Vorsokratiker I - Theologische Fakultät Paderborn
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Vorsokratiker I - Theologische Fakultät Paderborn
P h ilo so p hi e ge sc hi c h t e – V orl esu n g WS 2 01 1 / 20 1 2 T he olo g isc h e F a kult ä t P ad e r bo rn P rof . D r . Dr . B er nd I rl en bo r n PHILOSOPHIE DER ANTIKE Fragmente der Vorsokratiker (Auswahl) Literatur Texte (mit Kommentaren): J. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker, Griechisch-deutsch, Stuttgart 1983, 2 2011; G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield (Hg.), Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart 2001; H. Diels, W. Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., Berlin 10 1961. Sekundärliteratur: siehe Texte; Ch. Rapp, Vorsokratiker, München 2 2007. Thales (QalÁj): (1) „Gerade so, Theódoros, wie man erzählt, dass auch Thales astronomische Beobachtungen anstellte und nach oben schaute; und als er dann in einen Brunnen fiel, soll eine witzige und reizende thrakische Magd ihn verspottet haben, dass er begierig sei, die Dinge am Himmel kennen zu lernen, aber keine Ahnung von dem habe, was hinter ihm sei und zu seinen Füßen liege“ (DK1 11 A 9 / Platon, Theaitetos 174a). (2) „Als man ihm nämlich wegen seiner Armut Vorhaltungen machte, als ob die Philosophie zu nichts nütze sei, da soll er, nachdem er aufgrund seiner astronomischen Studien bemerkt hatte, dass die Olivenernte reichlich ausfallen würde, noch im Winter mit dem wenigen Geld, das ihm zur Verfügung stand, als Handgeld sämtliche Ölpressen in Milet und Chios für einen geringen Preis gemietet haben, und dabei habe ihn niemand überboten. Als aber die Zeit der Ernte kam und mit einem Mal und gleichzeitig viele Ölpressen verlangt wurden, da habe er seine Pressen so teuer vermietet, wie er nur wollte, und dadurch viel Geld verdient; auf diese Weise habe er demonstriert, dass es für die Philosophen ein leichtes sei, reich zu werden, wenn sie dies nur wollten, dass das aber nicht das Ziel ihrer Bestrebungen sei“ (DK 11 A 10 / Aristoteles, Politik 1259a9). (3) „Von den ersten Philosophen waren die meisten der Meinung, die Prinzipien stofflicher Art seien die einzigen Prinzipien aller Dinge; denn dasjenige, woraus jedwedes Seiende ursprünglich besteht, das, woraus es als erstem entsteht und worein es als letztem untergeht, … das – so sagen sie – ist ein Element und das ist ein Prinzip des Seienden (der existierenden Gegenstände). […] Über die Menge und die Art des so beschaffenen Prinzips sagen freilich nicht alle dasselbe. Vielmehr erklärt Thales, der Urheber dieser Art von Philosophie, es sei das Wasser (daher behauptete er auch, die Erde ruhe auf Wasser), und kommt zu dieser Vermutung vielleicht, weil er sah, dass die Nahrung aller Dinge feucht ist und dass das Warme selbst aus dem Feuchten entsteht und durch es lebt (das aber, woraus alles wird, ist das Prinzip von allem); dadurch also kommt er zu seiner Vermutung und dadurch, dass die Samen aller Dinge von feuchter Natur sind; das Wasser aber ist für alles Feuchte das Prinzip seiner Natur“ (DK 11 A 12 / Aristoteles, Metaphysik 983b6). 1 DK = H. Diels, W. Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., Berlin 10 1961. (4) „Einige sagen aber auch, dass die Seele im Universum eingemischt sei, weshalb vielleicht auch Thales glaubte, dass alles voll von Göttern sei“ (DK 11 A 22 / Aristoteles, De anima 411a7). Anaximander ('Anax…mandroj): (5) „Anaximander, des Praxiades Sohn, aus Milet, Nachfolger und Schüler des Thales, behauptete, Anfang und Element der seienden Dinge sei das ápeiron (tÕ ¥peiron), wobei er als erster den Terminus Anfang einführte. Als solchen bezeichnete er weder das Wasser noch ein anderes der üblichen Elemente, sondern eine andere, unbeschränkte Natur, aus der alle Himmel und Welten hervorgehen: ‘Und was den seienden Dingen die Quelle des Entstehens ist (™x ïn de ¹ gšnesij ™sti to‹j oâsi), dahin erfolgt auch ihr Vergehen, gemäß der Notwendigkeit (kat¦ tÕ creèn); denn sie leisten einander Recht (d…kh) und Strafe für das Unrecht, gemäß der zeitlichen Ordnung“ (DK 12 A 9 / Simplikios in Physicorum libros 24,17). Pythagoras (PuqagÒaj): (6) „Am meisten bekannt wurden bei allen Leuten nichtsdestoweniger die folgenden Lehren: erstens, dass er