglück, als dieses ein Glück? Nennst du aber überhaupt etwas
ein Unglück für einen Menschen, was doch mit der Natur des Menschen in keinem Widerspruch steht? Oder
scheint dir etwas der Natur des Menschen zu widersprechen, was nicht gegen den Willen seiner Natur ist? Was
ist aber dieser Wille? Du kennst ihn. Hindert dich nun wohl dein Schicksal, gerecht, hochherzig, besonnen,
verständig, vorsichtig im Urteil, truglos, bescheiden, freimütig zu sein und die anderen Eigenschaften zu haben,
in deren Besitz die Eigentümlichkeit der Menschennatur besteht? Erinnere dich also, bei jeder Veranlassung zur
Unlust die Wahrheit geltend zu machen, dies ist kein Unglück, vielmehr es mit edlem Mute zu tragen, ein Glück.
Gerade wie der Ausdruck zu verstehen ist: der Asklepiade [Arzt] habe diesem und jenem Kranken das Reiten
oder ein kaltes Bad oder das Barfußgehen verordnet, ebenso auch der: die Allnatur habe diesem oder jenem eine
Krankheit oder Verstümmelung oder einen Verlust oder etwas anderes derart verordnet. Denn dort bedeutet der
Ausdruck: ‚Er hat’s verordnet’ soviel: ‚Er hat es ihm zur Gesundheit dienlich angeordnet’ soviel als: Was jedem
Menschen begegnet, ist für ihn als der Naturnotwendigkeit gemäß angeordnet.’ In ähnlicher Weise sagen wir
ja, dieses oder jenes füge sich für uns, wie die Baukünstler von den Quadersteinen in den Mauern oder Pyramiden sagen: ‚Sie fügen sich’, wenn sie durch irgendeine Zusammensetzung ineinander passen. Denn durch alles
geht eine Harmonie; und gleichwie aus allen Körpern zusammengenommen die Welt ein so vollendeter Körper
wird, so wird auch aus allen wirkenden Ursachen zusammengenommen eine so vollendete ursächliche Kraft,
das Schicksal. Was ich hier sage, verstehen auch die allerunwissendsten Menschen; denn sie sagen ja: ‚Das hat
sich ihm geschickt’; also wurde jenes diesem zugeschickt und dieses jenem zugeordnet. Lasset uns mithin derlei
Schickungen so annehmen, wie die Mittel, die ein Asklepiade verordnet! Schmeckt ja auch unter diesen vieles
bitter, und doch heißen wir’s in Aussicht auf Genesung willkommen. Denke dir also dasjenige, was die gemeinschaftliche Natur für vollständige Erreichung des Zieles erklärt, als etwas deiner Gesundheit Ähnliches, und
heiße alles, was geschieht, wenn es dir auch als noch so hart erscheint, willkommen, weil es zum Ziel hinführt,
nämlich zur Gesundheit der Welt und zum gedeihlichen Wirken und zur Seligkeit des höchsten Gottes! Denn er
würde einem Menschen nichts derart zuschicken, wenn es nicht dem Ganzen zuträglich wäre. Schickt ja nicht
einmal ein Wesen gewöhnlicher Art einem andern von ihm Abhängigen etwas zu, das demselben nicht förderlich
ist. Aus zwei Gründen mußt du also mit deinem Geschicke zufrieden sein: fürs erste nämlich, weil es dich traf
und dir verordnet wurde und in Verkettung mit einer langen Reihe vorhergegangener Ursachen auf dich irgendwie Bezug hatte, fürs andere aber, weil es für den Beherrscher des Ganzen Grund seines gedeihlichen Wirkens,
seiner Vollkommenheit, ja sogar seiner Fortdauer ist. Denn das Weltganze würde verstümmelt, wenn du am
Zusammenhang und Zusammenhalt wie der Bestandteile, so denn auch der wirkenden Ursachen auch nur das
Geringste lostrennen wolltest. Du trennst es aber los, soviel an dir ist, wenn du damit unzufrieden bis und es
gewissermaßen wegzuräumen suchst.
Marc Aurel (121-180 n.Chr.), in: Karl Vorländer, Philosophie des Altertums, Rowohlt: Hamburg 1969, 282 f.
42
'bb' 118-4/2006
c.
Überdies haben wir vom Menschen nur, wenn wir abstrakt denken, eine so hohe Meinung. Die meisten von uns
halten den weitaus größten Teil der konkreten Menschen für sehr schlecht. Zivilisierte Länder geben mehr als die
Hälfte ihrer Einnahmen dafür aus, einander die Bürger zu töten. Betrachten wir die lange Geschichte der Handlungen, die von moralischer Leidenschaft inspiriert waren: Menschenopfer, Ketzerverfolgungen, Hexenjagden,
Pogrome bis zur Tötung in großem Ausmaß durch Giftgas… Sind diese Abscheulichkeiten und die ethischen Lehren, von denen sie veranlaßt werden, wirklich Beweise für einen intelligenten Schöpfer? Und können wir wirklich
wünschen, dass die Menschen, die sie verübt haben, ewig leben? Die Welt, in der wir leben, läßt sich als das
Ergebnis von Wirrwarr und Zufall verstehen; wenn sie jedoch das Ergebnis einer Absicht ist, muß es die Absicht
eines Teufels gewesen sein. Ich meinerseits halte den Zufall für eine weniger peinliche und zugleich plausiblere
Erklärung.
Bertrand Russell (1872-1970), in: Warum ich kein Christ bin – Über Religion, Moral und Humanität, Rowohlt: Reinbek 1968/1989, 99
d.
Auf den ersten Blick wirkt es überzeugend, daß das Übermaß des Leidens und die Macht des Bösen in der Welt
unvereinbar sind mit der Wirklichkeit eines allmächtigen und zugleich liebevollen Gottes. Dieser Eindruck drängt
sich nahezu unabweisbar auf, wenn man Gott als den Schöpfer einer anfänglich vollkommenen Welt denkt, in
der dann nachträglich das Böse eingerissen wäre. Die Theologen sind nicht unschuldig daran, daß unter diesem Gesichtspunkt der von Jesus verkündete Gott der väterlichen Liebe immer wieder die steinernen Züge
eines Schreckensantlitzes angenommen hat, das ohne Not Leiden und Verzweiflung über die angeblich geliebte
Menschheit verhängt. Aber vielleicht hat die Theologie hier die mythische Denkform der Erzählungen von Schöpfung und Sündenfall nicht genügend berücksichtigt und darum Schlüsse aus ihr gezogen, die ihren Sinn verkehren? Vielleicht hat die Theologie in einer allzu abstrakten Weise von der Allmacht Gottes gesprochen, nämlich
ohne Rücksicht auf die Kämpfe der Geschichte? Es kommt auf den Ausgangspunkt an, auf die Erfahrungsgrundlage, von der her das Bekenntnis zur Allmacht Gottes und zur Abhängigkeit aller Dinge von ihm als ihrem Schöpfer gesprochen wird. Diese Erfahrungsgrundlage aber existiert nicht jenseits der Kämpfe der Geschichte, in der
die Wirklichkeit Gottes noch strittig ist. Es ist die Erfahrung einer Welt, in der das Reich Gottes, die Herrschaft
Gottes noch nicht endgültig in Erscheinung getreten ist. In dieser Welt des Kampfes gegen das Leid, gegen die
Sinnlosigkeit und gegen das Böse ist Gott die äußerste, die stärkste Macht, mit der der Mensch sich verbinden
kann, selbst da noch, wo er allem Anschein nach hoffnungslos unterliegt. So gesehen ist Gott nicht widerlegt
durch das Übel in der Welt. Im Gegenteil, das Vertrauen auf seine Wirklichkeit ist das Letzte und Äußerste, was
der Mensch der Hoffnungslosigkeit und dem Tod entgegenzusetzen hat. Gott ist die Kraft der Hoffnung gegen alle
Hoffnung. Und das Bekenntnis zu seiner Allmacht, das Bekenntnis zu ihm als dem Schöpfer aller Dinge ist nicht
einfach Feststellung von etwas, was unbestreitbar vorhanden wäre, sondern Ausdruck der Hoffnung und des Vertrauens auf die Übermacht der göttlichen Liebe über alles Grauen und alle Absurdität dieser Welt, ja auch über
den Tod.
Wolfhart Pannenberg (*1928), in: Konzepte 2: Gott und Gottesbilder, Diesterweg/Kösel: Frankfurt/München 1977, 20
d.
Wenn man die zeitgenössische Erfahrung unter dem Namen Auschwitz vereinbaren will mit der Vorstellung eines
Gottes, den man bejaht, dann muss von den Gottesattributen – es sind…vor allen Dingen drei, göttliche Allmacht nämlich, göttliche Güte und Verstehbarkeit (welch letztere an sich gar kein Attribut Gottes, sondern ein
Attribut des Verhältnisses von Menschen ist) - eines geopfert werden. Entweder: er ist zwar allmächtig und allgütig – aber völlig unverständlich für uns, oder: man kann es ausprobieren, daß nur zwei von diesen drei Attributen
zusammen bestehen können.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, daß das Attribut der Allmacht das ist, was geopfert werden muss. Das hat
bei mir zu der merkwürdigen und keineswegs befriedigenden, aber irgendwie für mich doch wieder akzeptablen
Vorstellung eines zwar an der Welt sehr interessierten, aber machtlosen Gottes geführt, der nicht eingreift in den
physischen Verlauf der Welt.
Hans Jonas (1903-1993), in: Dietrich Böhler [Hg.], Ethik für die Zukunft, Beck: München 1994, 177 f.
43
'bb' 118-4/2006
fachbeitrag: krisenpädagogik – grenzüberschreitungen der schulpädagogik,
wenn das konventionelle nicht
mehr trägt
manfred bönsch
Das Problem
Die Grundposition
Relativ häufig stößt die institutionalisierte Pädagogik an
Grenzen. Das heißt, das konventionelle Gegebenheiten
z.B. in der Schule als Auffangs- und Stützgerüste nicht
mehr tragen. Mitunter wird das etwas stereotyp mit veränderter Kindheit erklärt. Familienerziehung habe nicht
mehr genug Gestaltungskraft. Veränderte Familienbeziehungen entstünden in der Breite (Ein-Eltern-Familien,
Patchwork-Familien u. a. m.). Primäre Erfahrungen gäbe
es zu wenig. Der Medienkonsum ersetze sie zunehmend
(Kühe sind lilafarben!) Der ganzheitliche Lebensraum sei
Verinselungen gewichen (Kinder seien heute „Inselhüpfer“
(Wohnung, Schule, Ballettstunde, Fußballtraining, Verabredungen mit Freunden im Nachbarort – gut, wer eine
Taximutter hat!)). Und wenn die Schule zusätzlich Defizite
entwickelt (Schüler/innen kommen mit ihr nicht zurecht,
schulisches Lernen wird als sinnlos empfunden, die persönliche Akzeptanz erscheint gering) und sich diese mit
schwierigen Lebensverhältnissen in einer negativen Koalition verbinden, ist die pädagogische Krise da und Grenzüberschreitungen z. B. in Gestalt von Schulverweigerung
finden statt. Fast erscheint jeder zurückholende Ansatz
aussichtslos. Die Frage ist dann, ob die Pädagogik die
Grenzen - um im Bild zu bleiben - mit überschreiten kann,
um jenseits der Konventionen einen neuen Ansatz zu
finden. Eine evtl. Bejahung dieser Frage hängt einmal von
Grundeinstellungen ab. Wie weit reichen Kraft und Engagement bei der Verfolgung des Postulates „Keiner darf
verloren gehen“ und hält man es überhaupt für wichtig?
