Leseprobe - Allitera Verlag
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Leseprobe - Allitera Verlag
argret Steenfatt studierte Germanistik, Soziologie und Politik. Sie lebt in Hamburg, hat vier Kinder und arbeitet seit 1976 als freie Schriftstellerin. Neben Kurzgeschichten, Fernsehdrehbüchern, Theaterstücken und Hörspielen veröffentlichte sie Biografien und Romane. In der Schatzkiste erschien von ihr „Auch ich bin ein König. Ludwig van Beethovens Kindheit in Bonn“ (2006). Margret Steenfatt Lila Liebe Dieses Buch erschien erstmals 1998 im Verlag Elefanten Press. Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.verlag-die-schatzkiste.de Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über >http://dnb.d-nb.de< abrufbar. August 2008 Verlag Die Schatzkiste Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2008 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink unter Verwendung einer Zeichnung von Dagmar Geißler Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Printed in Germany · isbn 978-3-86520-314-4 s war einer der heißesten Sommernachmittage dieses Jahres, als Tom im Menschengewühl der City plötzlich das Mädchen erblickte und sich neugierig fragte, wer sie wohl sein mochte. Alles an ihr war auffällig: grün-rote, zu vielen dünnen Zöpfchen geflochtene Haare, das bunte Tuch, das sie um den Oberkörper geschlungen und über der linken Hüfte zusammengeknotet trug, ausgefranste Shorts aus Jeansstoff, darunter dünne, sonnengebräunte Beine in derben Schnürstiefeln. Sie rannte vor ihm her, nutzte jede Lücke im Gedränge, um rascher voranzukommen, und er eilte ihr nach, folgte ihr durch eine Schwingtür aus Panzerglas in das größte Kaufhaus am Ort, wo sie geradewegs zu den Drehsäulen strebte, in denen Hunderte von modischen Sonnenbrillen zum Verkauf angeboten wurden. Als sie mindestens ein Dutzend davon in ausgefallensten Formen und Farben vor dem Spiegel probiert hatte und eben nach der nächsten griff, trat Tom näher heran. „Diese solltest du nehmen, sie passt zu dir“, sagte er, während sein Kopf neben ihrem im Spiegel erschien. „Was erlaubst du dir? Verzieh dich, Spargeltarzan!“ Er wich zurück, gekränkt von den Beschimpfungen, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, und stellte sich nur wenige Meter entfernt von ihr neben ein Regal voller Kämme, Bürsten, Lockenwickler. Von dort aus beobachtete er, wie sie mit einer einzigen geschickten Handbewegung eins der Sonnengläser in den Falten ihres Brusttuches verschwinden ließ. Verwirrt und nervös fragte sich Tom, ob es ihr wohl gelingen würde, unbeobachtet von den Überwachungskameras mit ihrer Beute nach draußen zu gelangen. Als sie an der Kasse vorbei zum Ausgang flitzte, drängte er hinter ihr her, doch plötzlich raste sie los, drückte sich in letzter Sekunde durch den Spalt der automatischen Drehtür, die Alarmglocke schrillte, da stand sie auch schon auf der Straße und sprintete davon. „Hiergeblieben! So leicht kommst du uns nicht davon, du Gauner!“, rief der Hausdetektiv, der Tom am Arm packte und ihn zurückriss, bevor er dem Mädchen ins Freie nacheilen konnte. „Ich habe überhaupt nichts getan!“, protestierte Tom empört. „Das wird sich gleich zeigen!“ Tom musste den Mann zu einem Büro im Verwaltungstrakt des Kaufhauses begleiten und dort seine sämtlichen Taschen ausleeren. Er trug nur einen Schlüssel und eine Geldbörse mit dem Rest seines wöchentlichen Taschengeldes bei sich. „Ich habe wirklich nichts geklaut!“ „Vielleicht steckst du ja mit deiner Freundin unter einer Decke“, knurrte der Detektiv. „Freundin? Ich kenne hier niemanden außer Frau Lotus, bei der wohne ich, bis meine Eltern aus Peru zurückkommen.