China 1949-1978 - Fakultät Wirtschafts

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China 1949-1978 - Fakultät Wirtschafts
ZENTRUM FÜR ÖKONOMISCHE UND SOZIOLOGISCHE STUDIEN
ZÖSS
ExMA-Papers
Exemplarische MasterArbeiten
A LEXANDER T HANNER
CHINA 1949-1978
(Forschungsstand III)
3. Lernwerkstattarbeit aus dem 1. Lehrgang, 2005
im Masterstudiengang Ökonomische und Soziologische Studien
ISSN 1868-5005/03
Redaktion:
ZÖSS
Department Wirtschaft und Politik
Universität Hamburg – Fakultät WiSo
Von-Melle-Park 9
D – 20146 Hamburg
Im Internet: www.wiso.uni-hamburg.de/zoess
1
Inhalt
Vorbemerkung.......................................................................................................................... 2
1.
Einleitung ...................................................................................................................... 3
2.
Die Genese des chinesischen Kommunismus und der KPCh mit und durch Mao
Tsetung bis zur Ausrufung der Volksrepublik 1949................................................. 5
2.1
Mao Tsetungs Herkunft und Heranwachsen .............................................................. 6
2.2
Mao Tsetung und die KPCh bis 1935 ........................................................................ 8
2.3
Mit Marx und der Bauernschaft gegen Japan und die Kuomintang......................... 10
3.
Die Volksrepublik China ........................................................................................... 13
3.1
Der Große Sprung .................................................................................................... 16
3.2
Liberalisierung und Dissens ..................................................................................... 18
4.
Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ .......................................................... 20
4.1
4.1.1
Die Phase der Rotgardisten .............................................................................. 23
4.1.2.
Die Phase der Armee........................................................................................ 24
4.1.3.
Die Phase der zivilen Neuordnung................................................................... 25
4.2
5.
6.
Die drei Phasen der Kulturrevolution....................................................................... 22
Von Mao Tsetung zu Deng Xiaoping ...................................................................... 26
Regulierung in der Volksrepublik ............................................................................ 28
5.1
Die ökonomischen Regulationsprozesse .................................................................. 30
5.2
Die ideologischen Regulationsprozesse ................................................................... 32
Fazit und Ausblick ..................................................................................................... 36
Literatur.................................................................................................................................. 38
2
Wie und inwieweit gelang den chinesischen Kommunisten die regulative Neugestaltung
der chinesischen Gesellschaft in der Volksrepublik ab 1949 und welche nachhaltigen
neuen gesellschaftlichen Verhältnisse entstanden?
Vorbemerkung
Am Ende des zweiten Teils der Untersuchung über die chinesische Revolution konnte
festgestellt werden, dass die anfänglich für das kaiserliche China lokalisierte Doppelkrise der
Modernisierung und der Legitimation während der 38 Jahre anhaltenden bürgerlichen
Revolution und des Bürgerkrieges nur zu einem kleinen Teil reguliert werden konnte. Zwar
konnten die chinesischen Kommunisten vor allem durch die quasi erzwungene nationale
Einigung Chinas während des Widerstandskrieges gegen Japan in gewisser Weise eine
demokratische Revolution durchführen und sich somit für die neu gegründete Volksrepublik
legitimieren, für die notwendige grundlegende Modernisierung bot die Zeit der Kriegs- und
Bürgerkriegswirren und der permanenten politischen Instabilität jedoch keinen Raum.
Das anfängliche Manko einer Elitenrevolution konnten die chinesischen Kommunisten jedoch
abwenden, indem sie die Revolution und den Kampf gegen Japan auf die breite Basis der
bäuerlichen Massen stellten. Somit war eine wichtige, in der letzten Arbeit herausgearbeitete
Voraussetzung für den gesellschaftlichen Umbau gegeben. Ob und wie jedoch dieser Umbau
in der Volksrepublik China gelang, ist weiterhin eine der zu beantwortenden Fragen der
vorliegenden Untersuchung.
3
1.
Einleitung
Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Geschichte der Volksrepublik China von
1949 bis zum Tod Mao Tsetungs und der Machtübernahme durch Deng Xiaoping. Darüber
hinaus wird zum besseren Verständnis der Situation 1949 die Genese des chinesischen
Kommunismus anhand der politischen Biografie Mao Tsetungs untersucht.
Die interessenleitende Fragestellung lautet hierbei, wie und inwieweit gelang den
chinesischen Kommunisten die regulative Neugestaltung der chinesischen Gesellschaft in der
Volksrepublik ab 1949 und welche nachhaltigen neuen gesellschaftlichen Verhältnisse
entstanden? Daneben soll zusätzlich geprüft werden, inwiefern es sich bei den geschaffenen
gesellschaftlichen Verhältnissen tatsächlich um eine neue Gesellschaftsordnung handelt oder
ob die chinesischen Kommunisten eventuell doch lediglich eine neue Dynastie im
modifizierten Gewand gründeten.
Wie bereits in den vorangegangenen Untersuchungen wird auch in dieser Arbeit ein
hermeneutisches Verfahren angewendet, dass in iterativen Prozessen die jeweilig
beschriebene historische Einzelerscheinung und Einzeldeutung dem Gesamtprozess
gegenüberstellt und umgekehrt.
Als roter Faden dient hierbei die politische Biografie Mao Tsetungs. Da die Genese des
chinesischen Kommunismus und der gesellschaftliche Umbau in der Volksrepublik
maßgeblich durch das Wirken und die Wirkung Mao Tsetungs bestimmt war, und seine
politische Agitation zum großen Teil mit der der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh)
identisch ist, erscheint eine solche Herangehensweise möglich und empfehlenswert.
Die empirisch-geschichtliche Betrachtung soll systematisch durch die Erörterung der
jeweiligen
herrschenden,
gesellschaftlich-empirisch-systemischen
Verhältnisse,
mit
besonderem Hinblick auf die politische Agitation und deren Wirkung auf die chinesische
Gesellschaft, ergänzt werden. Der besondere Fokus auf die politischen Prozesse begründet
sich aus der Tatsache, dass die chinesischen Kommunisten selbst unter Mao Tsetung das
Primat der Politik verfolgten.
Ziel ist es, durch das hermeneutisch-interpretative Studium der relevanten, aufgrund des
Sprachproblems leider vornehmlich westlichen Literatur, zu einem Verständnis der noch
revolutionären und eventuell krisenbewältigenden Verhältnisse in der volksrepublikanischen
4
chinesischen Gesellschaft zu kommen. Ein Problem ergibt sich hierbei aus der oftmals extrem
pro- bzw. antimaoistischen Haltung der Autoren. Dieses Problem wird reflektiert und für die
Arbeit der Versuch unternommen, trotzdem einen neutralen Standpunkt zu erarbeiten.
Da es sich bei der Arbeit, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, im besten Falle um die
Grundlegung eines zu einem späteren Zeitpunkt wesentlich umfangreicher auszuführenden
Forschungsgegenstand handelt, ist der Betrachtungsgegenstand der vorliegenden Arbeit
gezwungenermaßen stark zu fokussieren. Daher erfolgt eine Beschränkung (neben der
historisch-systemischen Betrachtung) diesmal auf die politische Agitation und ihre
Auswirkung auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse. Vor allem die Betrachtung der
Grundlagen und die Entwicklung der maoistischen Rezeption Marxistisch-Leninistischer
Theorie kann hier nur angerissen werden und bedarf einer gründlichen Ausarbeitung an
anderer Stelle.
Aus den nämlichen Platzgründen muss auf die biografische Einführung der historischen
Protagonisten, mit Ausnahme von Mao Tsetung, ebenso verzichtet werden wie auf die
systemische und begriffliche Erläuterung von bereits in den vorangegangenen Arbeiten
abgehandelten Gegenständen.
Die in der Literatur höchst unterschiedliche Schreibweise der chinesischen Eigennamen und
Orte wird der jeweilig relevanten Literatur entnommen und zur besseren Lesbarkeit vom
Verfasser vereinheitlicht. Außerdem wird für diejenigen Protagonisten, die in der
fortführenden Arbeit wieder auftauchen werden, die moderne Schreibweise verwand (z.B.
Deng Xiaoping).
Ende 1943 begann eine Gruppe hochrangiger Genossen damit, die Parteigeschichte
umzuschreiben, so dass Mao künftig unverrückbar in deren Mittelpunkt stand.1
Diese Tatsache ist wohl bewusst, da aber seit diesem Zeitpunkt anders geartetes Material so
gut wie nicht mehr zugänglich ist, wurde versucht, diesem Umstand durch eine ausgewogene
Rezeption sowohl pro- als auch antimaoistischer Quellen Rechnung zu tragen. Darüber hinaus
wird dem Leser ebenfalls empfohlen, diesen Sachverhalt entsprechend zu würdigen.
Der erste Hauptpunkt unter Kapitel 2 befasst sich mit der persönlichen politischen Biografie
Mao Tsetungs und der Genese der KPCh bis zur Gründung der Volksrepublik China 1949. In
1
Vgl. Spence, Jonathan: „Mao“, München, 2003, S. 146
5
Kapitel 3 werden dann die regulativen Maßnahmen und deren Auswirkungen der chinesischen
Kommunisten bis zum Beginn der Kulturrevolution 1965 untersucht. Kapitel 4 ist mit den
speziellen Vorgängen in der Kulturrevolution und der Frage der Nachfolge Maos nach dessen
Tod 1976 befasst. In Kapitel 5 werden die allgemeinen regulativen Prozesse und die
regulativen ökonomischen und ideologischen Prozesse im Besonderen während der gesamten
Zeit der Volksrepublik unter Mao Tsetung beleuchtet.
2.
Die Genese des chinesischen Kommunismus und der KPCh
mit und durch Mao Tsetung bis zur Ausrufung der
Volksrepublik 1949
Bei seinem Interview mit Mao Tsetung 1936 stellte Edgar Snow überrascht fest, dass Mao
während des Gespräches über seine persönliche Lebensgeschichte immer häufiger von der
Ich-Form in die Wir-Form wechselte. Er hatte sich in den Verlauf der großen Bewegung
sublimiert, in der man ihn, obwohl er eine dominierende Rolle behielt, nicht mehr klar als
Persönlichkeit erkennen konnte. Es war nicht länger Mao Tsetung, sondern die Rote Armee;
nicht länger ein subjektiver Eindruck der Erfahrung eines einzelnen Lebens, sondern der
objektive Bericht eines Beobachters, der sich mit den Veränderungen der kollektiven
menschlichen Bestimmung als dem Material von Geschichte beschäftigte. Gegen Ende des
Interviews wurde es für Snow immer notwendiger, ihn nach seiner Person zu befragen.
Was tat er zu der Zeit? Welchen Posten hatte er damals? Was war seine Haltung in dieser oder
jener Situation?2
Diese Anekdote belegt auf eindrucksvolle Weise, wie intensiv sich Mao Tsetung mit der
chinesischen Revolution und den chinesischen Kommunisten identifizierte. Umgekehrt sind
die Genese des chinesischen Kommunismus, der Bürgerkrieg gegen die KMT, die Gründung
der Volksrepublik und die Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft mit dem Wirken und
der Wirkung von Mao Tsetung untrennbar verbunden. Bis zu seinem Tod war er der geistige,
politische und ideologische Führer Chinas, in der Volksrepublik wurde er sogar kultisch
verehrt. Dieser Sachverhalt bestimmt daher nicht nur den methodischen roten Faden dieser
2
Vgl. Snow, Edgar: „Roter Stern über China“, Augsburg, 1993, S. 216
6
Arbeit, sondern gibt auch Anlass für die folgende Betrachtung der persönlichen Entwicklung
Mao Tsetungs.