Und sie hängt dann von den Möglichkeiten ab, die man
noch sieht und evtl. gehen könnte. Die vielleicht aufkommende Killerphrase (dafür fehlen Ressourcen personeller
und sachlicher Art) soll außer Acht gelassen werden.
Vielmehr wird die Frage verfolgt, wie weit pädagogisches
Denken und Handeln jenseits der herkömmlichen Grenzen reichen könnte. Der Versuch der Ausmessung einer
sog. Krisenpädagogik soll in den folgenden Ausführungen
gemacht werden.
Bliebe man bei der nicht so seltenen Auffassung „Wer sich
nicht benehmen kann, gehört nicht hierher!“ wären die
Überlegungen schon hier zu Ende. Kann man bei der Grundannahme verharren, dass jeder Mensch erreichbar bleibt,
vielleicht sogar sehnlichst darauf wartet, dass ihm geholfen
wird, und dass keiner verloren gegeben werden darf – zum
pädagogischem Ethos gehört, dass es die Abschreibung von jungen Menschen nicht geben darf –, dann drängt sich die Frage
des „Wie“ in den Vordergrund. Klar muss wohl von Anfang
an sein, dass eine individuelle idealistische Perspektive
nicht allein ausreicht. Sie würde schnell ohnehin begrenzte
Kraft- und Zeitpotentiale überfordern. Die Chance liegt also
von vornherein nur in Kooperationsstrategien. Drei Denkansätze
sollen verfolgt werden. (1.) Veränderung der Institution, (2.)
Kumulative Verdichtung der Beziehungsrahmen und (3.)
alternative, nachhaltige Erziehungs- und Lernszenarien.
44
1. Veränderungen der Institution
Nach wie vor ist es schwer, sich die Schule anders zu
denken als in den herkömmlichen Organisationsmustern. Besonders in der Sekundarstufe I ist die Vorstellung festgemauert, nach der Schule darin besteht, dass
14-15 Unterrichtsfächer in 45 Min. – Rhythmus Tag
für Tag angeboten werden. Der Stundenplan kanalisiert
unbarmherzig die Abläufe, Fächer- und Lehrerwechsel
und die Lernmöglichkeiten. Die Schule ist ein Moloch,
der beide Seiten Lehrer/innen wie Schüler/innen – ständig (über-)fordert und entsprechende Reaktionen produziert: burnout auf der einen Seite, Abwehr, Unlust,
Verweigerung auf der anderen Seite. Und wenn sich
Misserfolge anhäufen, wird es kritisch. Am Beispiel des
Phänomens „Schulverweigerung“ kann man exemplarisch die Kumulation negativer Faktoren deutlich machen
(Übersicht 1):
Die Frage ist dann, ob man mit polizeilichen Mitteln
das Problem zu beheben versucht (gewaltsame Zuführung schwänzender Schüler/innen) oder ob die Lernbedingungen zu hinterfragen wären, damit die Institutton
„Schule“ sich anders anbieten könnte. Im Bereich „Hauptschule“ gibt es bemerkenswerte Ansätze. Die folgende
Übersicht (Übersicht 2 im Anhang) gibt zunächst einen
'bb' 118-4/2006
'bb' 118-4/2006
45
Pfade zum Absentismus
Ursachensuche bei Schulverweigerung
Überblick, der dann in bezug auf die Ansätze einer Krisenbewältigung untersucht werden soll.
Die sog. kleinen Möglichkeiten am Beispiel einer
Sekundarschule wären der wöchentliche Projekt- oder
Praxistag, der die Schüler/innen in andere Lern- bzw.
Erfahrunaskontexte führt, um von ihnen her neue Motivationen für das konventionelle Lernen zu gewinnen.
Klassenübergreifender Wahlpflichtunterricht beinhaltet
die Chance, durch Interessenorientierung und Neugruppierung zwei Motive zum Lernen zu aktivieren. In der
Sekundarschule gäbe es auch die Chance, im Rahmen
einer Fachlehrerkette für jeden z. B. im Fach Mathematik
die Angebote zu machen, die er erfolgreich bewältigen
kann. Da könnte ein Schüler im 7. Schulbesuchsjahr den
Stoff des 5. Schuljahres in Ruhe bearbeiten, eine Schülerin im 7. Schulbesuchsjahr aber könnte ihre Stärken im
Englischunterricht am Stoff des 9. Schuljahres weiterentwickeln. Natürlich ist der Einsatz des bekannten Subkonzepts offenen Unterrichts immer eine Möglichkeit, dem
Lernen neue Impulse zu geben. Aber insgesamt wird die
Reichweite dieser Möglichkeiten begrenzt sein. Immer
sind noch latent vorhandene positive Anknüpfungspunkte
als Voraussetzung anzunehmen.
Minimieren sich diese aber gegen Null, muss man den
Denkrahmen für eine alternative Schulgestaltung weiter
strecken. Die in der Übersicht angeführten Ansätze der
Lebensweltinszenierung, des Arena-Kurs-Modells, der
Werkstatt-Schule und der Stadt-als-Schule können eine
aufsteigende Linie aufzeigen. Der Grundgedanke der
Lebensweltinszenierung ist, die Fächer vorbereitend für
eine zeitweise andere Lernwelt (Mittelalter, Römer, Indianer, Japan) zu funktionalisieren. Diese andere Lebensweit zur schulischen Mitte zu machen, in der man dann
eine Zeit lebt. Aber man muss viel wissen, damit dies
gelingt. Und die Hoffnung ist, dass aus diesen so ande­ren
Lernwelten auch wieder die Bereitschaft erwächst, sich
den Anforderungen des normalen Unterrichts zu stellen.
Ein doppelter Effekt kann sich ergeben. Voraussetzung
ist allerdings ein massives Engagement im Kollegium.
Das Arena-Kurs-Modell setzt ähnlich an. Die sog. Arenen
bieten mit Kunst, Theater, Schreibwerkstatt, Akrobatik, Zirkus – gestaltet und angeregt durch außerschulische Experten außergewöhnliche Lernmöglichkeiten
an, die dann das „Schwarzbrot des Lernens“ in den sog.
Kursen befruchten sollen. Ein qualitativer Sprung ist bei
der Werkstatt-Schule und der Stadt-als-Schule zu konstatieren. Wie der Doppelsinn andeutet, geht es bei der
Werk-statt-Schule um ernsthafte Werkprojekte (Ausbau
eines Fotoateliers, Bau einer Holzbrücke im Garten) statt
herkömmlicher Schule, geht es um Werkstattarbeit statt
herkömmlichen Unterrichts. Und die Stadt-als-Schule
verlegt die Lernorte konsequent an drei Wochentagen
an außerschulische Lernorte (Restaurant, Kindergarten,
Kfz-Werkstatt, Krankenhaus u. a. m.), um dann begleitend
herkömmliches schulisches Lernen zu organisieren, weil
man immer wieder Wissen und Fertigkeiten .draußen“
braucht und weil man Ideen und Notwendigkeiten von
„draußen“ mitbringt.
46
Wenn man die Ideen der alternativen Gestaltung bündelt,
wird man sagen können, dass entweder neue Handlunasmittelpunkte in der Schule gesucht werden, von denen eine Strahlwirkung im Sinne von Anregung, Motivation, Sinnhaftigkeit
erwartet wird, oder sog. Ernstsituationen Herausforderungen
darstellen, in denen quasi wie von selbst die bisher trockenen
Schulstoffe Relevanz gewinnen und das Lernen neu initiieren.
Jede der kurz skizzierten Varianten erfordert ein
erhebliches Umdenken in curricularer, organisatorischer,
methodischer und personeller Hinsicht. Man muss den
„Lernzug“ auf neue Gleise setzen in der zunächst offenen
Hoffnung, dass die weit weg liegenden Bahnhöfe (Schulabschlüsse) wieder erreichbar werden.
2. Kommunikative Verdichtungen
Es gibt Lebenslagen, die von institutionellen Veränderungen
nicht erreicht werden. Nehmen wir hier das Beispiel einer
Mädchengruppe in einem Berufsvorbereitungsjahr an einer
beruflichen Schule. Die Klasse umfasst sechs Mädchen im
Alter von 16 – 18 Jahren, die über Jahre nur Misserfolg erfahren haben, keinen Schulabschluss trotz neun bis zehnjährigem Schulbesuch erlangt haben und in ziemlich verfestigte
Abwehrhaltungen gegenüber Schule und Lehrer/innen geraten sind. Dies äußert sich in ostentativ geäußerter Lustlosigkeit, gar in aggressiver Ablehnung jeder Art von Lernangebot. Der Ton ist rüde und schroff und auf Beleidigung und
Feindlichkeit hin ausgelegt. Eine Rädelsführerin bestimmt
das Verhalten und macht tendenziell Kompromisse unmöglich. Die passiveren Schüler/innen können es nicht wagen,
sich zu öffnen und womöglich auf wenigstens kleine Angebote
einzugehen. Die Situation erscheint Lehrer/innen wie Sozialarbeitern wie Psychologinnen hoffnungslos. Die negativen
Einstellungen erscheinen derart verfestigt, dass es keinen
Ansatzpunkt zu Aufweichungen gibt. Der Alltag ist Kampf
und Krampf, die Krise sehr ausgeprägt. Ist hier die Schulpädagogik am Ende? Zunächst sei erst wieder eine Gegenstrategie dargestellt und dann auf ihre Chancen hin kommentiert.
Das Grundproblem liegt häufig darin, dass sich Lehrer/
innen, wenn der normale, an Unterrichtsinhalten orientierte Unterricht nicht realisierbar erscheint, resignieren
und hilflos sind. Das Repertoire intensiver Beziehungsarbeit
steht (scheinbar) nicht zur Verfügung und das Herausgehen aus den Konventionen erscheint nicht möglich. Die
oben dargestellte Strategie folgt einer Mehrschrittigkeit.
die mit den Begriffen Beziehungsarbeit – verdichtete Situationen – Alternativer Unterricht Verantwortung übernehmen – Wichtige Bezugspersonen – zu kennzeichnen ist.
Da die Grundprobleme in über längere Zeit entstandenem
Abwehrverhalten, verschütteter Motivation, Frustration
und Misserfolg liegen, sind nur sehr langsam verlässliche
Beziehungen wiederaufzubauen. Verdichtete Situationen
im Sinne von besonderer Zuwendung, Doppelbesetzung im
Unterricht und außerunterrichtliche/-schulische Aktivitäten wären wichtig. Alternative Lernangebote, wie oben
schon dargestellt, und möglichst Aufga­ben, die nicht nur
Ausführung und Reaktion verlangen, können schrittweise
einen Neuaufbau von positiven Einstellungen anregen. Da
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'bb' 118-4/2006
47
Alternative Gestaltungen der Hauptschule
Denkhilfen für die Arbeit mit einer extrem schwierigen Schülergruppe
(Beispiel: 6 Mädchen in einem Berufsvorbereitungsjahr)
1. Beziehungsarbeit:
Der erste Ansatz ist wohl der, langsam und geduldig am Aufbau einer verlässlichen Beziehung zu arbeiten (Einzelgespräche, häufige Kontakte in der Schule (vor
und nach den Unterrichtsstun­den) und auch außerhalb der Schule (Einladung zur
wöchentlichen Teestunde u. a. m.), Ansatzpunkte bei einzelnen Mädchen finden
(Auseinanderdividieren von Rädelsführerin und Gruppenzwang))
2. Verdichtete Situationen:
Die am Unterricht der Gruppe beteiligten Kollegen/innen arbeiten zusammen, sie
sprechen sich ab, sie nehmen verteilt die Betreuung einzelner Mädchen wahr, sie
erteilen Unterricht zu zweit (Umorganisation des unterrichtl. Einsatzes). Sie zeigen
Interesse an außerschulischen Situationen und Aktivitäten (Konzerte besuchen,
Treffs aufsuchen u. a. m.)
