scheidungen der Nachfrager aus Sicht der Prospect Theory

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scheidungen der Nachfrager aus Sicht der Prospect Theory
Thema Nr. 5: Versicherungsentscheidungen der Nachfrager aus
Sicht der Prospect Theory
Seminararbeit
eingereicht bei
Prof. Dr. Klaus Peter Kaas
Lehrstuhl für Marketing I,
Fachbereich Wirtschaftswissenschaften
Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main
Betreuer:
Dipl.-Kfm. Markus Guthier
von
cand. rer. pol. Jan Patrick Becker
[email protected]
Studienrichtung: BWL
9. Fachsemester
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
- II -
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis............................................................................................................... III
Abkürzungsverzeichnis.............................................................................................................. IV
Symbolverzeichnis...................................................................................................................... V
1 Problemstellung .................................................................................................................... 1
2 Prospect Theory .................................................................................................................... 2
2.1 Einführung ...................................................................................................................... 2
2.2 Inhaltliche Elemente der Prospect Theory ...................................................................... 3
2.2.1 Editing-Phase........................................................................................................ 3
2.2.2 Evaluierung........................................................................................................... 4
2.2.3 Wertefunktion ....................................................................................................... 5
2.2.4 Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion ............................................................ 6
3 Bedeutung der Prospect Theory für die Beschreibung von
Versicherungsentscheidungen ............................................................................................. 7
3.1 Erklärungsansätze der Prospect Theory für die individuelle
Versicherungsentscheidung ............................................................................................ 7
3.2 Empirische Untersuchungen zu Versicherungsentscheidungen ..................................... 8
3.3 Einflussfaktoren auf die Entscheidung der Nachfrager ................................................ 10
3.3.1 Framing............................................................................................................... 10
3.3.2 Heuristiken.......................................................................................................... 12
3.4 Implikationen für das Marketing von Versicherungen ................................................. 12
3.5 Grenzen der Prospect Theory........................................................................................ 13
4 Zusammenfassung .............................................................................................................. 14
Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 16
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
- III -
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Beispiel für den Verlauf der Wertfunktion........................................................... 5
Abbildung 2: Beispiel für den Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion ............................................................................................................... 6
Abbildung 3: Framing von Selbstbeteiligung und Prämie ....................................................... 11
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
Abkürzungsverzeichnis
PT:
Prospect Theory
- IV -
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-V-
Symbolverzeichnis
π ( p) :
Wahrscheinlichkeitsgewicht von p
v( x ) :
Wert des Ergebnisses x
V ( x , p; y , q ) :
Wert eines prospects
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
1
-1-
Problemstellung
In der Entscheidungstheorie wird zwischen der präskriptiv normativen und der deskriptiven Entscheidungstheorie unterschieden.1 Im Mittelpunkt der präskriptiven Entscheidungstheorie steht die Frage, wie sich ein nach dem Postulat der Rationalität handelnder
Entscheider verhalten sollte. Ein Beispiel hierfür ist die heute in der englischsprachigen
Literatur als „expected-utility-hypothesis“ bekannte Erwartungsnutzentheorie, die auf
Daniel Bernoulli zurückgeht2. Diese wurde von John von Neumann und Oskar Morgenstern (1944) überarbeitet und begründet.3
Bei der Betrachtung realer Entscheidungen wird die Vorhersagekraft der Erwartungsnutzentheorie für das Verhalten von Entscheidungsträgern in Frage gestellt.4 Auch empirische Untersuchungen kommen zu Ergebnissen, die im Widerspruch zur Erwartungsnutzentheorie stehen.5 Dieser Widerspruch zwischen realem Entscheidungsverhalten
und normativer Entscheidungstheorie rechtfertigt die Existenz der deskriptiven Entscheidungstheorie. Jene befasst sich mit der Fragestellung, wie Entscheidungen in der
Realität getroffen werden, und wie diese zu begründen sind.6
Versicherungsentscheidungen stellen für den Verbraucher komplexe Entscheidungen
dar, die mit einem hohen Grad an Unsicherheit verbunden sind. 7 Für den Verbraucher
ist es kaum möglich, die ihn bedrohenden Gefahren und zu erwartenden Schäden richtig
einzuschätzen.