2.1
Mao Tsetungs Herkunft und Heranwachsen
Mao Tsetung wurde am 26. Dezember 1893 in Schaoschan, einem Dorf in der Provinz Hunan
geboren3, als einer von fünf Söhnen (und zwei Töchtern) einer zunächst armen Bauernfamilie,
die allmählich in den Status von Mittelbauern aufstieg und schließlich zu den reichen Bauern
zählte, die Getreidehandel betrieben.4 Damit befand er sich von Anfang an in einer
widerspruchsvollen Zwischensituation. Einerseits war die materielle Situation seiner Familie
besser als die der Nachbarschaft, die oftmals nicht einmal genug zu essen hatten, andererseits
ließ die väterliche Uninteressiertheit an einer Ausbildung seines Sohnes, die zu mangelnden
Ungangsformen im Umgang mit den Kindern der Grundbesitzer führten, eine ambivalente
Haltung zu den sozialen Problemen entstehen. Das rebellische Verhalten eines minderwertig
Behandelten verband sich mit dem Gefühl der Solidarität mit den Bessergestellten.5
Allgemein lassen jedoch die wenigen Zeugnisse über Maos Kindheit und Jugend auf ein
zeitloses, in den unwandelbaren Traditionen des ländlichen China verwurzeltes Erwartungsund Verhaltensmuster schließen.6
Eine
fünfjährige
Schulbildung
und
die
Verehrung
der
klassischen
chinesischen
Heldengeschichten machten aus dem sehr jungen Mao tatsächlich zunächst einen Anhänger
der Monarchie mit durchaus konservativen Ansichten.7
Die Lektüre der Berichte über die Herrscher des alten China: Yao, Shun, Ch`in Shih Huang Ti
und Han Wu Ti sowie die das Buch „Große Helden der Welt“ mit Berichten über Napoleon,
Peter dem Großen, Washington, Rousseau, Montesquieu usw., erweckte nach eigenen
Aussagen Maos Wunsch nach weiterer Bildung an der Mittelschule in Changsha.8
Dort las er zum ersten Mal eine Zeitung und wurde von den Berichten über die Revolution
von 1911 derart angeregt, dass er beschloss, sich den revolutionären Truppen in Wuhan
anzuschließen.9 Doch er benötigte noch einige Zeit, um sich für die regenreiche Gegend um
Wuhan passendes wasserdichtes Schuhwerk zu besorgen. Da in der Zwischenzeit die
3
Vgl. Schram, Stuart: „Mao Tse-Tung“, Frankfurt am Main, 1969, S. 11
Vgl. Schram, Stuart: „Das Mao – System“, München, 1972, S. 18
5
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 18
6
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 20
7
Ebd. S. 22 - 23
8
Vgl. Snow, Edgar, 1993, S. 175 - 176
9
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 31
4
7
Revolutionstruppen aber bereits in seiner Stadt angekommen waren und er von der schlechten
Führung dieser Truppen mittlerweile überzeugt war, schloss er sich den regulären, inzwischen
ebenfalls republikanischen Truppen an. Nach sechs Monaten ohne jegliche Feindberührung
schied er wieder aus der Armee aus (er war der Meinung, die Revolution sei siegreich
beendet) und widmete sich wieder seinen Büchern.10
Zunächst wendete er sich wieder dem Selbststudium zu. Er studierte Werke von A. Smith, Ch.
Darwin, J.S. Mill, Rousseau und Spencer und erstellte Studien über die Geschichte und
Geographie Russlands, der Vereinigten Staaten, Englands, Frankreichs und anderer Länder.11
1913 erhielt er die Zulassung zum Lehrerseminar der Provinz Hunan in Changsha, das er
1918 erfolgreich abschloss. Er stieß dort auf einige gute Lehrer, die ihn förderten, besonders
der Professor für Ethik, Yang Ch`ang-chi, nahm sich seiner an und half ihm, seinen Horizont
vor allem in philosophischer Hinsicht zu erweitern.12
Mao folgte nach seinem Abschluss 1918 Yang Ch`ang-chi, der einen Ruf an die dortige
Universität erhielt, nach Peking, wo Yang ihm eine Anstellung als Hilfskraft in der
Universitätsbibliothek verschaffte. Dort machte er die Bekanntschaft mit den Professoren Li
Ta-chao und Ch`en Tu-hsiu (den späteren Gründern der KPCh) und wurde dadurch zum
ersten Mal ernsthaft mit der marxistischen Theorie und den Ideen der Bewegung vom 4.Mai
1919 konfrontiert.13
Den 4. Mai 1919 selbst erlebte Mao jedoch bereits als Geschichtslehrer an der Grund- und
Mittelschule in Changasha, da er wegen der Erkrankung seiner Mutter in die Heimatprovinz
zurückgekehrt war.14
Das heißt aber nicht, dass er dort untätig geblieben wäre. Er publizierte mehrere politische
Schriften, gründete die „Studentenvereinigung von Hunan“, organisierte Streiks und
Demonstrationen und wandte sich verstärkt der Marxistisch-Leninistischen Literatur zu.15
Nach dem Tod seiner Mutter ging Mao wieder nach Peking. Dort intensivierte er den Kontakt
zu Li Ta-chao und Ch´en Tu-hsiu und las nach eigenen Angaben das „Kommunistische
Manifest“, Kautskys „Klassenkampf“ und Kirkups „Geschichte des Sozialismus“. Er sagt
dazu: „Bis zum Sommer 1920 war ich in der Theorie und bis zu einem gewissen Grad auch in
der Praxis Marxist geworden, und von dieser Zeit an betrachtete ich mich als Marxisten.“16
10
Ebd. S. 31 + 34
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 29
12
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 45 - 48
13
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 27
14
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 61
15
Ebd. S. 61 - 66
16
Vgl. Snow, Edgar, 1993, S. 197
11
8
Zwischenzeitlich war er wieder nach Changasha zurückgekehrt, hatte eine Anstellung als
Rektor der dortigen Grundschule, betrieb den Buchladen der „Kulturellen Buchgemeinschaft“
und widmete sich mit ganzer Kraft dem Kampf für die Unabhängigkeit Hunans.17
2.2
Mao Tsetung und die KPCh bis 1935
Die im März 1919 von Lenin einberufene „Dritte Internationale“, auch „Komintern“ genannt,
war der weltweit operierende Arm der sowjetischen kommunistischen Partei. Die Komintern
sandte 1920 Vertreter nach China, um die Gründung einer kommunistischen Partei in China
voran zu treiben. Diese erkannten in Li Ta-chao und Ch´en Tu-hsiu die beiden prominentesten
chinesischen Intellektuellen, die sich für den Marxismus interessierten.
Gemeinsam beschlossen sie nach mehreren Beratungen die Gründung von kommunistischen
Gruppen in sechs chinesischen Städten, darunter auch Changsha, wo sich Mao immer noch
aufhielt.18
Am 23. Juli 1921 trat der erste Kongress der kommunistischen Partei Chinas (KPCh)
zusammen. Insgesamt nahmen 15 Vertreter teil, die die 53 damaligen chinesischen
Kommunisten repräsentierten, unter ihnen Mao Tsetung als Delegierter der ChangshaGruppe. Sein guter Kontakt zu den beiden Parteigründern Li Ta-chao und Ch`en Tu-hsiu war
wohl für die Übernahme dieses Mandates nicht unerheblich.19
Mao kehrte im August 1921 mit dem Auftrag, die Partei in Hunan aufzubauen, nach
Changsha zurück. Er begann sofort in seinem Bezirk mit dem Aufbau der politischen Bildung
durch die Gründung der „Hunan-Universität für das Selbststudium“, sorgte für die
Etablierung von Gewerkschaften und organisierte Streikbewegungen und Demonstrationen.20
Bis zu den Ereignissen des 30. Mai 192521 scheint es, als ob Mao in seiner Arbeit in der
KPCh, neben seinem starken nationalistischen Streben, eher die leninsche Linie, die dieser auf
dem 2. Kongress der kommunistischen Internationale gegen M. N. Roy vertrat22, verfolgte.
17
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 71 - 74
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 77
19
Ebd. S. 83 - 84
20
Ebd. S. 88 + 90 - 91
21
Kommunistische und nationalistische Kader organisierten 1925 die Gewerkschaften Shanghais in einer
Föderation. Bei Demonstrationen für die Beendigung der exterritorialen Sonderrechte ausländischer
Konzessionen am 30. Mai feuerte britische Polizei auf die Demonstranten, von denen mehrere starben.
22
Der Streitpunkt zwischen Lenin und Roy, der uns hier interessiert, war die Beziehung zu den bürgerlichen
Revolutionären. Lenin sprach sich für eine Zusammenarbeit mit den bürgerlich - demokratischen Bewegungen
aus, Roy hingegen forderte die unbedingte Führung des Proletariats, d.h. der kommunistischen revolutionären
Bewegung von Anfang bis zum Ende. Lenin erachtete dies ebenfalls als wünschenswert, sah sich aber seinem
18
9
Das wird z.B. an Maos Zustimmung zur Zusammenarbeit mit der bourgeoisen Kuomintang,
aber auch an seiner damaligen Unterbewertung des revolutionären Potentials der Bauernschaft
deutlich.23 Erst sein Aufenthalt in Hunan, wo er im Auftrag der Kuomintang seine berühmte
Studie über die hunaner Bauernschaft erstellt, lässt ihn einsehen, was die KPCh schon 1922
auf ihrem zweiten Kongress festhielt: „Dreihundert Millionen chinesischer Bauern sind der
wichtigste Faktor unserer revolutionären Bewegung (...) Wir können annehmen, daß die
chinesische Revolution einen schnellen Erfolg erringen wird, wenn sich die Mehrzahl der
Bauern mit den Arbeitern vereint.“24
Das Versäumte holte Mao jedoch schnell nach. Wie er Edgar Snow in seinem Interview 1936
selbst erklärte, widmete er sich von da an durch die Übernahme der entsprechenden Gremien
in der KMT, der KPCh und der Bildung von Bauernvereinigungen vor Ort, sehr intensiv der
Bauernbewegung.25
Maos Bruch mit der Bourgeoisie war damit aber noch nicht gereift. Obwohl er Chiang
Kaisheks Kompromissbereitschaft mit dem Ausland und die Vernachlässigung der
Bauernrevolution zugunsten der Interessen von Chiangs bürgerlichen Hintermännern heftigst
kritisierte, hielt er, wahrscheinlich wegen der gemeinsamen nationalistischen Position, länger
als die meisten Kommunisten an der Zusammenarbeit mit dem linken Flügel der KMT fest.26
Chiang Kaishecks Verrat und das folgende Massaker an den Kommunisten 1927 beendet
schlagartig die Einheitsfront zwischen KPCh und KMT.27 Mit der Veröffentlichung seiner
„Untersuchung der Bauernbewegung in Hunan“ im selben Jahr vollendete Mao seine
Metamorphose zum Befürworter und Anführer der Bauernrevolution und entwickelte damit
seine eigentliche Position einer revolutionären Strategie in China. In diesem Punkt wich er
auch von Lenins Revolutionstheorie ab, die die Führung der Bauern zwingend dem Proletariat
zuschreibt und appellierte von da an stetig an die eigene revolutionäre Kraft der Bauern.28
Mao Tsetung zieht sich noch 1927 mit Teilen der kommunistischen Streitkräfte auf die
Bergfestung Tsching-kan-schan zurück. Dort beschäftigte er sich, immer wieder von den
„Vernichtungsfeldzügen“ der KMT bedroht, mit dem systematischen Aufbau der
Volksbefreiungsarmee (Rote Armee), mit der Durchführung von Bodenreformen zugunsten
Realismus verpflichtet und räumte daher der Bourgeoisie die Führung der kolonialen Revolution ein. Solange bis
die dortigen Kommunisten selbst in der Lage waren die Regie zu übernehmen.