“ „Glaub nur nicht, du könntest dich mit Lügengeschichten he rausreden!“ „Sie können ja nachfragen. Virginia Lotus, die Nummer steht im Telefonbuch.“ Der Detektiv brummte böse und sagte: „Du kannst jetzt gehen. Aber sieh dich vor: Früher oder später erwische ich jeden, der hier lange Finger macht!“ Kurz bevor Tom den Raum verließ, wandte er sich noch einmal um. „Warum arbeiten Sie eigentlich als Detektiv, wenn Sie doch nur Unschuldige schnappen?“ Dann schlug die Tür hinter ihm zu und er konnte nicht mehr hören, was der Mann ihm noch sagte – ganz sicher jedoch nichts Freundliches. Draußen im Freien lief Tom eine Weile unentschlossen die Straße auf und ab in der vagen Hoffnung, das Mädchen wiederzufinden. Nachdem er quasi stellvertretend für sie des Diebstahls beschuldigt worden war, fühlte er sich ihr plötzlich verbunden und hätte gern noch mehr von ihr erfahren: Wie hieß sie? Wie alt war sie? Wo wohnte sie? In welche Schule ging sie? Er konnte sie jedoch nirgends entdecken. Enttäuscht gab er die Suche auf und wollte gerade nach Hause fahren, als er am U-Bahn-Ausgang in einem Schwarm von Passanten plötzlich ihren bunten Schopf aufleuchten sah. Er stürmte los, bahnte sich rücksichtslos seinen Weg, stieß Fußgänger und Inline-Skater zur Seite, die aufgebracht hinter ihm herschimpften, und erreichte schließlich außer Atem den Stand eines Eisverkäufers. Dieser überreichte dem Mädchen soeben eine Tüte mit zwei gelben Kugeln, Schlagsahne und Schokostreuseln. „Für mich bitte dasselbe“, bat Tom und sie sagte lässig: „Da bist du ja wieder.“ Das gestohlene Teil steckte mit einem Bügel im Gürtel ihrer Shorts. „Warum trägst du die Brille nicht?“, fragte Tom. „Bist du blind? Ich trag sie doch.“ Er lehnte sich neben ihr über das Geländer der U-Bahn-Treppe, schleckte am Eis und sagte: „Normalerweise setzt man ‘ne Brille auf die Nase.“ „Ach nee, tatsächlich?“, höhnte sie. „Du tust wohl nur das, was normal ist.“ „Was denn sonst?“ „Ich mache, was ich will.“ „Klauen.“ „Na und?“ „Sie könnten dich erwischen.“ „Mich doch nicht“, sagte sie und grinste. Tom blickte schweigend zum U-Bahn-Schacht hinunter, unschlüssig, ob er sich weiterhin von ihr provozieren lassen oder einfach nach Hause fahren sollte. Doch er brauchte sich gar nicht mehr zu entscheiden, denn plötzlich nahm sie das Gespräch wieder auf: „Ich bin Lila. Und wer bist du?“ „Tom.“ Er erzählte ihr, dass er in der Weingartenstraße wohnte, jedoch nicht bei seinen Eltern und nur vorübergehend. „Aha! Sie haben dich abgeschoben“, stellte Lila fest. „Quatsch! Sie mussten ins Ausland … beruflich.“ „Das ist doch bloß ‘ne faule Ausrede.“ „Ich kenne meine Eltern schon ziemlich lange. Sie lügen nicht“, widersprach Tom beleidigt. „Okay, okay, beruhige dich! Ich nehme alles wieder zurück.“ „Was ist mit deinen Eltern?“, fragte Tom. „Pssst! Ich darf nicht über sie sprechen“, flüsterte Lila. „Warum nicht?“ „Niemand darf erfahren, wo sie wohnen.“ „Dann kannst du ja gar nicht mit ihnen zusammenleben.“ „Genau.“ „Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?“ „Im Winter.“ Tom schwieg. Nach einer Weile sagte er: „Deine Familie ist eigentlich gar keine Familie.“ „Stell dir vor“, sagte Lila schroff. „Ich habe überhaupt keine Lust, mit dir über Leute zu reden, die sich wer weiß wo herumtreiben.“ „Du hast recht“, stimmte Tom ihr hastig zu. „Hauptsache, wir sind hier … Kommst du morgen wieder in die City? Wir könnten uns um dieselbe Zeit am selben Platz treffen.“ „Vielleicht“, sagte Lila. o spät wie an diesem Tag war Tom noch nie von der Schule in das Haus an der Weingartenstraße zurück gekehrt, wo Frau Lotus im Obergeschoss ein Vier-Zimmer-Appartement bewohnte. Auf dem Telefontisch im Flur lag ein Zettel mit einer Notiz für ihn: „Du hast das Mittagessen versäumt. Konntest du nicht anrufen?