Die Prospect Theory ist Teil der deskriptiven Entscheidungstheorie.8 Ihr Zweck ist es,
den beobachteten Entscheidungen eine theoretische Grundlage zu geben
1
Vgl. Bamberg/Coenenberger (2004), S. 1-3
2
Vgl. Bernoulli (1954), S. 23-36
3
Vgl. Bamberg/Coenenberger (2004), S. 85
4
Vgl. Johnson et al. (1993), S. 37-38
5
Vgl. Schoemaker/Kunreuther (1979), S. 603
6
Vgl. Bamberg/Coenenberger (2004), S. 4
7
Vgl. Meyer (1996), S. 164
8
Vgl. Theil (2002), S. 119
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-2-
Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die theoretischen Inhalte der PT zu geben,
und diese unter dem Gesichtspunkt ihrer Anwendbarkeit auf Versicherungsentscheidungen zu analysieren. Ferner werden empirische Ergebnisse vorgestellt, die sich mit dem
Entscheidungsverhalten von Versicherungsnachfragern auseinandersetzen. Diese Ergebnisse werden darauf untersucht, ob sie als Unterstützung der PT dienen können. Schließlich soll aufgezeigt werden, welche Implikationen sich für das Marketing von Versicherungsdienstleistungen aus der PT ergeben. Im letzten Teil dieser Arbeit wird gezeigt, wo
die PT an die Grenzen ihrer Erklärungskraft stößt.
2
2.1
Prospect Theory
Einführung
Die PT wurde von Daniel Kahnemann und Amos Tversky erstmals auf der Conference
on Public Economics 1975 in Jerusalem unter dem Namen „Value Theory“ vorgestellt.9
1979 wurde sie als deskriptives Modell für Entscheidungen unter Risiko veröffentlicht
und stellt eine Kritik an der Erwartungsnutzentheorie dar. 10
In ihrer Untersuchung stellen Kahnemann und Tversky die Probanden vor verschiedene
Entscheidungssituationen, in denen sie ihre Präferenz zwischen zwei unterschiedlichen
regular prospects angeben sollen.11 Regular prospects sind Entscheidungsalternativen
der Form ( x, p; y, q ) , wobei x mit der Wahrscheinlichkeit p , y mit der Wahrscheinlichkeit q und Null mit der Wahrscheinlichkeit 1 − p − q erzielt wird.12 Prospects der
Form x < y < 0 (strictly negative prospect) oder 0 < x < y (strictly positive prospect) mit
p + q = 1 werden in der ursprünglichen Form der PT ausgeschlossen.
9
Vgl. Theil (2002), S. 119
10
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 263
11
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 263-273
12
Vgl. Theil (2002), S. 120
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-3-
Da sich Wahrscheinlichkeiten und Nutzenniveaus in Feldstudien nur schwierig oder gar
nicht bestimmen lassen, entscheiden sich die Autoren ein Laborexperiment durchzuführen.13 Dies hat einen Einfluss auf die Allgemeingültigkeit der Untersuchungsergebnisse.
Kahnemann und Tversky entdecken in den verschiedenen Situationen, dass die Probanden systematisch dagegen verstoßen, ihre Entscheidungen durch Nutzengewichtung zu
treffen, wie es die Erwartungsnutzentheorie vorschlägt.14
Im Einzelnen wird festgestellt, dass die Probanden in Entscheidungssituationen das Unabhängigkeitsaxiom der Erwartungsnutzentheorie15 verletzen.16 Dieser „Sicherheitseffekt“ wurde in einer ähnlichen Untersuchung bereits 1953 von Maurice Allais festgestellt. Die Probanden verhalten sich bei Gewinnen risikoavers und bei Verlusten risikofreudig. Dies wird als Reflektionseffekt bezeichnet. Ein weiteres Untersuchungsergebnis
von Kahnemann und Tversky bezieht sich auf eine Versicherung, die Schäden nur mit
einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent übernimmt, dafür aber nur die halbe Prämie
verlangt (probabilistic insurance). Diese Art der Versicherung wird von den Probanden
abgelehnt, obwohl sie nach der Erwartungsnutzentheorie vorzuziehen ist. Kahnemann
und Tversky stellen fest, dass Entscheider bei der Beurteilung von Alternativen nach
Unterschieden suchen und Gemeinsamkeiten außer Acht lassen (isolation effect).
