was die bibel mir erzählt - Theologische Fakultät Paderborn

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was die bibel mir erzählt - Theologische Fakultät Paderborn
Herbert Stettberger (Hg.)
WAS DIE BIBEL MIR ERZÄHLT
Aktuelle exegetische und religionsdidaktische StreHlichter
auf ausgewählte Bibeltexte
Festschrift für Prof. Dr. Pranz Laub
JO
LIT
Bibel - Schule - Leben
herausgegeben von
Prof. Dr. Ingo Baidermann
(Siegen)
Band6
LIT
Und Jesus sprach in Gleichnissen ••.
Maria Neubrand, München
1 Entwicklungen in der modernen Gleichnisforschung
Die Gleichnisse Jesu stellen in der neutestamentlichen Wissenschaft eine zentra.le Frage nach der Botschaft Jesu dar. Dementsprechend ist die Gleichnisforschung - von einigen Ausnahmen abgesehen - "bis heute eine Funktion der
··
nach dem historischen Jesus. Gleichnisse gelten als ,Urgestein' der
das einen Zugang zum Kern christlicher Botschaft ver~"''"''"ht··---. Der Blick in die Geschichte der neutestamentlichen Gleichnisforzeigt allerdings, dass zwar Konsens darüber besteht, dass die Gleichnisse
"Urgestein" der Botschaft Jesu gehören, dass aber die Frage, wie sie
aus;zu1eg:en und zu verstehen sind, ganz unterschiedlich beantwortet wird.
In der mehr als 100-jährigen historisch-kritischen Gleichnisforschung hat
beträchtliche Entwicklungen gegeben. Die verschiedenen Phasen der Gleich:ms;tot1>Cl1uttg sollen anhand wichtiger Gleichnistheorien exemplarisch vorgestellt
und verdeutlichen, wie theologie- und geistesgeschiehtHebe Kontexte
die Gleichnisauslegung einwirken und wie sich bis heute "Gleichnistheorie,
325
dogmtatisctte Vorgaben und Jesusbild wechselseitig beeinflussen" •
2 Adolf Jülicher: Gleichnisse und allgemeine Satzwahrheiten
kritische Gleichnisforschung setzt ein mit A. Jülicher (1857-1938) und seizwei Bänden "Die Gleichnisreden Jesu", erstmals erschienen 1886 und 1899
Erlemann, K., Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB filr Wissenschaft
Tübingen 1999, 12.
Zum Überblick über die Phasen der Gleichnisforschung vgl. Theißen, G./ A. Merz, Der
3
hidnri<:r.hP. Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 2001, 285-292. Für die Auflinge der kritischen
p!eichlnisl'Ors:chtmg vgl. die Sammlung der wichtigsten Texte in: Harnisch, W. (Hg.), GleichPositionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte, WdF 366,
.n...nn<ltAI1t 1982; wichtige Beiträge zur Neuorientierung in der Gleichnisforschung ab den 60er
20. Jahrhunderts sind abgedruckt in: Harnisch, W. (Hg.), Die rumtestamentliehe
Oleichnislfors:chtmg im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft, WdF 575,
Darmsl;adt 1982; vgl. auch Harnisch, W., Beiträge zur Gleichnisforschung (1984-1991), in:
59, 1994, 346-387.
'Erlemann, Gleichnisauslegung, 53. Vgl. dazu auch Schmeller, Th., Das Reich Gottes im
,uJta~,;nm:s. Eine Überprüfung der Gleichnisrede und der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, in:
119, 1994, 559-608; Erlemann, K., Wohin steuert die G1eichnisforschung?, in: ZNT 3,
999, 2-10.
89
in Tübingen. Bis heute lässt sich die Gleichnisforschung weitgehend als eine
Auseinandersetzung mit, als Korrektur oder Weiterfiihrung der Position Jülichers
326
verstehen • Es geht dabei vor allem um die Frage, wie die Gleichnisse Jesu
"richtig" auszulegen sind. Damit verbunden ist die bis heute kontrovers gefiihrte
Diskussion, ob es mit der Verschriftlichung bzw. redaktionellen Überarbeitung
durch die Tradenten zu einer Verfälschung oder zu einem Missverständnis der
"ursprünglichen" Gleichnisse Jesu kam.
Jülichers Position erschließt sich, wenn man weiß, gegen welches Gleichnisverständnis er seine Konzeption entwirft. Jülicher wehrt sich gegen die bis
dahin vorherrschende Methode, die Gleichnisse Jesu allegorisch auszulegen bzw.
zu allegorisieren. Man suchte hinter jedem einzelnen Bild eines Gleichnisses
nach einem versteckten Sinn und legte die Gleichnisse Zug fiir Zug daraufhin
aus. Jülicher lehnt eine willkürliche Allegorisierung der Gleichnisse ab und plädiert fiir eine nicht-allegorische Auslegung. Im Hintergrund seines Ansatzes
steht die aus der aristotelischen Rhetorik stammende Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Rede. Für Jülicher sind Allegorien "uneigentliche" Rede, die Jesus- so sein dogmatisches Postulat- nie benutzt habe327• Denn der historische Jesus habe fiir alle verständlich gesprochen und mit seinen kurzen,
prägnanten Gleichnissen einen pädagogischen Zweck verfolgt328 •
Nach Jülicher ist ein Gleichnis "diejenige Redefigur, in welcher die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch Nebenstellung eines
ähnlichen, einem anderen Gebiet angehörigen, seiner Wirkung gewissen Satzes.
