Leseprobe Orch 1_14
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>THEMA: Big und bunt< Big und bunt Rundfunk- und Orchester-Big-Bands in Deutschland Marco Frei Deutschland ist nicht nur ein Mekka der Orchester, sondern ebenso der Big Bands. Auch hier ist die Vielfalt der Ensembles enorm und sucht ihresgleichen – nicht nur in Europa. Dabei waren die historischen Voraussetzungen alles andere als selbstverständlich. Noch dazu kam es auch in der Big-Band-Szene wiederholt zu Einschnitten. > Amerikanische Jazz-Kritiker sind voll des Lobes für die deutsche Big-Band-Szene – und meinen damit gerade auch die ARDEnsembles. Einer von ihnen ist Jack Bowers. „Deutschland, das die darstellenden Künste auf einer Skala weit über dem unterstützt, was in den Staaten üblich ist, hat eine Reihe von Weltklasse-Big-Bands hervorgebracht“, schwärmt er im renommierten Fachmagazin All About Jazz – im Rahmen einer Rezension zur CD How Long Is Now? der BigBand der Deutschen Oper Berlin. Internationaler Glanz Für Amerika ist dies ein kulturpolitischer Paukenschlag, für die deutschen Jazzer hingegen ein größtmöglicher Ritterschlag. Denn die das Orchester 1.14 Jazz- und Big-Band-Kultur ist eine ureigene amerikanische Kunst. Indessen ist Bowers nicht der einzige Jazz-Kritiker in den Staaten, der der deutschen Jazz- und Big-Band-Szene attestiert, auf der „Überholspur“ zu sein. Und dies nicht erst jetzt, sondern schon seit geraumer Zeit. Deswegen kann Pressesprecherin Isabel Schad für die hr-Bigband den exzellenten Ruf der deutschen Szene bestätigen. Deutschland sei das Land mit der größten Dichte an Orchestern und eine Musikernation, kommuniziert sie. „Davon profitiert natürlich auch die Big-Band-Szene hierzulande. Sehr bedeutende Impulse gehen dabei von den Big Bands in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft aus“ – was der Artikel „Transatlantische Schwingungen“ von Lewis Gropp untermauert, der am 26. November 2010 in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war. „Wir haben in Deutschland eine 11 © NDR einmalige Situation“, bestätigt Axel Dürr, Manager der NDR Bigband, „nicht nur in Europa, sondern weltweit. Das gibt es sonst nicht.“ Hans-Peter Zachary, Dürrs Amtskollege bei der SWR Big Band, kann dies nur „unterschreiben“. „Viele amerikanische Musiker und Arrangeure kommen gerne zu uns, weil diese an sich ureigene amerikanische Kultur bei uns mittlerweile auf einem ganz anderen Niveau praktiziert wird als in den USA“, berichtet er. Noch dazu genießen zahllose Aufnahmen der deutschen Rundfunk-Big-Bands Kultstatus. So hat der NDR vor rund 25 Jahren mit Chet Baker ein Konzert aufgezeichnet, es sollte der letzte große Auftritt der JazzLegende werden. „Die Platte hat sich weltweit über 100 000 Mal verkauft“, sagt Dürr. „Viele kennen uns von dieser oder ähnlichen Platten“, was auch für die anderen Rundfunk-Big-Bands gilt. Als etwa die WDR Big Band 2005 eine Aufnahme mit den Brecker Brothers vorlegte, verstarb wenig später der an Leukämie erkrankte Michael Brecker. Für die CD gab es einen „Grammy“, und die SWR Big Band wurde viermal für diesen amerikanischen Top-Preis nominiert. Wer drei „Grammys“ einheimst oder mehrfach nominiert wurde, wird ganz offenbar auf dem sehr speziellen US-Markt genau wahr- und ernst genommen. Zudem kann sich der SWR damit rühmen, als erste deutsche Band für den brasilianischen Musikpreis vorgeschlagen worden zu sein. „Man spürt die Begeisterung und den Respekt für deutsche Bands“, folgert Zachary. „Seit zwanzig Jahren haben in den USA die ‚German Radio Big Bands‘ einen exzellenten Ruf – auch weil wir mehr experimentieren und Neues wagen. In den USA zählt am Ende immer das Geld in der Kasse.