3. Wiederaufbau verschütteter, verlorener Motivation:
Wenn Misserfolg Desinteresse die Einstellungen bestimmen, ist der langsame,
kleinschrittige Aufbau von Regelorientierung, Verabredung, Aufgabenerledigung
wichtig. Am Anfang werden dies nur Kleinigkeiten sein können (regelmäßig da sein,
wenigstens zusammensprechen können, ganz kleine Aufgaben realisieren). Die
Bedürfnisse liegen wahrscheinlich erst einmal in verlässlichen Beziehungen, in der
Überwindung dauernd negativer Erfahrungen.
4. Alternativer Unterricht:
Wenn zunächst normaler Unterricht kaum/nicht möglich erscheint, ist „buslness
as usual“ nicht möglich. Schulisches Lernen ist nur negativ besetzt. Alternative
Hauptschulen haben alternativen Unterricht organisiert: Lebensweffinszenierangen (Japan in unserer Schule), Arena-Kurs-Modeil mit Experten (Künstler, Tanzpädagogen u.a.m. realisieren Projekte; parallel dazu gibt es Verpflichtungen in den
herkömmlichen Fächern), Werk-statt-Schule (ernsthafte Projekte, z. B. Bauwagen
zum Kioskwagen umbauen u. a. m., bei denen man Rechnen, Lesen, Schreiben
braucht), Stadt-in-der-Schule (Praktika in Betrieben – ernsthafte Arbeit – und Vorbereitung/Auswertung dazu)
6. Aufgaben, die Verantwortung verlangen:
Wenn man alles sinnlos ansieht, kann ein Ansatz sein, Aufgaben anzubieten, die
in ernsthafter Weise die Wahrnehmung von Verantwortung verlangen. Der Einsatz
z. B. als Helfer in einer Grundschule (Lernhilfe/ Tutorentätigkeit für lernschwache
Schüler) lenkt von einem selbst ab und verlangt die Orientierung an einer Ernstsituation (dem Jungen muss ich helfen; gleichzeitiges Übertragungsphänomen: dem
soll es nicht so gehen wie mir). Die Einrichtung eines Kiosks in der Schule mit dem
ganzen Ernst des Einkaufs, der Öffnungszeiten, der Wirtschaftlichkeit u.a.m. wäre
ein anderes Beispiel.
6. Die Kleinsehrittigkeit,
Ansatzpunkte zu gewinnen:
Wenn man z. B. nur Lust zum Chatten hat, kann man dies durchaus zulassen.
Aber eine kleine Auflage gäbe es schon: im gleichen Zeitumfang muss man sich
auch auf eine Lernaufgabe einlassen (Prinzip des Gebens und Nehmens langsam
realisieren!)
7. Wichtige Bezugspersonen:
Sehr wichtig wäre es, wichtige Bezugspersonen zu finden, die Mittler sein können:
Eltern, Vater oder Mutter allein, Geschwister, Freunde, Mitglieder der Clique, gar
ein früherer Lehrer/ eine frühere Lehrerin. Irgendeinen gibt es bestimmt, der einem
Mädchen wichtig ist und Gespräche über die und positive Beeinflussungen gegenüber der total negativ eingeschätzten Institution Schule versuchen könnte.
48
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im Grunde die Suche nach personeller Orientierung ein
„verstecktes Grundbedürfnis“ ist, wären wichtige Bezugspersonen eine entscheidende Hilfe. Wenn dies Lehrer/innen selbst sein können, wäre dies die beste Lösung.
Aber Vermittler zu finden, könnte eine wichtige Hilfe sein.
Die Bewältigung einer solchen ausgeprägten Krisensituation liegt, so kann man es theoretisch fassen, in
der Auswechslung des Erwartungs- und Verhaltenssets, der
die Mädchen zunächst negativ bestimmt (Misstrauen,
Ablehnung, Selbstbehauptung durch Aggressivität und
rüde Sprache, Demotivation und Verweigerung) und durch
einen positiven ersetzt wird. Die Umstrukturierung der
Situationswahrnehmung, wieder eine verlässliche Beziehung finden – zunächst frei von schnellen Leistungserwartungen – können die Auswechslung befördern. Aber
klar muss sein, dass sich die Aufgaben verlagern: von der
Arbeit an Inhalten zur Arbeit an Personen und Beziehungen!
3. Nachhaltige Erziehungs- und Lernszenarien
Der dritte Gedankengang folgt der Idee nachhaltiger
Lernszenarien. Diese liegen zum Teil gut ausgearbeitet vor,
sind zum anderen Teil in einer kontroversen Diskussionslage. Mit dem Begriff der Nachhaltigkeit wird dabei genau
der Gedanke verfolgt, andere als die konventionellen, institutionell verfestigten Strukturen zu erwägen, wenn diese
nicht mehr tragen und Krisen im skizzierten Sinn auftreten.
Es liegt in der Natur der Sache, dabei über die „Normalität“
hinauszudenken, dies zunächst, ohne die Realisierungsbedenken gleich als „Killerargumente“ zu nehmen. Wieder sei
zunächst eine Übersicht als Strukturierungshilfe vorgestellt.
Die Kommentierung folgt dem zweigeteilten Schema.
Wenn das Denken von der Schule her beginnt, bietet sich
der Dreischritt „Eigenverantwortliches Lernen – weitergehende Lernszenarien – besondere Lernszenarien“ an. Für
das eigenverantwortliche Lernen liegt – wie gesagt – ein
gut ausgearbeitetes Repertoire vor, das vielfach auch
eingesetzt wird. Es braucht hier nicht speziell erläutert
zu werden. Der einende Grundgedanke ist, dass in dem
Maße, wie Lernen die Sache von Lernenden wird, sich
andere Einstellungen und Verantwortlichkeiten ergeben
und Verhaltens- und Lernkrisen vorgebeugt wird. Der präventive Charakter ist nicht unwichtig. Die weitergehenden
Lernszenarien teilen sich in die Bereiche „Simulierte
Wirklichkeiten“ und „außerschulische Lernorte“. Ihre
Kernidee ist, die Künstlichkeit der Normalstunden abzulösen durch Lernszenarien, die Ernsthaftigkeit, Wirklichkeitsbezug, Komplexität, die Verbindung von Leben und
Lernen beinhalten. Von den simulierten Wirklichkeiten
im hier gemeinten Sinn war vorn schon die Rede. Die Öffnung zu außerschulischen Lernorten ist ein Komplementärkonzept, das reale Wirklichkeiten, aber eben didaktisch-methodisch aufbereitet, zum Lernanlass nimmt.
Die besonderen Lernszenarien gehen darüber hinaus.
Sie stellen Herausforderungen dar, die temporär oder
auch auf Dauer Situationen schaffen, in denen die Didaktisierung stärker abnimmt und die existentielle
Herausforderung zunimmt. Die Geheebsche Kurzschulidee (Seenotrettung, Feuerwehr, Bergrettung) geht über
den normalen pädagogischen Schon- und Schutzraum
weit hinaus bis zu möglicherweise lebensgefährdenden
Situationen. Geheebs Anliegen war es, das Individuum an
Herausforderungen wachsen zu lassen, die den Einsatz
des eigenen Lebens verlangen und nur mit großer Verantwortung, Umsicht, Können und Kooperation bewältigt
werden können. Hier kommt pädagogische Verantwortung
an eine Grenze, vor der viele mit guten Gründen zurückschrecken werden. Aber klar ist auch, dass die existentielle Herausforderung, wenn sie denn bejaht und versucht wird, junge Menschen in einer ganz anderen Weise
anspricht. Belangloses Gerede weicht Bewältigungsnot­
wendigkeiten, die den ganzen Menschen fordern.
Das Repertoire besonderer Lernszenarien hat sich über
die Geheebsche Idee der Kurzschulen hinaus ausgeweitet
zur Wahrnehmung sozialer Dienste (im kleinen Rahmen
als sozialer Tag, im größeren Rahmen als soziales Jahr –
z. B. statt Wehrdienst). Die Grundidee ist hier, über das
Eintauchen z. B. in reale Situationen der Krankenpflege,
der Altenpflege, des Besuchs von Langzeitpatienten in
Krankenhäusern, der Betreuung von Kindern in Kitas
und Horten Herausforderungen zu schaffen, in denen
sich ein junger Mensch in seinen Grundeinstellungen, in
seinem Engagement, im Lebenssinn neu orientieren muss
und empfundene Belanglosigkeiten und Sinnlosigkeiten
abbauen kann.
Partielle Herausforderungen durch sog. Grenzsituationen (Wildwasser Kanufahren, Oberlebenstraining in der
Natur, fremde Weiten erfahren/erobern/bewältigen) stellen einen anderen Ansatz dar, folgen aber auch der Grundidee, durch neue Herausforderungen die ganze Person in
ihrem Denken und Handeln herauszufordern, und zwar so,
dass es immer wieder an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit geht (Grenzsituationen). Dies sind dann
auch Lebensgrenzen, die im positiven Fall weiter hinausgeschoben werden können oder im kritischen Fall ein
Zurückweichen nötig machen. Auf jedem Fall aber gehen
sie an den Kern individueller Existenz. Die Künstlichkeit
von Lernsituationen wird verlassen, der Ernst von Situationen führt an die Grenze, an der es nur Scheitern oder
Bewältigen gibt und von daher den Menschen existentiell
fordert. Wenn es intendierte pädagogische Situationen
sind, sind sie so zu bemessen und zu bearbeiten, dass ein
Gewinn für die Persönlichkeitsentwicklung aus ihnen
gezogen werden kann.
Die drei Sets „Experimental Learning“, „konstruktive
Lernproiekte“ und „Handlungsfelder Alpin, Wasser, Höhle,
Luft“ strukturieren noch einmal die Ansatzpunkte die weit
über institutionelle Rahmengegebenheiten hinausgehen.
-
Das „Experimental Learning“ geht von subjektiv bisher
fremden Lebenswelten aus, fordert das Eintauchen in
sie, ermöglicht völlig neue Erfahrungen und subjektive
Bewältigung. Um es exemplarisch zu konkretisieren:
wenn eine Gruppe junger Menschen, mit ihrem Alltag
nicht sehr zufrieden und insgesamt eher von Misserfol-
49
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Nachhaltige Lernszenarien
Von der Schule her gedacht
Simulierte Wirklichkeit
R
R
R
Weitergehende Szenarien
R
Alternative Unterrichtsstrukturen
(WPA, WDU, Stationenlernen)
Zusätzliche Lernorte
(Lernwerkstatt, Selbstbildungszentrum, Computerstation, -raum)
Außerschulische Lernorte
Unterrichtsgänge
Erkundungen
Praktika
Exkursionen
Reisen
- Seenotrettung
- Feuerwehr
- Bergrettung
Besondere Lernszenarien
R
Lernwelten inszenieren
Schule in der Stadt
Arena - Kurs - Modell
Werk-statt - Arbeit
___________________________
R
Eigenverantwortliches Lernen
Die Geheebsche Kurzschulidee
R
Herkömmlicher
Unterricht
R Q
Projektarbeit
R
1.
