Station VI – Martin Heidegger

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Station VI – Martin Heidegger
STATION VI – MARTIN HEIDEGGER
Station VI – Martin Heidegger
Biographie
Martin Heidegger wurde am 26. September 1889 in Meßkirch (Baden) geboren und starb am 26. Mai 1976 in Freiburg im Breisgau. Da sein Vater
Messner und Küfer war, ermöglichte die katholische Kirche ihm den Besuch von Gymnasien in Konstanz und Freiburg sowie das Studium der
Theologie in Freiburg, welches er nach drei Semestern abbrach, um sich
der Philosophie, der Mathematik und den Naturwissenschaften zu widmen.
Er promovierte 1913 und vollendete seine Habilitation 1916, die von Heinrich Rickert betreut wurde. Von 1916 bis 1923 war er Privatdozent in Freiburg, unterbrochen nur durch seinen eingeschränkten Frontdienst von
1917 bis 1919. Heidegger kam 1923 als außerordentlicher Professor nach
Marburg, von wo er 1928 als Nachfolger Husserls zu einer ordentlichen
Professur nach Freiburg berufen wurde. Wegen seiner Verstrickungen in
den Nationalsozialismus, die ihm zunächst das Rektorat der Freiburger Universität einbrachten, erhielt er ab 1945 ein durch die französische Besatzungsmacht ausgesprochenes Lehrverbot, welches erst 1951 aufgehoben
wurde, so dass er von da an bis in das folgende Jahr seine Professur wieder
aufnehmen konnte.
Einige der untenstehenden Passagen sind seiner als Hauptwerk charakterisierten Schrift Sein und Zeit entnommen. Martin Heideggers Schriften
gehören trotz seiner zeitweisen und partiellen Ächtung zu den wohl meist
beachteten philosophischen Werken des 20. Jahrhunderts mit Einflüssen
auf die Psychiatrie und Psychologie, die Pädagogik, die katholische wie
die evangelische Theologie sowie auf die Allgemeinen Sprachwissenschaften.
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Die Kurzbiographie stützt sich auf folgende Artikel:
Pöggeler, Otto.: HEIDEGGER, MARTIN.
In: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hg. v. Walther Killy und Rudolf Vierhaus.
München: Saur 1996 (Bd. 4) S. 486–488.
Gethmann, Carl.F.: HEIDEGGER, MARTIN.
In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. v. Jürgen Mittelstraß.
Mannheim: Bibliographisches Institut 1984 (Bd. 2) S. 59–64.
Literatur zu Leben und Werk
Figal, Günter: MARTIN HEIDEGGER ZUR EINFÜHRUNG.
Hamburg: Junius 31999.
Grondin, Jean: VON HEIDEGGER ZU GADAMER.
Unterwegs zur Hermeneutik.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001.
Rüdiger Safranski: EIN MEISTER AUS DEUTSCHLAND.
Heidegger und seine Zeit. München: Hanser 1994.
Trawny, Peter: MARTIN HEIDEGGER.
Frankfurt [u.a.]: Campus-Verl. 2003.
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Zeit des Weltbildes
Die folgenden Passagen sind entnommen aus: Martin Heidegger: Zeit des Weltbildes. In: Holzwege. F./M.: Klostermann 71994, S. 75–113. Die Teilüberschriften
entsprechen dabei nicht unbedingt der Originalschrift.
Zu den wesentlichen Erscheinungen der Neuzeit gehört ihre Wissenschaft.
Eine dem Range nach gleichwichtige Erscheinung ist die Maschinentechnik.
Man darf sie jedoch nicht als bloße Anwendung der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft auf die Praxis mißdeuten. Die Maschinentechnik ist selbst eine eigenständige Verwandlung der Praxis derart, daß
diese erst die Verwendung der mathematischen Naturwissenschaft fordert.