“ Manchmal mache ich eben, was ich will, dachte Tom. Virginia Lotus war nach der Mittagspause wie üblich wieder an ihre Arbeit gegangen. Sie führte einen Salon für Naturkosmetik, der etwa hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt in der Fußgängerzone des Stadtviertels lag. Bis zum Abend blieb Tom allein in der stillen Wohnung, lernte für die Schule, hörte Musik und beantwortete einen Brief seiner Eltern. Obwohl er nun schon seit acht Wochen bei Frau Lotus im Gästezimmer wohnte, fühlte er sich hier immer noch nicht heimisch. Das eintönige Grau des Teppichs, der Vorhänge und Tapeten gefiel ihm nicht, er mochte auch Frau Lotus‘ Kunstgegenstände nicht, die überall in den Räumen auf großen und kleinen Sockeln ausgestellt waren: Figuren aus Gips, Holz, Porzellan und Metall. Ganz und gar zuwider aber war ihm die kleine Gipsplastik auf seinem Schreibtisch, die Figur eines Jungenkörpers mit Fischkopf, die er jedes Mal mit einem T-Shirt verhängte, bevor er sich zum Arbeiten vor seine Bücher und Hefte setzte. Kurz vor Geschäftsschluss deckte Tom im Esszimmer den Tisch für zwei, stellte Brot, Aufschnitt, Obst und eine Kanne heißen 10 Tee bereit. Als Frau Lotus von der Arbeit kam, reichte Tom ihr wie immer eine Tasse Tee und nahm ihr gegenüber Platz. Beim Essen schaute sie ihn mit ihren hellblauen, leicht schielenden Augen forschend an und sagte: „Du bist heute viel zu spät aus der Schule gekommen.“ „Ich hab nicht auf die Zeit geachtet.“ „Hoffentlich passiert das nicht noch öfter. Deine Eltern wollen sicher nicht, dass du mittags hungerst, und ich habe keine Lust, mit den Mahlzeiten auf dich zu warten.“ „Sie brauchen nicht zu warten, das tut bei uns zu Hause auch niemand“, sagte er. „Solange du bei mir wohnst, wirst du dich an meine Regeln halten“, sagte Frau Lotus kurz angebunden. „Frühstück um sieben, Mittagessen um zwei und Abendessen gegen acht, klar? Falls du einmal nicht pünktlich sein kannst, möchte ich rechtzeitig informiert werden.“ Tom nickte verlegen und hoffte, dass sie ihn nicht nach dem Grund für sein Zuspätkommen fragte. Glücklicherweise läutete es jetzt an der Tür. „Das wird Maria sein, sie holt mich ab zum Fortbildungskurs. Gegen elf bin ich wieder zurück“, sagte Frau Lotus. Erleichtert wünschte Tom ihr „Viel Spaß!“ und fing sofort an, Geschirr und Essensreste abzuräumen. Die beiden Frauen waren bereits gegangen, als er sich in sein Zimmer zurückzog. Da es in Frau Lotus‘ Haushalt keinen Fernseher gab, hatte er es sich angewöhnt, abends gemütlich im Bett zu liegen und Computerbücher zu lesen, manchmal bis spät in die Nacht. Auch heute richtete er sich auf seiner Liege wieder so bequem wie möglich ein, griff sich einen Stapel Zeitschriften und blätterte in der neuesten Ausgabe des Online-Profi. Schon nach wenigen Minuten merkte er, dass er sich überhaupt nicht konzentrieren 11 konnte. Anstelle von Modems und Schnittstellen geisterten in den Heftseiten plötzlich Mädchen mit verrückten Sonnenbrillen herum, die seine Gedanken in ganz andere Richtungen lenkten. Also kuschelte er sich tiefer in seine Kissen und – fing einfach an zu träumen. Kaum klingelte am nächsten Morgen der Wecker, flitzte Tom wie ein Pfeil von der Matratze, aus dem Zimmer, durch den Flur, ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und sang unter der Dusche laut und falsch seinen Lieblingssong: Mother, Mother, can you hear me? I‘m just calling to say hello. How‘s the weather? How‘s my father? Am I lonely? Heavens no … Fünf Minuten später rannte er barfuß in Jeans die Treppe zum Erdgeschoss hinunter, um aus dem Briefkasten die Tageszeitung zu holen, während Frau Lotus auf dem sonnigen Balkon das Frühstück herrichtete. Sie wartete darauf, dass er zu ihr an den Tisch kam, und wünschte sich, dass er – ebenso wie sie – bei Kaffee und Toast die aktuellen Nachrichten studierte. Aber Tom wählte sich seinen Lesestoff lieber selbst aus. „Politik interessiert mich nicht.