- Soziale Dienste
- Grenzsituationen
(Wildwasser - Kanufahren
- Überlebenstraing
- Fremde Welten erobern
2. Über die Schule weit hinausgedacht
Experimental Learning
- in fremden Welten
(Sahara
Wald- und Seenlandschaft
Spiritualität im Kloster
Bei Indianer,
Großstadtdschungel
Bersteiger)
Erkunden,
Erforschen,
Bewältigen
50
Konstruktive Lernobjekte
-Vehikelbau
- - „Talsperre am Bach“
-u.a.m.
Bauen,
Entwickeln
Handlungsfelder
Alpin, Wasser, Höhle, Luft
-
Wanderung im Hochgebirge
-Bergsteigen
-Höhlenforscher
-Wildwassertour
-Segelflug
-Kutterfahrt
Handlungen
in komplexem Feld
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gen, Konflikten, Schwierigkeiten geprägt, für eine Woche
in die spirituelle Atmosphäre eines Klosters eintaucht,
eine ganz andere Welt der Stille, des Meditierens
erfährt, ganz andere Wichtigkeiten erlebt, Zug um Zug
Hast, Unruhe, Besinnungslosigkeit, die Flucht vor dem
Sein aufgeben muss, ist die Chance der Neuorientierung groß. Andere Werte und Normen, Menschen, die
sie leben und von ihnen erfüllt sind, werden erlebt. Ein
neuer Halt oder zumindest eine Ahnung von anderem
Lebenssinn kann sich eröffnen. Der Katharsisgedanke
hat hier eine neue Bedeutung: das Sich-Befreien von
verfestigten Spannungen, Einstellungen, Verhaltensweisen durch Erfahrung einer ganz anderen Weit und ihrer
Ordnungen, Rituale und Sinnbestimmungen.
-
-
Die Idee der „konstruktiven Lernprojekte“ fordert
Menschen auf andere Weise. Im Bauen, Entwickeln,
Experimentieren und Schaffen eines Werkes erfährt
sich der Mensch als Schöpfer, als einer, in dem produktive Kräfte und nicht nur Insuffizienzen liegen.
Das Werk spiegelt die bisher unentdeckten Potenzen.
Die Selbstvergewisserung durch das Schaffen von etwas
Eigenem ist sicher eine Möglichkeit existentieller Neubestimmung. Es hat zudem einen Handlungsrahmen, der
leichter zu organisieren ist.
Die „Handlungsfelder Alpen, Wasser, Höhle, Luft“
greifen auf einen schon geäußerten Gedanken zurück,
nämlich durch bisher unbekannte Naturgegebenheiten
Menschen zu konfrontieren mit Handlungsaufgaben;
Bewährungssituationen, in denen auf ganz neue Weise
reagiert werden muss. Die bisher vorhandenen Handlungsmuster reichen nicht aus und die experimentelle
Erprobung des Selbst (Mut, Risiko, umsichtige Planung, Verantwortung, Können, Wissen) fordert sehr
intensiv heraus. Oberflächlichkeiten, Laxheit wären
fatal. Der schnelle Spruch hilft überhaupt nicht. Die
Zumutungen sind massiv und können eine neue Selbsterfahrung in sehr grundsätzlichem Sinn schaffen.
Kurze Bilanz
Die vorstehenden Überlegungen unter der Überschrift
„Krisenpädagogik“ gehen aus von aktuellen Erfahrungen,
dass eine Pädagogik der Konventionen, der Ausgang von
sog. Normalität an Grenzen stößt. Reagiert sie selbst
nicht, erfolgen die Grenzüberschreitungen von Kindern
und Jugendlichen selbst und es entsteht der Eindruck der
Hilflosigkeit, Überforderung. Schließlich folgt die Verweigerung und die Übergabe an andere Instanzen (Polizei,
Strafverfolgung u. a. m.). Die Frage ist, ob sich Pädagogik
selbst so schnell aufgeben kann/darf.
In einem Dreischritt ist das in der Frage intendierte „Nein“
mit möglichen Ansätzen beschrieben und begründet worden.
Die Veränderung der Institution mag schon schwer genug
sein, da sie häufig quasi naturgesetzlich als gegeben angesehen wird. Die Beispiele aber zeigen, dass Alternativen
denkbar sind. Wenn es um Menschen geht - und dies ist bei
Pädagogik immer der Fall –, ist der Ansatz der Beziehungsarbeit, hier unter der zugespitzten Formulierung der kommunikativen Verdichtungen behandelt, ein unaufgebbar zentraler. Pädagogik lebt gewissermaßen von der Hoffnung auf
ihre Wirksamkeit. Die Frage aber ist natürlich immer, wie sie
zu einem Optimum gebracht werden kann. Der Gedanke der
sog. nachhaltigen Erziehungs- und Lernszenarien aber geht
schließlich der Frage nach, inwieweit über Veränderungen
der Institution, hier am Beispiel „Hauptschule“ erörtert,
und der Verdichtungen der Kommunikationen hinaus noch
ganz andere Szenarien zu denken sind, die scheinbar nicht
mehr Erreichbare doch wieder erreichbar machen. Der
Grundgedanke hierbei ist, über Situationen Handlungsfelder/ Aufgabensets eine Pädagogik der alternativen Herausforderungen, Bewährungs-, aber auch Bindesituationen zu
skizzieren. Die wahrscheinlich schnell auftretenden Folgefragen der Realisierbarkeit, der finanziellen Konsequenzen u. a.
m. sind zunächst einmal nicht beachtet worden. Es stecken
in der entwickelten Krisenpädagogik eine Reihe grundsätzlicher Fragen, zu deren Diskussion vorher einzuladen ist!
Buchanzeige
Manfred Bönsch
Die Schule der Zukunft mit historischem Hintergrund Baltmannsweiler:
Schneider Verlag, 2006
Erziehung in der Krise? – Soziales Pädagogik in Krisen, Münster, 2006
Beziehungslernen. Pädagogik der Interaktionen, Baltmannsweiler,
2006, 2. Auf.
Allgemeine Didaktik. Ein Handbuch zur Wissenschaft vom Unterricht,
Stuttgart, 2006
Schüler aktivieren, Hannover, 1994, 3. Aufl.
Offener Unterricht in der Primär- und Sekundarstufe I, Hannover, 1993
Nachhaltiges Lernen durch Oben und Wiederholen, Baltmannsweiler,
2005
Selbstgesteuertes Lernen in der Schule, Braunschweig, 2006 (früher
erschienen bei Luchterhand)
Unterrichtsmethoden kreativ und vielfältig, Baltmannsweiler, 2006, 2.
Aufl. Differenzierung (unter Mitarbeit von Astrid Kaiser)
Differenzierung in Schule und Unterricht, München, 2004, 2. Aufl.
Intelligente Unterrichtsstrukturen, Baltmannsweiler, 2004, 2. Aufl.
Schule verbessern, Hannover, 1990
Lerngerüste, Didaktik 2000 für die Primarstufe, Baltmannsweiler,
1998
Schule – Unterrichtsanstalt oder Haus des Lebens und Lernens, Essen,
2000
Praxishandbuch gute Schule, Baltmannsweiler, 2000
Die Schule der Zukunft mit rischem Hintergrund, Baltmannsweiler,
2006
51
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fachbeitrag: bildagitation: wort und wunder,
predigt und heilige messe
eine kunstdidaktische reflexion
heino r. möller
I.
Die querrechteckige Tafel (93 x 233 cm – Abb. 1) aus den
vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts zeigt das Innere
eines Sakralraumes mit Christus am Kreuz, Gemeinde
und Prediger auf einer Kanzel. Man sieht einen Raumausschnitt, den eine Lichtquelle außerhalb des Bildes
erhellt; Wände und Boden des Raumes sind aus regelmäßigen Quadern beziehungsweise Platten streng gefügt.
Die Gemeinde – die Männer, Frauen, Kinder in damals
zeitgenössischer Kleidung sind nur Teil einer größeren
Menge – führt von links in das Bild ein. Ihr antwortet
von rechts der Prediger auf der Kanzel, eine Darstellung
Martin Luthers mit aufgeschlagener Bibel auf der Kanzelbrüstung. Er weist auf den Gekreuzigten, dessen Gestalt
in auffällig leerem Raum zwischen Gemeinde und Kanzel
die Bildfläche mittelaxial teilt. Der Betrachter kann sich
in Leserichtung über die Gemeinde in das Geschehen einordnen, oder aber er begegnet unvermittelt der frontalen
Christusgestalt; da der Kreuzesstamm vom unteren Bildrand bis zum oberen aufsteigt, scheint der Gekreuzigte
dem Betrachter vor dem Bild unmittelbar nahe.
Predigers über der Heiligen Schrift auf der Kanzelbrüstung wird Christus inmitten der Gemeinde gegenwärtig.
Zugespitzt könnte man sagen: Wenn Luther seine Predigt
endet, verschwindet die Gestalt Christi. Das Bild macht
deutlich, dass Kirche über die Wortverkündung „als Glaubensakt der Gemeinde Wirklichkeit wird auf den vorgewiesenen Wegen neutestamentlicher Tradition“1.
Was immanent im Bild geschieht, bezieht den Betrachter ein. Er selbst wird in einer die Darstellung transzendierenden Anschauung zum begreifend sehenden Zuhörer.
Auch er erlebt das Bild des Gekreuzigten als realistische
Präsenz, auch er erfährt als Mitglied der Gemeinde die
konstituierende Kraft des Wortes in dessen Transzendenz
zur Gegenwärtigkeit als Bild. Solcherart thematisiert
die Tafel ein zentrales Moment reformatorischer Lehre.
Gezeigt wird die Predigt in zweifacher Bedeutung: Ihr
Inhalt ist das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus,
ihre Form das öffentliche Zeugnis der Heilszusage2. Die
Predigt Luthers im Bild ist die lebendige und verlebendigende Stimme des Evangeliums inmitten der Gemeinde
und mithin Bekenntnis des wahren Glaubens. Insofern
ist die sichtbare Präsenz Christi nicht Bild einer „Vision“,
vielmehr ist sie das sichtbar gemachte Bekenntnis der
Gemeinde als „Leib Christi“.
Abb. 1
Es mag befremden, dass Christus am Kreuz nicht als
skulpturales Abbild, als Kruzifixus auf einem Altar zeichenhaft dargestellt, sondern in fleischlich realistischer
Körperlichkeit den Menschen des 16. Jahrhunderts unrealistisch konfrontiert ist. Der Korpus mit gestreckten
Gliedmaßen und dem nach zwei Seiten weit ausflatternden Lendentuch entspricht einem in der ersten Hälfte
jenes Jahrhunderts verbreiteten Typus. Die Leere um das
Kreuz gibt der Gemeinde Raum, sich geistig unterm Kreuz
während der Predigt Luthers zusammenzufinden. Diesem
Christus am Kreuz gilt die hinweisende Geste Luthers –
seinem Tode und dem hierin begründeten Erlösungswerk
die Aufmerksamkeit der Gemeinde. Durch die Worte des
52
Abb. 2
Die besprochene Tafel ist kein autonomes Bild, sondern
die Predella eines großen Altares in der traditionellen
Gestalt eines Triptychons. Die bisherige Isolierung der
Predella aus ihrem Kontext war durch die ihr hypothetisch zugedachte Bedeutung der Darstellung didaktisch
'bb' 118-4/2006
begründet. Der Altar wurde 1547 in der Stadtkirche zu
Wittenberg (Abb. 2) aufgestellt (nach mündlicher Überlieferung am 24. April, dem Tag der Schlacht bei Mühlberg3).
