Skalentheorie und Renormierung

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Skalentheorie und Renormierung
Skalentheorie und Renormierung
Ein Einführung zum Hauptseminar ”Theorie der Phasenübergänge”
Cord Müller, SS 06, Universität Bayreuth
1. Universalität kritischer Phänomene
In der Nähe eines kritischen Punktes werden physikalische Systeme durch algebraische Relationen zwischen den Zustandsgrößen beschrieben, d.h. durch einige wenige kritische Exponenten, die
sogenannte Universalitätsklassen definieren und unabhängig von der konkreten mikroskopischen
Realisierung sind. Andererseits wird die Physik am kritischen Punkt durch Fluktuationen auf allen
Längenskalen bestimmt, d.h. durch kooperatives Verhalten von unendlich vielen Freiheitsgraden,
für das in der Regel keine exakte Lösung bekannt und einfache Störungstheorie nicht anwendbar
ist. Ähnliches gilt auch z.B. für die Quantenfeldtheorie wechselwirkender Teilchen und hydrodynamische Turbulenz.
Die Renormierungsgruppen-Theorie (kurz RG) ist ein formidables Instrument, mit dem man
verstehen kann, was die Essenz kritischen Verhaltens ist, und zudem ein Algorithmus, der die
kritischen Exponenten im Prinzip mit beliebiger Genauigkeit zu berechnen gestattet. Im folgenden sollen diese Zusammenhänge am Beispiel des ferromagnetischen Phasenübergangs verdeutlicht
werden. Für einen allgemeinen Überblick siehe z.B. die beiden Übersichtsartikel von Wilson (Nobelpreis 1982) [1] und Fisher [2], sowie einschlägige Monographien, z.B. von Kadanoff [3], Le Bellac
et al. [4], Binney et al. [5] oder Amit [6].
2. Skalengesetze
2.1. Thermische Reskalierung der Molekularfeld-Zustandsgleichung
Ausgangspunkt unserer Überlegungen sei die Zustandgleichung der Landau-(Molekularfeld)-Theorie
für die Magnetisierung m, das magnetisches Feld h und die reduzierte Temperatur t = (T −Tc )/Tc :
h = tm +
m3
.
3
(1)
Unter Verwendung der kritischen Exponenten δ = 3 und β =
1
2
kann sie auch in der Form
h
t
= f0 ( 1/β )
δ
m
m
(2)
gelesen werden, wobei hier die Funktion f0 (x) = x+1/3 nur von einer reduzierten Variablen t/m1/β
abhängt. Diese Zustandsgleichung ist offensichtlich invariant unter der thermischen Reskalierung
t 7→ t0 = λt,
m 7→ m0 = λβ m,
h 7→ h0 = λβδ h.
(3)
Daraus folgt für den kritischen Exponenten der Suszeptibilität χ = ∂m/∂h|h→0 ∼ |t|−γ :
γ = β(δ − 1).
(4)
Dieses Skalengesetz gilt nicht nur für die Molekularfeldtheorie, sondern muss von jeder Theorie am
kritischen Punkt erfüllt werden, egal welche konkreten Werte die kritischen Exponenten annehmen.
1
2.2. Räumliche Reskalierung
Es sei ein wechselwirkendes Spinsystem auf einem Gitter mit dem mikroskopischen Gitterabstand
a realisiert, das bei der Temperatur t eine Korrelationslänge ξ(t) aufweist. Nun werde eine diskrete
räumliche Reskalierung nach dem folgenden Schema implementiert:
(i) Ausintegrieren aller kleinskaligen Fluktuationen zwischen a und la mit l > 1.
(ii) Reskalierung aller Längen x 7→ x0 = x/l mit dem gleichen Faktor l.
PSfrag replacements
(i)
(ii)
ξ
a
ξ0
la
a
Das Gitter sieht nun genauso aus wie zuvor (a00 = (la)/l = a). Falls es einen singulären Anteil der
freien Energiedichte gibt, f (h, t) = ∆F (h, t)/(∆xd ), dann ändert er sich wie folgt:
f 0 (h0 , t0 ) = ld f (h, t),
(5)
weil die gesamte freie Energie ∆F nicht von der Reskalierung abhängt, während sich die Volumeneinheit gemäß (∆x)d 7→ (∆x/l)d transformiert. Gleichzeitig erfolgt aber eine Reskalierung der
unabhängigen thermodynamischen Variablen:
h0 = lyh h,
t0 = lyt t.