2.2
Inhaltliche Elemente der Prospect Theory
Die aus den oben festgestellten Abweichungen zur Erwartungsnutzentheorie entwickelte
PT besteht aus vier Kernelementen, die im Folgenden erläutert werden.
2.2.1 Editing-Phase
In der ersten Phase des Entscheidungsprozesses wird das Entscheidungsproblem vereinfacht.17 Diese Editing-Phase umfasst verschiedene Transformationen der Ergebnisse und
der mit den prospects verbundenen Wahrscheinlichkeiten. Die Veränderungen werden
13
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 265
14
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 265
15
Vgl. Eisenführ/Weber (1999), S. 214
16
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 265-271
17
Vgl. Theil (2002), S. 120
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-4-
durchgeführt, um die Evaluierung und die Entscheidung zu erleichtern.18 Unter anderem
umfasst die Editing-Phase folgende Operationen:
!
Kodierung (coding): Beurteilung von Ergebnissen als Gewinn bzw. Verlust in Bezug
auf einen neutralen Referenzpunkt. Die Lage des Referenzpunktes entspricht normalerweise dem aktuellen Vermögen, kann aber auch von den Erwartungen des Entscheiders und der Darstellung der Entscheidungssituation abhängen.
!
Streichung (cancellation): Elemente, die beiden prospects gleich sind, werden eliminiert.
!
Vereinfachung (simplification): Die Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ereignissen
werden auf- oder abgerundet und sehr unwahrscheinliche Ergebnisse weggelassen.
!
Feststellung von Dominanz (detection of dominance): Dominierte Alternativen werden identifiziert und im Entscheidungsprozess nicht weiter beachtet.
2.2.2 Evaluierung
Die Bewertung der Alternativen erfolgt als Gewinn bzw. Verlust zu einem neutralen
Referenzpunkt und nicht an Hand von Veränderungen absoluter Vermögenspositionen.19
Der Referenzpunkt bildet den Nullpunkt der risikolosen Wertefunktion, die den Ergebnissen einen subjektiven Wert zuordnet. Die Lage des Referenzpunktes wird durch die
Darstellung des Entscheidungsproblems beeinflusst.20 Die Eintrittswahrscheinlichkeiten
der Ergebnisse gehen nicht direkt in die Evaluierung ein.21 Sie werden mit Hilfe der
Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion22 transformiert. Die Bewertung von regular
prospects erfolgt in der Form, dass
V ( x , p; y , q ) = π ( p ) v ( x ) + π ( q ) v ( y ) .
18
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 274 f; Theil (2002), S. 121 f; Theil (2002), S. 208-233
19
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 273
20
Vgl. Tversky/Kahnemann (1981), S. 453
21
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 275-277; Theil (2002), S. 120-126
22
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 280-284
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-5-
Da die Einschränkungen der PT nicht aufrechterhalten werden, kann auch eine Bewertung für strictly positive prospects und strictly negative prospects in der Form erfolgen,
dass V ( x, p; y, q ) = v( y ) + π ( p )[v( x) − v( y )].
2.2.3 Wertefunktion
Mit Hilfe der Wertfunktion v( x) werden den einzelnen Ergebnissen eines prospects
Werte zugeordnet.23
Sie besitzt einen Referenzpunkt, der sich aus der Beobachtung ableitet, dass Entscheidungsalternativen als Gewinne bzw. Verluste zu einem Referenzwert wahrgenommen
werden.24 Im Verlustbereich ist die Wertfunktion steiler als im Gewinnbereich. Dies
ergibt sich daraus, dass sich Individuen im Verlustbereich risikofreudig und im Gewinnbereich risikoavers verhalten. Der steilere Verlauf der Funktion im Verlustbereich
drückt Verlustaversion aus.