Die Maschinentechnik bleibt der bis jetzt sichtbarste Ausläufer des Wesens der neuzeitlichen Technik, das mit dem Wesen der neuzeitlichen Metaphysik identisch ist. […]
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
Forschung – das Wesen jeglicher neuzeitlichen Wissenschaft
Worin liegt das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft? Welche Auffassung des Seienden und der Wahrheit begründet dieses Wesen? Gelingt
es, auf den metaphysischen Grund zu kommen, der die Wissenschaft als
neuzeitliche begründet, dann muß sich von ihm aus überhaupt das Wesen der Neuzeit erkennen lassen. […]
Das Wesen dessen, was man heute Wissenschaft nennt, ist die Forschung.
Worin besteht das Wesen der Forschung?
Darin, daß das Erkennen sich selbst als Vorgehen in einem Bereich des
Seienden, der Natur oder der Geschichte, einrichtet. Vorgehen meint hier
nicht bloß die Methode, das Verfahren; denn jedes Vorgehen bedarf bereits
eines offenen Bezirkes, in dem es sich bewegt. Aber gerade das Öffnen
eines solchen Bezirkes ist der Grundvorgang der Forschung. Er vollzieht
sich dadurch, daß in einem Bereich des Seienden, z. B. in der Natur, ein
bestimmter Grundriß der Naturvorgänge entworfen wird. Der Entwurf zeichnet vor, in welcher Weise das erkennende Vorgehen sich an den eröffneten Bezirk zu binden hat. Diese Bindung ist die Strenge der Forschung.
Durch den Entwurf des Grundrisses und die Bestimmung der Strenge sichert
sich das Vorgehen innerhalb des Seinsbereiches seinen Gegenstandsbezirk.
Ein Blick auf die früheste und zugleich maßgebende neuzeitliche Wissenschaft, die mathematische Physik, verdeutlicht das Gemeinte. Insofern auch
die moderne Atomphysik noch Physik bleibt, gilt das Wesentliche, worauf
es hier allein abgesehen ist, auch von ihr.
Die neuzeitliche Physik heißt mathematische, weil sie in einem vorzüglichen Sinne eine ganz bestimmte Mathematik anwendet. Allein, sie kann in
solcher Weise nur mathematisch verfahren, weil sie in einem tieferen Sinne bereits mathematisch ist. T¦ maq»mata bedeutet für die Griechen dasjenige, was der Mensch im Betrachten des Seienden und im Umgang mit
den Dingen im voraus kennt: von den Körpern das Körperhafte, von den
Pflanzen das Pflanzliche, von den Tieren das Tiermäßige, vom Menschen
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das Menschenartige. Zu diesem schon Bekannten, d. h. Mathematischen,
gehören neben dem Angeführten auch die Zahlen. Wenn wir auf dem Tisch
drei Äpfel vorfinden, dann erkennen wir, daß es deren drei sind. Aber die
Zahl drei, die Dreiheit, kennen wir schon. Das besagt: Die Zahl ist etwas
Mathematisches. Nur weil die Zahlen das gleichsam aufdringlichste Immerschon-Bekannte und somit das Bekannteste unter dem Mathematischen
darstellen, deshalb wurde alsbald das Mathematische als Benennung dem
Zahlenmäßigen vorbehalten. Keineswegs aber wird das Wesen des Mathematischen durch das Zahlenhafte bestimmt. Physik ist allgemein die Erkenntnis der Natur, im besonderen dann die Erkenntnis des stofflich Körperhaften in seiner Bewegung; denn dieses zeigt sich unmittelbar und durchgängig, wenn auch in verschiedener Weise, an allem Naturhaften. Wenn
nun die Physik sich ausdrücklich zu einer mathematischen gestaltet, dann
heißt das: Durch sie und für sie wird in einer betonten Weise etwas als
das Schon-Bekannte im vorhinein ausgemacht. Dieses Ausmachen betrifft