Der Altar (Abb. 3) entstand nicht von einer Hand in einem
Werkprozess: Die Mitteltafel, vermutlich in den dreißiger
Jahren des 16. Jahrhunderts gemalt, wird Lucas Cranach
d. Ä. zugeschrieben, die Seitentafeln und die Predella
stammen von Lucas Cranach d. J. (oder Werkstatt) aus
den vierziger Jahren4. Die knapp hochrechteckige Mitteltafel (256 x 242 cm) zeigt das Letzte Abendmahl, der
linke Seitenflügel (255 x 108 cm) eine Taufe, der rechte
Flügel (255 x 108 cm) eine Buße. Auch die Rückseite des
Altares ist bemalt mit Jüngstem Gericht über der Auferstehung der Toten, mit der Opferung Isaaks auf der einen
Seite und der Ehernen Schlange auf der anderen. Auf der
Schauseite differiert die künstlerische Gestaltung der
Mitteltafel stilistisch von Flügeln und Predella. Deren
kompositorische Besonderheiten relativieren jedoch diese
Verschiedenheit, so dass das Gesamtwerk formal und
inhaltlich geschlossen erscheint.
in schrillem Gelb und Rot – rot auch Haare und Bart. Die
Anordnung der Tafelrunde erinnert an mittelalterliche
Darstellungen und ist möglicherweise bewusst altertümlich, um die Geschichtlichkeit des Geschehens zu betonen;
zudem ähnelt das Bildkonzept dem um 1520 entstandenen
Entwurf für die Abendmahlstafel der ehemaligen Stiftskirche in Halle als Teil eines umfangreichen Passionszyklus,
den Lucas Cranach d. Ä. (Werkstatt) 1520 bis 1525 im
Auftrag des Kardinals Albrecht von Brandenburg realisierte (das Abendmahlsbild nicht erhalten)5. Die Historizität der Darstellung wird jedoch aufgebrochen durch
die pointiert rote Gestalt eines Mundschenks am rechten
Bildrand in zeitgenössischer Kleidung und die Person des
Jüngers, dem der Mundschenk einen Becher Wein reicht.
Das Gesicht des Jüngers gleicht dem Martin Luthers
als bärtiger Junker Jörg zur Zeit seines Aufenthaltes
auf der Wartburg (Abb. 4, Abb. 5), wie es das Gemälde
Cranachs d. Ä. „Luther als Junker Jörg“ zeigt (ca. 1521;
Leipzig, Museum der bildenden Künste). Christus mit
dem Brot und ihm gegenüber Luther (als Jünger Jesu) mit
dem Wein thematisieren und legitimieren ein zentrales
Moment reformatorischer Lehre: das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Lutherbildnis und Mundschenk binden die
Geschichtlichkeit des Abendmahles Christi an die Gegenwart des 16. Jahrhunderts, begründen die Szenen der
Nebentafeln des Altares aus dem Geschehen des Hauptbildes. Durch die axiale Beziehung des Gekreuzigten in
der Predella zum Lamm im Abendmahlsbild wird in der
Predigt fassbar, dass mit dem Abendmahl der Tod Christi
und mithin „die Frucht seines Opfers am Kreuz, nämlich
‚Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit’ (Luther)“
der Gemeinde wirksam geschenkt ist6.
Abb. 3
Das Abendmahl im Zentrum des Altares wird als einmaliges, vergangenes Ereignis dargestellt und ist als
Historienbild zu verstehen. Demgegenüber thematisieren
die drei anderen Tafeln der Schauseite Situationen in der
Nachfolge des Hauptgeschehens, welche die reformatorische Gegenwart des 16. Jahrhunderts bestimmen. Das
historische Geschehen des Letzten Abendmahles Christi
verlegt Cranach d. Ä. in eine lichtdurchflutete, zum landschaftlichen Umraum mit zwei großen Fensterarkaden
geöffnete Halle. Die modernen Renaissanceformen des
zentralperspektivisch und axialsymmetrisch konzipierten
Raumes vermitteln – wie auch die Gewandungen der Jünger – antikische Historizität. Der Raum birgt einen runden
Tisch mit umlaufender Bank, in der Mitte des Tisches das
Passalamm. Christus sitzt nicht in einer auf den Betrachter bezogenen Scheitelposition, sondern links, Johannes
schlafend an seiner Brust, Petrus zur Linken, Judas zur
Rechten. Gezeigt ist der Augenblick der Verratsankündigung: Christus führt ein Stück Brot zum Mund des Judas.
Christus und Judas sind farbsymbolisch charakterisiert,
die Gewandung Christi in tiefem Blauviolett, die des Judas
Abb. 4
53
'bb' 118-4/2006
Abb. 5
Konkrete Gegenwart meinen die Darstellungen der
Seitenflügel des Altares, denen sich die Predella in den
Modalitäten des Szenischen verbindet. Beide Handlungen – Taufe und Buße – sind in korrespondierenden
Raumwinkeln eines Sakralbaues lokalisiert, die Wände
wiederum in gleichmäßigen Quadern gemauert, die
Bodenflächen präzise geplattet; in den bildflächenparallelen Stirnwänden sieht man jeweils ein angeschnittenes
Fenster, in den Raumecken die Ansätze einer spätgotischen Rippenwölbung. Im linken Altarflügel wird der
Betrachter über eine gedrängte Gruppe wohlgekleideter
Frauen in die Taufzeremonie eingeführt. Das riesige
runde Taufbecken ist weitgehend unverstellt sichtbar, ein
ornamentierter Metallfries ist in die steinerne Wandung
eingelassen. Hinter dem Becken steht der Reformator
Philipp Melanchthon, der lächelnd die Taufhandlung an
einem nackten Kleinkind in Gegenwart der Kindseltern
vornimmt7. Ihm assistieren als Taufpaten zwei würdige Männer, einer hält aufgeschlagen das Evangelium,
vermutlich mit der Taufforderung Christi entweder nach
Matth. 28, 19 oder Mark. 16, 16. Das große Becken mit
bronzenem Schmuckreif assoziiert das „Eherne Meer“, ein
Bronzebecken im Vorhof des Salomonischen Tempels (3
Kg. 7, 23 – 26, allerdings ohne die zwölf ehernen Rinder,
die das Becken trugen); seit dem 12. Jahrhundert gilt das
„Eherne Meer“ als Vorbild der Taufe. Die Verbindung der
evangelischen Taufe mit dem Becken des Salomonischen
Tempels bezieht den „Neuen Bund“ auf den „Alten Bund“
in typologischer Entsprechung (so wie auch die Bilder der
Altarrückseite typologisch denen der Schauseite zugeordnet sind). Bedeutsam für den Gesamtzusammenhang hier
ist – neben der Formanalogie von Taufbecken und Abendmahlstisch – die Darstellung der Kinder- beziehungsweise
Säuglingstaufe: Der „Säuglingsglaube“ entsteht im Hören
der Taufverheißung nach Mark. 16, 16 und durch den
Glauben der fürbittenden Paten. Das Bild der Säuglings-
54
taufe betont programmatisch den lutherischen Gegensatz
zur Erwachsenentaufe.
Die Gestalt des Reformators Johannes Bugenhagen,
vor einer Beichtwand (oder einem Beichtstuhl) stehend,
bestimmt die Mittelachse der rechten Seitentafel. Seine
herausgehobene, betrachternahe Position erklärt sich
durch sein Amt als Pfarrer an der Stadtkirche und seine
enge Beziehung zu Luther als dessen Seelsorger und
Beichtvater. Als Beichtvater wird Bugenhagen auch im
Bild gezeigt. Aus dem Hintergrund drängen Bußfertige
nach Geschlechtern getrennt heran, vorn erteilt Bugenhagen einem knienden Pönitenten die Absolution,
während er einen anderen mit gebundenen Händen in
rotem Gewand und gelber Hose aus dem Kirchenraum
(also aus dem Bild) schickt. Dargestellt ist die gute und
die schlechte Beichte, das heißt: die Bereitschaft zur
Umkehr von einem sündigen zu einem gottesfürchtigen
Leben oder die hierzu fehlende Bereitschaft. Mit einem
großen Schlüssel in jeder Hand gewährt oder verweigert
Bugenhagen die Absolution: Dem bußfertigen Pönitenten
legt er den Schlüsselbart aufs Haupt, dem unbußfertigen
stößt er den Griff in den Rücken. In der Ausübung dieser
„Schlüsselgewalt“ steht Bugenhagen in der Nachfolge des
Apostels Petrus, dem Christus mit den „Schlüsseln des
Himmelreiches“ die Macht des Lösens und Bindens verliehen hat (Matth. 16, 19).
Die drei Bildtafeln des Altares oberhalb der Predella
verbinden in ihren exemplarischen Handlungen die drei
ursprünglichen Sakramente des evangelischen Glaubens
als Fundamente der neuen Kirche: Abendmahl, Taufe,
Absolution. Ihnen ordnet sich die Wortverkündung im
ordinierten Predigtamt zu. Diese sakramentale Ordnung
löst die der sieben Sakramente in der alten Kirche ab.
Allerdings: „Die spätere lutherische Lehre rechnet ein
sichtbares Element zum Wesen des Sakramentes und
kennt deshalb nur noch die beiden Sakramente Taufe und
Abendmahl“8 – im Cranach-Altar bekundet das Hantieren
mit den Schlüsseln als sichtbare Elemente die Absolution
als „Sakrament“. Die Konzeption des Altares in seiner
Gesamtheit, die Ordnung der Teilhandlungen, der architektonisch bestimmte Zusammenhang der Tafeln machen
dieses Triptychon zum Bild der neuen evangelischen Kirche und zum Bekenntnisbild des neuen Glaubens. „Kirche“ vermittelt sich sinnlich konkret (wenngleich traditionell) als gegliederte, sorgsam gefügte Architektur: Die
Raumbilder der Seitentafeln verhalten sich (in perspektivischer Zuordnung) gleich Seitenschiffen, die sich dem
Altarraum eines Hauptschiffes anlegen –, der Tisch der
Abendmahlsgemeinschaft wird Altarmensa. Der fensterlose Raum der Predella mit dem toten Christus entspricht
einer Krypta in erneuerter Bedeutung der Grabkammer;
so wie mit dem toten Christus die Gewissheit der Auferstehung angezeigt ist, sieht man auf der Rückseite
der Predella die Auferstehung am Tag des Gerichts. Die
Reformatoren Luther, Melanchthon, Bugenhagen stehen
in der Ausübung ihres geistlichen Amtes in der Nachfolge
der Apostel Christi9.
'bb' 118-4/2006
II.
Der Wittenberger Cranach-Altar wurde 1547, ein Jahr
nach dem Tode Luthers, aufgestellt. Der Altar ist einerseits Gestalt des konsolidierten Protestantismus, andererseits Ausdruck seiner Behauptung in einer Phase der
Bedrohung im Schmalkaldischen Krieg 1546/47; der –
möglicherweise nur legendenhafte – Tag der Übergabe des
Altares an die Gemeinde am 24. April 1547 ist der Tag der
Niederlage des Schmalkaldischen Bundes in der Schlacht
bei Mühlberg gegen Kaiser Karl V. Der Sieg des Kaisers
bedeutet das Ende des Bundes und für den Kurfürsten
Johann Friedrich von Sachsen, einen der Führer des
Bundes, den Verlust der Kurwürde.
Seit Beginn der Reformation begleiten Kampfschriften
und Kampfbilder der Glaubensparteien in großer Zahl die
Ereignisse. In den illustrierten reformatorischen Flugblättern werden in polarer und polarisierender Bildagitation
die Elemente des neuen Glaubens herausgestellt. Die
enorme Produktion und Verbreitung solcher Flugblätter
in eindeutiger, drastischer oder grob polemischer Bildsprache zielte auf Wirkung gerade auch bei des Lesens
unkundigen Menschen; die Flugblätter sind ein neuzeitlich-modernes Instrument medialer Vermittlung, das
die Bedeutung auratischer Tafelbilder bei weitem überschritten haben dürfte10: Die Bildkunst der Flugblätter ist
„Waffe“ zur Bewusstseinsbildung.