behauptet, die Seele sei unsterblich; ferner, dass sie sich durch Eingang in andere Arten von Lebewesen ändere; des weiteren, dass das, was geschehen (entstanden) ist, nach gewissen Perioden erneut geschieht (entsteht), und es nichts schlechthin Neues gibt; schließlich, dass alles, was an Beseeltem entsteht, als verwandt betrachtet werden soll. Pythagoras scheint nämlich der erste gewesen zu sein, der diese Lehren in Griechenland eingeführt hat“ (DK 14.8a / Porphyrios, Vita Pythagorae 19). (7) „Zeitgleich mit diesen Philosophen [mit Leukipp und Demokrit] und schon vor ihnen befassten die so genannten Pythagoreer sich mit der Mathematik. Sie brachten sie als erste voran und, in sie eingelebt, waren sie der Meinung, die Prinzipien der Mathematik seien die Prinzipien alles Seienden. Da von diesen Prinzipien die Zahlen nämlich ihrer Natur nach die ersten sind und sie in den Zahlen viele Ähnlichkeiten mit dem zu sehen meinten, was ist und was wird, mehr als in Feuer, Erde und Wasser, […] und da sie außerdem sahen, dass die Eigenschaften und Verhältnisse der Harmonien in Zahlen ausgedrückt werden können, da also alles andere seiner ganzen Natur nach den Zahlen zu gleichen schien und die Zahlen sich ihnen als das erste in der gesamten Natur darstellten, nahmen sie an, dass die Elemente der Zahlen die Elemente alles dessen seien, was ist, und dass der ganze Himmel Harmonie und Zahl sei. Überdies sammelten sie alle Eigenschaften der Zahlen und Harmonien, von denen sie zeigen konnten, dass sie mit den Eigenschaften und den Teilen des Himmels und mit der gesamten Weltordnung übereinstimmten, und passten sie in ihre Lehre ein. Und wenn irgendwo eine Lücke blieb, kümmerten sie sich intensiv um Ergänzungen, um ihre Theorie insgesamt kohärent zu machen“ (DK 58 B 4-5 / Aristoteles, Metaphysik 985b23). Heraklit (`Hr£kleitoj) (8) „Heraklit, der Sohn des Blyson oder, nach einigen, des Herakon, aus Ephesus. Seine Blütezeit hatte er in der 69. Olympiade. Aber er war hochmütig und herablassend wie kaum ein anderer, was auch aus seinem Buch hervorgeht, in dem er sagt: «Viel zu wissen lehrt nicht, ein begriffliches Verständnis zu gewinnen; sonst hätte es dies den Hesiod und den Pythagoras gelehrt, ebenso Xenophanes und Hekataios. (...) Schließlich wurde er zu einem Misanthropen, zog sich aus der Gesellschaft zurück und lebte im Gebirge, wo er sich von Gras und Pflanzen ernährte. Jedenfalls wurde er durch diese Lebensweise wassersüchtig, kam in die Stadt herunter und fragte die Ärzte in Rätselworten, ob sie aus Überschwemmung Dürre machen könnten. Als sie ihn 2 nicht verstanden, grub er sich selbst in einem Kuhstall ein und hoffte, durch die Wärme des Mists werde das Wasser verdunsten. Aber auch damit erreichte er nichts und starb im Alter von 60 Jahren“ (DK 22 A 1 / Diogenes Laertios, Vitae philosophorum IX,1). (9) „Krieg (pÒlemoj) [Antagonismus] ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Freien, die anderen zu Sklaven gemacht“ (DK 22 B 53) / „Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sättigung, Ermüdung das Ausruhen“ (DK 22 B 111) / „Kaltes wird warm, Warmes kühlt sich ab, Feuchtes trocknet, Trockenes wird feucht“ (DK 22 B 62) / „Als Unsterbliche sind sie sterblich, als Sterbliche unsterblich: das Leben der Sterblichen ist der Sterblichen Tod, der Tod der Unsterblichen der Sterblichen Leben“ (DK 22 B 62). (10) „Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen immer neue Gewässer zu“ (DK 22 B 12) / „Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen“ (DK 22 B 91). (11) „Gegenüber dem hier gegebenen, unabdingbar zutreffenden Logos (lÒgoj) erweisen sich die Menschen immer als verständnislos (…). Denn obwohl alles in Übereinstimmung mit diesem Logos geschieht, gleichen sie unerfahrenen Leuten, sobald sie sich an solchen Worten und Werken versuchen, wie ich sie auseinandersetze, indem ich jeden einzelnen Gegenstand seiner Natur entsprechend zerlege und erkläre, wie es sich damit verhält. Den anderen Menschen aber entgeht all das, was sie im Wachen tun, ebenso wie sie alles vergessen, was sie im Schlaf tun“ (DK 22 B 1) / „Daher ist es nötig, sich dem Logos anzuschließen. Aber obwohl der Logos gemeinschaftlich ist, leben die meisten Leute so, als ob sie eine private Einsicht besäßen“ (DK 22 B 