nichts Geringeres als den Entwurf dessen, was für das gesuchte Erkennen
der Natur künftig Natur sein soll: der in sich geschlossene Bewegungszusammenhang raum-zeitlich bezogener Massenpunkte. In diesem als ausgemacht angesetzten Grundriß der Natur sind unter anderem folgende Bestimmungen eingetragen: Bewegung besagt Ortsveränderung. Keine Bewegung und Bewegungsrichtung ist vor der anderen ausgezeichnet. Jeder
Ort ist jedem anderen gleich. Kein Zeitpunkt hat vor einem anderen einen
Vorzug. Jede Kraft bestimmt sich nach dem, d. h. ist nur das, was sie an
Bewegung und d. h. wieder an Ortsveränderungsgröße in der Zeiteinheit
zur Folge hat. In diesen Grundriß von Natur muß jeder Vorgang hineingesehen werden. Im Gesichtskreis dieses Grundrisses wird ein Naturvorgang
erst als ein solcher sichtbar. Dieser Entwurf der Natur erhält dadurch seine Sicherung, daß die physikalische Forschung für jeden ihrer fragenden
Schritte, im vorhinein an ihn sich bindet. Diese Bindung, die Strenge der
Forschung, hat gemäß dem Entwurf jeweils ihren eigenen Charakter. Die
Strenge der mathematischen Naturwissenschaft ist die Exaktheit. Alle Vorgänge müssen hier, wenn sie überhaupt als Naturvorgänge in die Vorstel-
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lung kommen sollen, im voraus als raum-zeitliche Bewegungsgrößen bestimmt sein. Solche Bestimmung vollzieht sich in der Messung mit Hilfe
der Zahl und der Rechnung. Aber die mathematische Naturforschung ist
nicht deshalb exakt, weil sie genau rechnet, sondern sie muß so rechnen,
weil die Bindung an ihren Gegenstandsbezirk den Charakter der Exaktheit
hat. Dagegen müssen alle Geisteswissenschaften, sogar alle Wissenschaften vom Lebendigen, gerade um streng zu bleiben, notwendig unexakt sein.
Man kann zwar auch das Lebendige als eine raum-zeitliche Bewegungsgröße auffassen, aber man hat dann nicht mehr das Lebendige. Das
Unexakte der historischen Geisteswissenschaften ist kein Mangel, sondern
nur die Erfüllung einer für diese Forschungsart wesentlichen Forderung.
Allerdings bleibt nun auch der Entwurf und die Sicherung des
Gegenstandsbezirkes der historischen Wissenschaften nicht nur von anderer Art, sondern leistungsmäßig weit schwieriger als die Durchführung
der Strenge der exakten Wissenschaften.
Die Wissenschaft wird zur Forschung durch den Entwurf und durch die
Sicherung desselben in der Strenge des Vorgehens. […]
Die Erklärung vollzieht sich in der Untersuchung. Diese geschieht in den
Naturwissenschaften je nach der Art des Untersuchungsfeldes und der
Erklärungsabsicht durch das Experiment. Aber die Naturwissenschaft wird
nicht erst durch das Experiment zur Forschung, sondern das Experiment
wird umgekehrt erst dort und nur dort möglich, wo die Naturerkenntnis
sich zur Forschung umgewandelt hat. Weil die neuzeitliche Physik eine
im wesentlichen mathematische ist, deshalb allein kann sie experimentell
sein. […]
Ein Experiment ansetzen heißt: eine Bedingung vorstellen, dergemäß ein
bestimmter Bewegungszusammenhang in der Notwendigkeit seines Ablaufs
verfolgbar und d. h. für die Berechnung im voraus beherrschbar gemacht
werden kann. […]
Das Experiment ist jenes Verfahren, das in seiner Anlage und Durchführung vom zugrundegelegten Gesetz her getragen und geleitet wird, um die
Tatsachen beizubringen, die das Gesetz bewähren oder ihm die Bewäh-