Abbildung 1: Beispiel für den Verlauf der Wertfunktion
Referenzpunkt
Quelle: Kahnemann/Tversky (1979), S. 279
23
Vgl. Theil (2002), S. 123
24
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 277-280
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-6-
2.2.4 Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion
Mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion π ( p ) werden die Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Ergebnisse transformiert, da diese nicht direkt in die Evaluierung eingehen.25 Die Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion ist eine monotone
Funktion der Wahrscheinlichkeiten p .26
Da sehr kleine Wahrscheinlichkeiten als unmöglich und sehr große Wahrscheinlichkeiten als sicher wahrgenommen werden, besitzt die Gewichtungsfunktion Sprungstellen
an den Endpunkten.27 Im Bereich kleiner Wahrscheinlichkeiten erfolgt eine Übergewichtung. Im übrigen Verlauf werden die Wahrscheinlichkeiten untergewichtet. Die
Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion ist im Gesamtverlauf subadditiv. Die Summe
der Wahrscheinlichkeitsgewichte sich ausschließender Ereignisse ist kleiner als eins
(subcertainty).
Abbildung 2: Beispiel für den Verlauf der Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion
Quelle: Kahnemann/Tversky (1979), S. 283
25
Vgl. Theil (2002), S. 120
26
Vgl. Tversky/Kahnemann (1981), S. 454
27
Vgl. Kahnemann/Tversky (1979), S. 280-284
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
3
-7-
Bedeutung der Prospect Theory für die
Beschreibung von
Versicherungsentscheidungen
Im Folgenden wird untersucht, wie gut sich die PT zur Beschreibung von Versicherungsentscheidungen eignet.
3.1
Erklärungsansätze der Prospect Theory für die
individuelle Versicherungsentscheidung
Die Editing-Phase hat bei Versicherungsentscheidungen einen wesentlichen Einfluss auf
den Ausgang der Entscheidung. Von besonderer Bedeutung sind an dieser Stelle die
Vereinfachung des Entscheidungsproblems und die Rahmung.28 Wobei der Grad der
Vereinfachung sich an dieser Stelle nicht auf die Höhe von Wahrscheinlichkeiten, sondern auf die Menge der Entscheidungsalternativen bezieht. Individuen greifen hier auf
Heuristiken zurück, um die Zahl der Alternativen zu reduzieren. Der Einfluss von Heuristiken und Framing-Effekten wird unten genauer erläutert.
Bei der Betrachtung von Versicherungsentscheidungen ist vor allem der negative Bereich der Wertfunktion von Bedeutung.29 Durch den steileren Verlauf der Wertfunktion
im Verlustbereich im Vergleich zum Gewinnbereich wird auch bei Versicherungsentscheidungen von Verlustaversion ausgegangen. Der konvexe Verlauf im Verlustbereich
ist für Versicherungsentscheidungen nicht unumstritten, da hier ein Schwellenwert für
existenzbedrohende Verluste vermutet wird. Ab diesem Schwellenwert wird davon ausgegangen, dass Entscheidungsträger grundsätzlich eine Versicherung wählen.
Bei Betrachtung der Gewichtungsfunktion ist der Bereich von besonderem Interesse, in
dem Wahrscheinlichkeiten übergewichtet werden.30 Dieser Bereich, in dem sich für gewöhnlich Risiken befinden, für die Versicherungen angeboten werden, geht bis p ≈ 0,4 .
Ferner ist der Bereich sehr kleiner Wahrscheinlichkeiten, in dem Risiken als unmöglich
28
Vgl. Theil (2002), S. 230
29
Vgl. Theil (2002), S. 233-241
30
Vgl. Theil (2002), S. 242-245
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-8-
wahrgenommen werden, von Interesse. Dieser Bereich dient als Erklärung dafür, dass
Versicherungen gegen Risiken mit sehr geringen Wahrscheinlichkeiten nicht nachgefragt werden.
Da Nachfrager in Realsituationen keine ausreichenden Informationen über die zu versichernden Risiken haben, spielen Wahrscheinlichkeitsschätzungen eine große Rolle.31
Gerade für Situationen mit kleinen Wahrscheinlichkeiten besteht ein großes Maß an
Ambiguitätstaversion32.
