200 Jahre Gustav Werner
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200 Jahre Gustav Werner
Ausgabe 1 | 2009 sozial Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg 200 Jahre Gustav Werner 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not Mann der Worte und Taten Gewagtes Interview Jeden Tag kreativ sein Ein weit verzweigtes Werk Gustav Werner war ein Prediger, kein Theoretiker – und er packte an, wenn er Not sah. Seinem Beispiel folgten viele Menschen. Wie würde Gustav Werner heute auf sein Werk blicken? Ein fiktives Gespräch mit ihm gibt mögliche Antworten. Die Fachkräfte im Lindenhaus stehen täglich neu vor Herausforderungen. Mit Kreativität meistern sie heikle Situationen. Zu Gustav Werners Zeiten gab es 30 Zweiganstalten. An sieben dieser Standorte ist die BruderhausDiakonie heute noch tätig. Y Seite 4 Y Seite 6 Y Seite 3 Y Seite 8 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not E D I TO R I A L sozial • Ausgabe 1 | 2009 Liebe Leserinnen und Leser, vor 200 Jahren kam in Zwiefalten Gustav Werner zur Welt. Er war der große Diakonie-Gründer im Südwesten Deutschlands. Zwar wurde er außerhalb Württembergs und Badens nie so bekannt wie seine Zeitgenossen Wichern und Bodelschwingh. Vielleicht, weil er weniger ein Theoretiker war als ein charismatischer Redner und ein Mann der Tat. Zeit seines Lebens handelte er nach dem Motto: „Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert.“ Dennoch steht er in einer Reihe mit den großen Namen der Diakonie. Er war ein großer Pädagoge, der sich um arme und verwahrloste Kinder kümmerte. Und er war ein bedeutender Industriepionier: Er gründete Fabriken und bildete Fachkräfte aus, von denen einige später wichtige Beiträge leisteten zur Industrialisierung Württembergs. Alle, auch die allerschwächsten Glieder der Gesellschaft sollen teilhaben an Arbeit, Bildung und Heimat. Dieses Prinzip Gustav Werners ist auch Leitlinie für die heutige BruderhausDiakonie, die sich aus seinem Werk entwickelt hat. In einem fiktiven Interview auf Seite 4 und 5 versuchen wir uns vorzustellen, wie Gustav Werner auf das blicken würde, was aus den einstigen Werner’schen Anstalten geworden ist. Auf den Seiten 8 und 9 zeigen wir einige Gründungen Gustav Werners, an deren Standorten sich auch heute noch Einrichtungen der BruderhausDiakonie befinden. Und in unserem Regionalteil stellen wir Ihnen unter anderem das Friedrichshafener Sozialzentrum WilhelmMaybach-Stift vor. Und wir beschäftigen uns mit dem sogenannten Trauerdiakonat in Reutlingen – einem Dienst, der Kinder und Familien unterstützt, die einen engen Angehörigen verloren haben. Ich wünsche Ihnen anregende Lektüre und grüße Sie, Ihre Klara Kohlstadt Inhalt Impressum ISSN 1861-1281 Lieber Vorbild als Vordenker REGIONEN 12 4 Den Einzelnen in Gemeinschaft fördern Friedrichshafen: Verschieden und doch unter einem Dach BruderhausDiakonie Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955 Mail [email protected] 13 Herausgeber Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender 6 Jeder Tag ist eine neue Herausforderung Reutlingen: Begegnungen der besonderen Art Redaktion Martin Schwilk (msk), Karin Waldner (kaw) 8 Die erste Anstalt hatte fünf Zimmer Reutlingen: Keiner soll außen vor bleiben müssen 3 TITELTHEMA 10 Das System hat Grenzen und Lücken KOLUMNE 11 Lothar Bauer, Vorstandsvor- sitzender BruderhausDiakonie: Mir könnet älles – Yes we can 14 15 Kusterdingen: Wohnangebot mit offener Tür DIAKONISCHER IMPULS 16 Frank Otfried July: Von tätiger Liebe vorangetrieben Verantwortlich Klara Kohlstadt, Bereichsleiterin Kommunikation Gestaltung und Satz Christian Werner, Joachim Haußmann Druck und Versand Grafische Werkstätte der BruderhausDiakonie, Werkstatt für behinderte Menschen Erscheint vierteljährlich Fotonachweis Titel: Idee Hochschule der Medien Stuttgart, Gestaltung mees+zacke; Seiten 8, 9: Rainer Fieselmann; Seiten 8, 16: privat; alle übrigen: BruderhausDiakonie Spendenkonto Evang. Kreditgenossenschaft Stuttgart, BLZ 600 606 06, Konto 4006 2 sozial • Ausgabe 1 | 2009 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not T I T E LT H E M A Gustav Werner Lieber Vorbild als Vordenker Er hat der Nachwelt kein literarisches Werk und keine umfassenden theoretischen Schriften hinterlassen wie andere Sozialreformer – dafür aber ein beeindruckendes Beispiel. Auch in deutschen Geschichtsbüchern findet man kaum etwas über Gustav Werner. Der am 12. März 1809 in Zwiefalten geborene Diakonie-Gründer und Industrie-Pionier ist mit seiner Außenwirkung in den Grenzen seiner schwäbischen Heimat geblieben. Ihm ging es nicht um eine Theorie, ein Modell, wie die sozialen Probleme seiner Zeit gelöst werden könnten. Ihm ging es darum, anderen ein Beispiel zu geben, ein nachahmenswertes Vorbild zu sein. Nachdem er als junger Vikar 1840 mit zehn Waisenkindern und zwei Helferinnen von Walddorf nach Reutlingen marschiert war, brachte er eine Lawine ins Rollen, die nicht mehr zum Stillstand kam. In Reutlingen sammelte Gustav Werner verwaiste und verwahrloste Kinder von der Straße auf und nahm sie mit in sein Rettungshaus. Die Familie wuchs schnell. Zu den Kindern gesellten sich kranke und behinderte Menschen sowie zahlreiche Frauen und Männer, die ihr Vermögen und ihre Fähigkeiten in die als Lebensgemeinschaft konzipierte Hausgenossenschaft mit einbrachten. Es war eine bewegte Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Scheitern der Revolution von 1848/49 hatte die Hoffnungen auf nationale Einheit und bürgerliche Freiheit zunichte gemacht. Auf dem Weg zur Industrialisierung wurden Unzählige ins soziale Abseits gedrängt. Not und Armut waren die Folge. Als überzeugter Christ und Pädagoge gab Gustav Werner in wenigen Jahren mehreren hundert Kindern und benachteiligten Menschen ein Zuhause. Der mit der Reutlinger Bürgerstochter Albertine Zwißler verheiratete Theologe gründete Schulen und Lehrwerkstätten, um „seinen“ Kindern durch Bildung und Ausbildung eine Zukunftschance zu geben. Obwohl Frauen damals keineswegs als gleichberechtigt galten, waren sie nach Ansicht Gustav Werners für soziale Tätigkeiten besonders geeignet. Viele seiner Mitarbeiterinnen arbeiteten in führenden Positionen. Die ersten Grundschullehrerinnen unterrichteten an seinen Schulen. Er selbst reiste unermüdlich durch das Land und rief die