2) / „Wenn man nicht auf mich, sondern auf den Logos hört, ist es weise, beizupflichten, dass alles eins ist (›n p£nta e‹nai)“ (DK 22 B 50). (12) „Diese Weltordnung (kÒsmon tÒnde) ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer (pàr), ewig lebend, nach Maßen entflammend und nach denselben Maßen erlöschend“ (DK 22 B 30 / Clemens von Alexandria, Stromateis V 104,2). (13) „Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger – alle Gegensätze, das ist die Bedeutung –; er wandelt sich genau wie Feuer“ (DK 22 B 67) / „Das eine Weise, das einzig und allein ist, ist nicht bereit und doch wieder bereit, mit dem Namen des Zeus benannt zu werden“ (DK 22 B 32) / „Dem Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angesetzt“ (DK 22 B 102). (14) „Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehen, selbst wenn du jeden Weg abschreitest, so unerschöpflich ist, was sie zu erklären hat“ (DK 22 B 45 / Diogenes Laertios, Vitae philosophorum IX 7). Xenophanes (Xenof£nej) (15) „Die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten blaue Augen und rote Haare“ (DK 21 B 16 7 Clemens v. Alexandria, Stromateis VII 22,1). (16) „Aber wenn Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten oder mit ihren Händen malen … könnten, wie das die Menschen tun, dann würden die Pferde die Göttergestalten den Pferden 3 und die Rinder sie den Rindern ähnlich und sie würden die Statuen der Götter mit einem solchen Körper meißeln, wie sie ihn jeweils auch selber haben“ (DK 21 B 15 / Clemens v. Alexandria, Stromateis V 109,3). (17) „Ein einziger Gott (eŒj qeÕj), unter Göttern und Menschen der Größte, weder dem Körper noch der Einsicht nach in irgendeiner Weise den Sterblichen gleich“ (DK 21 B 23 / Clemens v. Alexandria, Stromateis V 109,1). Parmenides (Parmen…dhj) (18) „Die Stuten, die mich tragen, (…) geleiteten mich, seitdem sie mich auf den weithin berühmten Weg der Göttin geführt und mich diesen Weg zu gehen veranlasst haben, der den wissenden Mann über alle Städte hin trägt. Auf diesem Weg ließ ich mich tragen; denn auf diesem trugen mich die verständnisreichen Stuten, indem sie den Wagen zogen, und Jungfrauen wiesen den Weg. (…) Dort ist das Tor der Bahnen der Nacht und des Tags; ein Türsturz umschließt es und eine steinerne Schwelle. Das Tor (…) verwaltet die unerbittlich strafende Díke (Göttin der Gerechtigkeit). Auf sie nun redeten die Jungfrauen mit sanften Worten ein und überzeugten sie auf umsichtige Art, dass sie ihnen den (…) Balken sofort vom Tor wegstieße. Dieses dann öffnete den unermesslich weiten Schlund der Türflügel (…). Und zuvorkommend empfing mich die Göttin, ergriff mit ihrer Hand meine Rechte, nahm das Wort und sprach mich folgendermaßen an: »Junger Mann, der du in Begleitung unsterblicher Wagenlenkerinnen mit den Stuten, die dich tragen, unser Haus erreicht hast, sei willkommen! Denn nicht ein böses Geschick sandte dich aus, diesen Weg zu gehen – einen Weg nämlich, der fürwahr abseits der üblichen Pfade der Menschen liegt –, sondern göttliche Fügung und Recht. So steht es dir an, alles zu erfahren, einerseits das unerschütterliche Herz der wohl gerundeten Wahrheit (¢l»qeia) [= erster Hauptteil des Lehrgedichts] und andererseits die Meinungen der Sterblichen (dÒcai), in denen keine wahre Verlässlichkeit wohnt« [= zweiter Hauptteil]“ (DK 28 B 1; Sextus Empiricus, Adversus mathematicos VII 111f.). (19) „Wohlan, ich also werde vortragen – du dagegen sollst meine Darstellung weitergeben, wenn du gehört hast –, welche Wege der Untersuchung allein denkbar sind: der eine, dass (es) ist und dass (es) nicht nicht sein kann (¹ mšn Ópwj œstin te kaˆ æj oÙk œsti m¾ e‹nai), ist die Bahn der Überzeugung, denn sie folgt der Wahrheit; der andere, dass (es) nicht ist und dass es sich gehört, dass (es) nicht ist, – das ist, so sage ich dir, ein völlig unerfahrbarer Pfad: Denn das, was nicht ist, kannst du weder erkennen noch aussprechen; der gleichen lässt sich nämlich nicht durchführen“ (DK 28 B 2; Proklos in Timaios I, 345,18f.). (20) „Damit beende ich die verlässliche Rede und das Denken im Bereich der Wahrheit. Im Folgenden sollst du die Meinungen der Sterblichen (dÒcai) erfahren, indem du die trügerische Ordnung meiner Worte hörst. (…)“ (DK 28 B 8 / Simplikios in Physicorum libros 30,14). 4