23
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 34 - 38
24
Siehe Schram, Stuart, 1972, S. 38
25
Vgl. Snow Edgar, 1993, S. 203 - 204
26
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 43
27
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 99
28
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 44 - 47
10
der armen Bauern und mit der Massenmobilisierung durch politische Bildung. In dem 1930
eingerichteten Rätegebiet von Südwest-Kiangshi entwickelte Mao seine Position zur Strategie
der Verlegung des Kampfes von den Städten auf das Land und seine Form der bis 1949
praktizierten Guerillataktik. Seine sozialrevolutionäre Theorie zur chinesischen Landreform
und seine Haltung zur Notwendigkeit, die marxistisch-leninistische Theorie an die real
vorgefundenen chinesischen Gegebenheiten anzupassen, machten ihn seither zu einem
Hauptvertreter der sog. „Sinisierung“ des Kommunismus.29
Bei letzterem ging es Mao vor allem um eine absolut autonome kommunistische Bewegung in
China, eine Bewegung also mit ihrer eigenen, den spezifischen chinesischen Verhältnissen
angeglichenen Ideologie.30
Während einer Pause auf dem „Langen Marsch“, aus der Einkesselung der Kommunisten in
Kiangshi quer durch China, wurde am 15. Januar 1935 in Zhunyi ein „erweitertes Treffen des
Politbüros“ einberufen. Das überzeugende Auftreten Maos auf dieser Versammlung brachte
im erstmals eine einflussreiche offizielle Führungsposition innerhalb der KPCh ein.31
Als sich im Herbst 1935 der „Lange Marsch“ seinem Ziel in der Provinz Shensi näherte, hatte
Mao die Herrschaft über die kommunistische Partei übernommen, was nicht heißen soll, seine
Autorität wäre während der nächsten Jahre völlig unangefochten geblieben. Die Jahre nach
der Festsetzung der Kommunisten und des erneuten Aufbaus von Sowjets in dieser
nordwestlichen Provinz waren zunächst einmal mit einem dreifachen Kampf ausgefüllt, gegen
Japan, gegen die KMT und gegen Moskau.32
2.3
Mit Marx und der Bauernschaft gegen Japan und die Kuomintang
Die seit 1932 unausgesetzten, ständigen japanischen Aggressionen waren es in der
Hauptsache, die die Bevölkerung, über die eigenen Bemühungen der Kommunisten hinaus, in
einer Weise mobilisierten, dass diese forthin nicht mehr nur an den Landhunger der Bauern
appellieren, sondern sich auch auf den unfassenden Imperativ der nationalen Rettung berufen
29
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 137 - 145
Dazu Mao Tsetung auf der sechsten Vollversammlung der KPCh 1938: „Ein Kommunist ist ein marxistischer
Internationaler, aber Marxismus muß nationale Gestalt annehmen, bevor er verwertet werden kann. Es gibt
keinen abstrakten Marxismus, sondern nur einen konkreten Marxismus. (...) Folglich wird die Sinisierung des
Marxismus - das heißt die Sicherstellung, daß er in allen seinen Manifestationen von chinesischen Eigenheiten
durchtränkt ist - zur Aufgabe, die ohne Verzögerung von der ganzen Partei erkannt und gelöst werden muß.“
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 219 - 221
31
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 124 - 125
32
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 188
30
11
konnten. Erst dies schuf die Bedingungen, unter denen Mao die Guerillataktik vollständig
entwickeln und anwenden konnte, die schließlich die Kommunisten zum revolutionären Sieg
führte.33
Unter dem Menetekel des nationalen Abwehrkampfes gegen Japan gelang auch die formale
Neuauflage der „Einheitsfront“ von KMT und KPCh, ohne dass selbstverständlich weder Mao
noch Chiang Kaisheck ihren alleinigen Machtanspruch aufgaben.34
Das Problem mit der Sowjetunion erwies sich als schwieriger. Stalin verfolgte zu der Zeit
zwei verschiedene, aber untereinander verbundene Ziele, die beide für Mao Tsetung
unannehmbar waren. Erstens sollte vermieden werden, dass der Revolution in China zu stark
Vorschub geleistet wurde, wenn das Moskaus diplomatische Position gefährdete, und
zweitens sollte die sowjetische Führung und Kontrolle über die kommunistische Bewegung in
China abgesichert werden. Obwohl sich die Form, in der sich diese Streitfragen präsentierten,
in den kommenden Jahren beträchtlich veränderte, blieben doch die beiden grundlegenden
Spannungen während der ganzen Periode zwischen 1935 und 1949 erhalten.35
Die antijapanische Einheitsfront mit der KMT nutzte Mao, um mit dem kampfbedingten
Aufbau immer neuer Guerillastützpunkte den politischen Einfluss der Kommunisten in ganz
China auszubauen. Eine Strategie, die sich als sehr nützlich erwies, als 1941 (aufgrund eines
a.a.O. bereits beschriebenen Zwischenfalls) die Einheitsfront zerbrach und jede praktische
Zusammenarbeit von KMT und KPCh endete.36
Als nach der Kapitulation Japans der offene Bürgerkrieg zwischen den Kommunisten und der
KMT ausbrach, war es (neben der tatkräftigen Unterstützung durch die Sowjetunion)
wiederum der revolutionäre Kampf auf dem Lande, der die Unterstützung der Bevölkerung
auf der Grundlage des nationalen Interesses und des Interesses an einer Bodenreform
brachte.37
Die seit 1943 von Mao vertretene „Massenlinie“38 war nur zu geeignet, das nationale Interesse
der Bevölkerung und das Schicksal Chinas mit seiner Person zu verknüpfen. So bemerkte
auch US-Präsident Johnson, dass der Appell an das nationale Interesse entscheidend bei der
33
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 54
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 188 - 189
35
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 189
36
Ebd. S. 217
37
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 58
38
Ein Dialog von Partei und Bevölkerung in der Art eines hermeneutischen Zirkels, bei dem die gesammelten
Meinungen der Massen in der Partei verarbeitet und die Ergebnisse wiederum in die Massen getragen werden.
Was zu einer spiralförmigen Verbesserung des Einverständnisses zwischen Bevölkerung und Partei führt.
34
12
Machtergreifung Maos war. „Mao kam an die Macht, weil er in den Augen der meisten
Chinesen das Schicksal Chinas verkörperte.“39
Aber Mao überließ diese Haltung nicht dem Zufall. Mit seiner „Überwindungsbewegung“ von
1942-44 sollten zwei Aspekte verfolgt werden. Erstens die Disziplinierung neuer, während
des Krieges aufgenommener Mitglieder der KPCh und zweitens die Einschwörung des
ideologischen Bewusstseins der Parteimitglieder auf eine besondere und charakteristische,
direkt von Mao inspirierte Richtung. Mao wollte, kurz gesagt, die „Sinisierung“ des
Marxismus.40
1943 entstand in Yanan erstmals etwas, das als Mao-Kult bezeichnet werden könnte.
Anlässlich seiner Ernennung zum Vorsitzenden des Zentralkomitees der kommunistischen
Partei und Vorsitzender des Politbüros in Personalunion wurde verkündet, dass China in Mao
nun einen wahren Führer gefunden habe. Es sei offensichtlich, dass Mao im Zentrum jeglicher
revolutionärer Geschichte stehe. In Zukunft solle das chinesische Volk „sich mit den
Gedanken des Genossen Mao Tsetung bewaffnen und Genosse Mao Tsetungs Methode
benutzen, um abweichendes Gedankengut innerhalb der Partei zu liquidieren“.41
Auf dem siebten Kongress der KPCh von Ende April bis Mitte Juni 1945 wurde eine neue
Präambel der Parteistatuten präsentiert. In völlig neuer Sprache und Sinngebung wurde dort in
aller Deutlichkeit statuiert: „Die kommunistische Partei Chinas macht die Mao-TsetungGedanken – jene Gedanken, die den Marxismus-Leninismus mit der Praxis der chinesischen
Revolution in Einklang bringen – zur Leitlinie ihrer gesamten Arbeit und wendet sich gegen
jede Art von dogmatischer oder empiristischer Abweichung.“ Der Marxismus war sinisiert:
Der Führer war der Weise.42
Dies war auch noch die Ausgangssituation als „der Weise“ 1949, nach dem endgültigen Sieg
über die KMT, die Volksrepublik China ausrief und mit der Umgestaltung der chinesischen
Gesellschaft begann.
39
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 59
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 218
41
Vgl. Spence, Jonathan, 2003, S. 145 - 146
42
Ebd. S. 146 - 147
40
13
3.
Die Volksrepublik China
Wenn man vom Boxeraufstand um 1900 aus rechnet, war China 1949, nach einem halben
Jahrhundert
des
Kampfes,
der
politischen
Unstabilität
und
der
revolutionären
Auseinandersetzungen, erstmals an einem Punkt angelangt, an dem die demokratische
Revolution als vollendet betrachtet werden kann. Von dort aus konnten die Kommunisten also
erstmalig mit einem regulativen Umbau der Gesellschaft im Sinne einer sozialen Revolution
beginnen. Die Perspektive der unmittelbar bevorstehenden Machtübernahme und die damit
verbundenen schweren Aufgaben schweißte zunächst die Partei zu einer engen
Aktionsgemeinschaft zusammen.43
Zwölf Jahre Krieg lagen hinter den Chinesen. Die Landwirtschaft lag am Boden, das
Bewässerungssystem war durch wiederholte Sprengungen der Deiche außer Kontrolle
geraten, die Industrie weitgehend zerstört, die Infrastruktur ein Trümmerhaufen und das
Geldwesen durch eine galoppierende Inflation ins Groteske aufgebläht.44
Ironischerweise war es Mao, und nicht seine Kampf- und Parteigenossen Liu Sha-Ch`i und
Deng Xiaoping45, der für eine ausgesprochen pragmatische politische Generallinie plädierte,
indem er auf dem zweiten Plenum des Siebten ZK vom März 1949 erklärte, dass die
agrarrevolutionäre Phase der Bewegung beendet sei und von nun an die Verlagerung des
Schwerpunktes der Parteiarbeit vom Land in die Städte forderte.
Die schwer angeschlagene urbane Wirtschaft musste umgehend wieder aufgebaut werden um
zu verhindern, dass Arbeitslosigkeit und schlechte Lebensverhältnisse zur Unzufriedenheit
mit der KPCh führen.46 Die Truppen der Roten Armee wurden beauftragt, in den Städten für
Ordnung zu sorgen, und sog. Übernahmekomitees besetzten Banken, Fabriken, Behörden und
Kasernen. Bis 1951 waren die meisten Großbetriebe, die sich vorher in ausländischer oder
„Kompradoren“-Hand befunden hatten, in Volkseigentum überführt worden.47
Die Kommunisten waren sich darüber im Klaren, dass sie zu wirtschaftlichem Erfolg
verurteilt waren. Die wichtigste Aufgabe bestand jedoch darin, die Bevölkerung zu ernähren.
Für die zu diesem Zweck beabsichtigte Konsolidierung der fragmentierten Einzelparzellen zu
landwirtschaftlichen Genossenschaften, deren Produktionserfolge an eine intensivere
43
Vgl. Hoffmann, Rainer: „Kampf zweier Linien“, Stuttgart, 1978, S. 11
Vgl. Weggel, Oskar: „Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert“, Stuttgart, 1989, S. 140
45
Im Hinblick auf die zukünftige Bearbeitung des Themas verwenden wir bei Deng Xiaoping bereits jetzt die
neue Schreibweise um eine bessere Verständlichkeit und Kontinuität im Folgenden zu erreichen.
46
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 12
47
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 140 - 141
44
14
Mechanisierung geknüpft waren, bedurfte es eben einer schnellen Industrialisierung des
städtischen Sektors.48
Bis 1952 konnte so der Bruttoproduktionswert von Industrie und Landwirtschaft von 46,6
Mrd. Yuan auf 82,7 Mrd. Yuan (in Preisen von 1952) mehr als verdoppelt werden, der Anteil
der Industrieproduktion wurde dabei um 11,4% auf ein Verhältnis von 41,5% : 58,5%
gegenüber der Landwirtschaft gesteigert. Die Inflation wurde eingedämmt, das patriarchale
Familienrecht des alten China durch ein Ehegesetz 1950 endgültig gebrochen, die
Bodenreform weiter vorangetrieben und durch das ebenfalls 1950 erlassene Gewerkschaftsgesetz wurden Arbeitergewerkschaften mit einem rechtlichen Status versehen.
Diese überaus erfolgreiche erste Regulierungsphase bis 1952 wurde von der chinesischen
Bevölkerung mit einer überwältigenden Zustimmung zur Kommunistischen Partei und zu
Mao Tsetung honoriert.49
Gleichzeitig setzten jedoch bereits die ersten Kampagnen zur Bewusstseinsveränderung ein,
die deutlich Maos Handschrift tragen und dabei doch zeitweise eher an Sullas oder Cäsars
Proskriptionsgesetze gegen Ende der römischen Republik erinnern. Sechs totalitäre
Kampagnen waren es, die im Zeitraum 1949/52 der alten chinesischen Gesellschaft den
Todesstoß versetzten. Neben der antifeudalistischen „Ehereform-Kampagne“ und der
„Kampagne zum Widerstand gegen Amerika und zur Hilfe für Korea“ wurden vor allem die
Kampagnen
der
Bodenreform
zur
Enteignung
der
Grundbesitzer;
gegen
die
Konterrevolutionäre zur Beseitigung politischer Gegner; die „Gedankenreform“ gegen
kritische Intellektuelle und die „Drei- und Fünf-Anti“-Kampagnen gegen Korruption,
Verschwendung und Bürokratismus der eigenen Kader bzw. gegen Bestechung,
Steuerhinterziehung,
Betrug,
Veruntreuung
von
Staatseigentum
und
Verrat
von
Staatsgeheimnissen der Bourgeoisie, ob der Hunderttausende von Schauprozessen und
Hinrichtungen berühmt.50
In all diesen Kampagnen erlebte die einfache chinesische Bevölkerung (vor allem auf dem
Land) zum ersten Mal überhaupt, dass es sich straflos an den ehemaligen Herren und
Vorgesetzten durch Demütigung und sogar Tötung rächen konnte, in dieser Zeit stieg die
persönliche Verehrung im sog. Mao-Kult auf einen vorläufigen Höhepunkt, den er erst wieder
in der Kulturrevolution erreichen sollte.51
48
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 12
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 141 - 146
50
Ebd. S. 148 - 165
51
Ebd. S. 150 - 151
49
15
Mit dem ersten Fünfjahresplan begann 1953 die wirtschaftspolitische Annäherung an das
sowjetische Vorbild. In diesem sollte der für die weitere moderne Entwicklung
ausschlaggebende schwerindustrielle Sektor entscheidend vorangetrieben werden. Es wurden
über 700 Großprojekte auf den Gebieten Stahl- und Eisenverarbeitung, Energiewirtschaft,
Maschinenbau und Transportwesen in Angriff genommen, um endlich in das 20. Jahrhundert
vorzustoßen.52 Chou Enlai, Liu Shao-Ch`i und Deng Xiaoping zeigten sich mit der moderaten
Entwicklung (mit immerhin ca. 15% jährlichem industriellen Wachstum) und der gelungenen
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rekonstruktion Chinas, anlässlich des Achten
Parteitages der KPCh im September 1956 sehr zufrieden. Mao Tsetung fürchtete jedoch,
angesichts des enorm angewachsenen Parteiapparates, der Spezialistenbildung und der
Abkehr der Partei von der Massenlinie sowie ihrer Politik der kleinen Schritte, eine
Bedrohung für die Ziele der Revolution durch Verkrustung und eine neuen Klassenherrschaft.