3.2
Empirische Untersuchungen zu
Versicherungsentscheidungen
Es existieren verschieden Untersuchungen, die sich mit dem Entscheidungsverhalten
von Versicherungsnehmern befassen.33 An dieser Stelle sollen einige Untersuchungsergebnisse exemplarisch vorgestellt werden.
Slovic et al. kommen 1977 zu dem Ergebnis, dass Versicherungen gegen wahrscheinliche Ereignisse mit geringen zu erwartenden Schäden von Konsumenten vorgezogen
werden.34 Bei geringen Schadenswahrscheinlichkeiten und hohen zu erwartenden Schäden entscheiden sich die Probanden gegen den Kauf einer Versicherung.
Die Autoren geben verschiedene Erklärungsansätze für dieses Verhalten. Einerseits
vermuten sie eine konvexe Nutzenfunktion im Verlustbereich.35 Eine alternative Erklärung ist, dass Wahrscheinlichkeiten unterhalb einer Wahrnehmungsschwelle ignoriert
werden. Die genaue Lage der Wahrnehmungsschwelle kann situations- und personenabhängig variieren. Einen weiteren Erklärungsansatz stellt die Vermutung dar, dass existenzbedrohende Ereignisse ignoriert werden. Slovic et al. geben die Empfehlung Versicherungen gegen hohe geringwahrscheinliche Schäden im Bündel mit Versicherungen
gegen kleine Schäden mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit zu verkaufen.
31
Vgl. Theil (2002), S. 245
32
Vgl. Hogarth (1990), S. 37
33
Vgl. Schade (1999), S. 80
34
Vgl. Slovic et al. (1977), S. 237
35
Vgl. Slovic et al. (1977), S. 237-256
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
-9-
Dieses Ergebnis, das im Gegensatz zur PT steht, wird dadurch relativiert, dass Probanden bei einem Spiel über mehrere Runden auch Versicherungen gegen hohe, geringwahrscheinliche Schäden wählen.36
Kunreuther und Schoemaker vergleichen 1979 den Erklärungsgehalt der Erwartungsnutzentheorie und der PT in Bezug auf Versicherungsentscheidungen.37 Die Autoren
kommen zu dem Schluss, dass sich die Erwartungsnutzentheorie nur schlecht zur Beschreibung von Versicherungsentscheidungen eignet.
Sie stimmen mit der Untersuchung von Slovic et al. überein, dass Probanden nicht in
der Lage sind Informationen bzw. Wahrscheinlichkeiten richtig zu verarbeiten.38 In ihrer
Untersuchung werden Versicherungen gegen geringwahrscheinliche hohe Schäden
nachgefragt. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu dem Ergebnis von Slovic et al.. Die
Probanden verhalten sich im Verlustbereich risikofreudig. Bei sehr geringen Schadenswahrscheinlichkeiten weisen die Autoren einen Schwelleneffekt nach. Außerdem kommen Kunreuther und Schoemaker zu dem Ergebnis, dass ein starker Zusammenhang
zwischen der Darstellung der Entscheidungssituation und der Versicherungsentscheidung besteht. Weitere Untersuchungen sollten sich mit dem Einfluss von Problemdarstellung, Finanzstatus und statistischem Verständnis auf die Entscheidung befassen, da
die Versicherungsentscheidung die ursprüngliche Form der PT an Komplexität überschreitet.
Johnson et al. gehen 1993 in einer umfassenden Arbeit auf den Einfluss von Rahmungsund Risikowahrnehmungseffekten auf die Versicherungsentscheidung ein.39 Sie zeigen,
dass eine lebhafte, dramatische Darstellung des Versicherungsrisikos die Risikowahrnehmung beeinflusst. Versicherungsnehmer sind nur ungern bereit eine Versicherung zu
wählen, die eine Selbstbeteiligung enthält, auch wenn diese günstiger ist als eine alternative Versicherung ohne Selbstbeteiligung. Dieses Verhalten wird an Hand der Wertfunktion der PT erklärt, da eine Selbstbeteiligung als zusätzlicher Verlust gewertet wird.