Bevölkerung zur helfenden Liebe auf. Dank seiner charismatischen Persönlichkeit zog der Reiseprediger viele Menschen in seinen Bann, die sein Werk dann praktisch oder finanziell unterstützten. Seine Anziehungskraft beruhte auf zwei selten gewordenen Charakterzügen: Er war verantwortungsbewusst und er war authentisch. Worte und Taten stimmten überein, das heißt er lebte das vor, was er anderen predigte. Überhaupt besaß Gustav Werner eine tiefe Werteorientierung, etwas das der heutigen Gesellschaft fehlt, ohne die sie langfristig aber nicht funktioniert. In Politik, Wirtschaft und Industrie forderte er ethische Maßstäbe wie Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Gustav Werner glaubte fest an einen liebenden Gott, dessen Reich er auf Erden manifestieren wollte. In seinen theologischen Überlegungen war er als junger Student in Tübingen vom Werk des schwedischen Naturforschers und Visionärs Emmanuel Swedenborg beeinflusst worden. Später lernte er bei einem Straßburg-Aufenthalt das soziale Werk des elsässischen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin kennen, das ihn tief beeindruckte. Er ging dennoch seinen eigenen Weg, auf dem er selbst Konflikte mit den konservativen Kräften innerhalb der württembergischen Landeskirche nicht scheute. 1850 kaufte er die Reutlinger Papierfabrik, die erste christliche Fabrik, in der auch die „halben Kräfte“ Arbeit fanden. Gustav Werner war nun Industrieller. Und als solcher unternahm er den äußerst mutigen Versuch, Industrie und Christentum zusammenzubringen – die Fabrik als Tempel, in der Christus, der König der Gerechtigkeit, herrschen sollte. Das Wagnis scheiterte letztendlich an den Gesetzen des Marktes. 1881 gründete Gustav Werner die Stiftung zum Bruderhaus. Als er 1887 starb, war sein beispielhaftes Werk wirtschaftlich gesichert. kaw Z + Gustav Werner lebte das vor, was er seinen Mitmenschen predigte: helfende Liebe www.teilhaben-teilsein.de 3 T I T E LT H E M A 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not sozial • Ausgabe 1 | 2009 Fiktives Interview mit Gustav Werner Den Einzelnen in Gemeinschaft fördern Was würde Gustav Werner sagen, wenn er sehen könnte, was aus seinem Werk geworden ist? „Sozial“-Redakteurin Karin Waldner hat, mit Anregungen von Lothar Bauer, ein Szenario entworfen, wie Gustav Werner vielleicht auf ihre Fragen geantwortet hätte. Y Herr Werner, Sie sind Ihr Leben lang ein Mann der Tat gewesen und haben auch Ihre Mitmenschen zum praktischen Christentum aufgerufen. „Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert“, ist ein bekanntes Zitat von Ihnen. Wenn Sie die heutige Gesellschaft anschauen: Welches wären Ihre Arbeitsschwerpunkte? Gustav Werner (1809-1887) Es wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich sage, dass es im Grunde die selben wären wie zu meiner Zeit. Ich würde meine ganze Kraft dafür einsetzen, Bedürftigen und Benachteiligten eine Heimat zu geben und ihnen Bildung, Ausbildung und Arbeit zu vermitteln. Damals waren es unter anderem viele Waisenkinder, die dringend unserer Hilfe bedurften, heute leiden vor allem Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien unter Armut und mangelnder Bildung. Von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit ist die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts leider immer noch weit entfernt. Obwohl sich die Lebensumstände vieler Menschen seit der Entstehung des Sozialstaats deutlich verbessert haben, wie ich durchaus anerkenne. Das gilt aber nur für die entwickelten Länder. In vielen Regionen Afrikas und anderswo steht die soziale Frage genauso brennend im Raum wie Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch auslöste und Massen in die Armut trieb. Das Elend der Menschen in den armen Ländern ist ebenso groß wie zu meiner Zeit, ja zum Teil noch größer. In der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus – die sich seit der Fusion mit Haus am Berg BruderhausDiakonie nennt –, betreuen heute rund 3500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um die 10 000 Menschen in Baden-Württemberg. Wie gefällt Ihnen das, was aus Ihrem Werk geworden ist? Y Nun, zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass es sich um das gemeinschaftliche Werk unserer Hausgenossenschaft handelt. Ohne den selbstlosen Einsatz ihrer Mitglieder, vor allem der Frauen, wäre soziales 4 Handeln in solch großem Stil nicht möglich gewesen. Dass ich mich schließlich zur Gründung einer Stiftung entschloss, diente in erster Linie dem Fortbestand unseres Werkes. Was daraus geworden ist, finde ich lobenswert. Benachteiligte wie Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung erfahren im Rahmen des Sozialstaates Hilfe und Teilhabe, um das Wort Ihrer Zeit zu benutzen. Die BruderhausDiakonie ist bestrebt, jeden Einzelnen möglichst dort, wo er lebt, zu fördern. Im Prinzip haben wir das auch versucht durch die Gründung der Außeneinrichtungen. In den christlichen Fabriken konnten die von mir so genannten halben Kräfte ihre Fähigkeiten zum Wohl der Gemeinschaft einsetzen. Ich bin froh, dass es heute die Werkstätten für Menschen mit Behinderung gibt mit einem vielfältigen Arbeitsplatzangebot. Und ich staune über die Kreativität, mit der in den Werkstätten der BruderhausDiakonie auch weniger leistungsfähige Menschen in Arbeitsprozesse eingebunden werden. Ohne die Frauen hätte sich das Bruderhaus nicht so entwickeln können Soviel ich weiß, waren die Frauen der Hausgenossenschaft die größte Stütze des Werkes. Damals war es ungewöhnlich, dass Frauen so viel Verantwortung trugen wie bei Ihnen. Y Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau war damals ein Fremdwort. Ohne die verantwortungsvolle und engagierte Mitarbeit vieler Frauen hätte sich das Bruderhaus aber nicht entwickeln können. Es gab in der Hausgenossenschaft viele Frauen, die mir dank ihrer Klugheit, ihres Einfühlungsvermögens und ihres liebevollen Wesens für die soziale und pädagogische Arbeit besonders geeignet erschienen. Somit war es für mich selbstverständlich, auch die Führungspositionen mit Frauen zu besetzen. Drei sehr begabte Hausgenossinnen ließ ich für den Schuldienst aus- sozial • Ausgabe 1 | 2009 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not bilden, das waren damals die ersten examinierten Grundschullehrerinnen in Württemberg. In Reutlingen sprach man deshalb von der „Weiberwirtschaft“ im Bruderhaus. Y Was mich ebenfalls interessieren würde: Finden Sie manche Ihrer Kerngedanken in der Arbeit der heutigen BruderhausDiakonie wieder? Mein positives Menschenbild zum Beispiel und den enormen Einsatz für hilfebedürftige Mitmenschen aus christlicher Nächstenliebe. Ich habe stets an das Gute im Menschen geglaubt, an den göttlichen Keim in jedem von uns. Äußere Umstände wie Armut und Benachteiligung behindern das Wachstum dieses Ich habe stets an den göttlichen Keim in jedem von uns Menschen geglaubt Keims und müssen beseitigt werden. Meine Grundwerte – Liebe, Gerechtigkeit und Haushalterschaft – können nach wie vor gute Maßstäbe für christliches Handeln sein. Vielleicht würde man heute eher von Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sprechen. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass unabhängig von sozialstaatlichen Leistungen christlicher Geist der Nächstenliebe die soziale Arbeit gestaltet, dass Menschen mit einem lebendigen Herzen Menschen in Not begleiten. Y Lassen Sie uns noch über das Thema Bildung reden, das in den Bruderhäusern des 19. Jahrhunderts einen hohen Stellenwert hatte. Sie haben darin eine nachhaltige Investition für die Zukunft gesehen. Mir ging es nie um bloßen Wissenserwerb, sondern um eine ganzheitliche, dem einzelnen Menschen entsprechende fachliche und charakterliche Bildung. Und zwar in erster Linie für Arme und Benachteiligte. Kinder aus dem Volk sollten die gleichen Chancen haben wie Kinder reicher Eltern. Als bleibende Schutzwaffe für das ganze Leben habe ich eine gute, solide Erziehung und Ausbildung bezeichnet. Und das ist heute noch so. Die Bedeutung der Familie für die Entwicklung und Bildung von Kindern ist nicht hoch genug einzuschätzen. Ich meine, gewisse moderne Verelendungsformen wahrzunehmen. Die Menschen scheinen mir zum Teil arm an tragfähigen Beziehungen und an spiritueller Beheimatung zu sein. Kinder wohlhabender Eltern und Kinder aus der gebildeten Mittelschicht haben immer noch viel größere Bildungschancen als Kinder aus, wie man heute sagt, sozial schwachen, bildungsfernen Elternhäusern. Es T I T E LT H E M A ist gut, dass sich die BruderhausDiakonie in vielfältiger Weise um benachteiligte junge Menschen bemüht, die sonst keine Zukunft hätten und schlimmstenfalls in der Kriminalität enden würden. Denn die wirtschaftliche Grundlage muss stimmen, um ein guter, von Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft beseelter Mensch zu werden ... Y … und dadurch zum Reich Gottes auf Erden beizutragen, statt es im Jenseits zu erwarten. Diese Vision hat sie geleitet, dass alle Lebensbereiche bis hin zur Industrie von der Kraft und Wirklichkeit des Reiches Gottes durchdrungen sein sollen. Ja, dieser Kern der Jesusbotschaft war mein Leitstern. „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!“ Wir wollten verantwortliche Bürger dieses Reiches der Gerechtigkeit und Liebe sein. Wir wollten mit unserer Gemeinschaft ein Modell schaffen, ein Beispiel geben dafür, wie die Kräfte des Reiches Gottes unsere Welt durchdringen können und wollen. Die heutigen Formen der Hilfe, das Leben und Arbeiten der Beschäftigten der BruderhausDiakonie sehen anders aus. Aber auch heute könnte die Stiftung nicht so wirkungsvoll tätig sein, wenn sie nicht so engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätte. Sie sprachen davon, dass die heutigen Formen der Hilfe und Unterstützung anders aussehen als früher. Was hat sich konkret verändert und was halten Sie davon? Y Wir konnten damals noch ganz direkt helfen. Wer nach einem Unwetter seine Ernte verloren hatte, bekam von uns Saatgut und Lebensmittel. Wir holten verwaiste und verwahrloste Kinder von der Straße und nahmen sie in unsere Gemeinschaft auf. Wir haben Spenden gesammelt und Fabriken geschaffen, um Armut und Not zu bekämpfen. Heute fängt der Sozialstaat die Menschen in vielen Notlagen auf. Aber das kann er nur, wenn die Unterstützung von Menschen kommt, die das Herz auf dem rechten Fleck haben. Auch Fachwissen ist wichtig, das uns manches Mal fehlte. Ich habe zum Beispiel von Personenzentrierung und passgenauen Hilfen gehört, was soviel heißt wie: Die Angebote richten sich nach dem Bedarf des einzelnen Menschen. Im Grunde ging es auch mir darum, Bedürftige in ihrem individuellen Sein wahrzunehmen und zu fördern – aber immer innerhalb der Gemeinschaft. Die BruderhausDiakonie versucht dafür, gesellschaftlich Benachteiligte in das Gemeinwesen einzugliedern. So weit sind wir doch gar nicht voneinander entfernt. 5 T I T E LT H E M A 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not sozial • Ausgabe 1 | 2009 Betreuerinnen im Lindenhaus Jeder Tag ist eine neue Herausforderung Gustav Werner standen engagierte Helferinnen und Helfer zur Seite. Auch die BruderhausDiakonie braucht motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Freude an ihrer Arbeit haben. Es gibt sie. Bei der Behindertenhilfe Ermstal etwa. Sie hat Kraft und sie gibt Kraft: Heike Göpfert hält Sabrina Schön, die ohne ihre Hilfe nicht gehen könnte 6 Breitbeinig, die Arme fest um die Hüften der zierlichen jungen Frau geschlungen, bewegt sich Heike Göpfert langsam vorwärts. Setzt einen Schritt nach dem anderen. Seelenruhig und konzentriert. Jedes Mal, wenn der schmale Körper vor ihr zur Seite kippt oder die Beine wegzurutschen drohen, spannt sie ihre Muskeln an und packt fester zu. Ein Kraftakt? „Heute nicht“, meint die Heilpädagogin. Heute hat sie keinen Krampf im Oberarm, wie so oft schon, und keinen Ellenbogen ins Gesicht oder ins Genick bekommen. Wenn Sabrina Schön* wütend ist, schlingt Heike Göpfert lieber einen Gurt um ihren Bauch, der sie auf Abstand hält und den Stoß mit dem Ellenbogen ins Leere laufen lässt. Bis jetzt gibt es für Sabrina Schön keinen Grund, zornig zu sein. Heike Göpfert hat ihr am Vormittag mit Engelsgeduld anderthalb Nutellabrote bröckchenweise zu essen gegeben. Sabrina Schön, die nur noch mit Mühe schlucken kann und ständig in Gefahr ist sich zu verschlucken, hat tapfer durchgehalten. Jetzt sind beide auf dem Weg zum Speisezimmer im Lindenhaus, wo die Behindertenhilfe Ermstal Menschen mit schwersten Behinderungen, mit epileptischen Anfällen oder mit besonders aggressiven Verhaltensweisen sogenannte tagesstrukturierende Maßnahmen