Flammen – die ganze Hierarchie der katholischen Kirche
versinkt. Ikonographisch ist die Darstellung am Bildschema des Jüngsten Gerichtes orientiert: auf der einen
(vom Betrachter aus linken) Seite die Erlösten, auf der
anderen die Verdammten. In dieser Tradition ist Luther
zweifellos nicht als Richtergott zu verstehen, aber er
verkündet in geläufiger Bildsprache das nur in der neuen
Kirche gegenwärtige Heilsgut des Erlösungswerkes
Christi. Zugleich weiß Luther sich und die evangelische
Sache des Schutzes obrigkeitlicher Gewalt sicher: Über
ihm im Rankenwerk der Rahmung, von einem geflügelten
Putto gehalten, prangt das sächsische Kurwappen Johann
Friedrichs des Gutmütigen; möglicherweise gehören die
aufwändig gekleideten Herren unterhalb der Kanzel – wie
auch die Damen links – zum fürstlichen Haushalt, zumindest sind sie Angehörige gehobener Stände.
Abb. 7
Abb. 6
Zentrales Motiv protestantischer Flugblätter ist immer
wieder die Predigt als Verkündung des wahren Glaubens.
Exemplarisch macht dies ein Holzschnitt von der Hand
Lucas Cranachs d. J. deutlich, der um 1546 – also zeitlich
parallel zum Wittenberger Altar – entstand11 (Abb. 6). In
einem angedeuteten Sakralraum sieht man bildmittelaxial Luther auf einer Kanzel, die aufgeschlagene Bibel vor
sich, am Kanzelkorb die Evangelistensymbole. Predigend
weist er mit der rechten Hand auf den Gekreuzigten über
einem Altar mit Lamm und Siegesfahne, vor dem zwei
Geistliche das Abendmahl in beiderlei Gestalt austeilen,
die Empfangenden getrennt nach Geschlechtern. Luthers
abgesenkt ausgestreckte Linke zeigt auf einen fürchterlichen Höllenrachen, in dem – umhüllt von züngelnden
Georg Pencz schuf 1529 den Holzschnitt: „Inhalt zweierley predig, yede in gemein in einer kurtzen summ begriffen“12 (Abb. 7). Das querrechteckige, von einer Säule
mittelaxial geteilte Bild zeigt im linken Sektor einen
evangelischen, im rechten einen katholischen Prediger
mit ihren Gemeinden. Jedes der beiden Bildfelder wird von
drei Schriftblöcken fundiert, welche die Darstellungen
nicht erläutern, sondern in Versen von Hans Sachs inhaltlich erweitern: „Summa des Evangelischen Predigers“
beziehungsweise „Summa des Bebstlichen Predigers“. Im
Bildfeld links steht der evangelische Geistliche auf einer
schmucklosen, polygonalen Kanzel, die aufgeschlagene
Bibel vor sich. Der Prediger im rechten Bildfeld auf reich
geschmückter Kanzel ist ein feister Mönch, der ohne
sichtbaren Bezug zur Heiligen Schrift zu seiner Gemeinde
spricht. Die jeweiligen Zuhörergruppen sind nach Alter,
Geschlecht und Ständen gemischt, unterscheiden sich
aber darin, dass die Menschen links – einige mit Bibeln in
den Händen – konzentriert zuhören, die Menschen rechts
ohne Bibeln Rosenkränze in Händen halten. Die zentrale
evangelische Predigtbotschaft lautet in den Versen von
Hans Sachs, verstanden als Aussage Christi: „Deshalb
spricht er, wer glaubt an mich / Der wirt nicht sterben
ewiglich / Das ist in einer kurtzen summ / Die leer ym
55
'bb' 118-4/2006
Evangelium.“ Dagegen ist die Botschaft des päpstlichen
Predigers vor allem die Forderung nach Gehorsam und
guten Werken: „Ihr Christen hört was euch sagt got / und
der heiligen kirchen gepot / Wie sie die Bäbst geordnet
han / Die solt yhr halten bey dem Ban / Und vil guter
übung daneben / ...“
mentaler Werke, die Protestanten für verwerflich halten:
Altarweihe, Messe, Letzte Ölung, Glockenweihe, Wallfahrt. Über allem thront ein zorniger Gott, der Unwetter
über die verderbte Kirche niedergehen lässt – vor ihm
ein vergeblich fürbittender Franziskus als Ersatzchristus
mit den Wundmalen Jesu. Dies dürfte einen Gipfel in der
Blasphemie des Antichristen darstellen. Luther sagt:
„Daß man also S. Francisci Werk des Herrn Christi Wunderwerken und Leiden gleich gerechnet und geachtet hat;
welches eine große Gotteslästerung ist gewesen“14.
III.
Abb. 8
Eine inhaltsreiche Bilderpredigt über den wahren und
den falschen Weg zum Heil vermittelt ein ebenfalls um
1546 entstandener Holzschnitt von Lucas Cranach d.
J.13 (Abb. 8): „Unterscheid zwischen der waren Religion
Christi und falschen Abgöttischen lehr des Antichrists in
den fürnemsten stücken“. Diesmal sind die antithetischen
Kanzeln, die eine mit Luther und aufgeschlagener Bibel,
die andere mit einem Mönch, beiderseits auf eine wiederum mittelaxial das Bild teilende Säule bezogen – jedoch
muss hier die Polemik gegen den feisten Mönch entfallen, da der Leibesumfang Luthers nicht minder gewaltig
ist als der des Mönches. Luthers Predigt ist erfüllt vom
Heiligen Geist, er weist nach oben auf den Weg des Heils
als sichtbares Band, der über das Lamm, den fürbittenden, geschundenen Christus zur Gestalt eines gnädigen
Gottes führt; geflügelte Putti in den Wolken vermitteln
den Eindruck himmlischer Glückseligkeit. Die diesseitige
Welt bestimmen Bildformeln des evangelischen Abendmahles und der Taufe. Vor der Kanzel drängt sich eine
aufmerksam lauschende Menge, in betonter Position
sieht man den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich
den Gutmütigen. Er schultert ein Kreuz, das in Analogie
zum Kreuz Christi hinter dem Altar ihn in der weltlichen
Verantwortung des christlichen Fürsten für das ihm von
Gott anvertraute Volk zeigt. Diese evangelische Welt
ist klar geordnet, bezeichnend der sorgsam mit Platten
ausgelegte Boden. Dagegen wirkt die katholische Welt
unübersichtlich, wüst – der Boden gleicht einem verwilderten Acker. Dem Mönch auf der Kanzel bläst ein Teufel
mit dem Blasebalg gottlose Tiraden ein, seine Gesten
weisen nach unten auf einen Haufen würdeloser Pfaffen
und anderer Zuhörer. Rechts sitzt an einem großen Tisch
mit Geldsäcken, Truhen und Ablassbriefen der Papst, der
in Missachtung der ihm für die Christenheit übereigneten
Verantwortung den Ablasshandel betreibt. Den weiteren
Bildraum füllen Stationen katholischer Rituale und sakra-
56
Kritik an der Verfasstheit der römisch-katholischen Kirche und an zentralen Inhalten der Glaubenslehre – Papstkirche, Transsubstantiations-Dogma, Priesterliturgie,
Heiligen- und Reliquienkult, Ablasshandel – gewinnt im
14. Jahrhundert an Schärfe. Der Oxforder Theologe John
Wyclif (1320 – 1384) und der Prager Theologe Jan Hus
(ca. 1370 – 1415) gelten den Reformatoren des 16. Jahrhunderts als Wegbereiter. Das Konzil zu Konstanz (1414 –
1418) hatte Wyclif posthum und Hus in Anwesenheit als
Ketzer verurteilt; Jan Hus wurde unter Bruch der kaiserlichen Garantie persönlicher Unversehrheit 1415 in Konstanz verbrannt. Die im 15. Jahrhundert vorgetragenen
Forderungen nach einer Reformation der Kirche an Haupt
und Gliedern sowie die Entwicklung der konziliaren Theorie (nicht der Papst, sondern die Gesamtheit der Bischöfe
vertritt in der Kirche den göttlichen Willen!) nötigten die
Papstkirche zu Gegenmaßnahmen (1459 wurde die Lehre,
das Konzil stehe über dem Papst, von Pius II. als Ketzerei erklärt!). Die bildnerische „Kulturpropaganda“ (Hans
Belting) der katholischen Kirche machte im 15. und 16.
Jahrhundert das Thema der „Messe Gregors des Großen“
zu einer wichtigen Aufgabe der Künstler.
Abb. 9
Ein Holzschnitt von Wolf Traut, 1510 in noch vorreformatorischer Zeit entstanden15 (Abb. 9), zeigt diese Gregorsmesse, eingebunden in ein umfängliches Bildprogramm.
Im Zentrum steht ein großer Kastenaltar, vor dem – auf
einer Altarstufe kniend – ein Priester, gemeint ist Papst
Gregor der Große (ca. 540 – 604), die Eucharistie fei-
'bb' 118-4/2006
ert. Ihm assistieren zwei Leviten, der eine ein Kardinal.
Dargestellt ist der Moment, in dem sich bei der Elevation der Hostie die Wandlung von Brot in Fleisch Christi
ereignet. Kompositorisch ist die vertikale Mittelachse des
Bildes bedeutsam: Sie verläuft vom unteren Bildrand mit
dem von Engeln gehaltenen Schweißtuch Christi, dem
vera icon, durch das Kaselkreuz Gregors, die Hostie, den
Schmerzensmann auf dem Altar, das Jesuskind auf dem
Schoß Marias hin zur Taube des Heiligen Geistes und dem
Herz-Jesu-Symbol im großen Rosenkranz, der oberhalb
einer Wolkenzone den Himmel mit Gottvater umschließt.
Auf dieser christologischen Bedeutungsachse sieht der
zelebrierende Priesterpapst im Augenblick der Wandlung Christus als lebendigen Toten, in einem Sarkophag
stehend. Durch diese Realpräsenz Christi wird der Altar
selbst als „Grab“ bezeichnet. Die im Bild vorgestellte
Situation bezieht sich auf ein für wahr geglaubtes Ereignis im Leben Gregors I.: Während einer von ihm in der
römischen Kirche S. Croce in Gerusaleme gefeierten
Messe bezweifelte ein Anwesender die Wirklichkeit der
Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi,
somit an dessen wirklicher Anwesenheit in der Transsubstantiation. Daraufhin erschien Christus als Schmerzensmann auf dem Altar. Wolf Traut illustriert mit seinem
Holzschnitt nicht eine „Vision“ des Papstes, sondern
dokumentiert auf ihm verbürgten Quellen, wie eine Vielzahl anderer Künstler, die Wirklichkeit des Geschehens
(die 1215 auf dem 4. Lateranskonzil bestätigt und zum
Dogma erhoben wurde!). In dieser Transsubstantiation
ist im Materiellen der Hostie eine eigentlich nicht sichtbare Substanz gegenwärtig, die aber in der Realpräsenz
des Schmerzensmannes auf dem Altar, des so genannten
Messopferchristus, sichtbar und gegenständlich wird.
Das, was im Bild als Wirklichkeit und Besonderheit
begegnet, ereignet sich nach katholischer Glaubenslehre
als nicht sichtbare Wirklichkeit in jeder Heiligen Messe.