Ausgeschlossen ist damit jede Verwechslung und Vermengung mit der Allegorie
als detjenigen Redefigur, in welcher eine zusammenhängende Reihe von Begriffen (ein Satz oder Satzkomplex) dargestellt wird vermittelst einer Reihe von ähn329
lichen Begriffen aus einem anderen Gebiete" •
326
Vgl. dazu Erlemann, K., Adolf Jülicher in der Gleichnisforschung des 20. Jahrhunderts, in: ·
Mell, U. (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899-1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher,
BZNW 103, Berlin-New York 1999,5-37.
327
In seiner Dissertation von 1978 ,,Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnissen"
hat Hans-Josef Klauck notwendige Begriffsklärungen vorgenommen: Als Allegorie gilt eine
literarische Form, die mit Hilfe von Symbolen eine bestimmte Wirklichkeit zur Sprache
bringt. Nach Klauck ist Jesus allegorische Rede nicht abzusprechen: ,,Mit der Behauptung, die
Tradenten und Redaktoren hätten die Gleichnisse Jesu missverstanden und allegorisch überfremdet, wird man in Zukunft vorsichtiger umgehen müssen" (ebd., 358). ,,Allegorese" ist
hingegen ein Auslegungsveifahren, das eine nicht allegorische Erzählung in den Einzelzügen
als Allegorie versteht und auslegt. ,,Allegorisierung" meint die nachträgliche allegorische Erklärung eines vorliegenden Gleichnisses. - Jülicher wandte sich nach dieser Begriffsbestimmung im Prinzip weniger gegen die ,,Allegorie" als gegen Allegorese und Allegorisierung.
328
Im Hintergrund steht dabei ein bestimmtes Jesusbild des 19. Jhs, das in Jesus einen einfachen, erbaulichen Prediger sieht.
329
Jülicher, A., Gleichnisreden I, Dannstadt 1976- Neudruck der Ausgabe Tübingen 1910,
80.
90
Jülicher führt in seiner Gleichnisauslegung die Unterscheidung zwischen Sachund Bildhälfte ein und postuliert, dass zum richtigen Verstehen eines Gleichnisses jeweils nur ein Vergleichspunkt erfasst werden muss, das "tertium comparationis". Jülicher versteht das Gleichnis als einen erweiterten Vergleich:. Der Hörer muss das tertium comparationis erfassen, das zwischen der Sache und dem
verwendeten Bild vermittelt. Nur auf diese Weise sei aus dem Bild des Gleichnisses detjenige Gedanke zu erheben, der eine zeitlose, allgemein sittlichreligiöse Wahrheit zum Ausdruck bringt. Zwar könne diese "Saoo;vahrheit" auch
· ohne bildhafte Rede zum Ausdruck gebracht werden, mit der Rede in Gleichnissen wolle Jesus aber mit Hilfe bildhafter Veranschaulichung rhetorischargumentativ Zustimmung bei den Hörern erreichen.
Das von Jülicher vertretene Postulat einer nicht-allegorischen Gleichnisauslegung sowie die Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte und die Annahme
nur eines tertium comparationis haben die Gleichnisforschung nachhaltig be331
stimme30, werden heute jedoch nicht mehr in diesem strengen Sinne vertreten .
Heute spricht man eher von der "Pointe" einer Gleichniserzählung und gesteht
zu, dass auch einzelne Elemente eines Gleichnisses alle~orische Züge tragen
33
(können), die für die jeweilige Pointe von Bedeutung sind .
Die Position von Jülicher wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte unter
verschiedenen Rücksichten modifiziert und kritisiert. Eine Anfrage kam aus der
religions- und formgeschichtlichen Schule, die Jesu Gleichnisse im Rahmen der
eschatologischen Verkündigung Jesu sieht. Diese Phase der Gleichnisforschung
ist damit eng mit der historischen Rückfrage nach Jesus verbunden.
3 Die Gleichnisse Jesu im eschatologischen Kontext
Diese neue Fragestellung in der Gleichnisforschung verdankt sich Impulsen des
Werkes von J. Weiß (1863-1914) "Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes", das
1892 in Göttingen erschien. Weiß, der so genannten religionsgeschichtlichen
Schule zugehörig, versteht Jesu Botschaft im Rahmen der jüdischen Apokalyptik
333
und charakterisiert sie als konsequent "futurische Eschatologie" •
330
Vgl. Erlemann, Adolf Jülicher, 5: Jülichers "Entwurf einer nicht-allegorischen
Gleichnisauslegung wurde wegweisend für die Erforschung der Gleichnisse Jesu seither."