anbietet. Im Speisezimmer lässt sich Sabrina Schön erschöpft in einen Sessel fallen. Um ihre hagere Gestalt schlabbert ein eleganter rosa Hausanzug. Die langen schlanken Finger sind rötlich lackiert, die kurzen Haare schwarz gefärbt. „Sie legt Wert auf ihr Äußeres“, erklärt die Betreuerin. Nur gegen die unkontrollierten Bewegungen von Armen, Händen, Kopf und Beinen gibt es kein Mittel. Sabrina Schön leidet an einer unheilbaren erblichen Erkrankung des Nervensystems mit dem Namen Chorea Huntington. Bis vor zehn Jahren war die 37-Jährige gesund, bis vor zwei Jahren konnte sie immerhin noch sprechen. Nach etwa 15 Jahren führt die Krankheit zum Tod. Bleiben also noch fünf. „Lieber nicht dran denken“, sagt Heike Göpfert und wechselt schnell das Thema. Die beiden Frauen haben eine gute, vertrauensvolle Beziehung zueinander aufgebaut. Die 34 Jahre alte Heilpädagogin ist für Sabrina Schön die wichtigste Bezugsperson, seit deren Mutter im letzten Jahr starb. Heike Göpfert verbringt viel Zeit damit, die leichtgewichtige Klientin zum Essen zu bewegen. „Sie müsste 6000 Kalorien täglich zu sich nehmen. Ich bin froh, wenn wir auf 2500 kommen.“ Manchmal hat Sabrina Schön das Essen satt. Wenn es ihr nicht gefällt etwa. Sie hat sofort bemerkt, dass das Fleisch auf ihrem Teller püriert ist. Unruhig rutscht sie auf dem Sessel hin und her. Als ihr Heike Göpfert etwas Fleisch in den Mund schiebt, spuckt sie es sofort wieder aus. „Ein bisschen musst du essen, wenigstens die Nudeln“, mahnt die Heilpädagogin. Sabrina Schön will aber nicht. Unwillig reißt sie sich den blauen Latz vom Hals und macht eine schnelle Bewegung nach vorn. Heike Göpfert kann sie gerade noch festhalten. „Drei Löffel, dann gibt’s Nachtisch.“ Sabrina Schön schlägt wütend um sich, wirft den Kopf nach hinten gegen die Sessellehne. „Im Liegen kann sie besser schlucken“, sagt die Betreuerin und verstellt die Neigung. Sabrina Schön tritt kräftig gegen den Esstisch. Sie tobt. Im Esszimmer wird es immer lauter. Ein junger Mann schlägt pausenlos mit der Hand auf den Tisch, andere schreien. Ganz allmählich beruhigt sich Sabrina Schön. Sie isst drei Löffel Nudeln, dann den Orangenquark, verschluckt sich, fängt an zu husten, röchelt. Heike Göpfert zieht sie schnell nach vorn, bis sie wieder Luft bekommt. Auf dem Rückweg ist die 37-Jährige ganz ruhig. Im Badezimmer stützt sie sich mit beiden Händen auf den Waschbeckenrand, während die nasse Windel gegen eine neue getauscht wird. Heike Göpfert wechselt seit 17 Jahren die Windeln inkontinenter sozial • Ausgabe 1 | 2009 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not T I T E LT H E M A Klienten. „Es macht mir nichts aus.“ Manchmal ist aber auch für sie die Grenze des Erträglichen erreicht. „Es gibt Klienten, die gerne mit Kot hantieren. Das ist für alle Kollegen eine Grenzsituation.“ Ein junger Mann betritt den Gruppenraum. Er nimmt den roten Schutzhelm vom Kopf und streckt sich auf dem Sofa aus. Paul Scheer* ist schwerer Epileptiker. Sobald Heike Göpfert ein kehliges Geräusch wahrnimmt, „als wenn die Luft aus der Lunge gepresst wird“, weiß sie, dass ein epileptischer Anfall folgt. „Ich pass auf, dass er sich nicht verletzt, und warte, bis der Krampfanfall vorüber ist.“ Im Moment wirkt Paul Scheer friedlich. Wenn er aggressiv ist, kann er kratzen, boxen oder sich mit aller Kraft gegen seine Betreuerin werfen. Ein Zivi kommt und holt Sabrina Schön ab. Nach der Mittagspause werden die Klienten auf sogenannte Interessengruppen verteilt. Sabrina Schön besucht am liebsten donnerstags die Beauty- und WellnessGruppe, wo Haare gefärbt, Nägel lackiert und Augen geschminkt werden. Heute bietet Sandra Hamel in ihrem Gruppenraum Entspannung und sinnliche Wahrnehmung an. Nach dem Spaziergang am Morgen auf matschigem Schnee, während der kühle Wind den Spaziergängern winzige Hagelkörner ins Gesicht blies, genau das Richtige. „Den Leuten soll es gut gehen bei uns. Das ist unser wichtigstes Ziel“, betont Sandra Hamel. Die Wahrnehmung mit allen Sinnen gehört dazu. Farbiges Licht, Pop- oder Rockmusik, Düfte: Snoozle-Raum und Badezimmer bieten vielfältige Reize. Mit Hilfe einer Kollegin hievt Sandra Hamel den schwerst behinderten Stefan Clauss* aus seinem Rollstuhl in den Stehständer. „Alleine schaffe ich das nicht“, sagt die Heilerziehungspflegerin. Ihr Rücken leidet unter der ständigen Belastung. „Mit Krankengymnastik ist es zwar besser geworden, doch ich muss aufpassen.“ Ihre rechte Hand fährt liebevoll durch Stefan Clauss’ dichtes Haar. Dann legt sie ein Tamburin und einen Trommelschlägel vor ihn hin. Der 20-Jährige greift nach dem Schlägel und bewegt ihn langsam auf und ab. Später wird er auf seinem geliebten Wasserbett liegen, unter dem zwei Lautsprecher installiert sind. Während die von den Bässen ausgehenden Schallwellen das Wasser bewegen, spürt Stefan Clauss seinen Körper. „Er ist für alles offen und hat immer gute Laune“, schwärmt Sandra Hamel. Die 28-Jährige mag sein ansteckendes Lachen. Und sie mag ihren Beruf. Obwohl viele Klienten unberechenbar sind. Obwohl sie der Lärmpegel manchmal belastet. Die Arbeit im Lindenhaus macht ihr so viel Freude, dass sie sich berufsbegleitend noch zur Heilpädagogin ausbilden lässt. „Unsere Klienten haben eine ganz besondere Ausstrahlung“, findet Sandra Hamel. „Das sind alles Individuen“, meint Heike Göpfert, die eben hereinkommt. Sabrina Schön soll wieder essen. Damit sie nicht noch dünner wird. Heike Göpfert wirkt so motiviert wie am Morgen. „Für mich ist jeder Tag hier eine neue Herausforderung.“ Eine, die sie meistens gerne annimmt: „Es ist das, was ich kann.“ kaw Z Heike Göpferts Klientin fällt das Schlucken sehr schwer *Namen von der Redaktion geändert Kreativität in heiklen Situationen Im Lindenhaus der Behindertenhilfe Ermstal werden 33 Menschen mit teilweise schwersten Behinderungen tagsüber betreut. Etwa die Hälfte leidet unter epileptischen, zum Teil lebensbedrohlichen Anfällen. Bereichsleiter Markus Rank hat eine klare Vorstellung vom Umgang mit den Klienten: „So wenig Einschränkung und so viel Freiheit wie möglich.“ Für sein Team heißt das: „Ein bisschen mehr Engagement als üblich bringen und keine Situation als zu schwierig ansehen.“ Markus Rank kann sich in dieser Hinsicht auf sein Team verlassen. „Bei uns geben die Mitarbeiter alles.