Über die Bedeutung des Messopfers schreibt Gregor I. in
seinen Dialogen16: „Bedenken wir [...], was dieses Opfer
für uns für eine Bedeutung hat, da es wegen unserer
Erlösung das Leiden des eingeborenen Sohnes immerfort
nachbildet. Denn wer von den Gläubigen könnte nämlich
einen Zweifel haben, daß gerade in der Stunde des Opfers
auf die Stimme des Priesters die Himmel sich öffnen, daß
bei diesem Mysterium Jesu Christi die Chöre der Engel
zugegen sind, dass Oben und Unten sich verbinden, Sichtbares und Unsichtbares eins werden?“
Wolf Traut gibt eine authentische Schilderung der
Altarsituation während des Ritus, wobei diese Authentizität die imago pietatis auf eine analoge Realitätsebene hebt. Vor dem Zelebranten liegt ausgebreitet das
in neun Feldern gefaltete Korporale, darauf steht im
Mittelfeld der Kelch, die Kuppa mit der quadratischen
Palla bedeckt; nicht sichtbar, weil vermutlich vom Körper
Gregors verdeckt, ist die Patene. Links liegt auf einem
Messbuchpult das Missale, aufgeschlagen zu dem die
Eucharistie einleitenden Kanon. Statt eines Retabels auf
dem Altar erscheint die Leibhaftigkeit Christi zwischen
den beiden Leuchtern, begleitet von zwei Engeln mit den
arma Christi17. Auf der Altarstufe sieht man links auf der
Evangelienseite ein Evangelistensymbol mit geöffnetem
Evangelium, auf der Epistelseite rechts die Figurine eines
bärtigen Mannes – vermutlich der Apostel Paulus – mit
Schwert und dem geöffneten Buch der Apostelbriefe.
Vom Bildzentrum aus erweitert sich die Darstellung zu
einem umfassenden Lehr- und Bekenntnisbild. Innerhalb
der den Altar einfassenden Schranken repräsentieren beiderseits je drei Szenen drei Sakramente – mit der Messhandlung Gregors werden also die sieben seit dem hohen
Mittelalter festgelegten Sakramente gezeigt: links Buße,
Firmung, Taufe; rechts Ordination, Ehe, Letzte Ölung.
Jede der sakramentalen Handlungen hat ihren Ursprung
im Leib Christi, kenntlich gemacht mit verbindenden
Schnüren – die „Schnur“ zwischen Christus und Gregor
ist die Hostie im Augenblick der Wandlung. Das solcherart ganz in Christus gegründete Dasein bezeugen am
unteren Bildrand Männer und Frauen als Teilnehmende
der Messe; sie bestärken ihre Gebetsandacht mit Rosenkränzen, dem sichtbaren und instrumentalen Bekenntnis
zu Lehre und Glaube der katholischen Kirche.
Die gegliederte Gebetsform des Rosenkranzes in einer
vorbildlichen, gleichsam himmlischen Gestalt halten
oberhalb des Altares die Dominikanerheiligen Dominikus
und Thomas von Aquin. Innerhalb dieses Rosenkranzes
berührt der Jesusknabe auf dem Schoß seiner Mutter
kleine Gebetsketten in „Gebrauchsform“. Nach der für
wahr geglaubten Legende überreichte Maria selbst Dominikus, dem Gründer des Ordens, den Rosenkranz und
lehrte ihn dessen Gebrauch; seit dem 14. Jahrhundert gilt
die besondere Fürsorge der Dominikaner der Spiritualität
des Rosenkranzes18. Thomas von Aquin ist im 13. Jahrhundert der bedeutendste Gelehrte des Ordens. Kelch und
Hostie in seiner linken Hand verweisen auf das von ihm
verfasste Fronleichnamsoffizium, die Taube auf seiner
Schulter bezeugt – in Analogie zur Taube des Kirchenlehrers Gregor – seine übernatürliche Erleuchtung als „doctor angelicus“. Der von Dominikus und Thomas gehaltene
Rosenkranz besteht aus genau fünf mal zehn Blüten, also
fünf Dekaden oder 50 Ave Maria mit fünf gliedernden
Symbolen der Wundmale Christi. Dieser Gliederung entsprechen in der Gebrauchsform des Rosenkranzes fünf
mal zehn kleine und fünf große Perlen.
Der Form des Rosenkranzes oben korrespondieren
vier runde Bildfelder in den Ecken des Holzschnitts mit
Szenen des Alten Testamentes, die typologisch auf das
mit der Messe vergegenwärtigte Heilsgeschehen des
Neuen Testamentes hindeuten: links unten die Speisung
des Elias (1. Kg. 19), links oben Melchisedechs Opfer
(1. Mos. 14), rechts oben die Bewirtung der drei Engel
durch Abraham (1. Mos. 18), rechts unten die Mannalese (2. Mos. 16). Zwischen den Kreisscheiben der linken
Seite weist Mose, ein Brustbild mit Buch und Lamm, auf
die elevierte Hostie, ihm gegenüber in gleicher Haltung
Johannes der Täufer, das Lamm hier mit der Siegesfahne
der Auferstehung. Erläuternde Schriftblöcke ergänzen das
Bildprogramm.
57
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Abb. 10
Abb. 11
IV.
Der Holzschnitt Trauts unterscheidet sich durch die komplexe und systematische Programmatik eines Lehrbildes
von der großen Zahl anderer Darstellungen der Gregorsmesse seit dem 15. Jahrhundert, ist ihnen aber durch die
detaillierte Schilderung der Eucharistiefeier verbunden.
Dies legt den Schluss nahe, dass Bilder der Gregorsmesse den Stellenwert der Messe zu Zeiten kritischer
Infragestellung katholischer Glaubensinhalte agitativ im
Bewusstsein der Gläubigen verfestigen möchten, um die
Position der Kirche zu stärken. Uwe Westfehling fasst es
58
folgendermaßen zusammen19: Die Gregorsmesse „war ein
Thema, das wankende Vorstellungen stützte, in strittigen
Fragen aussagekräftig die Partei der Tradition ergriff und
einem von Zweifeln befallenen Betrachter als Zuflucht und
Klärung erscheinen mußte, weil es eben mit einer fast
magisch wirksamen Bildsprache den ganzen Gedankenreichtum dieser Tradition zum Ausdruck bringt – freilich
auch gerade in ihren damals zunehmend umstrittenen
Aspekten“. Solches dürfte besonders für das Programmbild Trauts gelten, bei dessen Holzschnitt auffällt, wie er
zum agitierenden Gebrauch die originäre künstlerische
Invention einer systematisierten und hierarchisierten Verwendung geläufiger Bildformeln unterordnet. Hiergegen
steht die deutlich freiere ästhetische Präsenz von Dürers
Holzschnitt der Gregorsmesse aus dem Jahre 1511 (Abb.
10), der bei einer anderen Zielgruppe jedoch eine vermutlich analoge Funktion von Kultpropaganda übernimmt.
Der Gregorsmesse Dürers ähnelt im diagonalen Kompositionsschema und in manchen Details eine repräsentative Altartafel, die zwischen 1520 und 1525 in der
Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. im Auftrag des Kardinals
Albrecht von Brandenburg (Erzbischof und Kurfürst von
Mainz) entstand20 (Abb. 11). Die Rückenfigur des am
„Bildeingang“ knienden, zu Gregor hinschauenden Leviten
und die von links unten raumschaffende Diagonale zielen
darauf, einen andächtigen Betrachter der Tafel in das
Geschehen aufzunehmen, ihn einerseits über die Gestalt
Gregors zum Altar und Schmerzensmann zu führen, ihn
andererseits in Verlängerung der Diagonalen auf den Stifter des Bildes zu lenken. Albrecht sitzt mit einem Bischof
und einem weiteren Kardinal in einem kunstvoll gestalteten Gestühl. Auffällig ist, dass Albrecht – anders als der
Bildbetrachter – nicht auf den Altar schaut, sondern, ein
geöffnetes Gebetbuch in Händen, in Gegenrichtung nach
rechts ins Unbestimmte. Der Ausdruck seines Gesichtes
ist sinnend, so als erfahre er im Augenblick eine geistliche Wahrheit, die ihn geistig erfüllt, ihn seiner zeit- und
ortsgebundenen Realität enthebt. Die Physiognomie Albrechts entspricht einem Porträttypus, der – im Gegensatz zu einem Bildnis Dürers aus dem Jahre 1519 mit
entschiedenerem Ausdruck – der Darstellung Cranachs
d. Ä. von 1520 folgt, einem, so Berthold Hinz, „Bild des
frommen, um das eigene Seelenheil besorgten Prälaten,
von dem wir wissen, daß er gelegentlich sogar öffentliche Bußfertigkeit und demonstrative Demut an den Tag
legte“21.
Auch die Künstler der Werkstatt Cranachs d. Ä.
beschreiben wie Traut dingliche Elemente der Messfeier
mit großer Genauigkeit. Das Besondere der vorgestellten
Altartafel ist die sinnliche Intensität, mit der die prunkende Kostbarkeit und Schönheit von Geräten, Gewändern und architektonischen Details in einer gleichermaßen prunkenden Malerei gezeigt werden. Die Malerei
evoziert eine Stoff- und Materialheiligkeit als Aura von
heiligmäßigen Personen und Geschehen, die in alter Tradition durch die leuchtende Fülle der Farben „illuminiert“
erscheinen in eigenwilliger Spannung zum „Realismus“
des Ganzen. Anders als Dürer erweitern die Künstler die-
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ser Tafel das Thema um ein mächtiges graublaues Gewölk
über den arma Christi, in das Gerätschaften, Köpfe,
Handlungsfragmente, geflügelte Putti eingeschlossen
sind, „gewissermaßen abgekürzt gezeigte Szenen der Passion“, wie sie auf einem unmittelbar als Vorbild dienenden
Holzschnitt, vermutlich von Georg Lemberger, zu sehen
sind22. Im Gegensatz zur Darstellung der Gregorsmesse
von Wolf Traut stellt die Tafel der Cranach-Werkstatt keinen genauen Zeitpunkt der Messliturgie vor Augen. Dies
bedeutet, wie Christian Hecht überzeugend ausführt: „Es
steht das Meßopfer als solches, letztlich der in der Messe
geopferte Christus im Mittelpunkt“23; Gregor als Zelebrant
der Messe erscheint nicht „als ein ‚Werke’ vollbringender
Priester. Gregor betet an“24 – ihm neigt sich der Schmerzensmann mit geöffneten Armen entgegen.
Abb. 12
Die Beobachtungen finden sich in einer zweiten Altartafel
mit der Gregorsmesse bestätigt25 (Abb. 12), die ebenfalls
im Auftrag Kardinal Albrechts in der Cranach-Werkstatt
im selben Zeitraum 1520/25 entstand. Nun allerdings
ist die Bildkomposition in einer Gegendiagonalen entwickelt, wodurch der Betrachter fast unmittelbar mit dem
adorierenden Gregor konfrontiert ist und über ihn auf die
Gestalt des Schmerzensmannes mit analoger Armhaltung
hingeführt wird. Diesmal steht Albrecht – der Porträttypus wie in der anderen Tafel – hinter der Priestergruppe.