331 Vgl. z.B. die veränderten Aussagen in der 13. und 14. Auflage von Conzelmann, H./ A.
Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, UTB 52, Tübingen 1998 bzw. 2004, 102.
332
Vgl. Erlemann, Gleichnisauslegung, 150-154; sowie ebd., 169: Es ist mit mehreren "tertia
comparationis" zu rechnen, wobei an der einen ,,Pointe" festzuhalten sei.
333
Diese Sicht vertritt auch Schweitzer, A., Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, UTB 1302,
Tübingen 9 1984.
91
3.1 Charles H. Dodd: Realized eschatology
Ch.H. Dodd hat die Sicht Jesu in einem eschatologischen Kontext aufgegriffen,
hält aber in seinem Gleichnisbuch von 1935 "The Parabtes ofthe Kingdom" dafür, dass sich bei Jesus eine "präsentische Eschatologie" finde, die in den
Gleichnissen greifbar werde: In ihnen zeige sich eine "realized eschatology", die
Jesu Sicht widerspiegele, dass sich alle eschatologischen Erwartungen in seiner
Person realisieren. Dodd geht davon aus, dass die Botschaft Jesu vom nahe gekommenen Reich Gottes (Mk 1,15) im Sinne von Lk 11,20 und Mt 12,28 zu verstehen ist: Das Reich Gottes ist schon zu euch gekommen, es ist schon unter
euch. Nach Dodd handeln deshalb die Gerichtsgleichnisse Jesu nicht von der
Zukunft, vielmehr sei das Gericht mit Jesus und seiner Botschaft schon da. Die
Gleichnisse rufen so zur Nachfolge bzw. zur Entscheidung für oder gegen Jesus.
Erst die urchristlichen Gemeinden hätten das nicht mehr verstanden und die Gerichtsgleichnisse falschlieherweise futurisch gedeutet.
3.2 Joachim Jeremias: Die "ipsissima vox" JesU'c
Im Anschluss an Dodd betont auch J. Jeremias in seinem Gleichnisbuch "Die
334
Gleichnisse Jesu" den eschatologischen Charakter der Gleichnisse und versucht sie im biografischen Kontext Jesu zu verorten. Stärker als Dodd geht es
Jeremias primär darum, Überlagerungen durch die Urkirche abzutragen und "zurückzukommen zum ursprünglichen Sinn der Gleichnisse Jesu"335, dem "Urge336
stein der Überlieferung" • Jeremias ist methodisch der Formgeschichte verpflichtet, die kleine Formen in den Evangelien und deren jeweiligen "Sitz im Leben" zu bestimmen sucht. Erklärtes Ziel von Jeremias ist es, zum historischen
Jesus selbst zu kommen und die "ipsissima vox" Jesu herauszuarbeiten. Die
Gleichnisse Jesu müssten von ihrer verfälschenden Überarbeitung durch die
Urkirche befreit werden, um den authentischen Gleichnissen Jesu selbst Gehör c
337
zu verschaffen • Deshalb müsse zunächst der Sitz der Gleichnisse im Leben der
Urkirche eruiert werden, da (nachösterliche) Gemeindeinteressen zahlreiche Um- •c
formungen der Gleichnisse bewirkt hätten338• Davon zu unterscheiden sei der Sitz
Ce
334
e
Jeremias, J. Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 10 1984 1947).
Jeremias, Gleichnisse, 18.
336
Ebd., 7.
337
Vgl. die Überschrift zum zweiten Kapitel seines Gleichnisbuches: "Von der Urkirche zu
Jesus zurück!" (19-114).
338
Z.B. wurden nach Jeremias die Gleichnisse erst in der Urkirche paränetisch verwendet.
Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 29-39, zu Mt 20,1-16: ,,Der Wechsel des Auditoriums hat eine
Verschiebung des Akzentes nach sich gezogen: ein apologetisches Gleichnis ist zum paräneti.
sehen geworden" (ebd., 3 7), angezeigt etwa durch die sekundären Rahmen der Gleichnisse.
335
92
339
der Gleichnisse "in einer konkreten Situation des Lebens Jesu" • Dieser sei in
der Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern zu sehen, die e:r mit Hilfe seiner Gleichnisse von seiner Sicht des Reiches Gottes habe überzeußen wollen.