“ Mit Pfiffigkeit Sandra Hamel mag sein ansteckendes Lachen. Bis Stefan Clauss sicher im Stehständer steht, bleibt seine Miene jedoch ernst. und Kreativität würden heikelste Situationen gemeistert – wie im Fall der schwer kranken Sabrina Schön*, die von Einrichtungen im Landkreis Esslingen abgewiesen worden sei. Die Solidarität unter den Mitarbeitern sei groß: „Man hilft sich gegenseitig und springt für andere ein.“ 7 T I T E LT H E M A 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not Bruderhaus Rodt (um 1890) Mutteranstalt Reutlingen (1865/66) sozial • Ausgabe 1 | 2009 Bruderhaus Fluorn (um 1890) Die erste Anstalt hatte fünf Zimmer Neben der Reutlinger Mutteranstalt gab es 1861 rund 30 Zweiganstalten in Württemberg. Einige sind heute noch Standorte der BruderhausDiakonie. Das heutige Seniorenzentrum in Alpirsbach 8 Die Geschichte des Reutlinger Rettungshauses begann 1840 mit dem Einzug von Gustav Werner, zehn Kindern und zwei Mitarbeiterinnen in eine gemietete Fünf-Zimmer-Wohnung in Reutlingen. Mit Hilfe von Spenden und Darlehen von Freunden erwarb Werner zwei Jahre später ein größeres Wohnhaus auf dem Stadtgraben am Zimmerplatz, das er „Gottes-Hülfe“ nannte und das er mit 30 Kindern und fünf Mitarbeiterinnen bezog. Nach dem Kauf der Papierfabrik an der Echaz 1850 zog Werner in das mit der Fabrik erworbene Wohnhaus um, in dem später Schulräume, zwei Speisesäle und Schlafsäle für die Buben eingerichtet wurden. Das Haus erhielt den Namen „Mutterhaus“. In den 1850er Jahren wurde die Reutlinger Anstalt kontinuierlich erweitert. Heute bietet die Behindertenhilfe Reutlingen der BruderhausDiakonie auf dem Gelände der ehemaligen „Mutteranstalt“ Wohnen mit Versorgungsstruktur für Menschen mit Behinderung an. Die erste Zweiganstalt gründete Gustav Werner in Fluorn. Nach etlichen Missernten waren die Bauern der Schwarzwald-Gemeinde Anfang der 50er Jahre in großer Not. Viele Kinder konnten nicht mehr versorgt werden. Gustav Werner erwarb im Februar 1854 die ehemalige Pochenmühle, deren Namen von der früher dort betriebenen Erzgrube stammte. Er hatte erkannt, dass man aus dem Anwesen einen schönen Gutshof machen konnte. Im Mai 1854 zogen Helfe- rinnen und Helfer aus Reutlingen mit 40 Kindern aus Fluorn in das Bruderhaus. Das Anwesen wuchs rasch und entwickelte sich zu einem gut gehenden landwirtschaftlichen Betrieb. Als die Zweiganstalt in den Besitz der Gustav Werner Stiftung überging, lebten dort zwölf Hausgenossen und 87 erwachsene „Pfleglinge“. Heute werden in Fluorn Menschen mit geistiger Behinderung stationär betreut. Die Einrichtung gehört zur Behindertenhilfe der BruderhausDiakonie im Landkreis Rottweil. Als weiteres Bruderhaus im Schwarzwald kam 1855 Rodt hinzu. Freunde und Unterstützer von Gustav Werners sozialem Werk hatten den Gutshof der Familie Reich gekauft. Nachdem beide Eltern verstorben waren, trat die älteste Tochter, Annemarie „Ameile“ Reich, eine Anhängerin von Gustav Werner, mit ihren jüngeren Geschwistern in das neu gegründete Bruderhaus in Rodt ein. Bereits 1856 lebten in der Rettungsanstalt 30 Kinder. Heute befinden sich dort der Jugendhilfeverbund Kinderheim Rodt der Die Behindertenhilfe Ermstal (im Hintergrund) und die Werkstätten in Dettingen/Erms sozial • Ausgabe 1 | 2009 Bruderhaus Alpirsbach (um 1890) 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not Bruderhaus Schernbach (um 1890) BruderhausDiakonie und die Ludwig-Haap-Schule, eine Schule für Erziehungshilfe. Betreut werden Kinder und Jugendliche, die besonderer Förderung und Unterstützung bedürfen. 1856 erwarb Gustav Werner das Haus Alpirsbach am Marktplatz mit dem dahinter gelegenen Färbhaus von dem verwitweten Tuchmacher Johannes Heller. Die Tuchmacherei sollte der Lehrlingsausbildung dienen, wurde offensichtlich aber nur bis 1858 betrieben. Von 1861 bis 1863 leitete Nane Merkh die Anstalt. Sie konzentrierte sich vor allem auf die Entwicklung des Ladengeschäftes, das zur größten Stütze der Anstalt wurde. Nachdem die Buben nach Rodt verlegt worden waren, versorgte das Alpirsbacher Bruderhaus nur noch Mädchen. Es gab eine Schule, eine Kinderschule und eine kleine Landwirtschaft. Heute liegt mitten im alten Ortskern das Seniorenzentrum Alpirsbach der BruderhausDiakonie, seit 2007 mit einem neuen Gebäude. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich die Betreuten Seniorenwohnungen. Göttelfingen im Schwarzwald gehörte zu den Anstalten, die ursprünglich nicht in Gustav Werners Besitz waren und dennoch zum Bruderhaus gehörten. Freunde Werners hatten 1857 ein zweistöckiges Wohnhaus mit landwirtschaftlichen Gebäuden und Äckern gekauft. Drei Jahre später lebten bereits 30 Kinder und zwölf Hausgenossen hier. Es wurde eine Schule gegründet, in der Nane Merkh unterrichtete. Erst 1879 ging die Göttelfinger Anstalt in den Besitz von Gustav Werner über. Bei einem Brand wurden 1884 große Teile des Anwesens zerstört. Nach dem Wiederaufbau ein Jahr später in vergrößertem Umfang gab es Platz für 70 bis 100 Menschen. Heute befindet sich in Seewald-Göttelfingen ein psychiatrisches Fachpflegeheim der Sozialpsychiatrischen Hilfen im Landkreis Freudenstadt. Derzeit entsteht ein Neubau. Sobald dieser fertig ist, soll das alte Gebäude saniert werden. T I T E LT H E M A Bruderhaus Dettingen/Erms (1865/66) 1858 erwarb Gustav Werner einen Bauernhof in der Schwarzwald-Gemeinde Schernbach. Das Anwesen bestand aus zwei Wohnhäusern, landwirtschaftlichen Gebäuden, Gärten und Wald. Zwei Jahre später waren in Schernbach bereits 16 Kinder und zehn Erwachsene untergebracht. Nachdem die dortige Zweiganstalt in den Besitz des Aktienvereins übergegangen war, wurde sie verkauft. Ein Anhänger Gustav Werners, der Jurist Friedrich Schlemmer aus Frankfurt, kaufte 1867 einen großen Teil des Hofes und überließ Gustav Werner die Anstalt zur freien Verfügung. Seine Frau vermachte die AnstaltSchernbach nach ihrem Tod im Jahre 1900 der Gustav Werner Stiftung. Heute werden in Seewald-Schernbach Menschen mit Behinderung von der Behindertenhilfe der BruderhausDiakonie im Landkreis Freudenstadt stationär betreut. Der Werkstättenverbund bietet in Schernbach Arbeit, Beschäftigung, Qualifizierung und Tagesstrukturierung an. Im Jahr 1859 begann Gustav Werner mit dem Bau einer Papierfabrik in Dettingen bei Urach mit rund 240 Arbeitsplätzen, die 1861 in Betrieb genommen wurde. Ebenfalls in Dettingen wurde ein großes Wohnhaus gebaut, zunächst als Wohnheim für Fabrikarbeiter, später als Heim für pflegebedürftige Menschen. Der Aktienverein, der in der Krise der 60er Jahre das Weiterbestehen von Gustav Werners Werk sicherte, kaufte etliche Grundstücke hinzu. 