(6)
Deren Exponenten yh und yt können aus den folgenden Skalenrelationen bestimmt werden, die
allein aus der Annahme einer singulären Energiedichte folgen:
1. Die reskalierte Korrelationslänge, gemessen in den neuen Längeneinheiten, ist
ξ 0 = ξ(t0 ) =
ξ(t)
1
∼
l
l|t|ν
(7)
Diese räumliche Reskalierung entspricht also der thermischen Reskalierung aus Abschnitt
2.1 um λ = l1/ν . Andererseits ist auch ξ 0 ∼ |t0 |−ν , und der Reskalierungsexponent der
Temperatur bestimmt sich zu yt = 1/ν.
2. Die Magnetisierung ist m(h, t) = −∂f (h, t)/∂h, d.h.
m0 = −
∂f (h0 , t0 )
∂f (h, t)
= −ld−yh
= ld−yh m(h, t) = m(lyh h, lyt t)
∂h0
∂h
(8)
Für h = 0, t < 0 wird der kritische Exponent β des Ordnungsparameters durch d = yh + βyt
bestimmt, während sich der kritische Exponent δ der Isothermen t = 0, h > 0 aus d =
yh (1 + 1/δ) ergibt.
3. Der singuläre Anteil der Wärmekapazität ist C ∼ −∂ 2 f /∂t2 . Man findet d = (2 − α)yt .
4. Die Suszeptibilität ist χ ∼ −∂ 2 f /∂h2 , so dass d = 2yh − γyt .
Insgesamt lässt sich zeigen, dass nur zwei kritische Exponenten, z.B. der Korrelationsexponent
ν und η (Korrelationen bei T = Tc bzw. Feldrenormierung, s. Abschnitt 4.3) genügen, um alle
anderen eindeutig zu bestimmen. Frage: Wie berechnet man sie? Und warum gibt es überhaupt
einen singulären Anteil der freien Energiedichte?
2
3. Ortsraumrenormierung à la Kadanoff
3.1. Kopplungsrenormierung, kritischer Punkt
Die Reskalierung beeinflusst nicht nur die Längenskalen, sondern auch die effektive Kopplung
zwischen den Spins: die Kopplung hängt davon ab, auf welcher Skala ich das System betrachte! Diese Beobachtung kann man nutzen, um festzustellen, welche thermodynamische Phase auf
großen Skalen realisiert ist. Gegeben sei ein Spinsystem auf einem Gitter mit Abstand a und
˜
effektiver nächster-Nachbar-Kopplung J = J/kT
im Energiefunktional, das bereits die gesamte
Temperaturabhängigkeit enthält:
X
Si Sj .
(9)
H = −J
hi,ji
Die zugehörige Korrelationslänge ist ξ(J). Der erste Schritt (i) des Reskalierungsalgorithmus’ aus
2.2 führt nun im allgemeinen dazu, dass die effektive Kopplung renormiert wird:
J 0 = R(J)
(10)
mit einer noch zu bestimmenden Renormierungsrelation R(J). Andererseits ist nach Schritt (ii)
weiterhin, wie in Punkt 1. des vorigen Abschnitts,
ξ 0 = ξ(J 0 ) =
ξ(J)
.
l
(11)
Das Produkt zweier Renormierungen ist wieder eine Renormierung, Rl1 (Rl2 (J)) = Rl1 l2 (J), so
dass sich eine Halbgruppenstruktur ergibt (“Halbgruppe”: Stabilität unter Multiplikation, aber es
existiert in der Regel kein Inverses: nach Ausintegrieren von Freiheitsgraden kann man nicht mehr
zurück!). Unter fortgesetzter Anwendung erhält man so eine Folge von Kopplungskonstanten J (n)
mit zugehörigen Korrelationslängen ξ (n) = ξ/ln .