Mao glaubte, China schicke sich an, seine kommunistische Zukunft für das Linsengericht
einer effizienten Wirtschaftsgesellschaft zu verkaufen.53
Aus diesen Gründen und um einer Eskalation wie im ungarischen Aufstand zu vermeiden, rief
Mao 1957, per ZK-Beschluss zur Kampagne der „Hundert Blumen“ auf. Um den
„Widersprüchen im Volk“ zu begegnen forderte er Intellektuelle, Wissenschaftler und
Künstler auf, unter dem Motto: „Wettkampf von hundert Schulen, die wie hundert Blumen
blühen“ offen ihre Kritik an den Parteiinstitutionen und den herrschenden Zuständen zu
äußern. Als jedoch nach anfänglicher Verhaltung ein wahrer Sturzbach von Anschuldigungen,
zuerst über einzelne Parteiausschüsse und dann über das gesamte KP-System als solches
hereinbrach, zog das ZK die Notbremse und startete eine „Rechtsabweichler-Kampagne“ zur
Disziplinierung und Bestrafung der Kritiker. Die Bevölkerung war zutiefst irritiert und Mao
musste vorerst noch einmal zurückziehen.54
Er sollte aber schon bald im Sinne seiner, später noch zu besprechenden, Auffassung einer
notwendigen „permanenten Revolution“ zu einem neuen Angriff auf die Bürokratisierungstendenzen seiner Partei anheben.
52
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 15
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 16 - 17
54
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 193 - 194
53
16
3.1
Der Große Sprung
Als 1953 der erste Fünf-Jahres-Plan mit Hilfe sowjetischer Berater zustande kam, wurde für
China
ein
Wirtschaftsmodell
nach
sowjetischem
Vorbild
entworfen,
ohne
die
unterschiedlichen Ausgangslagen zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu Russland stützte sich
die chinesische Industrie bis 1957 (als mit Unterstützung der Sowjetunion neue Fabriken
errichtet wurden) nahezu ausschließlich auf den in der Mandschurei konzentrierten und für
das Bruttosozialprodukt praktisch unbedeutenden Industriestand von vor 1949.55 In der
Generallinie des Fünf-Jahres-Plans war deshalb ein deutliches Schwergewicht auf die
Entwicklung der Schwerindustrie gelegt. Die Terms of Trade in der parzellierten
Landwirtschaft waren aber nicht im Geringsten in der Lage, die für die Finanzierung der
benötigten industriellen Infrastruktur unerlässliche Kapitalakkumulation zu erbringen. Um die
Überschüsse in der Landwirtschaft zu verbessern, wurde deshalb ab Januar 1954 die
Genossenschaftsbildung forciert und bis Ende 1956 war die gesamte Landwirtschaft in LPGs
organisiert.56
Die landwirtschaftlichen Überschüsse waren aber immer noch ungenügend, und der Prozess
der Industrialisierung war für Mao immer noch zu langsam. Deshalb bewegte er bereits 1955
das widerstrebende ZK dazu, von der ursprünglichen Generallinie (die von der Sowjetunion
unterstützt und bevorzugt wurde) abzuweichen und die Gangart deutlich zu beschleunigen,
obwohl es bereits deutliche Anzeichen für eine Überforderung der Produktivkraftentwicklung
gab.57
Auf dem 2. Plenum des VIII. ZK vom 5.-23.05.1958 setzt Mao mit seinen Anhängern, gegen
den Widerstand der Gemäßigten um Liu und Deng, eine neue Generallinie, deren Richtlinien
die „Drei Roten Banner“ genannt wurden, durch und rief zum „Großen Sprung“ auf. Die
Absicht war, ein mobilisatorisches Wunder zu erwirken, das nicht nur zu einer revolutionären
Neubesinnung führen, sondern darüber hinaus die Wirtschaftsentwicklung vorankatapultieren
sollte.58
Der Weg für den „Großen Sprung“ sollte nach Maos Ansicht zum einen über die Errichtung
von Volkskommunen in der Landwirtschaft (mit dem Ziel einer nochmaligen deutlichen
Ertragssteigerung) und zum anderen über ein Programm für die Stahlherstellung in kleinen
55
Vgl. Deleyne, Jan: „Die chinesische Wirtschaftsrevolution“, Reinbek bei Hamburg, 1972, S. 17
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 18 - 19
57
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 188 - 189
58
Ebd. S. 207 - 210
56
17
Mengen auf dem Lande führen.59 Wie immer bei Mao, sollte auch diesmal der Wille über die
Realität von Produktionsverhältnissen und Produktionskraftentwicklung triumphieren.
Ein Verwaltungsapparat sollte errichtet werden, der den Einsatz menschlicher Arbeitskraft
(statt der seltenen Maschinen) und die Bestellung der Felder in großen Einheiten so
organisierte, dass die Benutzung von Traktoren möglich würde. Die bereits bis Ende 1958
abgeschlossene Umorganisation in Volkskommunen verfolgte dabei noch zwei weitere Ziele.
Erstens sollte die Staatsaufsicht über das Leben der Individuen derart verstärkt werden, dass
rivalisierende Strukturen, wie z.B. die Familie, geschwächt wurden und zweitens wollte man
Russland demonstrieren, dass China bereits zu fortschrittlicheren Formen des Sozialismus
fähig war als die Sowjets.60
Der „Große Sprung“ ist ein einmaliges Phänomen in der Wirtschaftsgeschichte. Obwohl die 6
Mio. Tonnen Stahl, die die chinesische Bevölkerung in kleinen Hochöfen aus
eingeschmolzenen Nägeln und Kochtöpfen produzierte, angesichts der minderwertigen
Qualität eigentlich als Arbeitskraftverschwendung bezeichnet werden müssen, entstand auch
viel Positives in der Zeit von 1958 bis 1960. So konnten viele, vorher mit den Sowjets
errichtete, Fabriken produktiv gemacht und sogar 500 neue gebaut werden. Die Industrie
verzeichnete so Zuwachsraten von 31% (1958), 26% (1959) und 4% (1960), also 20%
Durchschnittswachstum im Vergleich zu 14-15% während des ersten Fünf-Jahres-Plans.61
Dass Maos „Großer Sprung“ letztendlich doch gescheitert ist, hat mehrere Gründe. Zum einen
kam es zwischen 1958 und 1960 zu mehreren Naturkatastrophen und Missernten, welche
Nahrungsmittelengpässe in den Städten und Saatgutknappheit auf dem Land verursachten.
Die Produktion in den Fabriken und Leichtindustrieeinheiten ging zurück, weil die Maschinen
abgenutzt waren und keine Mittel für Ersatzinvestitionen zur Verfügung standen, allgemein
war das Entwicklungstempo zu hoch für die Industrie. Des weiteren zogen die sowjetischen
Berater
wegen
der
beginnenden
politischen
Auseinandersetzung
um
Chinas
Atomwaffenprogramm unvermittelt ab, was zum beschleunigten Zusammenbruch der
Industrieproduktion führte.62 Außerdem hatte Mao (in Fragen der Gestaltbarkeit des
Menschen immer sehr optimistisch) nicht mit den Produktionseinbrüchen in der
Landwirtschaft gerechnet, die vom fehlenden Anreizsystem in den Volkskommunen ausgelöst
wurden. So ging die Getreideproduktion von 200 Mio. Tonnen (1958) auf 143 Mio. Tonnen
59
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 291
Ebd. S. 292
61
Vgl. Deleyne, Jan, 1972 S. 18 - 19
62
Ebd. S. 19
60
18
(1960) zurück, anstatt die geplanten 525 Mio. Tonnen zu erbringen. Die Folge war eine
Hungersnot, die insgesamt knapp 19 Mio. Menschenleben forderte.63
Obwohl also Maos Gedankengang (dass nur die Industrie das agrarische China zur
Großmacht machen kann, weil nur sie, im Gegensatz zur Landwirtschaft, die Maschinen und
Waffen liefern kann, die die Macht des Staates steigern) wohl richtig war und der „Große
Sprung“ ein wichtiger erster Schritt zur Unabhängigkeit Chinas von Russland und der Welt
war (1964 konnte China seine sämtlichen Schulden an die UdSSR zurückzahlen), musste Mao
seine Fehleinschätzung eingestehen und zurückrudern.64
Das sich vor und im „Großen Sprung“ herauskristallisierte Gegenlager zu den „Maoisten“, die
sich um Liu Shao-Ch`i und Deng Xiaoping gruppierenden sog. „Liuisten“ bekamen nun zum
ersten Mal die Oberhand. Sie konnten in der Folgezeit ihren der reinen marxistischleninistischen Lehre treueren und auf absolute Parteidisziplin bauenden Kurs gegen die stets
spontane und pragmatische Linie Maos durchsetzen.
3.2
Liberalisierung und Dissens
Die ernüchternde Erkenntnis, dass ein Kopfsprung in den Kommunismus doch nicht möglich
war, bewog Mao vorerst zum Rückzug, sein Verzicht auf den Vorsitz der Volksrepublik unter
Beibehaltung des Parteivorsitzes und seiner Sonderstellung in der Revolution erfolgte bereits
1958.65 Das bot den Liuisten die Möglichkeit, die radikalsten Beschleunigungsmomente der
„Drei Roten Banner“ zurückzunehmen und zu einem gemäßigteren liberaleren Kurs
überzugehen. So verkündete das ZK der KPCh 1961 vier Grundsätze der künftigen
Wirtschaftspolitik: Anpassung, Konsolidierung, Verstärkung und Verbesserung. Die
Menschen waren erschöpft, der Boden ausgelaugt und die Maschinen waren verschlissen, als
dieses Eingeständnis einer Erholungspause für die Industrie und den langsameren Aufbau auf
dem Land erfolgte. Die wichtigste Erkenntnis der chinesischen Führung in diesem Jahr war
wahrscheinlich die Feststellung, dass der Landwirtschaft wieder der Vorrang vor der
Industrialisierung eingeräumt werden musste, da Nahrungsmittel fehlten und die
Bevölkerungszuwachsrate dennoch zur gleichen Zeit stieg.66 Obwohl das Ziel der
63
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 217
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1972, S. 20 - 21
65
Vgl. Schram, Stuart, 1969, S. 296
66
Vgl. Deleyne, Jan, 1972, S. 16 + 19
64
19
Industrialisierung Chinas nicht aufgegeben wurde, sollte die Landwirtschaft daher wieder die
Wirtschaftsbasis darstellen. China war immer noch mit 80% Landbevölkerung ein Agrarstaat.
Die Landwirtschaft musste daher die Bevölkerung ernähren und die Leichtindustrie mit
Rohstoffen versorgen, daher sollte die landwirtschaftliche Entwicklung nunmehr der
industriellen Entwicklung vorausgehen. Darüber hinaus kam ab 1960 die Leichtindustrie, die
der Befriedigung der Konsumnachfrage dienen sollte, in den Genuss bevorzugter
Investitionshilfen, in deren Folge die Zuwachsraten dieses Sektors im Vergleich zu denen der
Schwerindustrie tatsächlich deutlich stiegen..67
Die faktische Abschaffung der Volkskommunen durch die Wiedergeburt der Privatparzellen
in der Landwirtschaft und die Übertragung der Verfügung über die landwirtschaftlichen
Produktionsmittel auf kleine Arbeitsgemeinschaften war ebenso Bestandteil der neuen Politik
der kleinen Schritte wie die Wiedereinführung der Leistungsprämien in der Industrie.68
Durch die gleichzeitige Konzentration auf Ersatzinvestitionen in der Schwerindustrie konnte
Ministerpräsident Chou Enlai alles in allem für die Zeit von 1963-66 trotzdem auf ein
expansives Wirtschaftswachstum von 15%-20% verweisen.69
Politisch konnte China durch das ständige Tauziehen zwischen Maoisten und Liuisten nach
1960 den Eindruck vermitteln, dass zwei Fahrer am Steuer sitzen, von denen einer
Dauervollgas gibt, während die anderen periodisch auf die Bremse treten, um das Gefährt
zum Stehen zu bringen und überfällige Reparaturen durchzuführen.70 Erst als es den Liuisten
gelang, durch ihren „Berichtigungskurs“ die im „Großen Sprung“ geschundene Wirtschaft im
Laufe der Jahre 1963-65 gesund zu pflegen, verfestigte sich auch ihr politisches Primat.