“ „Dann lies wenigstens die Sportseite“, sagte sie und er antwortete wie jedes Mal: „Heute nicht.“ Also saßen sie sich wieder schweigend gegenüber, Frau Lotus vertiefte sich in die Presseberichte, Tom blätterte in seinen Heften und überlegte, ob er ihr schon jetzt ankündigen sollte, dass er mittags wieder nicht zum Essen käme. Leider fiel ihm keine geeignete Ausrede ein. 12 Plötzlich spürte er, dass Frau Lotus ihn dabei beobachtete, wie er das Toastbrot zwischen seinen Fingern zerkrümelte. „Du hast noch keinen Bissen gegessen. Schmeckt es dir heute Morgen nicht?“ „Doch, doch“, sagte er, schluckte eilig einen Happen hinunter und trank einen Schluck Milch hinterher. „Wir schreiben in der ersten Stunde ‘ne Chemie-Arbeit.“ „Darüber brauchst du dir doch keine Sorgen zu machen. Deine Leistungen sind ausgezeichnet … Aber irgendetwas stimmt nicht mit dir!“ Manchmal hatte Tom das Gefühl, Frau Lotus könne Gedanken lesen. „Fehlen dir vielleicht deine Eltern?“, fragte sie. „Mir fehlt nichts! Ich mag nur morgens nicht so viel essen.“ „Es liegt an der Hitze“, vermutete Frau Lotus. Die Schulstunden an diesem Vormittag schienen sich unendlich in die Länge zu ziehen. Tom bildete sich ein, der Zeiger der gro ßen Uhr über dem Schultor beschriebe – nur um ihn zu ärgern – extra langsam seine Kreise, und wünschte immer ungeduldiger das Ende des Unterrichts herbei. Vor Beginn der letzten Stunde telefonierte er aus der Zelle gegenüber der Schule mit Frau Lotus: „Ich fahre gegen halb zwei mit ein paar Leuten ins Schwimmbad.“ „Kommt nicht in Frage! Du fährst zum Essen nach Hause und wirst dich erst nach der Mittagspause mit deinen Freunden treffen.“ Tom atmete tief durch, sein Herz klopfte, als er stotterte: „Tut mir leid, es muss sein.“ Dann legte er hastig den Hörer auf. Kaum schrillte die Schulglocke, griff er sich seine Tasche, sprintete los und lief schon den Flur hinunter, während die anderen noch ihre Sachen zusammenpackten. Heute war er der Erste, der das Gymnasium verließ und so schnell wie möglich zur U- 13 Bahn eilte, wo der Zug in Richtung Innenstadt soeben einfuhr. Er sprang hinein, die Türen schlossen sich und die Bahn fuhr los. Ob Lila die Verabredung einhalten würde? Möglicherweise legte sie ja gar keinen Wert darauf, ihn näher kennenzulernen. Neben der Wagentür war ein Reklameschild aus Spiegelglas angebracht, in dem Tom sein Gesicht begutachtete. Kein einziger Pickel, weder auf Stirn oder Wangen noch am Kinn. Er inspizierte noch einmal gründlich seine Nase. Hell und glatt. Wegen seines Aussehens brauchte er sich jedenfalls nicht zu schämen. Modische Klamotten hingegen waren nicht seine Stärke. Falls Lila Jungen bevorzugte, die ähnlich extravagant herumliefen wie sie, hätte er bei ihr keine Chance. Zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit stieg er an der U-BahnStation die Treppe nach oben und stellte fest, dass der Treffpunkt am Geländer von zwei Stadtstreichern besetzt war, die sich dort auf Wolldecken, jeder mit einem Sechserpack Bierdosen versorgt, eingerichtet hatten. Als Tom sich neben ihnen auf seiner Schultasche niederließ, sagte einer von ihnen: „Wenn die Privatbullen kommen, musst du so schnell wie möglich verschwinden, mit denen ist nicht zu spaßen.