Diese Beobachtung wird unten an einem Beispiel erklärt. Ferner zeigen Johnson et al.
36
Vgl. Slovic et al. (1977), S. 248-252
37
Vgl. Schoemaker/Kunreuther (1979), S. 603
38
Vgl. Schoemaker/Kunreuther (1979), S. 603-617
39
Vgl. Johnson et al. (1993), S. 35-50
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
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auf, dass Status-Quo-Effekte einen Einfluss auf die Entscheidungen von Versicherungsnehmern haben.
Hogarth und Kunreuther zeigen 1995, dass sowohl normative als auch deskriptive Modelle bei der Erklärung von Versicherungsentscheidungen an ihre Grenzen stoßen.40 Sie
untersuchen Entscheidungssituationen in denen Konsumenten keine Informationen über
die Schadenshöhe und die Schadenswahrscheinlichkeit haben. In diesen Situationen
unter „Ignorance“ stehen für die Probanden eher qualitative Aussagen im Mittelpunkt
ihrer Entscheidung.41
3.3
Einflussfaktoren auf die Entscheidung der Nachfrager
Wie die oben dargestellten Situationen zeigen, gibt es verschieden Faktoren, die einen
Einfluss auf die Wahrnehmung einer Entscheidungssituation haben.
3.3.1 Framing
Je nach Darstellung (framing) eines Entscheidungsproblems lassen sich Präferenzen
beeinflussen.42
Johnson et al. zeigen, dass die Darstellung einer Entscheidungssituation einen wesentlichen Einfluss auf die Versicherungsentscheidung hat.
An folgendem Beispiel lässt sich zeigen, wie die unterschiedliche Darstellung der Versicherungsprämie die Kaufentscheidung von Versicherungsnehmern beeinflussen
kann.43 Selbstbeteiligungen stellen für Versicherungen eine effektive Möglichkeit dar
moral hazard zu kontrollieren. Versicherungsverträge mit Selbstbeteiligungen werden
aber von Konsumenten abgelehnt, da die Selbstbeteiligung als zusätzlicher Verlust
wahrgenommen wird. Alternativ dazu kann die Versicherung einen Vertrag anbieten,
bei dem die Selbstbeteiligung auf die Prämie aufgeschlagen wird. Im Nichtschadensfall
erhält der Kunde die Selbstbeteiligung als Prämie zurück. Zwischen den dargestellten
Verträgen besteht nur ein Unterschied in der Darstellung der Prämienhöhe. Auf Grund
40
Vgl. Hogarth/Kunreuther (1995), S. 15-35
41
Vgl. Schade (1999), S. 82-83
42
Vgl. Tversky/Kahnemann (1981), S. 457
43
Vgl. Johnson et al. (1993), S. 42-44
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
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von Verlustaversion wird die Alternative mit Prämienzahlung von Konsumenten bevorzugt.
Abbildung 3: Framing von Selbstbeteiligung und Prämie
Quelle: Johnson et al. (1993), S.43
Beobachtungen in den US-Bundesstaaten New Jersey und Pennsylvania zeigen welchen
Einfluss Status-Quo-Effekte auf die Versicherungsentscheidungen haben.44 Nach einer
Gesetzesänderung können die Versicherungsnehmer in beiden Staaten entscheiden, ob
sie sich für eine Autoversicherung mit vollem oder eingeschränktem Klagerecht45 entscheiden. Die Standardpolice in New Jersey beinhaltet ein eingeschränktes Klagerecht.
Das volle Klagerecht kann zusätzlich erworben werden. In Pennsylvania ist die Standardpolice mit einem vollen Klagerecht ausgestattet. Das Klagerecht kann hier für eine
günstigere Prämie aufgegeben werden. In New Jersey ist zu beobachten, dass nur 20%
44
Vgl. Johnson et al. (1993), S. 48; Schade (1999), S. 81
45
Vgl. http://www.iii.org/media/hottopics/insurance/nofault/ (24.04.2005)
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
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der Versicherungsnehmer die teurere Police mit vollem Klagerecht wählen. In Pennsylvania behalten 75% der Versicherungsnehmer das Klagerecht und verzichten auf eine
günstigere Prämie.