Zumindest die städtische Bevölkerung konnte vom Liberalisierungskurs überzeugt werden. In
den Jahren nach 1960 sind die chinesischen Arbeiter mehrheitlich Liuisten geworden und bis
heute geblieben (jede Führung in China muss ihre Wirtschaftspolitik an diesem Tatbestand
ausrichten).71
Gegen die Massenlinie setzten die Liuisten die Ideologie der „Selbstkultivierung“, die die
Rolle des Klassenkampfes zugunsten innerparteilicher Disziplin und Selbstkritik zurückdrängt
und außerdem immer wieder betont, dass die eigentliche Qualität eines guten Kommunisten in
67
Ebd. S. 19
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 219
69
Vgl. Deleyne, Jan, 1972, S. 21 - 22
70
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 221
71
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 46
68
20
unausgesetzter Selbstdisziplinierung besteht. Ein Gedanke, der übrigens bruchlos ins
konfuzianische Schema passt.72
Kein Wunder, dass Mao (als Verfechter der Klassenkampfbereitschaft, des flexiblen
Umganges mit Parteibeschlüssen, des Glaubens an die Schöpferische Kraft der Massen und
der permanenten Revolution) sich durch diese Entwicklungen provoziert fühlte. So
verschaffte sich die von den Maoisten seit 1963 aufgebaute und von den Liuisten wiederholt
gebremste Gegenbewegung Maos mit der Vorlage des ZK-Dokumentes der „23 Punkte“ am
14.01.1965 Luft.73
Diese „23 Punkte“ richteten sich vor allem gegen jene Machthaber in der Partei, die den (für
Maos Begriffe) „kapitalistischen“ Weg gingen. Damit wies Mao, als Verfasser der „23
Punkte“ unmissverständlich direkt auf die Parteispitze. Es gelte, gegen die dortigen
„Kapitalisten“ einen „Vernichtungskrieg“ zu führen. Zuvor seien freilich noch die dörflichen
Spitzen-„Kapitalisten“ zur Rechenschaft zu ziehen. Angepeilt war eine zweite Landreform
nach dem ähnlichen proskriptiven Muster wie in den fünfziger Jahren. Träger waren auch
diesmal die örtlichen Bauernverbände (Maos Hausmacht), die angewiesen wurden, die
Dorfkader
festzunehmen
und
auf
demütigende
Weise
(sie
mussten
z.B.
die
„Düsenflugzeughaltung“ einnehmen, bei der der Kopf sich auf Kniehöhe absenkte, während
die Arme senkrecht nach oben wiesen) öffentlich zu verhören.74 Diese Demütigungen fielen
so gründlich aus, dass sich angesichts des drohenden Gesichtsverlustes niemand mehr für
einen Dorfkader zur Verfügung stellte.
Diese Aktionen sind im Zusammenhang und als Vorspiel der bald folgenden
„Kulturrevolution“ zu sehen, in der Mao Tsetung noch einmal verheerend zurückschlagen
sollte. Die Taktik ist offensichtlich. Die Maoisten traten der Schlange zuerst auf den Schwanz
und dann erst auf den Kopf.75
4.
Die „Große Proletarische Kulturrevolution“
Es gibt eine Vielzahl pro- und antimaoistischer Thesen im Zusammenhang mit dem Ausbruch
der Kulturrevolution, die verständlich machen sollen, warum Mao das von ihm geschaffene
Gebäude staatlicher Organisation wieder einriss und erneut eine Welle revolutionärer
72
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 229
Ebd. S. 231 + 236
74
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 236 - 237
75
Ebd. S. 237
73
21
Anarchie riskierte. Zwei dieser Thesen sollen hier die Bandbreite beleuchten, in der
Annahme, dass die Wahrheit zwischen beiden liegt.
Eine promaoistische These geht von der Sorge Maos um die chinesische Jugend aus. Vor dem
Hintergrund der sich entwickelnden städtischen Konsumgesellschaft drohten für Mao alle
revolutionären, proletarischen Werte ins Nichts zu verfliegen. Durch das veraltete
Erziehungswesen gefördert, stand zu befürchten, dass die städtischen Jugendlichen zu
Bundesgenossen des Bürgertums werden. Vor dem Hintergrund des internationalen und
nationalen Klassenkampfes wurde für Mao das Problem, die Nachfolger der Revolution
heranzuziehen, immer dringender, da der „Imperialismus“ nur darauf wartete, China auf den
Weg der „friedlichen Entwicklung“ einschwenken zu sehen, weil die dritte und vierte
Generation korrupt wird.76
So gesehen war die Kulturrevolution lediglich die Fortsetzung der fortwährenden Bemühung
um die Reinigung des Bewusstseins der Menschen inner- und außerhalb der KPCh. Sie sollte
die Restauration des Kapitalismus unmöglich machen, die Produktion steigern und die
ununterbrochene sozialistische Revolution vorantreiben. Dabei stand aber die überlieferte
Kultur samt ihrer bürokratischen Träger im Wege. Deshalb musste diese Kultur zerstört und
ihr Einfluss auf die Menschen ausgeschaltet werden.77
Eine andere, eher antimaoistische These behauptet, die bisherigen Erziehungskampagnen
stürzten lediglich die Basiskader. Um die eigentlichen Machthaber um Liu Shao-Ch`i und
Deng Xiaoping zu Fall zu bringen, musste Mao eine neue Massenbewegung in Gang setzen.
Es war der Konflikt zwischen dem charismatischen Führer und der Bürokratie, dem das
universelle Problem der Unkontrollierbarkeit und Unbeherrschbarkeit großer bürokratischer
Systeme durch einen einzeln, totalen Führungsanspruch zugrunde liegt. Im alten China wurde
die absolute Monarchie auf Lebenszeit ideologisch legitimiert, das Ausmaß der
bürokratischen Macht blieb dadurch relativ beschränkt, obwohl auch dort bereits
Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Bürokratie zu beobachten sind.78 In der
Volksrepublik China war Position und Autorität eines charismatischen Führers aber
keineswegs gesetzlich zu gewährleisten, theoretisch konnten sie sogar jederzeit durch eine
innerparteiliche Wahl entzogen werden. Mao musste also die hohen Beamten als potentielle
Konkurrenten um die Macht betrachten. Außerdem bedeuten Institutionalisierung und
76
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 47 + 49
Vgl. Hsia, Adrian: “Die chinesische Kulturrevolution”, Neuwied, 1971, S. 22
78
Vgl. Kuo, Kuan-ting: (Diss.) “Die chinesische Bürokratie in der Zeit der Kulturrevolution (1966 – 1976)“,
Berlin, 1996, S. 70
77
22
Objektivierung der riesigen Bürokratie ein Hindernis für die absolute Durchsetzung des
Führerwillens. Die Bürokratisierung, die mit der Autokratisierung im sozialistischen China
einherging, verursachte also einen Konflikt zwischen Beamtentum und autokratischem
Führer, den Mao ein für alle Mal zu lösen suchte.79 Nachdem er den Zeitpunkt der
Konsolidierung der Wirtschaftssituation abgewartet hatte und die Getreideproduktion 1966
zum ersten Mal seit dem „Großen Sprung“ das Produktionsniveau von 1958 wieder erreichte,
befand Mao, dass das Land wirtschaftlich genügend gestärkt war, um diese neue
Großbewegung zu verkraften.80
4.1
Die drei Phasen der Kulturrevolution
Zum Auftakt der Kulturrevolution entschied sich Mao für einen indirekten Angriff auf Peng
Zhen (damaliger Bürgermeister von Peking) und Liu Shao-Ch`i, indem er den Literaten Wu
Han
(einen
Schützling
der
beiden
Spitzenfunktionäre)
für
seinen
angeblich
konterrevolutionären Roman „Hai Rui wird seines Amtes enthoben“ öffentlich zur
Rechenschaft zog. Peng, Mitglied der bereits im Juli 1964 auf Maos Betreiben eingesetzte
„Fünfergruppe der Kulturrevolution“ und direkter Vorgesetzter Wu Hans wurde mit der
Untersuchung betraut. Für Peng eine Zwickmühle, schützte er Wu, konnte das zu einer
Mitanklage führen, kritisierte er ihn hingegen, diskreditierte er gleichzeitig den eigenen
Führungsstil.
Gleichzeitig wurden darüber hinaus Luo Ruiqing (Generalstabschef der VBA), Yang
Shangkun (Direktor des Büros des ZK) und Lu Dingyi (Leiter der Propagandaabteilung des
ZK) gestürzt, so dass diese wichtigen Schlüsselpositionen durch treue Anhänger Maos ersetzt
werden konnten.81
Durch eine erweiterte Tagung des Politbüros vom 4.-26. Mai 1966 mit ihren drei
Hauptergebnissen: 1. weitere Entlassungen liuistischer Parteifunktionäre; 2. das „ZKRundschreiben vom 16. Mai“ mit dem Aufruf zum „Kampf gegen die Vertreter der
Bourgeoisie innerhalb des Parteiapparats“ und 3. der Gründung der „Gruppe für die
Kulturrevolution beim ZK“ gab Mao den definitiven Startschuss zur Kulturrevolution.82
79
Ebd. S. 70 - 71
Ebd. S. 59
81
Vgl. Kuo, Kuan-tang, 1996, S. 60 - 62
82
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 250 - 251
80
23
4.1.1 Die Phase der Rotgardisten
Im Juni und Juli 1966 erschienen zum ersten Mal in der Öffentlichkeit höchst militante
Schüler und Studentenverbände, die sich „Rote Garden“ nannten. Entgegen der
kulturrevolutionären Darstellung entstanden diese aber keineswegs spontan, vielmehr waren
es promaoistische Arbeitsgruppen, die als Geburtshelfer der ersten Verbände auftraten. Diese
indoktrinierten dann einzelne Schüler und Studenten mit Führungsqualitäten und forderten
diese auf, Sündenregister gegen bestimmte Lehrer zusammenzustellen, gemeinsam
Wandzeitungen zu verfassen und keine Angst vor den Lehrern zu haben, da diese ohnehin
bestraft würden.83
Als Mao Tsetung am 18. August 1966 in Peking einen Großempfang für Hunderttausende von
Jugendlichen gab, trug er selbst eine rote Armbinde mit der Aufschrift „Rotgardist“. Von da
an schossen Rotgardisten-Vereinigungen im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden. Am
02.09.1966 wurde zusätzlich eine besonders verhängnisvolle Anweisung erlassen, nach der
niemand die Rotgardisten bei ihrer revolutionären Arbeit behindern dürfe. Jugendliche
zwischen 12 und 25 Jahren erhielten damit das Recht, alles zu tun, was ihnen im Interesse der
Revolution angemessen schien.84
Hauptaufgabe der Roten Garden war der Kampf gegen die „Vier Relikte“, d.h. alte Kultur,
alte Sitten, alte Gewohnheiten und alte Denkweisen. Was dabei als „alt“ zu gelten habe
entschieden die Jugendlichen selbst. In dieser Absicht erließen die Rotgardisten ein 23Punkte-Programm, in dem u.a. Schmuck, Kosmetika, unproletarische Kleidung und die
Zahlung von Bankzinsen verboten wurde. Außerdem wurde die Anbringung von
Lautsprechern und Mao-Bildern in allen Räumen und auf allen öffentlichen Plätzen
angeordnet.
Dem
wurde
durch
die
systematische
Zerstörung
traditioneller
oder
unproletarischer Gegenstände sowie der willkürlichen Misshandlung ziviler Personen
Nachdruck verliehen.
In einer Flut von Wandzeitungen wurde über innerparteiliche Auseinandersetzungen berichtet
und korrupte Parteifunktionäre öffentlich angeprangert. Das Instrument der Wandzeitung galt
der maoistischen Führung als spontane Äußerung der Volksmeinung und entsprach daher
ganz der Massenlinie. 85
83
Ebd. S. 256
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 257
85
Ebd. S. 257 - 259
84
24
In sog. „Kampfversammlungen“ zogen die Rotgardisten ihre Lehrer, Professoren und
Verwaltungsangestellte öffentlich zur Rechenschaft, indem sie diese solange demütigten und
misshandelten, bis ein Geständnis erpresst war, das die Betreffenden ins Gefängnis und im
schlimmsten Fall vor ein Erschießungskommando bringen konnte. Totaler Verfall des
Unterrichts und gegenseitiges Misstrauen waren die Folge dieses Dauerbelagerungszustandes.
Viele Menschen verzichteten auf jedes Gespräch um nicht am nächsten Tag über den Inhalt
der Unterhaltung befragt zu werden.