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rung versagen. Je exakter der Grundriß der Natur entworfen ist, um so exakter wird die Möglichkeit des Experiments. […]
Das neuzeitliche Forschungsexperiment aber ist nicht nur ein grad- und
umfangweise genaueres Beobachten, sondern das wesentlich anders geartete Verfahren der Gesetzesbewährung im Rahmen und im Dienste eines
exakten Entwurfs der Natur. Dem Experiment der Naturforschung entspricht
in den historischen Geisteswissenschaften die Quellenkritik. Dieser Name
bezeichne hier das Ganze der Quellenfindung, Sichtung, Sicherung, Auswertung, Aufbewahrung und Auslegung. Die auf die Quellenkritik gegründete historische Erklärung führt zwar die Tatsachen nicht auf Gesetze und
Regeln zurück. Sie beschränkt sich aber auch nicht auf ein bloßes Berichten der Tatsachen. In den historischen Wissenschaften zielt das Verfahren ebenso wie in den Naturwissenschaften darauf ab, das Beständige vorzustellen und die Geschichte zum Gegenstand zu machen. Gegenständlich
kann die Geschichte nur werden, wenn sie vergangen ist. Das Beständige
im Vergangenen, dasjenige, worauf die historische Erklärung das Einmalige und Mannigfaltige der Geschichte verrechnet, ist das Immer-schoneinmal-Dagewesene, das Vergleichbare. Im ständigen Vergleichen von allem mit allem wird das Verständliche herausgerechnet und als der Grundriß
der Geschichte bewährt und befestigt. Nur soweit die historische Erklärung reicht, erstreckt sich der Bezirk der historischen Forschung. Das Einzigartige, das Seltene, das Einfache, kurz das Große in der Geschichte ist
niemals selbstverständlich und bleibt daher unerklärbar. Die historische
Forschung leugnet das Große in der Geschichte nicht, sondern erklärt es
als die Ausnahme. In dieser Erklärung ist das Große am Gewöhnlichen und
Durchschnittlichen gemessen. Es gibt auch keine andere historische Erklärung, solange Erklärung heißt: Rückführung auf das Verständliche, und
solange Historie Forschung, d. h. Erklärung bleibt. Weil die Historie als
Forschung die Vergangenheit im Sinne eines erklär- und übersehbaren
Wirkungszusammenhanges entwirft und vergegenständlicht, deshalb fordert sie als Instrument der Vergegenständlichung die Quellenkritik. […]
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ARBEITSHEFT HERMENEUTIK
148. Erläutern Sie, warum sich der Begriff des Mathematischen nicht mit dem
des Zahlenmäßigen deckt!
149. Warum ist jegliche neuzeitliche Wissenschaft mathematisch?
a)
Inwieweit sind darin Natur- und Geisteswissenschaft ununterschieden?
b)
Wie unterscheidet sich das Voraus-Rechnen der Naturwissenschaft von
der Berechnungsart der Geisteswissenschaft? Differenzieren Sie dabei
deren Prämissen anhand der Begriffe ‚Entwurf‘, ‚Bezirk des Seienden‘
und ‚erkennendem Vorgehen‘!
c)
Erläutern Sie, wieso auch die Unexaktheit der Geisteswissenschaften die
Strenge der Bindung an den Gegenstandsbezirk meint!
150. Beziehen Sie Schleiermachers Begriff des ‚Klassischen‘ auf Heideggers
Ausführungen! Ist dieser auf das hier angesprochene ‚Beständige‘ bzw.
‚Vergleichbare‘ und ‚Verständliche‘ zu beziehen? Wäre mit Heidegger
das Klassische somit ein modernes Phänomen? Begründen Sie!
151. Inwieweit wird das Große in den historischen Geisteswissenschaften zur
Ausnahme erklärt? Stimmen Sie Heidegger hierin zu? Versuchen Sie Beispiele zu finden!