34
Nach Jeremias sind die meisten Gleichnisse eine "Streitwaffe" Je:su mit einem
apologetischen Zweck. Jesus rufe mit ihnen zur Entscheidung für oder gegen die
Gottesherrschaft auf, die in seiner Person präsent sei. Damit fiihrten die Gleichnisse zugleich in die Krisis: •.Alle Gleichnisse Jesu zwingen den Hörer, zu seiner
341
Person und seiner Sendung Stellung zu nehmen" • Die Bildwelt der Gleichnisse
Jesu zeichnet sich nach Jeremias durch eine konkrete AnschauHchkeit aus und
342
war so fiir alle unmittelbar zugänglich • Darin seien sie unvergleichbar mit rab343
binischen Gleichnissen •
Insgesamt hat diese Phase der Gleichnisforschung wesentliche Grundlagen
gelegt fiir die folgenden Jahrzehnte. Die historische Rückfrage nach Jesus und
das Verständnis der Gleichnisse im Rahmen der Botschaft Jesu beschäftigt bis
heute die neutestamentliche Forschung. Die Frage nach dem "ursprünglichen
344
Sinn der Gleichnisse" gehört zu Standardthemen von Jesusbüchem und taucht
gegenwärtig in der Gleichnisforschung z.B. im Rahmen des so ge:nannten Jesus45
seminars ("Third Quest") wieder auf • Auch hier wird primär nach den ursprünglich jesuanischen Gleichnissen gefragt, wobei der literarische Kontext als
46
sekundär und irrelevant für das Verständnis rekonstruierter Gleichnisse gile •
>Heute hingegen ist deutlicher als früher klar, dass die Frage nach der "ipsissima
vox" Jesu bzw. nach den "ursprünglichen" Gleichnissen in eine Sackgasse führt,
39
~ Jeremias, Gleichnisse, 17.
340
Ebd., 18.
, Ebd., 227 (Hervorhebung M.N.).
42
~ Auch Linnemann, E., Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen 6 1978, geht
davon aus, dass die Gleichnisse Jesu in ihrer ursprünglichen Situation unmittelbar verstehbar
waren, erst "für den späteren Ausleger und Leser, dem diese Situation nicht bekannt ist oder
• der doch nicht in ihr drinsteht, tritt der Sinn des Gleichnisses als ein Zweites zu der Gleichniserzählung hinzu" (ebd., 32).- Wie soll man sich solches vorstellen?
343
Die Unhaltbarkeit dieser Sicht zeigen die Gleichnisbücher von Flusser, D., Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus. I. Teil: Das Wesen der Gleichnisse, Bem.· Frankfurt 1981; Dschulnigg, P., Rabbinische Gleichnisse und das Neue Testament. Die
Gleicllmisse der PesK im Vergleich mit den Gleichnissen Jesu und dem Neuen Testament, Judaica et Christiana 12, Beru-Frankfurt 1988, die Jesu Gleichnisse im Rahmen des in rabbinischen Gleichnissen Üblichen sehen und Jesus nicht vom Judentum seiner Zeit isolieren bzw.
seine Einzigartigkeit nicht aufKosten des Judentums herausstellen.
344
Jeremias, Gleichnisse, 16.
345
Vgl. Crossan, J.D., In Parables. The Challenge of the Historical Jesus, New York 1973;
Borg, M., Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge 1994.
346
Vgl. z.B. die Aussage zu Lk 10,30-36 bei Crossan, J.D., Gleichnisse detr Verkehrung, in:
·Hiunisch, Gleichnisforschung, 127-158, 138: "Das Gleichnis vom ,Barmhell'Zigen Samariter'
10,30-36 war ursprünglich selbständig und muß daher unter Absehung seines später hinzugefügten, jetzigen Rahmens ausgelegt werden."
341
93
weil sie erstens über rein Spekulatives nicht hinausfUhrt und zweitens methodisch und hermeneutisch inakzeptabel die Gleichnisse aus dem literarischen
Kontext löst, ohne den aber kein einziges Gleichnis überliefert ist. Von Bedeutung fiir das Verständnis von Gleichnissen bleibt hingegen die sozialgeschichtliche Fragestellung, die den soziokulturellen und soziareligiösen Kontext Jesu und
der Umwelt der Evangelien in die Analyse mit einbezieht - ohne dabei den je347
weiligen literarischen Kontext außer Acht zu lassen •
4 Metapherntheorie und existential-theologische Hermeneutik
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kommt es in der neutestamentlichen
Gleichnisforschung zu Neuansätzen. Diese verdanken sich sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschungen zur Metagherntheorie und deren Rezeption in
3 8
der existential-theologischen Hermeneutik •
Die neuere Metapherntheorie betont, dass Metaphern eine \semantische
Funktion haben und etwas zum Ausdruck bringen, was anders nicht ausgesagt
werden kann. Es wird betont, "daß die Metapher ein semantisches, nicht ein le349
xikalisches Phänomen ist'' • Mit einer Metapher werden zwei Bereiche syntaktisch einander zugeordnet, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben350•
Aufgrund dieser so hergestellten syntaktisch-semantischen Beziehung wird ein
"Zugewinn an Wirklichkeitserkenntnis (ermöglicht), der mit Hilfe nichtmetapho351
,
rischer Sprache nicht möglich wäre" •
Neuere Ansätze in der Gleichnisforschung versuchen, Gleichnisse analog
zu Metaphern zu verstehen, weil auch hier zwei verschiedene Bereiche - das '
Reich Gottes und die alltägliche Wirklichkeit bzw. ein besonderer Fall- zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dadurch werde einerseits eine Analogie, andererseits eine Verfremdung zwischen beiden Bereichen hergestellt, wodurch so das zugrunde liegende dogmatische Postulat - eine neue Existenzweise aufscheine352. Diese Sicht wird vor allem Gleichnistheorien vertreten, die einer
353
existential-theologischen Hermeneutik zuzurechnen sind •
347
V gl. hier das neue Gleichnisbuch von Schottroff, L., Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2005.