Mit verhüllten Händen trägt er die Tiara Gregors. Albrecht zeigt sich hier in anti-reformatorischer Geste als
Verehrer des Kirchenvaters und Kirchenlehrers Gregor,
seiner geistlichen Autorität, darüber hinaus in aktuellem
Bezug als erklärter Vertreter und „tragende Kraft“ von
Papsttum und Kirche. Mit seiner Verehrung des Kirchenvaters beruft sich Kardinal Albrecht für seine geistlichen
Ämter demonstrativ auf die Tradition der frühen Kirche;
dazu schreibt Christian Hecht: „Albrecht von Brandenburgs Tafeln der Gregorsmesse lassen sich vor diesem
Hintergrund als visuelle Aufforderung verstehen, bei der
alten Kirche und ihrer alten Messe zu bleiben – also bei
der gottgewollten vorbildlichen Theologie und Praxis der
frühchristlichen Kirchenväter“26.
V.
Der Altar der Wittenberger Stadtkirche und die Altartafeln für Albrecht von Brandenburg stellen beispielhaft
zentrale Glaubensinhalte der evangelischen und der
katholischen Kirche ihren jeweiligen Anhängern vor
Augen. Die Altäre vermitteln die Inhalte programmatisch und autoritativ als Bekenntnisbilder. Ihre mediale
Bedeutung resultiert entscheidend aus ihrer auratischen
Funktion als Altäre und ihrer auratisierten Qualität als
Kunstwerke aus der Hand angesehener Maler und deren
Werkstatt. Das evangelische Abendmahl Christi und die
katholische Messe Gregors I. sind „Historienbilder“ – Bilder einer biblischen und einer kirchlichen Historie –, die
kompositorisch und inhaltlich auf die (damalige) Gegenwart der Betrachter wie auch auf diese selbst bezogen
sind. Die Inhalte der Altäre werden massenwirksam in
graphischen Streitbildern und Flugblättern verbreitet.
Im Gegensatz zu dieser aktuellen Bildagitation sind die
Altäre entweder, wie der Wittenberger Cranach-Altar, beispielhafte Darstellungen der sich konsolidierenden neuen
Kirche oder, wie zuvor die Cranach-Tafeln Albrechts,
beispielhafte Darstellungen der sich verteidigenden alten
Kirche. Die protestantische Seite benutzt zur Behauptung
und Durchsetzung ihres Anspruches gleichsam selbstverständlich nicht nur die traditionsreiche Sakralform des
Altarretabels, sondern auch die „Pathosformel“ (Klaus
Lankheit) des Triptychons. Diese Altarform wird mit
(zumindest teilweise) neuartigen oder neuartig interpretierten Inhalten gefüllt. In den vorgestellten Beispielen
ersetzt das evangelische Bekenntnisbild des Abendmahls das katholische Bekenntnisbild der Messe. Die
Konfrontation des evangelischen Cranach-Altares und
der katholischen Cranach-Tafeln macht anschaubar, wie
einerseits eine Vergegenwärtigung und Vergegenständlichung Christi aus dem Wort geschieht, sich andererseits als Wunder ereignet: Die realistische Präsenz einer
aus dem Wort geistlich zu begreifenden Leibhaftigkeit
steht gegen die Realpräsenz des leibhaftigen, wirklichen
Christus als eines wirklichen Wunders. Die Darstellung
des Schmerzensmannes in der Gregorsmesse ist ein die
Wahrheit dieses Wunders bezeugendes „Historienbild“,
die Darstellung des Gekreuzigten in der Predigt Luthers
ist geistliches Zeugnis der Kraft der Wortverkündung und
eine Allegorie.
Literatur
Thomas Schauerte (Hg.): Der Kardinal Albrecht von Brandenburg.
Renaissancefürst und Mäzen. Ausstellung Halle, 2 Bde (Bd. 1 =
Katalog; Bd. 2 = Essays), 2006.
Harald Marx und Eckhard Kluth (Hg.): Glaube und Macht. Sachsen im
Europa der Reformationszeit. Ausstellung Torgau, Katalog 2004
Werner Hofmann (Hg.): Luther und die Folgen für die Kunst. Ausstellung Hamburg, Katalog 1983.
59
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Gerhard Bott (Hg.): Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung Nürnberg, Katalog 1983.
Staatliche Museen zu Berlin (DDR) (Hg.): Kunst der Reformationszeit.
Ausstellung Berlin (Ost), Katalog 1983.
Wolfgang Harms (Hg.): Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten
der Reformation und der Glaubenskämpfe. Ausstellung Veste
Coburg, Katalog 1983.
Harald Marx und Ingrid Mössinger (Hg.): Cranach. Ausstellung Chemnitz, Katalog 2005.
Andreas Tacke: Der katholische Cranach. Mainz 1992.
Oskar Thulin: Cranach-Altäre der Reformation. Berlin 1955.
Uwe Westfehling: Die Messe Gregors des Großen. Vision, Kunst, Realität. Ausstellung Köln, Katalog 1982.
Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997.
Erwin Fahlbusch (Hg.): Taschenlexikon Religion und Theologie. 5 Bde,
Göttingen 19834 (nachfolgend zitiert TRT 1 – 5).
Klaus Ganzer und Bruno Steiner (Hg.): Lexikon der Reformationszeit.
Freiburg 2002.
Bemerkungen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
Oskar Thulin o. c. (siehe oben), S. 11.
Taschenlexikon Religion und Theologie (= TRT) o. c. (siehe
oben), Bd. 4, S. 133 (Stichwort Predigt).
Thulin o. c., S. 9; die Maßangaben für die Tafeln des Altares
folgen Thulin S. 9.
Ingrid Schulze: Evangelische Stadtkirche St. Marien Wittenberg
(= Schnell-Kunstführer Nr. 1905). München 19914.
Hierzu ausführlich Birgit Ulrike Münch: „Dy nachuolg Christi“ im
monumentalen Rahmen. Überlegungen zur Passionsikonographie
in Auftragswerken Albrechts von Brandenburg. In: Katalog Halle
o. c. (siehe oben), Bd. 2, S. 213 – 227.
TRT 1, S. 21 (Stichwort Abendmahl).
Melanchthon in Nachfolge beziehungsweise Analogie zu Christus, vgl. zum Beispiel Cranach-Werkstatt: Christus segnet die
Kinder, ca. 1540 (Holz 83 x 122 cm). Dresden, Gemäldegalerie
Alte Meister.
TRT 5, S. 9 (Stichwort Sakrament).
Vgl. das Abendmahlsbild von Lucas Cranach d. J., 1565 (Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Dessau-Mildensee, ehem.
Schlosskirche Dessau), mit der Darstellung von elf Reformatoren
als Jünger Christi am Abendmahlstisch.
Vgl. Wolfgang Harms (Hg.) o. c. (siehe oben) sowie die entsprechenden Kapitel in den Katalogen Hamburg, Nürnberg, Berlin o.
c. (siehe oben).
27,8 x 38,8 cm. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett. Vgl. Katalog Hamburg o. c., S. 196 (Nr. 69). Der
Holzschnitt ist vermutlich die Reproduktion eines Gemäldes in
der Wittenberger Schlosskirche, das bei deren Zerstörung 1760
vernichtet wurde; möglicherweise handelte es sich um ein Epitaph.
30,5 x 40,9 cm. Berlin SMPK, Kupferstichkabinett. Vgl. Katalog
Nürnberg o. c., S. 382 (Nr. 503). – Georg Pencz, Nürnberg ca.
1500 – 1550 Leipzig.
35,1 x 58,5 cm, Holzschnitt von zwei Stöcken. Berlin SMPK,
Kupferstichkabinett. Vgl. Katalog Hamburg o. c., S. 194 (Nr.
67). – Lucas Cranach d. J., Wittenberg 1515 – 1586 Wittenberg.
Zitiert nach Katalog Hamburg o. c., S. 253 (Nr. 128); unter dem
hier abgebildeten Holzschnitt von Albrecht Dürer (um 1505) mit
einer Darstellung der Stigmatisierung des Hl. Franziskus steht
folgender Text, übersetzt aus dem Lateinischen: „O Franziskus,
die Wunden, die du um Christi willen trägst, ruf ich an, damit sie
ein Heilmittel für unsere Sünden sein werden“.
27,3 x 37,3 cm. Karlsruhe, Badische Landesbibliothek. Vgl.
Katalog Torgau o. c. (siehe oben), S. 42 (Nr. 6). – Wolf Traut,
Nürnberg 1480/85 – 1520 Nürnberg.
Zitiert nach Christian Hecht: Die Aschaffenburger Gregorsmessen. Kardinal Albrecht von Brandenburg als Verteidiger des
Meßopfers gegen Luther und Zwingli. In: Katalog Halle, Bd. 2, o.
c., S. 81 – 115, hier S. 85.
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17. Die Darstellung der imago pietatis bezieht sich auf ein in S.
Croce in Gerusaleme von Pilgern verehrtes Gnadenbild, auf das
nach der Legende Gregor I. (ca. 540 – 604) einen Ablass aussetzte für jene, die vor dem Bild beten und ihre Sünden bereuen;
geglaubt wurde auch, dass Gregor selbst das Bild nach seinem
Eindruck von der Erscheinung Christi hat anfertigen lassen. Tatsächlich wurde die kleine Mosaik-Ikone um 1300 in einer byzantinischen Werkstatt angefertigt und kam um 1380/85 nach S.
Croce. Vgl. Hecht o. c., S. 84.
18. 1475 gründete Jacob Sprenger OP, Prior des Dominikanerklosters St. Andreas in Köln, eine Rosenkranzbruderschaft.
19. Uwe Westfehling o. c. (siehe oben), S. 22.
20. Holz 150,2 x 110 cm. Bayerische Staatsgemäldesammlungen
München, Staatsgalerie Aschaffenburg. – Lucas Cranach d. Ä.,
Kronach 1472 – 1553 Weimar. Zu diesem Bild und der zweiten
Tafel in der Stiftsbasilika St. Peter und Alexander, Aschaffenburg
(siehe Anm. 25), vgl. grundlegend und ausführlich Hecht o. c.,
S. 81 – 115. Hecht vermutet, dass beide Darstellungen der Gregorsmesse ursprünglich für Sakralräume in der Lieblingsresidenz
Albrechts in Halle bestimmt waren, nach der Aufgabe dieser
Residenz 1540/41 von ihm an den dann bevorzugten Aufenthaltsort Aschaffenburg mitgenommen wurden. Beide Tafeln
bezeichnet Hecht als typisch für eine Werkgruppe des Malers
Simon Franck aus dem Umkreis Cranachs d. Ä. Vgl. Hecht o.
c., S. 87 f. – Vgl. Andreas Tacke o. c. (siehe oben) sowie dessen
Beiträge in Katalog Halle, Bd. 2, o. c.
21. Vgl. Berthold Hinz: Des Kardinals Bildnisse – vor allem Dürers
und Cranachs. In: Katalog Halle, Bd. 2, o. c., S. 19 – 27.
22. Hecht o. c., S. 92. Abbildung des Georg Lemberger zugeschriebenen Holzschnitts S. 84.
23. Hecht o. c., S. 103.
24. Hecht o. c., S. 105.
25. Holz 147 x 107 cm. Aschaffenburg, Stiftsbasilika St. Peter und
Alexander. Vgl. Anm. 20.
26. Hecht o. c., S. 106.
Abbildungsnachweis
Abb. 1, 2, 3 Wittenberg Stadtkirche; Abb. 4 Thulin o. c.; Abb. 5
Katalog Berlin o. c.; Abb. 6, 7, 8 Katalog Hamburg o. c.; Abb. 9
Katalog Torgau o. c.; Abb. 10, 11, 12 Katalog Halle, Bd. 2, o. c.
'bb' 118-4/2006
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krisenpädagogik – grenzüberschreitungen der schulpädagogik, wenn das konventionelle
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bildagitation: wort und wunder, predigt und heilige messe
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