“ „Ich darf hier ja wohl noch auf jemanden warten“, entgegnete Tom. „Die auf der Straße sitzen, dürfen gar nichts“, bemerkte der andere. Tom wich bis ans Ende des Gitters zurück. Privat-Polizei!, dachte er. Die beiden hatten wohl zu viel getrunken! Doch dann hörte er, wie sie sich über eine Frau unterhielten, die gestern mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden war. „Hoffentlich kommt sie wieder auf die Beine!“ 14 „Platte machen ist nichts für Sybille. Sie sollte sich ‘ne Wohnung nehmen.“ „Glaubst du, eine, die keine Arbeit hat und kein Geld, kriegt ‘ne Wohnung?“ „Wenn sie weiter auf der Straße leben muss, ist es bald aus mit ihr!“ „Sobald es ihr besser geht, besuchen wir sie.“ Die beiden Männer stellten ihre leeren Dosen ab und jeder nahm sich aus seinem Vorrat eine neue. Obdachlose hatte Tom schon öfter in der Stadt gesehen, aber er war nie auf die Idee gekommen, dass sie auch krank werden und sterben konnten. Eine halbe Stunde später kauerte er, müde vom langen Warten, zusammengesunken in seiner Ecke, er achtete nicht mehr auf seine beiden Nachbarn und merkte nicht, dass sie plötzlich ihre Decken und Getränke zusammenrafften. „He, Kumpel! Die Sheriffs rücken an!“, riefen sie ihm zu, dann trotteten sie, einer hinter dem anderen, auf und davon. Ein muskulöser Mann in Jeans und blauem Sportpullover, der eine Schirmmütze mit dem Aufdruck Tiger über seinen kahlen Schädel gezogen hatte, beugte sich zu Tom hinunter. „Los, los, komm hoch, beweg dich! Hier wird nicht gepennt!“ „Ich schlafe nicht, ich warte!“, protestierte Tom. „Das behaupten sie alle“, sagte der Muskelmann, der nun ein Bein ausstreckte und Tom mit seinem Stiefel Stück für Stück zur Seite kickte, bis dieser dem Druck widerwillig nachgab, seinen Platz räumte und sich in den Strom der Fußgänger einordnete, die an den Schaufenstern der Boutiquen entlangschlenderten. Schlecht gelaunt blickte er noch einmal zur U-Bahn zurück und traute seinen Augen nicht. Über dem Eingang prangte das Schild mit dem Aufdruck UHLANDSTRASSE. „Ich Idiot!“ 15 Was tun? Es war über eine halbe Stunde zu spät. Selbst wenn er bis zur nächsten Station rannte, würde er Lila dort bestimmt nicht mehr antreffen. Eine Zeit lang trieb er ziellos die kilometerlange Einkaufsstraße hinunter, bis er plötzlich den Stand Bei Luigi wieder entdeckte, wo sie sich gestern Eis gekauft hatten. Falls Lila sich öfter in dieser Gegend aufhielt, war es vielleicht möglich, dass der Verkäufer sie kannte. Tom stellte sich abseits der Warteschlange neben dem Behälter mit Vanilleeis auf, aus dem der junge Mann mit einer Kelle sahnige Kugeln hervorzauberte, die er für seine Kunden in Waffeln füllte. „Außer der Reihe wird niemand bedient!“, rief er Tom zu. „Ich möchte nichts kaufen, ich habe nur eine Frage: War das Mädchen mit den bunten Haaren heute hier?“ „Du siehst doch, ich habe zu tun!“, sagte Luigi, nahm von einem Inline-Skater fünf Euro, gab Wechselgeld heraus und bediente gleich den Nächsten. „Können Sie sich wenigstens an sie erinnern?“ „Bei täglich über fünfhundert Menschen, die bei mir kaufen, kann ich mir unmöglich einzelne Gesichter merken!“ „Auch nicht die außergewöhnlichen?“ Luigi schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Kundschaft zu, fragte nach deren Bestellungen und eilte an der Reihe seiner Eistöpfe entlang, um die verschiedenen Wünsche zu erfüllen. Tom wandte sich zum Gehen. Anscheinend hatte er heute kein Glück. „Halt, lauf nicht fort!“, rief Luigi plötzlich vom anderen Ende des Standes. „Wenn es um ein Rendezvous geht, hab ich vielleicht etwas für dich.“ Er zog aus seiner Kitteltasche ein zusam- 16