Hinzuweisen ist hier v.a. aufRicoeur, P./ E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser
Sprache, EvTh Sonderheft, 1974, mit den Beiträgen von Ricoeur, Stellung und Funktion der
Metapher in der biblischen Sprache, ebd., 45-70; und Jüngel, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen
Theologie, ebd., 71-122.
349
Erlemann, Gleichnisforschung, 4.
350
Als bekanntes Beispiel dafür gilt der Satz: ,,Achill ist ein Löwe".
351
Erlemann, Gleichnisforschung, 4.
352
In diesen Ansätzen wird postuliert, dass der Hörer durch die Gleichniserzählung in einen
"metaphorischen Prozess" verwickelt wird, in dem die Wirklichkeit Gottes als eine "Gegenwirklichkeit" aufscheint und der Hörer dazu in Spannung gebracht wird. Dadurch werde er
348
94
4.1 Hans Weder: Die Gleichnisse Jesu als Abbildung der Gottesherrschaft
H. Weder überträgt das Metaphernverständnis konsequent auf die GottesreichGleichnisse Jesu. Bereits der Titel seines Buches "Die Gleichnisse Jesu als Metaphern" macht deutlich, dass Weder die Gleichnisse Jesu analog ;ru Metaphern
54
verstehe • Wie die Metapher aus Subjekt-Kopula-Prädikat bestehe, so auch die
Gleichnisse: "Demnach ist die der Metapher analoge Grundform der Gleichnisse
355
Jesu: Basileia- K- Gleichniserzählung" •
Weder versteht die Gleichnisse darüber hinaus- im Anschluss an P. Ri357
. . " 358, d"te das Retc
. h Gottes m
. d"te
coeur356 und E. J""unge1 - aIs " Sprac heretgmsse
Nähe zur Welt bringen und dem Hörer eine neue Möglichkeit zuspielen. Auf diese Weise ereigne sich durch die Gleichnisse Jesu, was durch ihn als "theologi.scher'' Grundmetapher selbst geschehe: das Kommen des Reiches Gottes. Die
359
Gleichnisse seien darin unlösbar mit Jesus Christus verbunden • "Die Gleichnisse Jesu bringen die Gottesherrschaft in die Nähe zur Welt und machen so Gott
360
als Kommenden gegenwärtig" • Für seinen Ansatz beschränkt sich Weder na.turgemäß auf die expliziten Gottesreich-Gleichnisse Jesu.
motiviert, sich auf die im Gleichnis aufscheinende- neue Existenzweise einzulassen. V gl. hierzu die Ausfilhrungen von Ricoeur, Stellung, 45-70: Im Gleichnis gehe es um "die Verbindung
einer Erzählform mit einem metaphorischen Prozeß" (ebd., 65). Denn das Gldchnis lebe von
der metaphorischen Spannung zwischen vorfmdlicher Welt und der Welt Gottes, wobei die
"Extravaganz" eines Gleichnisses den metaphorischen Prozess bewirke: "Das Gleichnis
. schlägt eine Bresche in den Lauf des gewöhnlichen Lebens dank der Fiktion und des Parado. xes" ( ebd., 70), so dass der Hörer zur Entscheidung aufgefordert werde.
353
Dieser hermeneutische Ansatz geht- mit dem vielfach zitierten Satz von Jüngel, E., Paulus
und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie,
Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 2, Tübingen 2 1964, 291- volll folgender Annahme aus: ,,Die basileia kommt im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache. Die Gleichnisse Jesu
bringen die Gottesherrschaft als Gleichnis zur Sprache" (Hervorhebungen im Original). Für
die neue ,,Existenzweise" gilt nach Jüngel, a.a.O., 137: "Geht es um die Gottesherrschaft, dann
hat die menschliche Existenz ihre Pointe im extranosder Gottesherrschaft."
354
Vgl. Weder, H., Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, FRLANT 120, Göttingen 3 1984, 58-98.
355
Weder, Gleichnisse, 60f (Hervorhebung im Original).
356
Vgl. Ricoeur, Stellung, 45-70.
357
Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 71-122.
358
Vgl. Jüngel, Paulus, 138, wonach in den Gleichnissen "das, was in ihnen zur Sprache gekommen ist, ganz da ist, indem es als Gleichnis da ist" (Hervorhebungen im Original).
359
Vgl. Weder, Gleichnisse, 93-96. Diese Sicht richtet sich gegen Via, D.O., Die Gleichnisse
Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, BETh 57, München 1970, der die Gleichnisse als ästhetisch-autonome Gebilde gegenüber dem Erzähler Jesus betrachtet.
360
Weder, Gleichnisse, 282.