Der kritische Punkt J = Jc zeichnet sich durch eine divergierende Korrelationslänge ξ(Jc ) = ∞
aus, d.h. ξ 0 = ξ(Jc0 ) = ξ(Jc ). Wenn man annimmt, ξ jeweils für J < Jc und J > Jc um den
eindeutigen kritischen Punkt eine monotone Funktion von J ist, dann folgt daraus die zentrale
Beobachtung, dass der kritische Punkt Jc gleich dem Fixpunkt J∗ = R(J∗ ) der Renormierungstransformation ist:
Jc = J ∗
(12)
Dies liefert nicht nur eine neue Charakterisierung des kritischen Punktes, sondern erlaubt außerdem, den kritischen Exponenten ν der Korrelationslänge durch Linearisierung der Renormierungsrelation um den Fixpunkt herum zu berechnen. Mit der einfachen Taylorentwicklung
J 0 = R(J) = R(J∗ ) + (J − J∗ )R0 (J∗ ) + . . .
(13)
folgt nämlich durch Gleichsetzen der linken und rechten Seite von (11) im kritischen Regime nach
kurzer Rechnung
ln l
.
(14)
ν=
ln R0 (J∗ )
Beachte: die Renormierungsfunktion R(J) wird durch Summation über endlich viele Freiheitsgrade
definiert, und ist deshalb regulär (vgl. den Vortrag von J. Krämer über “Lee-Yang und den thermodynamischen Limes”): die Taylorreihe existiert also. Zur Bestimmung des kritischen Exponenten
ν müssen wir uns also nur noch eine geeignete Renormierungsrelation R(J) beschaffen.
3
3.2. Naive Spinblockbildung
Nach einer Idee von Leo Kadanoff fasst man z.B. auf dem quadratischen Gitter mit Wechselwirkung zwischen nächsten NachbarnPjeweils
α
β
vier Spins Si = ±1 eines Blocks α zu einem Blockspin Sα0 = 41 i∈α Si
zusammen. Die Blockspins liegen also auf einem quadratischen Gitter
mit der Konstanten a0 = 2a, und wir müssen mit l = 2 reskalieren.
NaPSfrag replacements
he dem kritischen Punkt ist ξ a, so dass die Spins Si innerhalb eines
Blocks hochgradig korreliert sind. Deshalb sind auch die Blockspins
Sα0 = ±1.
Jeweils zwei parallele Spins aus einem Bloch wechselwirken mit jeweils zwei parallelen Spins
aus dem Nachbarblock, so dass die neue Kopplung zwischen Spinblöcken durch J 0 = 2J gegeben
ist: dieses einfache Schema liefert die Renormierungsrelation R(J) = 2J.
Die Fixpunkte dieser Relation sind J0 = 0 (instabil) und
J∞ = ∞ (stabil), wie man sich leicht graphisch klar macht.
R(J)
Sie entsprechen jeweils einer Phase hoher Temperatur oder
˜
schwacher Kopplung (J = J/kT → 0), bzw. kleiner Tem˜
peratur oder starker Kopplung (J/kT
→ ∞). Diese naive
Spinblockbildung vernachlässigt Fluktuationen selbst innerhalb der größten Blöcke und sagt deshalb konsequenterweireplacements
se voraus, dass sich beim Übergang zu großenPSfrag
Längenskalen
stets die ferromagnetische Phase J = ∞ einstellt. Somit lieJ
fert sie keinen endlichen Fixpunkt und damit keinen Pha0
∞
senübergang, den es in 2D jedoch gibt (vgl. Onsagers exakte
Lösung). Wir brauchen also ein besseres Rezept.