“ Die glanzvollen Zeiten seien jenseits des Atlantiks vorbei, so Zachary weiter, was Dürr vom NDR letztlich bestätigt. © SWR /Alexander Kluge >THEMA: Big und bunt< Links Axel Dürr, Manager der NDR Bigband, rechts Hans-Peter Zachary, sein Amtskollege von der SWR Big Band browski, Jazz-Kritiker der Süddeutschen Zeitung, 2011 in einem Beitrag für die Internet-Plattform des Goethe-Instituts. Dies ist gerade auch der gezielten Nachwuchsförderung zu verdanken. Gründungen von Big Bands durch Opern- und Sinfonieorchester wie auch Jazz-Aktivitäten von Musikern runden diese enorme Vielfalt ab (siehe Beitrag auf S. 18). „Es gibt in Deutschland wahnsinnig tolle Big Bands“, folgert Schlagzeuger Rüdiger Ruppert von der BigBand der Deutschen Oper Berlin – wobei er auch auf „freie, unbekannte, moderne Jazzorchester mit tollen Musikern“ verweist, die leider nicht immer die „angebrachte Wertschätzung“ erhielten. Verdienstvolle Pflege und Vielfalt Historische Last Zwar habe die amerikanische Jazzszene „tolle Möglichkeiten“, aber: „Sie verdienen ihr Geld hier, in Deutschland oder in Kooperation mit europäischen Big Bands“ – wobei Deutschland die europäische Big-Band-Szene klar anführt. So haben sich die Aktivitäten der Big Band der BBC reduziert, auch wegen Einsparungen. Zwar gebe es noch angesehene Ensembles in Skandinavien oder in Graz sowie das Orchestre National de Jazz in Paris, aber: „Dann wird die Luft schon dünn“, bemerkt Zachary zur Situation in Europa. Denn neben den deutschen Rundfunk-Bands gibt es eine Vielzahl von weiteren hochkarätigen Truppen wie auch verdienstvolle Aktivitäten. Eine in dieser Form international singuläre Einrichtung ist beispielsweise das Bundesjazzorchester, das 1987 auf Anregung des Deutschen Musikrats gegründet und bis 2006 von Peter Herbolzheimer geleitet wurde. Es dient der Spitzenförderung des Jazznachwuchses, wobei die dazugehörigen Landesjazzorchester in die Regionen hinein wirken – ein Pendant zum Bundesjugendorchester mit den Landesjugendorchestern. Und das Konzept geht auf: Jüngere Größen wie Till Brönner sind durch diese Schule gegangen, noch dazu kam es seither zu zahlreichen Gründungen von Big Bands an Schulen und Konservatorien. „Galt die Big Band noch in den 1990er Jahren als antiquierte Form der Jazzhistorie, so ist sie heute wieder ein wichtiger und produktiver Bestandteil des musikalischen Lebens“, urteilt Ralf Dom- Dabei hatte die deutsche Jazz- und Big-Band-Szene unter erschwerten historischen Bedingungen zu kämpfen. Rückblick auf das Jahr 1933: Mit der Machtübernahme der Nazis wird auch im Kulturleben Deutschlands „aufgeräumt“, wovon ebenso die Musik betroffen ist. Neben jüdischer Musik und Avantgarde gilt auch Jazz als „entartet“. Schon 1933 erzürnt sich das Organ Deutsche KulturWacht, dass in deutschen Ostseebädern die deutsche Nationalhymne „verjazzt und als Tanzmusik“ dargeboten werde, und in Berlin tanze man Wagners Pilgerchor aus dem Tannhäuser als Charleston. Im Oktober 1935 wird „Niggerjazz“ für den gesamten deutschen Rundfunk verboten, denn: „Der Neger hat etwas, dessen Wurzeln im Abendland bei den Angelsachsen lag, mit Hilfe des Juden in einem tollen Dressurakt assimiliert“, wettert der berühmtberüchtigte NS-Musikpublizist Herbert Gerigk im Juli 1938 in Die Musik. Folglich werde alles abgelehnt, so Gerigk, „was einmal mit den typischen Kapellen negroider Haltung zusammenhing: das Saxophon, die gestopften Blasinstrumente, die Gliederverrenkungen der Spieler, der heisere, bellende Refraingesang usw.“ Dieses Feindbild wurde auf einem rassistischen Plakat zur Hetzschau Entartete Musik auch visualisiert. Ein Farbiger mit betont fleischigen Lippen bläst in ein Saxofon, einen Smoking mit Judenstern tragend – ein Verschnitt nach Kreneks Oper Jonny spielt auf. Demzufolge sei Jazz „keine Musik, sondern eine als Musik getarnte 12 das Orchester 1.14 >THEMA: Big und bunt< internationale Kulturpest und eine den niedersten Instinkten der Masse entgegenkommende Respektlosigkeit mit dem Zweck, die Kulturmusik des Abendlandes und hier im Speziellen des musikreichen Deutschlands zu besudeln und in jeder Form zu zerstören“, poltert Hans Petsch im August 1940 in der Zeitschrift für Musik. Es ist das große bekannte Fachblatt, das einst von Robert Schumann mitbegründet worden war. Das „Neue“ im Zeitschriftentitel wurde von den Nazis als Ausdruck „jüdischen Kulturintellektualismus“ gestrichen, nach dem Krieg wurde das Wörtchen wieder eingefügt. So war es in Westdeutschland