95
4.2 Wolfgang Harnisch: Die Geschichte des Möglichen
Auch W. Harnisch baut mit seiner Gleichnistheorie auf dem Metaphernverständnis der existential-theologischen Hermeneutik auf. Ausgangspunkt sind für ihn
36
bestimmte Gleichnisse Jesu \ nämlich die von ihm so genannten dramatischen
Gleichniserzählungen (Parabeln und Beispielerzählungen). In diesen entstehe
eine metaphorische Spannung durch die jeweilige Figurenkonstellation und sze62
nische Abfolge, also in der Erzählung selbsr • Diese metaphorische Spannung
ist bei Harnisch nicht eine Spannung zwischen vorfindbarer Wirklichkeit und
363
Reich Gottes , sondern zwischen der "Geschichte des Wirklichen" und der
364
"Geschichte des Möglichen" . Die "Geschichte des Möglichen" ist die Geschichte Gottes, in der die Geschichte des Wirklichen überholt wird. Lässt sich '
der Hörer im Horizont seiner eigenen Existenz darauf ein, "kann es geschehen,
daß er die neue Geschichte als eine Möglichkeit wahrnimmt, die ihn von seiner
alten Geschichte befreit und ihn definitiv von der Macht des Wirklichen entlas.tet"365. Die "Geschichte des Möglichen" zeigt sich nach Harniscp. in der "Seinsweise" in "unbedingter Liebe", "unbegrenzter Freiheit" und "maßloser Hoffnung"366. Mit der Sprache des Möglichen - der Sprache des Glaubens - werde·
dem Hörer damit eine neue Existenz ermöglicht, die im Glauben angenommen
werden soll. Die authentischen Gleichnisse Jesu sind nach Harnisch "Spracher•
361
Unberücksichtigt bleiben hierfür Bildworte und "epische Miniaturstücke", die rhetorischargumentativ überzeugen wollen; vgl. Harnisch, W., Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine
hermeneutische Einführung, UTB 1343, Göttingen 1985, 109-141.
362
'
Vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 154: ,,Es ist diese in der Parabelerzählung selbst
angelegte und dem Hörer zugeschobene Geschichte des Bestehenden, zu der die fiktional entwoifene Geschichte von der Oberbietung des Bestehenden in Konkurrenz tritt' (Hervorhebung
im Original).
363
Nach Harnisch, Gleichniserzählungen, 109, sind zwei Ansätze zu unterscheiden: "Entweder'
setzt die Parabel den Referenten, also das, wovon die Rede sein soll, bereits voraus. In diesem
Fall steht die Erzählung (Bildhälfte) im Dienst einer ihr voraus liegenden Behauptung (Sachhälfte), deren Geltung strittig oder problematisch ist. Sie übernimmt dann rhetorische Funktion.[ ... ] Oder aber die Parabel setzt das, wovon die Rede sein soll, allererst in Kraft. In diesem
Fall hat die Erzählung performativen Sinn." - Harnisch vertritt letztere Position und hebt die
"poetische" Funktion der Gleichnisse Jesu hervor, während er Weder der ersten Position zuordnet, vgl. ebd., 167-176.
364
Vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 151-167.
365
Ebd., 156 (Hervorhebungen im Original).
,
366
Vgl. ebd., 165; sowie ebd., 166: Das Gleichnis erinnere den Hörer, "daß er in der alltäglichen Wirklichkeit auf die Seinsmodi der Liebe, der Freiheit und der Hoffnung unbedingt angewiesen ist. Sie machen das Worum-willen seiner Lebenswelt aus. Andererseits deckt die
Erzählung auf, wie entfernt er davon ist, die genannten Seinsweisen, in denen sich das Leben
bewahrheitet, im Existenzvollzug des Alltags wirklich in Anspruch zu nehmen. Das faktisch
gelebte Dasein nimmt die Möglichkeit, von der hier die Rede ist, in Wirklichkeit nicht wahr".
Philosophischer Hintergrund für diese Sicht ist die Existenzphilosophie Martin Heideggers.
96
eignisse", durch die die Basileia überhaupt erst in Kraft gesetzt wird- was aber
durch die Verschriftlichung, die den Gleichnissen lediglich rhetorische Funktion
zuweise, nicht mehr geschehe.
5 Ingo Baldermann: Bilder der Hoffnung
Rezipiert wurde der metaphernorientierte Ansatz auch in anderen theologischen
Disziplinen. Hinzuweisen ist hier auf das didaktische Modell des Religionsdi67
daktikers I. Baldermann, das auch seine Gleichnistheorie präge • Nach Baldermann ist es die Perspektive der Hoffnung, die mit Hilfe von Metaphern zum
Ausdruck gebracht wird. Diese könnten von Kindem (und Erwachsenen) unmittelbar verstanden werden, weil - und insofern - sie an eigene Erfahrungen anknüpfen. Es gehe zum einen darum, dass man sich im Gleichnis selbst wieder
findet, zum anderen würden durch eine Gleichniserzählung Dinge zur Sprache
gebracht, die sonst übersehen würden.