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Die Sicherung der Welt als Bild
Wir besinnen uns auf das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft, um darin
den metaphysischen Grund zu erkennen. Welche Auffassung des Seienden und welcher Begriff von der Wahrheit begründen, daß die Wissenschaft zur Forschung wird?
Das Erkennen als Forschung zieht das Seiende zur Rechenschaft darüber,
wie es und wieweit es dem Vorstellen verfügbar zu machen ist. Die Forschung verfügt über das Seiende, wenn es dieses entweder in seinem künftigen Verlauf vorausberechnen oder als Vergangenes nachrechnen kann.
In der Vorausberechnung wird die Natur, in der historischen Nachrechnung
wird die Geschichte gleichsam gestellt. Natur und Geschichte werden zum
Gegenstand des erklärenden Vorstellens. Dieses rechnet auf die Natur und
rechnet mit der Geschichte. Nur was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt
als seiend. Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst, wenn das Sein
des Seienden in solcher Gegenständlichkeit gesucht wird. […]
Wenn wir uns auf die Neuzeit besinnen, fragen wir nach dem neuzeitlichen Weltbild. Wir kennzeichnen dieses durch eine Abhebung gegen das
mittelalterliche und das antike Weltbild. Doch warum fragen wir bei der
Auslegung eines geschichtlichen Zeitalters nach dem Weltbild? Hat jedes Zeitalter der Geschichte sein Weltbild und zwar in der Weise, daß es
sich jeweils um sein Weltbild bemüht? Oder ist es schon und nur die neuzeitliche Art des Vorstellens, nach dem Weltbild zu fragen?
Was ist das – ein Weltbild? Offenbar ein Bild von der Welt. Aber was heißt
hier Welt? Was meint da Bild? Welt steht hier als Benennung des Seienden im Ganzen. Der Name ist nicht eingeschminkt auf den Kosmos, die
Natur. Zur Welt gehört auch die Geschichte. Doch selbst Natur und Geschichte und beide in ihrer sich unterlaufenden und sich überhöhenden
Wechseldurchdringung erschöpfen nicht die Welt. In dieser Bezeichnung
ist mitgemeint der Weltgrund, gleichviel wie seine Beziehung zur Welt gedacht wird.
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Bei dem Wort Bild denkt man zunächst an das Abbild von etwas. Demnach wäre das Weltbild gleichsam ein Gemälde vom Seienden im Ganzen.
Doch Weltbild besagt mehr. Wir meinen damit die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, so wie es für uns maßgebend und verbindlich ist. Bild
meint hier nicht einen Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung
herausklingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst
steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ins Bild
setzen heißt: das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich
stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben. Aber noch fehlt
eine entscheidende Bestimmung im Wesen des Bildes. »Wir sind über etwas im Bilde« meint nicht nur, daß das Seiende uns überhaupt vorgestellt
ist, sondern daß es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht.
»Im Bilde sein«, darin schwingt mit: das Bescheid-Wissen, das Gerüstetsein und sich darauf Einrichten. Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet,
was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und
somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will. Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt,
als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es
erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist. Wo es zum Weltbild kommt, vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. Das Sein des Seienden
wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.
Überall dort aber, wo das Seiende nicht in diesem Sinne ausgelegt wird,
kann auch die Welt nicht ins Bild rücken, kann es kein Weltbild geben.