1891 wurde das Rettungshaus der Gustav Werner Stiftung übereignet. Heute bietet die Behindertenhilfe Ermstal der BruderhausDiakonie in Dettingen/Erms stationäre Wohngruppen sowie Förder- und Betreuungsgruppen an. In unmittelbarer Nähe befindet sich die Werkstatt für Menschen mit Behinderung. kaw Z So sehen heute Wohnhäuser für Menschen mit Behinderung auf dem Gelände der ehemaligen Zweiganstalt in Fluorn aus 9 T I T E LT H E M A 200 Jahre Gustav Werner – 175 Jahre Teilhabe für Menschen in Not sozial • Ausgabe 1 | 2009 Neue Hilfeangebote kalkulieren Das System hat Grenzen und Lücken Gustav Werner sah die Not seiner Zeit und half. Heute verhindern die sozialen Sicherungssysteme Hunger und Elend. Doch nicht immer reichen sie aus – und nicht immer erlauben sie schnelles Handeln. Wolfgang Welte sieht die Notwendigkeit, dringende Aufgaben auch dann anzugehen, wenn sie sich im Vorfeld nicht bis ins Letzte durchrechnen lassen 10 Im Schwarzwalddorf Fluorn war Anfang der 1850er Jahre die Not so groß, dass die Gemeinde sich um rund 70 unversorgte Kinder kümmern musste. Eine Aufgabe, die den kleinen Ort überforderte. Gustav Werner wurde um Unterstützung gebeten. Als Soforthilfe nahm Gustav Werner zunächst 13 der Kinder in seinem Reutlinger Bruderhaus auf. Wenig später kauften zwei von Werners Hausgenossen die Pochemühle in Fluorn. Sie legten damit den Grundstein für einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb, der bald 40 Kinder samt ihren Betreuern ernährte. „Not sehen und handeln“ war Gustav Werners Leitsatz: Wenn Menschen Hunger und Verelendung drohte, organisierte er kurzfristig Hilfe. „Bei uns sind Menschen – anders als zu Gustav Werners Zeiten und anders als in anderen Gegenden der Welt– im Regelfall nicht existenziell bedroht“, weiß Wolfgang Welte, Bereichsleiter Behindertenhilfe der BruderhausDiakonie. „Wir haben ein zwar in manchen Punkten kritikwürdiges, aber stabiles soziales Netz.“ Sozialstaatliche Regelungen sichern die Grundversorgung von armen Menschen und von Menschen mit Behinderungen oder mit Krankheiten. Und sie ermöglichen ein verzweigtes System unterschiedlichster Hilfeleistungen von Anbietern wie der BruderhausDiakonie. Dieses System hat allerdings seine Grenzen und Lücken: Nicht jede Hilfe, die notwendig ist, wird finanziert. Der Bereich der sogenannten offenen Hilfen – darunter verstehen die Fachleute Beratungsund Begegnungsangebote – ist beispielsweise nicht kostendeckend zu betreiben. Und zunehmend gelten auch in der sozialen Arbeit Marktgesetze: Der Wettbewerb zwischen den Anbietern sozialer Dienstleistungen nimmt zu und wird häufig auch über den Preis ausgetragen. Müsste Gustav Werners Leitmotiv also heute heißen „Not sehen und kalkulieren“ statt „Not sehen und handeln“? Sicher müssen Projekte sauber kalkuliert werden, sagt Wolfgang Welte: „Wir stehen unter der Verpflichtung zu kalkulieren.“ Das gebiete der verant- wortliche Umgang mit öffentlichen Geldern – aber auch die Verantwortung gegenüber den eigenen Mitarbeitern und den Menschen, für die man arbeitet. Dennoch müsse man „auch Wege gehen, die nicht ganz kalkulierbar sind“. Er formuliert den Satz deshalb anders: „Not sehen und handeln heißt übersetzt ins Heutige: im Zweifel auch Menschen begleiten, die keine positive Perspektive haben, Menschen auch mal beim Scheitern zu begleiten – etwa wenn sie keine Hilfe annehmen und nicht den Weg der klassischen Integration gehen.“ Das bedeutet auch, Aufgaben anzugehen, die sich nicht bis ins Letzte durchrechnen lassen – trotz wirtschaftlicher Zwänge, denen auch Anbieter sozialer Dienstleistungen heute unterliegen. Dort zu arbeiten, wo Menschen am stärksten von Ausgrenzung bedroht sind – darin, so Welte, sollten diakonische Einrichtungen ihre Aufgabe sehen. Ausgrenzung beseitigen ist die wichtigste Aufgabe Das Projekt FABI plus beispielsweise, ein Projekt des „Fachdienstes Assistenz, Beratung, Inklusion“ der BruderhausDiakonie in Reutlingen, ermöglicht Kindern mit schwerer Behinderung den Besuch eines ganz normalen Kindergartens in ihrer Wohngegend. Es beseitigt Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. Aber es ist auch ein Grenzfall: Innerhalb der bestehenden Finanzierungsregelungen ist das Projekt nicht zu stemmen. „Da müssten wir das Projekt einstellen“, sagt Wolfgang Welte. „Aber es ist unsere Verantwortung, die Grenzen der Finanzierungsregelungen zu überdehnen.“ Das heißt dann etwa, alternative Finanzierungsmöglichkeiten wie Spenden zu suchen, aber auch die öffentlichen Geldgeber auf die Lücken im System aufmerksam zu machen. Denn nur dadurch könne man in kleinen Schritten das Hilfeangebot weiterentwickeln. „Wir handeln heute auf einem abgesicherten und viel höheren Niveau als Gustav Werner – aber das Handeln über das Abgesicherte hinaus ist eine Konstante seit Gustav Werners Zeiten“, ist sich Wolfgang Welte sicher. msk Z sozial • Ausgabe 1 | 2009 KO L U M N E Lothar Bauer: Mir könnet älles! – Yes, we can! Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie Hat der neue US-Präsident Barack Obama seinen Slogan „Yes, we can“ bei den Schwaben abgekupfert, die bekanntlich „alles könnet, außer Hochdeutsch“? „Yes, we can!“ Das könnte man auch über die Gustav-Werner-Geschichte schreiben. Ihm, unserem Stiftungsgründer, ist dieses Heft gewidmet. Unsere württembergische Heimat war zu Gustav Werners Zeiten geprägt von Armut, von Hunger und Verelendung. „Hier geht nichts mehr“, sagten sich viele und wanderten aus. „Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert“, sagte Gustav Werner. „Yes, we can!“ Der depressiven Grundstimmung und der Verzweiflung wurde Entschlossenheit entgegengesetzt. Über 30 Rettungshäuser für die Verlorenen der damaligen Zeit haben Gustav Werner und seine Hausgenossen gegründet als Zufluchts-, Hoffnungs- und Bildungsorte für Tausende von Waisenkindern, für alte, behinderte und gebrechliche Menschen. Der „Hit“ jener Generation war ein Choral des Grafen Zinsendorf: „Wir woll’n uns gerne wagen, in unseren Tagen, der Ruhe abzusagen, die’s tun vergisst. Wir woll’n nach Arbeit fragen, wo welche ist, nicht an dem Amt verzagen, uns fröhlich plagen und unsre Steine tragen aufs Baugerüst.