3.3.2 Heuristiken
Zur Entscheidungserleichterung greifen Individuen in Situationen unter Unsicherheit auf
Ereignisse zurück, die ihnen bekannt sind oder repräsentativ für die entsprechende Situation erscheinen.46 Diese Heuristiken führen zu systematischen Entscheidungsfehlern.
Bei Versicherungsentscheidungen ist zu beobachten, dass die Risikowahrnehmung
durch öffentliche Diskussionen oder die lebhafte Darstellung von Risiken beeinflusst
wird.47 Individuen sind bereit eine höhere Prämie für eine Versicherung gegen ein konkretes Risiko zu zahlen als für eine generelle Versicherung, die dieses Risiko beinhaltet.
In einer Untersuchung von Johnson et al. sind Probanden bereit signifikant mehr für
eine Flugversicherung gegen Terrorismus zu zahlen als gegen eine Flugversicherung,
die jede Unfallursache abdeckt. Johnson et al. geben ein Praxisbeispiel für den Einfluss
von Medienpräsenz und öffentlicher Diskussion auf die Risikowahrnehmung. Durch die
Vorhersage eines Hobby-Klimatologen, dass sich an einem bestimmten Datum in New
Madrid ein Erdbeben ereignen würde, konnten Versicherungsgesellschaften den Verkauf von Erdbebenpolicen mehr als verdreifachen, obwohl die Erdbebenvorhersage von
Experten widerlegt wurde.
3.4
Implikationen für das Marketing von Versicherungen
Für das Marketing von Versicherungen ergibt sich die Empfehlung Verträge gegen Risiken, die eine große Beachtung in den Medien finden, verstärkt anzubieten (z.B. Versicherungen gegen Terroranschläge als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September
2001 und die daraus entstandene Diskussion um innere Sicherheit). Die Versicherungen
sollten sich bemühen den Nachfragern die Versicherungsrisiken möglichst lebhaft darzustellen, um hier den Effekt von Heuristiken auszunutzen. Aus den Beobachtungen zu
Framing-Effekten folgt, dass Verträge angeboten werden sollten, die keine Selbstbetei-
46
Vgl. Tversky/Kahnemann (1974), S. 1124-1131
47
Vgl. Johnson et al. (1993), S. 37-42
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
- 13 -
ligung im Schadensfall enthalten. Die Implikationen des Mental Accounting48, Verluste
zu bündeln und kleine Gewinne separat darzustellen, stützen diese These. Moral hazard
sollte durch Prämien eingedämmt werden. Es sollten Versicherungsverträge gegen konkrete Risiken angeboten werden, um Verfügbarkeitsheuristiken zu nutzen. So lassen
sich in Summe höhere Versicherungsprämien realisieren als bei Verträgen, die sämtliche
Risiken abdecken.
Da sich Versicherungsnehmer bei kleinen Wahrscheinlichkeiten ambiguitätsscheu verhalten, sollte von Seiten der Versicherungsunternehmen keine Aufklärung über tatsächliche Schadenswahrscheinlichkeiten erfolgen.
3.5
Grenzen der Prospect Theory
Die PT ist zwar in der Lage Versicherungsentscheidungen besser zu erklären als die
Erwartungsnutzentheorie, aber verschiedene Aspekte der Versicherungsentscheidung
können auch durch die PT auf Grund ihrer Einfachheit nicht erklärt werden.
Die Zeitraumbezogenheit stellt einen wesentlichen Bestandteil von Versicherungen
dar.49 Der Faktor Zeit findet in der PT keine Beachtung, wobei fraglich ist inwieweit die
zeitliche Komponente von Entscheidungsträgern berücksichtigt wird50.