Übungsaufgabe: Exakte Renormierung der 1D-Ising-Spinkette
Man betrachte eine 1D-Ising-Spinkette, die durch das Energiefunktional
H = −J
N
X
Si = ±1,
Si Si+1 ,
i=1
SN +1 = S1
(15)
beschrieben wird. Zeigen Sie durch Summation über jeden zweiten Spin in der Zustandssumme
X
Z=
exp{−H},
(16)
{Si }
z.B. über alle S2j+1 , dass die derart “dezimierte” Spinkette durch ein Energiefunktional der gleichen Form (15), natürlich mit halber Teilchenzahl N 0 = N/2 und doppelter Gitterkonstanten
a0 = 2a, aber mit der exakt renormierten Kopplung
J 0 = R(J) =
1
ln(cosh 2J)
2
(17)
beschrieben wird. Betrachten Sie das Verhalten dieser Funktion für große und kleine Argumente
und bestimmen Sie die Fixpunkte und deren Stabilität. Eine Reparametrisierung durch K = tanh J
ist hier hilfreich, wenn auch nicht unbedingt nötig.
Zeigen Sie, dass die Gleichung (11) für die Korrelationslänge, hier also ξ(K 0 ) = ξ(K)/2, durch
ξ(K) = a/| ln K| gelöst wird. Diskutieren Sie das Verhalten von ξ als Funktion der reduzierten
Kopplung J. Wo divergiert ξ? Kann man einen kritischen Exponenten ν definieren?
Was sagt das Ergebnis dieser exakten Renormierungsrelation über die möglichen Phasen der
Spinkette aus? Gibt es einen Phasenübergang? (vgl. hierzu den Vortrag “1D-Systeme” von V.
Schaller).
4
3.3. Ortsraumrenormierung auf dem triangulären Gitter
Offensichtlich benötigt man in d ≥ 2 Dimensionen eine präzisere Renormierungsrelation, um den
ferromagnetischen Phasenübergang korrekt zu beschreiben. Das Problem der sogenannten Ortsraumrenormierung ist, dass bei jedem Schritt (i) des Renormierungsalgorithmus’, dem Ausintegrieren der lokalen Freiheitsgrade, neue Kopplungen zwischen weiter entfernt liegenden Blockspins
erzeugt werden; man spricht auch von einer “Proliferation” der Kopplungskonstanten:
J 7→ J10 , J20 7→ J100 , J200 , J300 , J400 7→ . . .
(18)
Damit das Problem analytisch behandelbar bleibt, muss man diese Kopplungen abschneiden, handelt sich damit allerdings unkontrollierte Näherungen ein – die im schlimmsten Fall eben keine
Näherungen sind, wie die drastische Vereinfachung in Abschnitt 3.2. In einigen Fällen kennt man
jedoch Methoden, die zufriedenstellende Ergebnisse liefern, wie z.B. die folgende Kumulantenmethode auf dem 2D-triangulären Gitter, die von Niemeijer and van Leeuwen entwickelt wurde
[7, 8].
Wir betrachten das Isingmodell (9) mit nächster-Nachbar-Wechselwirkung J, auf einem triangulären Gitter mit N Plätzen und Gitterkonstante a:
Sα0
PSfrag replacements
(α)
(α)
S3
S2
(β)
S1
Sβ0
Abbildung 1: (a) Trianguläres Gitter mit Spinblöcken. (b) Wechselwirkung zwischen Blockspins.
(α)
(α)
(α)
Jeweils drei Spins lassen sich zu einem Blockspin Sα0 := sgn{S1 + S2 + S3 } ∈ {1, −1},√α =
1, . . . , N/3, zusammenfassen. Man erhält so wiederum ein trianguläres Gitter mit a0 = la = 3a.
Der Blockspin-Hamiltonian H 0 ergibt sich formal durch Summierung über alle Konfigurationen
{Si |Sα0 } für eine festgehaltene Blockkonfiguration {Sα0 }:
X
exp[−H 0 {Sα0 }] =
exp[−H{Si }].
0 }
{Si |Sα
P
(α)
Man zerlegt H = H0P+ V in die Beiträge H0 =
α H0 {Si } innerhalb der Blöcke und
die Wechselwirkung V = α6=β Vαβ zwischen verschiedenen Blöcken. Der Blockspin-Hamiltonian
ergibt sich dann zu
H 0 {Sα0 } = − ln e−V 0 − ln Z0 (J),
wobei der Erwartungswert einer beliebigen Größe A bezüglich H0 wie üblich durch
X
1
hA{Sα0 }i0 =
e−H0 A{Si }.