Die Macht der „Roten Rebellen“ beschränkte sich aber keineswegs auf die Straße und die
Hochschulen, so wurde z.B. die südchinesische Stadt Xiamen zu einer einzigen Kommune
erklärt und alle 147 Fabriken der Stadt dem Kommando des 16-jährigen Schülers Ken Ling
unterstellt.86
Der zweite Schwerpunkt dieser Phase war die durch kostenlosen Transport, Kost und Logis
geweckte ungeheure Reiselust der Jugendlichen in ganz China. Millionen von ihnen reisten,
von der Unterrichtspflicht befreit, durch das ganze Land und nach Peking, was ein Novum in
der chinesischen Gesellschaft darstellte.87
Da die revolutionären Eskalationen allmählich selbst maoistische Funktionäre bedrohte und
darüber hinaus das Verkehrswesen und der Verteilungsapparat zusammenzubrechen drohten
wurden die Reisen nach Peking bald wieder untersagt und die Jugendlichen wieder an die
Schulen zurückgerufen. Dort waren sie unter konzentrierte Führung gestellt und damit besser
kontrollier- und erziehbar.88
4.1.2. Die Phase der Armee
Die Roten Garden hatten nicht nur die Partei- und Regierungsorganisation in ein Trümmerfeld
verwandelt (nur etwa 30% der Politbüro- und ZK-Mitglieder überstanden die erste Phase in
ihren Positionen), sie sorgten auch dafür, dass bei den Verwaltungsorganen der unteren Ebene
kein Stein auf dem anderen blieb. Nach dem faktischen Zusammenbruch der Verwaltungsorgane war es nun die maotreue Armee, die die staatliche Ordnung wiederherstellen musste.89
86
Ebd. S. 259 - 263
Vgl. Hsia, Adrian, 1971, S. 172
88
Ebd. S. 178 - 179
89
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 263
87
25
In einer Direktive vom 23. Januar 1967 wird die Volksbefreiungsarmee (VBA) ermächtigt
einzuschreiten, um das Chaos abzuwenden. Als im Februar die Soldaten in den Dörfern
einmarschieren, zeigt sich bald, dass die Armeeführung die Losung „Revolution und
Produktion“ zugunsten der wirtschaftlichen Stabilität verstanden wissen wollte. Zu diesem
Zweck wurden vom 1. auf den 2. März 1967 die wichtigsten Linksgruppen aufgelöst und ihre
Führer verhaftet. Überall im Lande wurde der Kommunengedanke zugunsten von Ruhe und
Ordnung zurückgedrängt.90
Neben der direkten Übernahme von Universitäten, Schulen, Verlagen, Banken, Fabriken,
Behörden und Flughäfen schlug die VBA auch den indirekten Weg der Beteiligung an den
Revolutionskomitees ein. Diese nach dem Muster der Pariser Commune eingerichteten und an
allen Schlüsselstellungen positionierten Revolutionskomitees bestanden aus Vertretern der
„Massen“, der revolutionären Kader und eben der Armee, wobei es die Armee war, die in den
Komitees von Anfang an das Wort führte.91
Renitente Unruhestifter aus den Reihen der Roten Garden wurden ab 1968 auf das Land
umgesiedelt, bis 1979 waren es 17,2 Millionen „Jugendliche mit Schulbildung“, die zur
Unterstützung des Aufbaus der ländlichen Strukturen verschickt wurden. Das brachte auch die
hartnäckigsten Rotgardisten zur Räson, sie lieferten ihre Waffen ab, ließen ihre Gefangenen
frei und kehrten bedrückt in den Alltag zurück.
Dieser Ordnungserfolg wurde im April 1969 auf dem IX. Parteitag belohnt, ca. 30% der
Funktionärspositionen im Politbüro und ZK wurden mit VBA-Angehörigen besetzt.92
4.1.3. Die Phase der zivilen Neuordnung
Chou Enlai war es, der, obwohl bereits schwer krebsleidend, mit ruhiger Hand die Rolle der
Armee sukzessive zurückdrängte und wieder durch zivile Strukturen ersetzte. Dies zeigte sich
vor allem am Rückgang des Militärs zugunsten der Zivilisten in den Partei- und
Regierungsorganen, am Wiederaufbau der Massenorganisationen, an der Rehabilitierung
zahlreicher Wissenschaftler und Gelehrter, am Wiedererscheinen traditioneller Romane und
am Wiederzulassen religiöser Feiern. Selbst die Rehabilitation des in Ungnade gefallenen
Deng Xiaoping (Liu Shao-Ch`i hatte die Kulturrevolution nicht überlebt) gelang in aller
Stille.93
90
Vgl. Hoffmann, Rainer, 1978, S. 91 - 92
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 269 - 270
92
Ebd. S. 272 – 273
93
Ebd. S. 277 - 278
91
26
Die Gegenoffensive der Kulturrevolutionäre ließ allerdings nicht lange auf sich warten. Die
ab dem X. Parteitag im August 1973 einsetzende Renaissance manifestierte sich dreifach,
nämlich in neuen Parolen, neuen Personalentscheidungen und neuen Kampagnen. Hauptziel
der von der neu formierten Führungsgruppe der „Viererbande“ geführten Attacken war Chou
Enlai, den zwar niemand öffentlich anzugreifen wagte, der aber des Rückfalls in die rechte
Abweichung verdächtigt wurde. Die Kampagnen, u.a. gegen Konfuzius, Beethoven,
Antonioni und Song Jiang folgten ab 1973 Schlag auf Schlag. Allerdings erregten diese
Kampagnen in der Öffentlichkeit nur noch müdes Achselzucken. Nach zehn Jahren
permanenter „Begeisterung“ war der Elan abgenutzt und die Bevölkerung der ewigen
Kampagnen überdrüssig geworden.94
Der Durchschnittschinese ging in die innere Emigration. Es ist das Paradox der
Kulturrevolution, für die Selbstbefreiung des Volkes angetreten zu sein um am Schluss nur
noch Mitläufer und Ja-Sager hervorgebracht zu haben, die selten Fragen stellten und alle
Wendungen der Partei brav mit vollzogen.
Meteoritenregen, verheerende Erdbeben und Überschwemmungen begleiteten 1976 den Tod
zweier großer Chinesen. Am 08.01.1976 starb Chou Enlai und am 09.09.1976 Mao Tsetung.
Der Kampf um die Nachfolge hatte begonnen.95
4.2
Von Mao Tsetung zu Deng Xiaoping
Das eigentliche Ringen um die Nachfolge hatte bereits einige Zeit vor Maos Tod eingesetzt.
Drei Parteien beanspruchten das Erbe Maos. Zum einen die kulturrevolutionäre Viererbande
um die Mao-Witwe Jing Qing, die sich zwar ultramaoistisch gab in der Endphase der
Kulturrevolution aber sowohl Maos Vertrauen verlor, als auch den Rückhalt in der
Bevölkerung. Letzteres kam bei den Massendemonstrationen für das Andenken des von der
Viererbande verunglimpften Chou Enlai im April 1976 auf dem Tiananmenplatz schon
deutlich zum Ausdruck.96 Des weiteren war da Hua Guofeng, der von Mao in seinen letzten
Monaten zum Premierminister ernannt und zum Nachfolger bestimmt wurde. Und schließlich
Deng Xiaoping, der 1975 zum dritten Mal in Ungnade gefallen und unter Hausarrest gestellt
war, jedoch Dank der Unterstützung durch Marschall Ye Jianying über einen starken Rückhalt
94
Ebd. S. 279 - 280
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 284
96
Vgl. Salisbury, Harrisson E.: „Die neuen Kaiser“, Frankfurt am Main, 1992, 428 - 430
95
27
im Militär verfügte. Ye war es dann auch, der mit Zustimmung des Politbüros die sofortige
Verhaftung der Viererbande (einschließlich Jing Qings) nach Maos Tod vorbereitete und
durchführte, was gleichzeitig das endgültige Ende der Kulturrevolution war und die
Voraussetzung für Dengs Comeback.97
Das bedeutet aber nicht, dass Deng Xiaoping damit automatisch die Führung übernehmen
konnte. Bereits am Tage der Verhaftung der Hauptvertreter des Linkskurses wurde Hua
Guofeng offiziell zum Vorsitzenden des ZK und der ZK-Militärkommission ernannt. Im
Dezember 1976 begann dann eine landesweite Säuberungskampagne zur „Kritik an der
Viererbande“, die sich bis Dezember 1978 hinzog und sowohl in der Öffentlichkeit als auch
innerhalb der Partei alle kulturrevolutionären Erscheinungen vertilgte und durch die
rehabilitierten antikulturrevolutionären Kräfte ersetzte.98
Bis Ende 1978 hielt auch noch das informelle Regierungs-Triumvirat von Deng, Marschall Ye
und Hua. Diese Zeit nutzte Deng jedoch damit, seine Machtstellung im Politbüro durch die
Requirierung
besonders
fähiger
Mitarbeiter
und
Gesinnungsgenossen
auszubauen.
Gleichzeitig diskreditierte er zunehmend Hua Guofeng innerhalb der Partei, wegen dessen
starren Festhaltens an Mao und seinen Ideen.
Im November bis Dezember 1978 gelang es Deng Xiaoping schließlich, die Kontrolle über
Partei und Staat zu übernehmen und Hua Guofeng zur Seite zu schieben, ohne ihn offiziell
seines Amtes zu entheben.99
Deng definierte auf geniale Art das „Mao-Tsetung-Denken“ neu. Zukünftig seien darunter die
guten Ideen Maos und die anderer Parteiführer zu verstehen. Auf diese Weise konnte er die
Kulturrevolution, den Großen Sprung und andere Utopien Maos einen sanften Tod sterben
und durch den Austausch der alten Fragen und Antworten durch neue, den kommunistischen
Katechismus nach außen hin unverändert belassend, bestehen lassen.100
Dengs umgehend gestartetes Reformprogramm weist deutlich auf seine Absicht hin, mit den
Träumereien des „Mao-Tsetung-Denkens“ Schluss zu machen und durch Deng-Pragmatismus
zu ersetzen. Die bei den Bauern mittlerweile verhassten Kommunen wurden durch ein System
der Produktionsverantwortung ersetzt. Die damit neu geschaffenen materiellen Anreize
zeigten ungehend Wirkung auf die landwirtschaftliche Produktion.101 Auch ideologisch
beschritt Deng neue Wege. Obwohl der chinesische Kommunismus der richtige Weg für das
97
Ebd. S. 447 - 451
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 287 - 288
99
Vgl. Salisbury, Harrison, 1992, S. 462 - 468
100
Ebd. S. 469
101
Ebd. S. 469
98
28
Land sei und nicht der Kapitalismus, war Deng doch der Ansicht, dass man die positiven
Elemente des Kapitalismus durchaus übernehmen und dazu einsetzen könnte, die chinesische
Gesellschaft zu verbessern. Solche Elemente seien z.B. ein fundiertes Management, eine
Warenwirtschaft und Arbeitsanreize durch die Möglichkeit des persönlichen Profits.
Außerdem müsse man für Freiheit in den Köpfen der Menschen sorgen.102
China ist seit Maos Tod unter der Führung von Deng Xiaoping allmählich kapitalisiert
worden und entfernt sich zunehmend von der kommunistischen Utopie.103
5.
Regulierung in der Volksrepublik
Wenn wir mit Mao Tsetung am Fahrplan der Unwandlung einer Gesellschaft in zwei Stufen
(einer vorausgehenden demokratischen und einer nachfolgenden sozialen Revolution)
festhalten, kann man Mao und seinen Kommunisten wohl bescheinigen, zumindest den ersten
Teil einer demokratischen Revolution zu einem positiven Abschluss gebracht zu haben. Das
kaiserliche China mit seinen feudalistischen Strukturen war seit langem ad acta gelegt und der
37 Jahre währende Bürgerkrieg war mit der Vertreibung der Kuomintang vom Festland 1949
beendet. Ruhe und Ordnung wurden mir Gründung der Volkrepublik schnell hergestellt, die
einstigen dörflichen Machthaber vertrieben und traditionelles Recht endgültig durch eine
moderne Gesetzgebung ersetzt. Die geistige Schöpfung einer allgemeinen Rechtsidee blieb
jedoch weitgehend aus, und die eigentliche richterliche Rechtssprechung erfolgte weiterhin
nach den subjektiven Qualitäten der Person und der konkreten Situation im Sinne einer KadiJustiz anstatt formalen Regeln „ohne Ansehen der Person“ zu folgen.104 Die Erfahrung der
marxistisch-leninistischen Partei erlaubte es ihr, eine disziplinierte, landesweit operierende
Organisation zu schaffen, der es gelang, Regierungspolitik vom Zentrum in die abgelegenen
Dörfer des riesigen Landes zu bringen. Damit konnte der Bevölkerung, trotz der
Säkularisation vom Konfuzianismus, sogar die Kontinuität des „Mandats des Himmels“
vermittelt werden, was wiederum zur Legitimation der Regierung beitrug. Die Erhöhung des
Ernteertrages um 70% zwischen 1949 und 1956 war ein Ausdruck der stabilisierenden
Wirkung dieser ersten Regulationsschritte.105
102
Ebd. S. 470
Vgl. Kuo, Kuan-tang, 1996, S. 122
104
Vgl. Schilling, Werner: „Einst Konfuzius – Heute Mao Tse-tung“, Wilheim/Obb., 1971, S. 285
105
Vgl. Hobsbawm, Eric: „Das Zeitalter der Extreme“, München, 1998, S. 577 - 578
103
29
Der zweite Schritt einer sozialen Revolution erfordert eine differenziertere Bewertung. Die
Einrichtung einer Planwirtschaft nach Sowjetischem Vorbild und das kommunistische
Staatsideal hatte der chinesischen Gesellschaft zwar eine neue Basis verschafft, aber anstatt
allmählich die Produktionskräfte zu entwickeln und in der Folge die Produktionsverhältnisse
zu verändern, wie Moskau das empfahl und die Liuisten es vertraten, hatte Mao andere Pläne.