Daß das Seiende in der Vorgestelltheit seiend wird, macht das Zeitalter, in
dem es dahin kommt, zu einem neuen gegenüber dem vorigen. Die Redewendungen »Weltbild der Neuzeit« und »neuzeitliches Weltbild« sagen
zweimal dasselbe und unterstellen etwas, was es nie zuvor geben konnte,
nämlich ein mittelalterliches und ein antikes Weltbild. Das Weltbild wird
nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern
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dies, daß überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus. Für das Mittelalter dagegen ist das Seiende das ens creatum, das
vom persönlichen Schöpfergott als der obersten Ursache Geschaffene. Seiendes sein besagt hier: in eine je bestimmte Stufe der Ordnung des Geschaffenen gehören und als so Verursachtes der Schöpfungsursache entsprechen (analogia entis). Niemals aber besteht das Sein des Seienden hier
darin, daß es, als das Gegenständliche vor den Menschen gebracht, in
dessen Bescheid- und Verfügungsbereich gestellt und so allein seiend ist. […]
Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das
Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens. In diesem kämpft der Mensch um die Stellung, in der er dasjenige Seiende sein
kann, das allem Seienden das Maß gibt und die Richtschnur zieht. Weil
diese Stellung sich als Weltanschauung sichert, gliedert und ausspricht,
wird das neuzeitliche Verhältnis zum Seienden in seiner entscheidenden
Entfaltung zur Auseinandersetzung von Weltanschauungen und zwar nicht
beliebiger, sondern allein jener, die bereits äußerste Grundstellungen des
Menschen mit der letzten Entschiedenheit bezogen haben. Für diesen
Kampf der Weltanschauungen und gemäß dem Sinne dieses Kampfes setzt
der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung
und der Züchtung aller Dinge ins Spiel. Die Wissenschaft als Forschung
ist eine unentbehrliche Form dieses Sicheinrichtens in der Welt […].
Durch diesen Schatten legt sich die neuzeitliche Welt selbst in einen der
Vorstellung entzogenen Raum hinaus und verleiht so jenem Unberechenbaren die ihm eigene Bestimmtheit und das geschichtlich Einzigartige. Dieser Schatten aber deutet auf ein anderes, das zu wissen uns Heutigen verweigert ist. Doch der Mensch wird dieses Verweigerte nicht einmal erfahren
und bedenken können, solange er sich in der bloßen Verneinung des Zeitalters herumtreibt. Die aus Demut und Überheblichkeit gemischte Flucht
in die Überlieferung vermag für sich genommen nichts, es sei denn das
Augenschließen und die Verblendung gegenüber dem geschichtlichen
Augenblick.
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152. Wenn es ein Signum der neuzeitlichen Wissenschaft ist, Forschung zu
sein, lässt sich dann eine Wissenschaft denken, die diesen Anspruch nicht
erfüllt? Wäre eine Wissenschaft überhaupt vorstellbar, die das Seiende
nicht zum Gegenstand macht?
153. ‚Zeit des Weltbildes‘ und ‚Weltbild der Neuzeit‘ verweisen scheinbar auf
dasselbe, auf unsere Zeit. Warum entscheidet sich Heidegger für ersteren Begriff als Titel seines Aufsatzes?
154. In seinem Aufsatz ‚Die Technik und die Kehre‘ (Martin Heidegger: Die
Technik und die Kehre. Pfullingen: Neske 21962.) verwendet Heidegger
den Begriff des ‚Ge-stells‘. Dabei meint er den Zusammenhang aller
möglichen Formen des Wortes Stellen (vor-, her-, zu-, fest- und bestellen).In diesen Formen wird das Lebendige der Welt zum Stillstand
gebracht. Deuten Sie vor diesem Hintergrund die neuzeitliche Perspektive, in der die Welt erst als Bild Welt ist! Gehen Sie dabei besonders
auf die systematisierende Tendenz des vorstellenden Herstellens ein!
155. Bringen Sie Beispiele für die Gewalttätigkeit des ‚erkennenden Vorgehens‘? Was bedeutet es in diesem Sinne, dass Weltanschauungen keine Privatansichten sind?
156. Wenn unsere Zeit die Zeit des Weltbildes ist, so kommen wir im Betrachten der Dinge nicht an der Weltanschauung vorbei. Worin sieht Heidegger
aber Anspruch und Möglichkeit, dieser Zeit trotzdem gerecht zu werden?
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