Z0 (J)
0
{Si |Sα }
definiert ist und Z0 (J) die Zustandssumme der nicht wechselwirkenden Spinblöcke ist, deren genaue
Form hier nicht wichtig ist. Nun gilt für beliebige Wahrscheinlichkeitsverteilungen die sogenannte
Kumulantenentwicklung:
1
(X − hXi)2 + . . . ,
ln eX = hXi +
2
(19)
falls die auftretenden Terme endlich sind. Wir gehen jetzt davon aus, dass die Wechselwirkung V
zwischen den Spinblöcken kurzreichweitig und schwach ist, so dass wir die Entwicklung nach dem
5
Term niedrigster Ordnung abbrechen können: ln e−V 0 ≈ − hV i0 . Durch Betrachten der verschiedenen Spinkonfigurationen innnerhalb der Blöcke zeigt man, dass die effektive Blockwechselwirkung wieder von der Ising-Form hVαβ i0 = −J 0 Sα0 Sβ0 ist, und die renormierten Kopplungskonstante
0
J = 2J
e4J + 1
e4J + 3
2
(20)
besitzt. Diese Renormierungsrelation besitzt die
√ üblichen trivialen Fixpunkte J0 und J∞ , sowie
einen nichttrivialen Fixpunkt J∗ = 41 ln(1 + 2 2) ≈ 0.3356. Zum Vergleich: der exakte Wert in
2D liegt bei J∗ ≈ 0.2747 und folgt bereits aus der Kramers-Wannier-Dualität [3, Kap. 15]; die
MF-Vorhersage für das trianguläre Gitter beträgt hingegen J∗ = 1/6 ≈ 0.1667 und ist somit
schlechter.
√
√
Linearisierung von R(J) um den Fixpunkt liefert R0 (J∗ ) = 1 + (4 − 5/ 2) ln(1 + 2 2) und
somit den kritischen Exponenten ν = 1/yt ≈ 1.13. Auf dem Weg zum exakten Resultat ν = 1
(Onsager) stellt dies bereits eine deutliche Verbesserung des MF-Ergebnisses νmf = 12 dar.
Die Kumulantennäherung (19) kann dann nach Belieben bis zu höheren Ordnungen weitergeführt werden, wobei das Ausintegrieren der zahlreichen Blockspin-Konfigurationen zweckmäßigerweise dem Computer überlassen wird. Niemeijer and van Leeuwen konnten so die systematische
Konvergenz zu den exakten Resultaten zeigen [7, 8]. Leider lässt sich diese Methode nicht generell
auf beliebige Gitter und Wechselwirkungen anwenden, so dass letzlich die Ortsraumrenormierung
auf spezifische Anwendungen beschränkt bleibt.
4. Renormierungsgruppentheorie à la Wilson
4.1. Impulsraumrenormierung
Dem Gitterabstand a entspricht im Fourierraum eine Grenze Λ = π/a der ersten Brillouin-Zone,
die auch als “UV-Cutoff” der Impulsintegrale bezeichnet wird. Anstatt im Ortsraum über Fluktuationen im Intervall [a, la] zu integrieren, kann man äquivalent auch über große k-Vektoren aus
[Λ, Λ/l] integrieren. In dieser Form der Renormierungstransformation (“Zwiebelschälen von außen
nach innen”), die von K.G. Wilson aus der QFT in die statistische Physik übertragen wurde, kann
man eine stetige Transformation für infinitesimal kleine Schritte l = 1 + s mit ln l ≈ s realisieren.
Damit erhält die Renormierungsrelation die Form einer kontinuierlichen Flussgleichung:
dR(J)
=: −β(s)
ds
(21)
Diese sogenannte “β-Funktion” beschreibt, wie sich die Kopplungsstärke J ändert, wenn der UVCutoff Λ der Theorie geändert wird. Den Fixpunkten der Renormierungsrelationen entsprechen
die Nullstellen der β-Funktion. In der QFT fordert man, dass sich die Vorhersagen der Theorie
nicht ändern, wenn man den (unbekannten und daher beliebigen) Parameter Λ ändert. Diese
Forderung nach “Invarianz unter Renormierungsgruppentransformationen” gab der RG-Theorie
ihren Namen.