Die beiden Charakteristika seiner im Bürgerkrieg entwickelten politischen Konzeption waren
a) sein Glaube an die schrankenlose Kraft der Massen, die jenseits und gegen jede Realität
alles (z.B. Produktivkraftentwicklung ohne Kapitalakkumulation) erreichen konnte und b)
sein Versuch zur Schaffung eines neuen Menschen durch Massenbewegung.106
Durch Umerziehung wollte er nichts weniger, als einen neuen Menschen schaffen, der seiner
Prämisse „Politik geht der Ökonomie vor“ folgend im Großen Sprung allein durch die
menschliche Arbeitskraft, gepaart mit der richtigen politischen Gesinnung binnen kürzester
Zeit ökonomisch zu den westeuropäischen Industrieländern aufschließen und dann möglichst
nahtlos in die kommunistische Gesellschaft übergehen sollte.107
Die Realisierung dieser Vorstellung betrieb Mao Tsetung mit all dem Druck, der ihm als
Quasidiktator zur Verfügung stand. Seine ungeduldige Erwartung, diesen Prozess als seine
soziale Revolution noch zu Lebzeiten zum Ziel zu führen, gemahnte ihn zu einer Eile, die ihn
periodisch immer wieder in Konflikt zu den gemäßigteren Teilen innerhalb der KPCh brachte.
Die daraus resultierenden, je nach Machtverhältnissen und politischer Situation bestimmten
permanenten ökonomischen, ideologischen und politischen Kurswechsel ließen die
chinesische Bevölkerung auch die folgenden 20 Jahre nicht zur Ruhe kommen. Die
nichtregulativen Revolutions- und Bürgerkriegswirren wurden durch desorientierende
Regulierungswirren ersetzt, die statt einer echten sozialen Revolution und Verbesserung der
allgemeinen Lebensverhältnisse eher eine Kollektivierungsrevolution hervorbrachten. Die
einfache Bevölkerung wurde zwar in Volkskommunen organisiert und durch zahllose
Kampagnen um- und umerzogen, hungerte aber immer noch.
Obwohl also fraglos (verglichen mit dem Status quo ante) eine neue moderne chinesische
Gesellschaft geschaffen wurde, konnten die eigentlichen Ziele der sozialen Revolution
(Industrialisierung, Verbesserung der Lebensverhältnisse, klassenlose Gesellschaft) nur
teilweise regulativ erreicht werden.
106
Vgl. Heberer, Thomas: „Maos neuer langer Marsch - Von Marx und Massen zu Markt und Magie“ in „Mao Zedong – Der unsterbliche Revolutionär“, Hamburg, 1995, S. 34
107
Ebd. S. 34 - 37
30
5.1
Die ökonomischen Regulationsprozesse
Vorweg gesagt waren wohl die beiden größten regulativen Eingriffe (bezogen auf den
Zustand vor 1949) zum einen die Bodenreform (Enteignung der Großgrundbesitzer,
Abschaffung des Pachtwesens, Neuverteilung der landwirtschaftlichen Flächen) und zum
anderen die gemäßigte Kollektivierung in Landwirtschaft und Industrie. Beides war von
größtem Nutzen für die Entwicklungsfähigkeit der chinesischen Ökonomie und beides
geschah vor dem Großen Sprung.
Die bereits vor dem Großen Sprung einsetzende, aus o.g. Gründen ständig wechselnde
Wirtschaftspolitik führte dann jedoch seit Beginn des ersten Fünf-Jahres-Plans zu heftigen
Schwankungen
des
wirtschaftlichen
Wachstums. Die
westliche Theorie sieht in
Wirtschaftskrisen eine latente Gefahr, weil sie politische Krisen und gesellschaftliche
Instabilität auslösen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Wirtschaft im Verhältnis zur
Politik der bestimmende Faktor ist. Die chinesischen Marxisten haben dieses Vorurteil nie
geteilt. Die Geschichte der Volksrepublik zeigt, dass zumindest dort die Politik nicht nur im
Slogan, sondern auch in der Realität das Kommando über makroökonomische Prozesse
hatte.108
Der 1958 beginnende zweite Fünf-Jahres-Plan wurde auf Initiative Maos bereits im Mai
revidiert und in seinen Zielsetzungen drastisch erhöht. Die ursprünglichen Fünf-Jahres-Ziele
sollten nun in drei Jahren erreicht, die Stahlproduktion noch in 1958 verdoppelt und England
hinsichtlich der wichtigsten Produkte in 15 Jahren eingeholt werden. Zu diesem Zweck
wurden die Volksmassen in ländlichen und städtischen Volkskommunen organisiert, in denen
alle traditionellen familiären, aber auch die existierenden Handels- und Gewerbestrukturen in
eine einheitliche armeeähnliche Organisation aufgelöst wurden.109
Durch das Einschmelzen aller verfügbaren Eisenvorräte konnte der Bruttoproduktionswert der
Schwerindustrie so tatsächlich 1958 um 78,8% und 1959 noch einmal um 48% gesteigert
werden, während die Produktion in der Landwirtschaft, deren kleinbäuerliche Strukturen mit
einem Schlag vernichtet wurden, bereits 1959 um 14% sank. Aber auch die
Industrieproduktion schrumpfte in den folgenden Jahren um bis zu 40% (1961) und sollte erst
1965 die Produktionswerte von 1958 wieder erreichen. Die Auswirkungen des Großen
Sprungs auf die Pauperisierung der Bevölkerung waren beträchtlich. Die Durchführung des
Fünf-Jahres-Plans wurde daher 1961 ausgesetzt und, wie oben beschrieben, durch eine
108
Vgl. Noth, Jochen: „Teurer Fortschritt – Zu den gesellschaftlichen Kosten der Entwicklungsstrategie Mao
Zedongs“ in „Mao - Zedong - Der unsterbliche Revolutionär“, Hamburg, 1995, S. 123
109
Ebd. S. 124
31
Konsolidierungsphase unter der Führung der Liuisten abgelöst. Die extremen Formen der
Kollektivierung wurden zurückgenommen, damit sich die Landwirtschaft erholen konnte und
das Primat der Schwerindustrie zugunsten der Konsumgüterindustrie zurückgefahren. Durch
eine vorsichtige Hebung der Einkommen wurde der Lebensstandard gesteigert.110
Der 3. und der 4. Fünf-Jahres-Plan (1966/70 und 1971/75) fallen in die Zeit der
Kulturrevolution, bis heute ist über deren Inhalt nicht viel bekannt geworden.
Trotz schmerzlicher Rückschläge (vor allem im Bereich des Energie- und Verkehrswesens,
des Kohlebergbaus, der Chemie und der Zementerzeugung) kann sich die Bilanz (verglichen
mit der des Großen Sprungs) durchaus sehen lassen, wenngleich sie gegenüber der
Konsolidierungsphase
der
Liuisten
gewaltig
abfiel.
Die
Wachstumsraten
des
Nationaleinkommens betrugen durchschnittlich von 1966-70 8,3% und von 1971-75 5,5%, ein
ansteigendes Wachstum war erst wieder mit dem postkulturrevolutionären fünften FünfJahres-Plan zu verzeichnen.111
Das Hauptverdienst für die gerade noch akzeptablen Ergebnisse der kulturrevolutionären
Wirtschaft kam der VBA zu, die durch scharfe Kontrollen dafür sorgte, dass die Industrieund Landwirtschaftsbetriebe vom „kulturrevolutionären Erfahrungsaustausch“ weitgehend
verschont blieben. Allerdings kehrte man zur Überbetonung der Schwerindustrie zurück, die
in ihrer Wirkung von einem verzerrten Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Konsumtion
und Akkumulation verschärft wurde. Hatte der Akkumulationsanteil der Gesamtausgaben
während des ersten Fünf-Jahres-Plans noch bei 25% gelegen, war er 1966 bereits auf 30,6%
hochgeschnellt. Diese sprunghafte Steigerung war unmöglich durchzuhalten. In der Tat fiel er
1967 auf 21,3% zurück um 1970 auf 32,9% und 1971 sogar auf 34,1% zu steigen. Das für die
maoistische Politik so typische Hin und Her zwischen Vollgas und Vollbremsung hatte sich
während der Kulturrevolution also auf die Wirtschaft fortgepflanzt und dort Wunden
hinterlassen, an denen die Reformer noch lange herumkurieren mussten.112
Das Volkseinkommen pro Kopf sank von 216 Yuan 1966 während der Kulturrevolution auf
183 Yuan 1968 ab, um dann langsam wieder auf 203 Yuan 1969 und 261 Yuan 1976 zu
steigen.
Ursächlich für die Rückschläge der kulturrevolutionären Wirtschaft war neben der
„Permanenz der Revolution“ auch der Anstieg der Militärausgaben von 18% während des
ersten Fünf-Jahres-Plans auf 24% 1970. Dafür konnte am 17.06.1967 die erste chinesische
110
Vgl. Noth, Jochen, 1995, S. 124 - 125
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 289
112
Ebd. S. 289 - 290
111
32
Wasserstoffbombe gezündet werden und am 24.04.1970 startete der erste chinesische
Weltraumsatellit.113
Auf der Habenseite der kulturrevolutionären Wirtschaft standen dagegen der Ausbau der
Großinfrastruktur (vor allem das Eisenbahnnetz und eine doppelstöckige Brücke über den
Yangzi bei Nanking) und mehrere prestigeträchtige Großprojekte (z.B. die größte
Zementfabrik und das größte Erdölfeld Chinas sowie das größte Wasserkraftwerk in der
Liujiao-Schlucht).114
Der fünfte Fünf-Jahres-Plan ab 1976 sah den Sturz der Vierbande und das Ende der
Kulturrevolution. Nach Maos Tod begann Hua Guofeng, obwohl er an den wesentlichen
Forderungen der maoistischen Wirtschaftspolitik festhielt, mit einer vorsichtigen Öffnung
Chinas gegenüber dem Ausland und dem Einkauf westlicher Technologie. Deng Xiaoping
war es schließlich, der, wie oben beschrieben, die während der Kulturrevolution wieder
eingeführte Kollektivierung der Landwirtschaft aufhob und Gegenreformen einleitete.115
5.2
Die ideologischen Regulationsprozesse
Eine detaillierte Würdigung der maoistischen Dialektik und Ideologie würde den Rahmen
dieser Arbeit sprengen und muss daher an anderer Stelle ausgeführt werden. Hier muss sich
auf die Ausführung einiger markanter Eckpunkte maoistischer Ideologie beschränkt werden.
Zunächst einmal sei auf die, von der sowjetideologischen Auffassung der Widersprüche
innerhalb einer Gesellschaft abweichende Betrachtung Maos im Rahmen des dialektischen
Materialismus hingewiesen. Nach Lenin gibt es in der Gesellschaft antagonistische und
nichtantagonistische Widersprüche, die ersteren sind ohne Kampf nicht lösbar, die letzteren
sind sehr wohl ohne Kampf lösbar. Bis dahin geht Mao konform. Nach der Darlegung
sowjetischer Ideologen in der Auseinadersetzung mit Mao gibt es nun die antagonistischen
Widersprüche nur in kapitalistischen Gesellschaften, in sozialistischen Gemeinschaften
existierten nur nichtantagonistische Widersprüche. Dagegen argumentiert Mao heftig. Erstens
gäbe es auch in der sozialistischen Gesellschaft antagonistische Widersprüche und zweitens
könnten sich nichtantagonistische jederzeit und überall in antagonistische umwandeln.116
113
Vgl. Weggel, Oskar, 1989, S. 290
Ebd. 1989, S. 291
115
Vgl. Noth, Jochen, 1995, S. 129
116
Vgl. Schilling, Werner, 1971, S. 163
114
33
Zwar spricht auch Lenin von Widersprüchen im Sozialismus, diese sind aber quasi extern,
von noch nicht überwundenen bürgerlichen Elementen verursacht. Mao hingegen geht davon
aus, dass Sozialismus und Kommunismus spontane und eigene Widersprüche aufweisen, die
die weitere geschichtliche Entwicklung verursachen. Sozialismus und Kommunismus sind für
ihn weniger gesellschaftlich-historische Zustände, die dank der von den Produktivkräften
gesteuerten Mechanismen kontinuierlich auf ihre Vervollkommnung zustreben, sondern eher
Prinzipien, die täglich neu politisch durchgesetzt werden müssen.117 Selbst wenn alle
Klassenunterschiede im Kommunismus überwunden sind, wird es seiner Ansicht nach
Widersprüche zwischen Individuen und Gruppen geben, die sich daraus ergeben, dass diese
gut oder schlecht seien, richtig oder falsch denken würden.118 Das führt Mao zur Permanenz
des Klassenkampfes auch innerhalb sozialistischer Gesellschaften.