“ Die Baustelle hieß Reich Gottes, und gebaut werden sollte eine Kathedrale der Gerechtigkeit und Nächstenliebe mitten in der Welt. Mit Gottes Hilfe – „Yes, we can!“ Ohne so ein entschlossenes „Yes, we can!“ wäre der Mut nicht da gewesen, Fabriken zu gründen. Die „Reizung des Gewissens“ (Theodor Heuss) hinein in die neue Welt von Kapital und Maschinen wäre ausgeblieben. Ausgeblieben wären die Impulse des herausragenden Pädagogen Gustav Werner zur Qualifizierung der Industriearbeiterschaft. Aus der diakonisch-industriellen Kaderschmiede des Bruderhauses ging der Waisenknabe hervor, der „König der Konstrukteure“ wurde. Wilhelm Maybach hat jenen Stern über dem Schwabenland zum Leuchten gebracht, der für Erfolg und Wohlstand des Landes steht. Wie ein Feldherr war Gustav Werner gegen die Not seiner Zeit ins Die Bruderhausbewegung war ein Teil der zivilgesellschaftlichen Kräfte Feld gezogen. Viel hat er den Seinen abverlangt in diesem Kampf für Teilhabe – am meisten sich selbst. Die Menschen um ihn herum und er selbst haben Sicherheiten verlassen um der Nächsten Willen und sind dadurch manchmal selbst in die Opferrolle gekommen. An einer großen Epochenwende unserer Geschichte, am Übergang zur Industriegesellschaft, haben sie dazu beigetragen, dass die Weichen gestellt wurden in Richtung Modernität, Bildung, sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe. „Mir könnet alles.“ – Solange das nur die anderen glauben, ist noch nichts Schlimmes passiert. Kürzlich wurde von einem öffentlichen Auftritt Obamas berichtet. Eine Frau bat ihn um Hilfe: Sie habe Arbeit und Wohnung verloren und lebe nun in ihrem Auto. Der Redegewandte sei ins Stottern geraten, habe aber in einer Geste von Mitgefühl und Hilflosigkeit die Frau nach ihrem Namen gefragt, ihr die Hand gegeben und sie umarmt. Auch für Gustav Werner und die Seinen wurden Grenzen des Helfenkönnens immer wieder sehr hart spürbar. Mehr als ein Beispiel konnte die Hausgenossenschaft nicht geben. Sie konnte nur eine Insel im Meer des Elends schaffen. Die Bruderhausbewegung war ein Teil der zivilgesellschaftlichen Kräfte, die im 19. Jahrhundert aus obrigkeitlichen Verhältnissen aufbrachen. Menschen machten die allgemeinen Anliegen zur ihrer Sache. Frieden an der sozialen Front rückte in Sichtweite mit den Sozialgesetzgebungen Bismarcks. Gustav Werner hat sie euphorisch begrüßt als einen Schritt in Richtung des Reiches Gottes. Jenseits des Atlantiks sind die Gewichtsverhältnisse zwischen Zivilgesellschaft und Sozialstaat eher umgekehrt als bei uns. Sollte der neue Präsident seine Ankündigungen wahr machen und vom europäischen Sozialstaatsmodell abkupfern wollen, damit Menschen möglichst nicht mehr im Auto leben müssen, dann würden wir sagen: „Yes, you can!“ 11 REGIONEN sozial • Ausgabe 1 | 2009 Friedrichshafen Verschieden und doch unter einem Dach Im Wilhelm-Maybach-Stift profitieren zwei Einrichtungen voneinander Durch die enge Nachbarschaft der Einrichtungen ergeben sich vielfältige Synergieeffekte 12 Als das Sozialzentrum Wilhelm-Maybach-Stift der BruderhausDiakonie in Friedrichshafen Anfang des Jahres eröffnet wurde, war in der Presse von einer „einmaligen Kombination in Baden-Württemberg“ zu lesen. Etwas Besonderes ist das Sozialzentrum tatsächlich – weil es ein offenes Zentrum ist mit verschiedenen Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten sowie Beratungs- und Freizeitangeboten für ältere Menschen, aber auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Der Gebäudekomplex im Stadtteil Kitzenwiese beherbergt mehrere soziale Einrichtungen: eine Pflegeeinrichtung für ältere Menschen mit 48 Plätzen sowie 20 betreute Wohnungen, eine Begegnungsstätte und ein Café. „Wir wollen ein Zentrum sein für das gesamte Stadtgebiet Kitzenwiese und Sankt Georgen mit seinen insgesamt rund 7000 Einwohnern“, sagt Ulrich Gresch, der Leiter der Altenhilfe Bodensee-Oberschwaben der BruderhausDiakonie. „Deshalb stellen wir unsere Gemeinschaftsräume auch für Beratungsdienste etwa des Stadtseniorenrates oder der Seniorenbeauftragten der Stadt zur Verfügung – wir legen großen Wert auf die Offenheit nach außen.“ Neben den Einrichtungen für ältere Menschen ist in den Gebäuden ein sozialpsychiatrisches Fachpflegeheim untergebracht. Dort leben 20 Menschen, die psychisch erkrankt und zusätzlich pflegebedürftig geworden sind – wegen ihrer psychischen Erkrankung oder weil sie an körperlichen Einschränkungen wie etwa einem schweren Diabetes leiden. Andreas Weiß lobt die positiven Wirkungen, die das Sozialzentrum für die Menschen hat, die im Sozialpsychiatrischen Fachpflegeheim leben. „Die Bewohner sind durch ihre psychischen und körperlichen Einschränkungen so beeinträchtigt, dass sie einen hohen Betreuungsbedarf haben“, sagt der Leiter der Sozialpsychiatrischen Hilfen Ravensburg-Bodenseekreis der BruderhausDiakonie, die das Fachpfle- geheim betreiben. „Die offenen Einrichtungen im Sozialzentrum bieten auch ihnen die Möglichkeit, Nachbarn aus dem Sozialzentrum und aus dem Stadtteil zu begegnen und so ein Stück Alltagsnormalität zu leben.“ Das Fachpflegeheim sei mit seinen 20 Plätzen in zwei Wohneinheiten bewusst klein und übersichtlich geplant worden, um eine gute Einbindung in das Sozialzentrum, aber auch in den Stadtteil zu erleichtern. Mit dem Sozialpsychiatrischen Fachpflegeheim im Sozialzentrum Wilhelm-Maybach-Stift hat die BruderhausDiakonie ihr Wohn- und Betreuungsangebot für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Friedrichshafen vervollständigt, betont Andreas Weiß. Vom ambulant betreuten Wohnen für Menschen, die weitgehend selbstständig in der eigenen Wohnung leben können, über Wohngruppen und Wohnheime mit intensiverer Betreuung bis hin zum Fachpflegeheim kann die BruderhausDiakonie in Friedrichshafen die jeweils passende Wohnform anbieten. Das Sozialpsychiatrische Fachpflegeheim und die Pflegeeinrichtung für alte Menschen im Sozialzentrum Wilhelm-Maybach-Stift versorgen unterschiedliche Personengruppen, bieten unterschiedliche Leistungen und haben unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Dennoch ergeben sich vielfältige Berührungspunkte und Synergieeffekte. Davon ist Ulrich Gresch genauso überzeugt wie Andreas Weiß. „Beide Einrichtungen werden mit- und voneinander lernen und sich gut ergänzen“, prophezeit der Sozialpsychiatrie-Experte Andreas Weiß, „die Altenhilfe hat das umfassendere pflegerische Know-how – davon profitieren wir – und auf der anderen Seite haben wir mehr Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und sozialpsychiatrischer Betreuung und können den Mitarbeitenden in der Altenhilfe bei Menschen mit besonderen psychiatrischen Fragestellungen unter die Arme greifen.