4.2. RG-Theorie: allgemeine Terminologie
Es werde ein physikalisches System durch Spins Si auf einem Gitter mit Gitterabstand a (bzw.
durch eine kontinuierliche Spindichte φ(r) mit UV-Cutoff Λ ∼ 1/a) beschrieben. Der allgemeinste
Hamiltonian ist von der Form
X
Jα O α ,
(22)
H=
α∈
wobei die Gesamtheit aller Kopplungskostanten {Jα , α = 1, 2, . . . } einen Punkt im (unendlichdimensionalen) Parameterraum bezeichnet, und die Oα die sogenannten “Operatoren” sind (das
Vokabular ist historisch bedingt), die die Spinwechselwirkungen tragen; für das Ising-Modell (9)
6
sind einfach {Jα } = {−J, 0, 0, . . . } und O1 =
definiert nun eine Abbildung
{Jα } 7→ {Jα0 },
P
hi,ji
Si Sj . Jeder Schritt der RG-Transformation
bzw. Ja0 = Rα ({Jβ })
(23)
im Parameterraum. Die entsprechenden Trajektorien können Fixpunkte Jα∗ besitzen, darunter typischerweise die trivialen Fixpunkte starker und schwacher Kopplung, aber auch nichttriviale, die
zum kritischen Verhalten gehören. Eine Linearisierung der RG-Transformation um einen solchen
Fixpunkt herum, Jα = Jα∗ + δJα , liefert die Stabilitätsmatrix Lαβ = (∂Rα /∂Jβ )(J ∗ ) und die
Eigenwerte λi mit zugehörigen (rechten) Eigenvektoren u(i) : Lu(i) = λi u(i) und EntwicklungskoefP
(i)
fizienten ti der Kopplungen: δJα = i ti uα . Die ti heißen Skalierungsfelder. Wegen der Halbgrupn
penstruktur gilt außerdem λi (l ) = λi (l)n und somit λi = lyi mit einem Skalierungsexponenten
yi = ln λi / ln l.
Bei einem Eigenwert λi > 1 (positiver Exponent yi > 0) heißt ti ein relevantes Feld : falls ti 6= 0,
(n)
wird es unter der RG-Transformation vom Fixpunkt t∗i = 0 weggetragen, weil ti = λni ti ti .
Diese relevanten Felder entsprechen den Parametern, die man im Experiment präzise einstellen
muss, um zum kritischen Punkt zu gelangen; für das Isingmodell sind das genau die reduzierte
Temperatur t und das magnetische Feld h, die beide 0 sein müssen.
Für λi < 1 (negativer Exponent yi < 0) heißt ti ein irrelevantes Feld und wird zum Fixpunkt
hingetragen. Eigenwerte λi = 1 (verschwindende Exponenten yi = 0) gehören zu marginalen
Feldern.
Die Menge aller Punkte im Parameterraum um einen kritischen Fixpunkt, auf denen die relevanten Felder verschwinden, heißt kritische Mannigfaltigkeit. Diese ist gleich dem Einzugsbereich
des Fixpunktes (“basin of attraction” im Sinne der Flussgleichungen).
J2
PSfrag replacements
J0
M∗
J∗
J1
Abbildung 2: Schema des RG-Flusses im Parameterraum einer relevanten Kopplung J1 und einer
irrelevanten Kopplung J2 nahe der kritischen Mannigfaltigkeit M ∗ um einen Fixpunkt J ∗ .
Hilfreich ist nun der folgende Charakterzug der RG-Transformationen, die in der Regel komplizierte nichtlineare Gleichungen sind: egal von welchem Punkte man im Parameterraum startet,
wird man vom RG-Fluss durch Kontraktion der irrelevanten Felder in die Nähe des Fixpunktes
getragen, wo man linearisieren darf. Dort berechnet man die Eigenwerte der Stabilitätsmatrix, aus
denen dann die Skalierungsexponenten yi folgen. Vermöge der Skalenrelationen aus Abschnitt 2.2
ergeben sich dann die restlichen kritischen Exponenten.