Weitere Einschränkungen des Erklärungsgehaltes der PT ergeben sich aus dem Verlauf
der Gewichtungsfunktion. Die Lage der Wahrnehmungsschwelle, die situations- und
personenabhängig variieren kann, und der Bereich, in dem eine Übergewichtung von
Wahrscheinlichkeiten erfolgt, können nicht exakt bestimmt werden. Da eine eindeutige
Trennung zwischen Wahrscheinlichkeitsgewichtung und Evaluierung nicht möglich ist,
kann die PT zu Ergebnissen führen, die nicht eindeutig sind.51
Die Form der Wertfunktion ist im Verlustbereich nicht unumstritten, da im Bereich besonders hoher Verluste erneut Risikoaversion vermutet wird.52 Für existenzbedrohende
48
Vgl. Thaler (1985), S. 202
49
Vgl. Theil (2002), S. 207
50
Vgl. Theil (2002), S. 250
51
Vgl. Theil (2002), S. 169
52
Vgl. Theil. (2002), S. 152-164
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
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Schäden wird ein Schwellenwert vermutet, ab dem grundsätzlich Versicherungen gewählt werden.
Der Einfluss des finanziellen Status und qualitativer Aspekte von Versicherungen auf
die Versicherungsentscheidung lässt sich nicht an Hand der PT erklären.53
4
Zusammenfassung
Versicherungsentscheidungen stellen für Nachfrager komplexe Entscheidungen mit einem hohen Grad an Unsicherheit dar. Versicherungskunden treffen Entscheidungen, die
sich nicht durch die Erwartungsnutzentheorie erklären lassen.
Die PT wurde mit dem Ziel entwickelt in der Realität beobachtete Entscheidungen zu
erklären. In der Editing-Phase wird das Entscheidungsproblem vereinfacht, um die Evaluierung und Entscheidung zu erleichtern. Die Bewertung erfolgt in der PT als Gewinn
bzw. Verlust in Bezug auf einen Referenzpunkt. Durch die Wertfunktion wird dargestellt, dass Individuen im Gewinnbereich risikoavers sind und im Verlustbereich risikofreudig. Ferner wird von Verlustaversion ausgegangen. Die Eintrittswahrscheinlichkeiten gehen nicht direkt in die Bewertung ein. Die Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion bildet die Transformation der Wahrscheinlichkeiten ab. Sehr kleine bzw. sehr große
Wahrscheinlichkeiten werden als unmöglich bzw. sicher wahrgenommen. Im Bereich
kleiner Wahrscheinlichkeiten (bis p ≈ 0,4 ) erfolgt eine Übergewichtung.
Aus empirischen Untersuchungen ergeben sich Empfehlungen zur weiteren Untersuchung von Versicherungsentscheidungen, da der zeitliche Aspekt der Versicherung
nicht durch die PT abgebildet werden kann. Auch die Einflüsse von finanziellem Status
und qualitativen Aspekten der Versicherungsentscheidung lassen sich nicht durch die
PT erklären.
Aus den Beobachtungen, dass Framing-Effekte und Heuristiken einen Einfluss auf die
Entscheidung haben, ergeben sich einige Empfehlungen für das Versicherungsmarketing. Versicherungen sollten darauf verzichten von den Kunden eine Selbstbeteiligung
im Schadensfall zu verlangen. Moral hazard sollte durch Prämien eingedämmt werden.
Versicherungen sollten gegen konkrete Risiken angeboten werden. Eine Aufklärung
53
Vgl. Schoemaker/Kunreuther (1979), S. 617; Hogarth/Kunreuther (1995), S. 33
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
- 15 -
über die genaue Höhe von Schadenswahrscheinlichkeiten sollte durch die Versicherung
nicht erfolgen, um die Ambiguitätsscheu der Nachfrager zu nutzen.
Insgesamt besteht Bedarf Versicherungsentscheidungen aus Sicht der Nachfrager weiter
zu analysieren, da diese auf Grund ihrer Komplexität durch die PT nicht umfassend erklärt werden können.
Versicherungen aus Sicht der Prospect Theory
- 16 -
Literaturverzeichnis
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12.Auflage, München
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Johnson, E.J./Hershey, J./Meszaros, J./Kunreuther, H. (1993): Framing, Probability Distortions and Insurance Decision in: Journal of Risk and Uncertainty, Vol. 7, No. 1, S.
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(24.04.2005)