Nach Baidermann ist es "nicht die Sprachbewegung des Gleilchnisses, in
der nun das Reich Gottes als Entscheidungsfrage auf mich zukommt, sondern
das Gleichnis bringt mich auf den Weg, daß ich neben den vielen erschreckenden
Zeichen um mich herum auch solche wahrnehme, die mir zeigen, daß meine
368
Hoffnung auf Gottes Reich nicht ins Leere geht" • Baidermanns Anliegen ist,
dass durch "elementares Lernen" das Reich Gottes im Kontext des eigenen Le369
bens entdeckt wird • Er lehnt deshalb ein Metaphernverständnis ab, das einen
qualitativen Unterschied von Reich Gottes und vorfindbarer Welt betont, und
plädiert dafür, den Text selbst sprechen zu lassen. Damit hat er ohne Zweifel
Richtiges erkannt, klammert aber die heute z.T. fremde Bildwelt der Gleichnisse,
die einer (historisch-kritischen) Erklärung bedürfen, gänzlich aus. Und wie für
Weder und Harnisch ist auch für Baidermann der literarische und sozialgeschichtliche Kontext zum Verständnis der Gleichnisse im Prinzip irrelevant.
367
Vgl. Baldermann, I., Auf der Suche nach der verlorenen Didaktik der Hoffmmg, in: Mell,
U. (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899-1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher,
BZNW 103, Berlin-New York 1999,209-221.
368
Baldermann, Suche, 217. Baldermann, a.a.O., 217, postuliert: "Die Gleichnisse Jesu belehren nicht, sondern sie zeigen; sie schärfen die Wahrnehmung, und offenbar gibt es für eine
Didaktik der Hoffnung, die nicht autoritär sein will, gar keine andere Möglichkeit."
369
Vgl. Baldermann, Suche, 219: "Ich kann Jesu Gleichnisse weder Kindern noch Erwachsenen erschließen, ohne den Kontext ihres Lebens mit einzubeziehen."
97
6 Fazit und Schlussgedanken
In der gebotenen Kürze konnten bei Weitem nicht alle Gleichnistheorien der
100-jährigen Forschung vorgestellt werden. Der knappe Überblick über die Forschungsgeschichte sollte zeigen, wie und dass jeweils neue Erkenntnisse und
Fragestellungen, aber auch dogmatische Vorgaben den einzelnen Theorien
zugrunde liegen. Deutlich wurde dabei, dass der Versuch einer Schematisierung
370
der Vielfliltigkeit der jesuanischen Gleichnisse nicht gerecht wird und sich je371
weils nur auf bestimmte Gleichnisse stützen kann • Zu begrüßen sind deshalb
372
neuere Gleichnistheorien, die einen integrativen Ansatz wählen • Vor allem aber gilt es in der Gleichnisforschung - gegen die These des Missverständnisses
373
der Gleichnisse Jesu durch die Urkirche bzw. Verschriftlichung und gegen das
damit verbundene Postulat, nur hypothetisch rekonstruierte, an9.eblich rein ,je3 4
suanische" Gleichnisse als Grundlage der Analyse zuzulassen - die Tatsache
ernst zu nehmen, "dass die Gleichnisse Jesu nicht in einer ,Gleichnissammlung'
überliefert wurden, sondern nur im Kontext der Evangelien zugänglich und in
diesen Interpretationshorizont gestellt sind"375 • Relevant bleibt die historisch370
Vgl. Dschulnigg, P., Positionen des Gleichnisverständnisses im 20. Jahrhundert. Kurze
Darstellung von fünf wichtigen Positionen der Gleichnistheorie (Jülicher, Jeremias, Weder,
Arens, Harnisch), in: ThZ 45, 1989, 335-351, 347: ,,Alle vorgelegten Gleichnistheorien haben
den grossen Mangel, dass sie zu wenig von den Gleichnissen Jesu her entworfen sind. Sie leiten sich primär von einer theoretischen Konstruktion des Wesens von Gleichnissen her, die
erst sekundär auf die Gleichnisse Jesu übertragen wird und der diese dann zu entsprechen haben."
371
Vgl. Dschulnigg, Positionen, 347, Anm. 39: ,,Jülichers Ausgangspunkt sind faktisch die
Kurzgleichnisse, an denen sich seine Theorie am besten bewährt (vgl. Jülicher, Gleichnisreden
I, 69-92); bei Weder sind es die expliziten Basileia-Gleichnisse, die Beispielerzählungen werden ausgeklammert (vgl. Weder, Gleichnisse, 58-99); bei Arens sind es die sog. Handlungsgleichnisse [... ]; Harnisch beschränkt sich auf die dramatischen Gleichniserzählungen und
konzediert den übrigen, anders zu funktionieren (vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 109176)."
372
Dies ist das erklärte Anliegen von Erlemann, Gleichnisauslegung; vgl. auch Schottroff,
Gleichnisse, 109-146.
373
Vgl. Erlemann, Gleichnisforschung, 8: "Gegenüber der Theorie des ,Mißverständnisses'
der Evangelisten ist zu fragen, ob von einem prinzipiellen Unterschied zwischen der Entstehungssituation und Situation der Verschriftlichung zu sprechen ist bzw. ob nicht die Evangelisten Veränderungen vornehmen mußten, um im Medium der Schriftlichkeit, und das heißt,
jenseits des ursprünglichen Kommunikationsgeschehens und im Rahmen eines Makrotextes
die Eigenart des Gleichnisse Jesu adäquat fortschreiben zu können."