letztlich auch ein politisches Signal, als Helmut Schmidt 1971 als Verteidigungsminister die Gründung der Big Band der Bundeswehr initiierte. Damit wollte er einen „modernen Sound für eine moderne Armee“ in die Welt tönen lassen – modern, weil auch befreit von der einstigen Nazityrannei, wie musikalisch unterstrichen wurde. Ost und West Andererseits hat selbst ein gewichtiger Denker wie Theodor W. Adorno, der von den Nazis als Anhänger der Musikavantgarde verfolgt worden war, nach dem Krieg den Jazz heftig angegriffen – teils mit beschämend ähnlicher Polemik. Noch in den 1960er Jahren Das rassistische Plakat von 1938 zur Hetzschau „Entartete Musik“: Ein Farbiger mit betont fleischigen Lippen bläst in ein Saxofon – einen Smoking mit Judenstern tragend schreibt Adorno in seiner Einführung in die Musiksoziologie: „Die Entfremdung von der sanktionierten musikalischen Kultur schlägt beim Jazz-Hörer in ein vorkünstlerisch Barbarisches zurück, das umsonst als Aufbruch von Urgefühlen sich affichiert.“ Es waren auch Äußerungen von Intellektuellen wie diese, weshalb es in Westdeutschland lange dauerte, bis der Jazz in Kreisen der „Ernsten Musik“ ernst genommen wurde – obwohl Komponisten seit dem frühen 20. Jahrhundert diese Musik ernsthaft reflektierten. In Ostdeutschland hatte die Jazz- und Big-Band-Szene hingegen mit einer restriktiven Kulturpolitik zu kämpfen, die von der Sowjetunion aus gesteuert wurde. Gerade in der spätstalinistischen Anfangszeit der DDR war die Situation prekär. Und gefährlich. Denn im Zuge der zweiten großen Kulturkampagne unter dem Diktator Stalin wurden 1948 nicht nur Komponisten wie Schostakowitsch oder Prokofjew angegriffen, sondern auch der Jazz. Bereits während der Stalin’schen Kulturrevolution von 1936/38, die vom Großen Terror begleitet wurde, kam es zu wüsten Attacken gegen diese Musik. Schostakowitsch habe in seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk auch auf die „nervöse, verkrampfte, epileptische Musik des Jazz“ zurückgegriffen, heißt es in dem legendären Hetzartikel „Chaos statt Musik“, mit dem am 28. Januar 1936 die erste große Kulturkampagne Stalins losbrach. Zeitgleich wurde mit solchem Vokabular in NS-Deutschland gegen Jazz gewettert. Und so profitierte die westdeutsche Jazz- und Big-Band-Szene gerade auch von der Besatzung der Amerikaner. In vielen ihrer Clubs fanden deutsche Jazzer ein erstes Podium, nicht nur in Frankfurt am Main. Zugleich gilt für Gesamtdeutschland, dass viele Big Bands aus sogenannten Tanzorchestern entstanden sind – nicht zuletzt bei der ARD. Die Tanzorchester waren hierzulande in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr populär; auch die Komische Oper in Berlin war auf diesem Gebiet äußerst aktiv, was die jetzige Intendanz wieder aufleben lässt. Dabei gibt sich das Orchester des Hauses in bestimmten Programmen ein jazziges Klangprofil, wie es seinerzeit gelebt wurde. Historische Aufführungspraxis mal anders, zumal die Entdeckung des Originalklangs keineswegs auf die Alte Musik beschränkt ist. Auch das Gewandhausorchester in Leipzig hat unter Riccardo Chailly auf CDs bereits dem authentischen Klang der 1920er und 1930er Jahre nachgespürt – frisch und jazzig. Zugleich profitierte Westdeutschland von der Einführung des föderalen Rundfunk-Systems, was zu einer regelrechten Ensemble-Blüte führte. „In keinem anderen westeuropäischen Land der Nachkriegsjahre bildeten sich ähnlich viele professionelle Jazz-Orchester“, folgert Ralf Dombrowski. Gleichwohl sind heute nur noch vier ARD-Big-Bands übrig – beim WDR, NDR, hr und SWR. Abgewickelt © dpa/AKG-Images Bis in jüngerer Zeit wurden wertvolle Ensembles abgewickelt, darunter das RIAS Tanzorchester in Berlin und das Rundfunk-Tanzorchester Leipzig. Die Big-Band-Szene in Deutschland ist ebenso einzigartig wie seine Orchester- und Rundfunkchorlandschaft. Die pauschale Haushaltsgebühr der ARD lässt sich nur rechtfertigen, wenn auch der Kultur- und Bildungsauftrag erfüllt wird. Das leisten sämtliche Rundfunkensembles – mit ihren Konzerten und Education-Projekten. < das Orchester 1.14 13