7
4.3. Kritische Freie Energie
Die RG-Theorie erlaubt es auch zu verstehen, wie es zu einem singulären Anteil der freien Energie kommen kann, der nach Abschnitt 2.2 Voraussetzung für ein Skalenverhalten ist. Die RGTransformation zwischen Energiefunktionalen bestimmt im Grunde eine Transformation zwischen
Wahrscheinlichkeitsverteilungen P [φ] ∝ exp{−H[φ]} für die fluktuierenden Spinvariablen. Zusätzlich zur Renormierung der Kopplungskonstanten müssen auch noch die Spins geeignet renormiert
werden (siehe z.B. den Faktor 41 des Kadanoff-Spinblocks in Abschnitt 3.2). Es gibt nun im Prinzip
drei Fälle (siehe [9, Kap. 7] für eine genauere Diskussion dieses Punktes):
1. Für T > Tc ist die Korrelationslänge ξ(T ) endlich, bei verschwindender Magnetisierung
m = hφi = 0. Die RG-Transformation ergibt dann die Gaußverteilung P0 [φ] ∝ exp{−φ2 /2χ}
als Fixpunkt, deren Breite durch die Suszeptibilität bestimmt ist (Fluktuations-DissipationsTheorem). Dies entspricht der paramagnetischen Hochtemperatur-Phase frei fluktuierender
Spins.
2. Für T < Tc ist die Korrelationslänge ξ(T ) auch endlich, aber bei m = hφi 6= 0. Eine
Fixpunktlösung ist nun P∞ [φ] ∝ δ(φ − m) mit verschwindender Breite. Dies ist die Tieftemperaturphase mit eingefrorener spontaner Magnetisierung m.
3. Der interessante Fall für T = Tc ist die kritische Verteilung P∗ [φ]. Die zugehörige freie
Energiedichte ist als Fixpunkt der RG-Transformationen
f (t, h) = l−d f (lyt t, lyh h; {lyi ti })
(24)
realisiert, wobei die ti den irrelevanten Feldern entsprechen. Diese Form entspricht genau der
in (5) vorausgesetzten Skalierung, aus der die Skalenrelation folgten. Dieser Fixpunkt wird
typischerweise durch RG-Iterationen von vielen verschiedenen Startpunkten aus erreicht,
die völlig verschiedenen mikroskopischen Modellen entsprechen können und dennoch alle
dasselbe universelle kritische Verhalten zeigen.
Literatur
[1] K.G. Wilson, “The renormalization group and critical phenomena”, Rev. Mod. Phys. 55, 583
(1983)
[2] M. E. Fisher, “Renormalization group theory: Its basis and formulation in statistical physics”,
Rev. Mod. Phys. 70, 653 (1998)
[3] L.P. Kadanoff, Statistical Physics - Statics, Dynamics and Renormalization (World Scientific,
2000)
[4] M. Le Bellac, F. Mortessagne, and G. Batrouni, Equilibrium and Non-Equilibrium Statistical
Thermodynamics (Cambridge, 2004)
[5] J.J. Binney, N.J. Dowrick, A.J. Fisher, and M.E.J. Newman, The Theory of Critical Phenomena
(Oxford, 1992)
[6] D.J. Amit, Field Theory, the Renormalization Group, and Critical Phenomena (World Scientific, 2005)
[7] Th. Niemeijer and J.M.J. van Leeuwen, “Wilson Theory for Spin Systems on a Triangular
Latice”, Phys. Rev. Lett. 31, 1411 (1973)
[8] Th. Niemeijer and J.M.J. van Leeuwen, “Renormalization Theory for Ising-like Spin Systems”,
in: C. Domb, M.S. Green (eds.): Phase Transitions and Critical Phenomena, (Academic 1976),
vol. 6, chap. 7, pp. 425-505
[9] G. Parisi, Statistical Field Theory (Perseus, 1998)
8