"' Vgl. nur den apodiktischen, nicht weiter begründeten Satz zur Gleichnisauslegung bei Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch, 14. Auflage, ll2: "Vom jetzt vorliegenden Kontext und
von erkennbar sekundären Erweiterungen ist dabei abzusehen".- Warum?
"' Neubrand, M., Kehrt um und glaubt! Gleichnisse vom Himmelreich, in: entschluss 11147,
1992, 14-18, 15. Auch Sellin, G., Allegorie und "Gleichnis". Zur Formenlehre der synoptischen Gleichnisse, in: Harnisch, Gleichnisforschung 367429, fordert eine Auslegung im en98
kritische Fragestellung, weil sie den soziokulturellen und sozioreligiösen Hintergrund der verwendeten Bildwelt und der Tradenten zu erhellen und den engeren
und weiteren (literarischen und nicht-literarischen) Kontext der einzelnen
376
Gleichnisse mit in die Analyse einzubeziehen ermöglicht • Insbesondere katholische Exegeten sind stets dazu aufgerufen, in der Gleichnisforschung Wege zu
beschreiten, die- gegen rein historisierende oder zeitlos existentialistische Tendenzen - vom jetzt vorliegenden und verbindlichen Text der Evangelien ausgehen und darin ihrer Aufgabe als Exegeten nachkommen, die Aussageabsicht der
Hagiografen zu verstehen, wie es die vor 40 Jahren erschienene Konzilskonstitution "Dei Verbum" Nr. 12 fordert.
77
Als Schluss sei mit dem Neutestamentler Kardinal C.M. Martine aufvier
Besonderheiten der neutestamentlichen Gleichnisse hingewiesen, die die seit Jülicher in der Forschung umstrittenen Alternativen zwischen rhetorischer und poetischer Funktion bzw. zwischen historischem und existentialem Verständnis der
Gleichnisse obsolet erscheinen lassen:
1. ,,Die Gleichnisrede [Jesu] will nicht einfach eine Lehre vermitteln und ist gerade deswegen
nicht theoretisch. Sie ist stets an eine existentielle Situation gebunden."
2. Mit der Gleichnisrede in den Evangelien bezieht Jesus den Zuhörer "als Mitspieler mit ein,
sie zwingt ihn, Stellung zu beziehen, sie spornt ihn an, ein Urteil zu formulieren. Sie bietet
keine Erklärung, ermahnt vielmehr den Zuhörer zu verstehen". Sie ist eine Einladung an den
Zuhörer, "die eigene Lage mit größerer Klarheit zu betrachten und darin Irrtümer, Ungerechtigkeiten, Unerfillltes, dringend Gefordertes wahrzunehmen."
3. Die Gleichnisrede Jesu ist als Erzählung dynamisch und "drängt einem Brennpunkt entgegen; über ihn soll sich der Hörer äußern, um dann den Sprung zu machen, der ihn in die Wirk378
lichkeit seines Lebens zurückbringt. "
4. Vor allem aber ist festzuhalten: Es ist Jesus, von dem die Gleichnisse stammen. Er "führt
die Menschen in die Welt der Bilder, er gestaltet eine Erzählung, die es ihnen erlaubt, ihr Leben zu verstehen und zu beurteilen. Und mit dieser erzählenden Sprache, die .anscheinend einfach, in Wirklichkeit aber außerordentlich sorgfältig durchformt ist, enthüllt er das Antlitz
Gottes und sein Heilswerk Im Übrigen geschehen die fortlaufende Begegnung mit dem
Evangelium vom Königtum [Gottes] und die Umkehr der eigenen Existenz immer Hand in
Hand. Die Gleichnisse zielen auf das eine wie auch auf das andere, gleichzeitig. Sie vermögen
379
das, weil [... Jesus] der ,Gott mit uns' (Mt 1,23) (ist)" •
Oder mit dem Titel des Jesusbuches von Eduard Schweizer gesprochen: weil Jesus selbst "das Gleichnis Gottes" ist, in dem Gott diaphan - durchscheinend wird: in seinen Taten und in seinen Worten- auch in seinen Gleichnissen.
geren oder weiteren (literarischen) Kontext: "Ohne Kontext oder Situation ist das Gleichnis
sinnlos.[ ... ] Eine[ ... ] notwendige Folgerung daraus ist die Forderung, die Gleichnisse grundsätzlich in ihrer Funktion im Kontext zu exegesieren" (ebd., 424).
"' Vgl. hierzu exemplarisch den Beitrag von J. Seidel in dieser Festschrift.
m Martini, C.M., "Wer Ohren hat zu hören, der höre". Warum sprach Jesus in Gleichnissen?,
in: entschluss 11/47, 1992, 7-13.
378
Alle Zitate ebd., 12.
379
Ebd., 13.
99