Mao zeichnet sich darüber hinaus auch durch eine besondere Sicht auf die gesellschaftliche
Praxis aus. Für ihn beginnt Erkenntnis mit der Praxis, und die theoretischen Erkenntnisse, die
man durch die Praxis erworben hat, müssen wiederum zur Praxis zurückkehren.119 Gemeint
ist die Praxis des täglichen Lebens aller Menschen einer Gesellschaft, wobei den Bereichen
„Prozess der materiellen Produktion“, „Klassenkampf“ und „wissenschaftliches Experiment“
eine hervorragende Bedeutung zukommt. Die Praxis ist hierbei Quelle und Kriterium der
Wahrheit. Praxis verändert Theorie, und Praxis selbst wird verändert durch menschliches
Handeln. Die wichtigste Frage des Marxismus besteht demnach für Mao darin, unter
Ausnutzung und Berücksichtigung der objektiven Gesetzmäßigkeiten die Welt aktiv zu
verändern. Der dialektische Materialismus ist somit kein Dogma, sondern eine Anleitung zum
Handeln.120
Diese Haltung, gepaart mit der persönlichen Ungeduld Maos bezüglich der Beschleunigung
der ökonomischen und kulturellen Entwicklung, führte in der Sphäre der Produktion zur
Proklamation des „Großen Sprungs“, und auf der Ebene der sozialen Ordnung war der
Aufbau der Volkskommunen damit verbunden. Die damit eingeleitete radikale Politik fand
ihren ideologischen Ausdruck in der Theorie der „permanenten Revolution“. Obwohl an der
Urheberschaft Trotzkis an diesem Terminus kein Zweifel bestehen kann wurde diese
117
Vgl. Schwöbel, Hans – Peter: „Die Weiterentwicklung des Marxismus – Leninismus durch Mao Tsetung und
die chinesische Kulturrevolution“ in „Arbeitspapiere zur politischen Soziologie“, München, 1973, S. 18 - 19
118
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 79
119
Vgl. Tsetung, Mao: „Von der Praxis“ in Schram, Stuart, 1972, S. 169
120
Vgl. Schwöbel, Hans - Peter, 1973, S. 20 - 21
34
Konzeption damals stets als „Mao Tsetungs Theorie der permanenten (ununterbrochenen)
Revolution“ referiert, da Trotzki in China ebenso als Ketzer gilt wie in der Sowjetunion.121
Die beiden grundlegenden Zielsetzungen der maoistischen Theorie der permanenten
Revolution sind die schnellere Umgestaltung von Natur und Gesellschaft. Aus der Annahme,
dass eine quantitative Veränderung eine qualitative nach sich zieht, leitet sich die Vorstellung
eines ständig bewegten Universums ab. Selbst wenn alle Klassengegensätze beseitigt sind,
werden Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entstehen,
was wiederum zu Widersprüchen in der Gesellschaft führt. Diese Widersprüche werden durch
eine endlose Reihe „qualitativer Veränderungen“ (d.h. Revolutionen) gelöst, so dass selbst
nach der Errichtung der kommunistischen Gesellschaft eine unendliche Zahl von
Revolutionen
stattfindet.
Gegenwärtig
fänden
Revolutionen
des
älteren,
dem
Klassenantagonismus entsprungenen Typus neben den Revolutionen neuen Typs statt.
Schließlich würden jedoch die Entwicklung der Produktivkräfte und die Anstrengung der
Menschen, sie seinen Interessen dienlich zu machen, den Klassenkampf als Muster der
unendlich vielen künftigen Revolutionen ersetzen.122
Da Mao davon ausging, dass während der gesamten historischen Etappe des Sozialismus ein
Kampf zweier Klassen, zweier Wege und die Gefahr des Wiederauflebens des Kapitalismus
bestehen, wurde nach Klassenfeinden nicht nur in der Gesellschaft sondern auch in der Partei
(Liuisten) gefahndet. Außerdem musste (Mao zufolge) nach der Machtergreifung durch das
Proletariat und der Etablierung des Sozialismus eine Kulturrevolution des neuen Typs
durchgeführt werden, damit die eine Klasse die andere stürzen könne. Eine solche Revolution
müsse wieder und wieder durchgeführt werden.123
Darüber hinaus steht die Theorie der permanenten Revolution in Verbindung mit dem
Widerspruch zwischen der Rückständigkeit der chinesischen Volkswirtschaft und der Absicht
der Maoisten, dieser durch einen „Krieg gegen die Natur“ ein Ende zu machen. Diesem Ziel
diente (neben der Absicht, die überholten sozialen und geistigen Strukturen aufzuheben) die
ständig geforderte Mobilisierung der Massen.124
121
Vgl. Schram, Stuart, 1972, S. 83
Ebd. S. 85
123
Vgl. Shaozhi, Su: „Über die Neubewertung Mao Zedongs im nachmaoistischen China“ in „Mao - Zedong –
Der unsterbliche Revolutionär“, Hamburg, 1995, S. 202
124
Vgl. Schram, Stuart: „Die permanente Revolution in China“, Frankfurt am Main, 1966, S. 74 - 75
122
35
Zur Aufhebung der alten geistigen Strukturen gehört auch der Kampf gegen den
Konfuzianismus. Das Abwerfen der im alten China legalistisch staatstragenden Lehre des
Konfuzius war seit der Bewegung des 4. Mai 1919 immer wieder das Ziel der Revolutionäre
und Reformer, besonders in der Kulturrevolution. Allerdings gehört das konfuzianische
Denken ebenso regelmäßig zu den geistigen Prämissen eben dieser, so auch bei dem klassisch
gebildeten Mao Tsetung. Das soll nicht bedeuten, der Sieg des Marxismus in China bedeute
im Grunde eine Rückkehr zum Alten in einem neuen Gewande, aber andererseits lebt die
geistige Tradition in der chinesischen Version des Marxismus-Leninismus noch fort und
macht diesen zu einer säkularen Religion der Weltverbesserung unter der gläubigen
Verehrung eines Heros religions-phänomenologischer Art.125
Zwar gibt es deutliche Unterschiede zwischen Konfuzianismus und Maoismus bei der
Wertung
der
menschlichen
Persönlichkeit,
besonders
ihres
Freiheits-
und
Wahrheitsbewusstseins (für Konfuzius ist der Mensch als Individuum Person und daher
Selbstzweck; dagegen propagiert Mao das proletarische Menschenwesen im Dienst des
Klassenkampfes und lehnt die Existenz einer allgemeine Menschenliebe als grundlos ab) und
der Ablehnung der konfuzianischen Tugenden126, es gibt aber doch ebenso Ähnlichkeiten, wie
der Gedanke der Selbstvervollkommnung, der Hinwendung zum Diesseitigen, die Ideen der
sozialen Fürsorge sowie die Ernährung der Massen, der kommunitaristische Ansatz der
Bedeutung von Gesellschaft und der universalistische Staatsgedanke.
Sogar Übereinstimmungen z.B. bei dem ausgeprägten sozialen Gewissen, bei den Ansichten
über die gebotene Totalität des Staates, beim Wunsch die Volksmeinung zu erfassen und bei
der Sicht auf das Verhältnis von Theorie und Praxis sind deutlich auszumachen.127
Obwohl Mao mit dieser Aufzählung wohl kaum einverstanden wäre, könnte hier die
Erklärung zu finden sein, warum der selbsterklärte Materialist immer wieder in den von ihm
radikal abgelehnten (weil klassenfeindlichen) Idealismus hinüber gleitet. Das kommt z.B. zum
Ausdruck, wenn Mao die Veränderung der Produktionsverhältnisse der Entwicklung der
Produktivkräfte realiter überordnet und während der Kulturrevolution sogar behauptet, das
grundlegende Prinzip der materialistischen Geschichtsauffassung (nämlich, dass die
Produktivkräfte der entscheidende Faktor gesellschaftlicher Entwicklung seien) wäre falsch
und müsse kritisiert werden.128
125
Vgl. Schilling, Werner, 1971, S. 278
Ebd. S. 279 + 282
127
Ebd. S. 293 - 295
128
Vgl. Shaozhi, Su, 1995, S. 197 - 198
126
36
In seiner Spätphase glaubte Mao sogar, dass Bewusstsein sich in Materie umwandeln ließe
(Großer Sprung) und dass auch das Denken Teil des Seins ist (richtiges politisches
Bewusstsein der Massen). Im Kern ist das Idealismus.129
6.
Fazit und Ausblick
Abschließend soll sich nun den in der Einleitung aufgeworfenen Fragen zugewendet und die
quantitativen und qualitativen Veränderungen der chinesischen Gesellschaft in der
maoistischen Volksrepublik resümierend betrachtet werden.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass eine Rekonstruktion feudalistischer Strukturen nach
dem Ende des Bürgerkrieges von den chinesischen Kommunisten erfolgreich verhindert
worden ist. Auf dem Land wurde das Grundbesitz- und Pachtwesen abgeschafft, und die
Bevölkerung in den Städten wurde von Kompradoren, Mandarinen und Kolonialherren
befreit. Durch die unzähligen Säuberungen und Umschulungsaktionen wurden vor allem in
den Städten traditionelle konfuzianische und feudalistische Denk- und Handlungsmuster
praktisch ausgemerzt. Bis zu Maos Tod kam es auch nicht zu einer massenhaften Landflucht,
was für erträgliche Lebensbedingungen in China, trotz der immer wieder auftretenden
Hungersnöte, spricht. Allerdings war die Landbevölkerung in dieser Hinsicht auch nie
verwöhnt. Am Ende der Maozeit lag der durchschnittliche Lebensmittelkonsum (gemessen in
Kalorien) etwas über dem Mittelwert aller Drittweltländer. Die durchschnittliche
Lebenserwartung war von 35 Jahren (1949) auf 68 Jahre (1982) gestiegen, die
Gesamtbevölkerung ist von 540 Mio. (1949) auf 950 Mio. (1976) gestiegen. Diese Daten
sprechen für eine doch ausreichende Versorgung der Bevölkerung in der Volksrepublik
insgesamt. Der Schulbesuch wurde von unter 50% (1952) auf 96% (1976) gesteigert.130
Wie bereits in Kapitel 5 beschrieben, kann die demokratische Revolution im Sinne einer
bürgerlichen Revolution bereits in den frühen 1950er Jahren als erfolgreich abgeschlossen
bezeichnet werden. Von daher kann man von einer regulativen Neugestaltung der
chinesischen Gesellschaftsverhältnisse sprechen. Die Frage der Nachhaltigkeit dieser neuen
Verhältnisse in Form einer neuen Gesellschaftsordnung ist nicht so positiv zu beantworten.
Zunächst einmal kann man 1976 von einer Gesellschaftsordnung (mangels Ordnung) nicht
sprechen. Zu aufgewühlt und desorientiert waren die Bevölkerung und die politische Führung
129
130
Ebd. S. 199
Vgl. Hobsbawm, Eric, 1998, S. 381 - 382
37
nach den unzähligen Kampagnen vor allem in der Kulturrevolution. Durch die restriktive,
autokratische und oftmals subjektive und wankelmütige Politik Maos und durch den stetigen
Kampf gegen immer wechselnde Teile der Gesellschaft war die chinesische Gesellschaft bis
in ihre Fundamente hinein eingeschüchtert und verunsichert. Mao hat zwar Altes eingerissen
und mit einem gesellschaftlichen Umbau begonnen, der nachhaltige Aufbau einer stabilen
Gesellschaftsordnung in China wird aber die Aufgabe seiner Nachfolger sein.
Aus diesem Grund wäre aber auch die Vermutung, Mao habe in neuem Gewand die
hergebrachte chinesische Methode des bloßen Austausches einer Dynastie durch eine andere
nachvollzogen, zu vereinfachend und daher abzulehnen. Zwar wurde Mao von der
Bevölkerung beinahe religiös verehrt, als charismatischer Führer anerkannt und die Herrschaft
der Kommunisten mit dem „Mandat des Himmels“ belegt, aber Mao Tsetung hat das
Hauptinteresse der Dynastien, die Kontinuität, nicht geteilt. Im Gegenteil: Maos Agitationen
und sein Denken waren stets gegen Kontinuität gerichtet, sowohl für die Gesellschaft als auch
in der eigenen Partei.
Deshalb ist Mao selbst aber auch sowohl bei der Regulierung der Modernisierungskrise als
auch bei der Durchführung der sozialen Revolution letztlich gescheitert. Obwohl man von
ihm lernen kann, dass das Verhältnis von Krise und Regulation ein dialektisches ist, das in
jeder Gesellschaftsordnung vom Motor der immer neu entstehenden gesellschaftlichen
Widersprüche angetrieben wird und alle sog. endgültigen Gesellschaftskonzeptionen damit
Utopie bleiben – seine Antwort der permanenten kämpferischen Revolution bleibt zumindest
zweifelhaft. Ob nun Warlords und Bürgerkrieg oder die marodierenden Horden und die
unverlässliche Politik der permanenten kämpferischen Revolution, die Auswirkungen auf die
sozio-ökonomischen Verhältnisse in China waren ähnlich. Wirtschaftliche Entwicklung,
nachholende Industrialisierung ohne staatliche Kraftakte, Modernisierung und nicht zuletzt
der Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung benötigen offensichtlich genau das, was Mao so
ablehnte, Kontinuität und Stabilität, sowie Ruhe und Ordnung.
Deng Xiaoping, so scheint es, will ab 1978 einen anderen Weg beschreiten. Seine Antwort
lautet: Permanente Reformen in einer weitgehend offenen Gesellschaft statt der Zerstörung
des gesellschaftlichen Zusammenhaltes durch die maoistische permanente Revolution.
Ob und inwieweit dieser Kurswechsel gelingt, ob er zur Regulierung der sozialen und der
Modernisierungsfrage beisteuert oder neue Krisen hervorruft, soll Untersuchungsgegenstand
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der vierten Arbeit sein. Ebenso wie die Nachverfolgung der Umsetzung von Dengs Idee der
Übernahme positiver kapitalistischer Aspekte in den chinesischen Kommunismus.
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