“ Und Altenhilfe-Experte Ulrich Gresch verweist auf einen weiteren Vorteil des Sozialzentrums: „Die gesamte Hauswirtschaft und die Hausmeisterdienste betreiben wir gemeinsam, und für die Nachtwachen haben wir einen Pool mit einem gemeinsamen Dienstplan eingerichtet.“ So ließen sich beide Einrichtungen wirtschaftlicher unterhalten. msk Z REGIONEN sozial • Ausgabe 1 | 2009 Reutlingen Begegnungen der besonderen Art Viele Familien suchen Hilfe beim Trauerdiakonat der BruderhausDiakonie Das hätte Eva Glonnegger sich nicht träumen lassen: Dass sie mit Anfang 50 noch eine Ausbildung zur Diakonin machen würde, um für ihre neue Aufgabe nicht nur psycho-sozial, sondern auch geistlich geschult zu sein. Seit 30 Jahren ist sie in der sozialpädagogischen Familienhilfe tätig. Vor neun Monaten hat sie zusätzlich das von der BruderhausDiakonie eingerichtete Trauerdiakonat, das erste und bislang einzige innerhalb der württembergischen Landeskirche, übernommen. Seither hilft und begleitet sie Familien, wenn die Mutter, der Vater oder ein Geschwisterkind schwer erkrankt oder verstorben ist. Wobei sich das Hauptaugenmerk auf die Kinder richtet. Das Trauerdiakonat ist eines von 15 neuen Angeboten, die der Oberkirchenrat im Rahmen des Projektes „Diakonat neu“ fünf Jahre lang finanziell fördert. Pfarrer Martin Enz, Bereichsleiter Theologie und Ethik bei der BruderhausDiakonie, beschäftigte das Thema seit langem. Als ehemaliger Seelsorger auf der Kinderkrebsstation der Tübinger Uniklinik wusste er, „dass sterbende Kinder und deren Eltern intensiv begleitet werden, Kinder, die einen Elternteil verlieren, dagegen nicht“. Er bot Eva Glonnegger die neue Stelle samt Ausbildung zur Diakonin an. Sie überlegte nicht lange und sagte zu. „Die Begegnung mit Trauernden ist etwas Besonderes“, findet die 53-Jährige, „weil sie echt sind und offen über ihre Gefühle sprechen.“ Die studierte Sozialarbeiterin ist überrascht, wie groß der Bedarf an Trauerbegleitung ist – viel größer, als sie und Pfarrer Enz erwartet haben. Anfragen kommen aus allen drei Kirchenbezirken im Landkreis Reutlingen. „Allein im Kirchenbezirk Reutlingen gibt es mehr betroffene Familien, als ich mit meinem 50-ProzentAuftrag begleiten kann.“ Deshalb hat Eva Glonnegger das Trauernetz Reutlingen initiiert, in dem die BruderhausDiakonie mit dem Haus der Familie, dem Seelsorgeverein Metzingen, dem Arbeitskreis Leben, den Reutlinger Kirchengemeinden und der City-Kirche kooperiert. Angeboten werden Trauergruppen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie ein Trauer-Café mit ehrenamtlichen HospizMitarbeiterinnen. „Trauer sieht für jeden Menschen anders aus“, weiß Eva Glonnegger, „die Begleitung ist immer ganz individuell.“ Ob sie mit einem Kind spielt, malt oder knetet, ob sie mit einem Jugendlichen im Hochseilgarten klettert und redet oder am Computer sitzt und chattet, hängt vom Bedürfnis ihres Gegenübers ab. Für die Betroffenen sei die Begleitung „eine große Hilfe, weil sie lernen, mit dem Verlust besser umzugehen“. Hat die Trauer keinen Raum, sei die Gefahr, später in eine stationäre Jugendhilfemaßnahme zu kommen, für Kinder von Alleinerziehenden und Halbwaisen laut Statistik gleich groß. Pfarrer Martin Enz plädiert deshalb für eine Vollzeitstelle im Trauerdiakonat. „Es wird viel teurer, wenn die Kinder nicht professionell betreut werden.“ Außerdem bietet Eva Glonnegger auch Menschen, die beruflich viel mit Kindern zu tun haben wie Lehrerinnen, Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen, ihre Hilfe an. Es gehe darum, „mit dem Tod angstfrei umzugehen und ein Gespür dafür zu bekommen, was Kinder in dieser Situation brauchen“. Zum Beispiel wenn der Muttertag bevorsteht und die anderen Kinder Geschenke basteln? Eva Glonnegger meint: Ebenfalls basteln – zum einen für den Menschen, der für das Kind der mütterliche Teil in der Familie ist, zum anderen für die verstorbene Mutter, der man das Geschenk ans Grab bringen kann. Solche Rituale seien wichtig, damit Kinder das traumatische Erlebnis verarbeiten könnten. Eva Glonnegger verarbeitet die traurigen Geschichten am besten mit Stille, Spaziergängen, Supervision – und mit Lachen. Sie lacht auch mit den trauernden Kindern, „denn die wollen leben und fröhlich sein“. Da ist sie sich als Trauerbegleiterin und angehende Diakonin ganz sicher. kaw Z Eva Glonnegger möchte jedem trauernden Kind möglichst das geben, was es braucht + www.bruderhausdiakonie.de/infobereich/aktuelles/Trauerwege/ 13 REGIONEN sozial • Ausgabe 1 | 2009 Reutlingen Keiner soll außen vor bleiben müssen Die Förderstiftung für Bildung und Beruf der BruderhausDiakonie will die Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher unterstützen. Jetzt hat sie zum ersten Mal Fördergelder für entsprechende Projekte vergeben können. Zu den geförderten Projekten gehört auch der zusätzliche Stützunterricht beim Ausbildungsverbund Tübingen 14 Jugendliche mit herausragenden Begabungen werden von vielen Institutionen gefördert. Jugendliche mit ungünstigen Ausgangsbedingungen dagegen haben es schwer, die Unterstützung zu finden, die sie vor allem beim Übergang von der Schule ins Arbeitsleben brauchen. „Es gibt viele Stiftungen, an die sich begabte und hochbegabte junge Menschen wenden können, aber kaum Stiftungen, die sich explizit um die Förderung benachteiligter Jugendlicher kümmern“, beobachtet Susanna Schagerl, Bereichsleiterin Jugendhilfe der BruderhausDiakonie. Um diese Lücke zu schließen, hat die BruderhausDiakonie im vergangenen Jahr die Förderstiftung für Bildung und Beruf gegründet. Deren wichtigste Ziele sind: jungen Menschen mit wenig Aussicht auf einen reibungslosen Start ins Berufsleben individuelle Unterstützung zu geben sowie Projekte zu fördern, die die persönlichen Voraussetzungen benachteiligter Jugendlicher für eine Berufsausbildung verbessern. Außerdem will sie Betriebe, die von Migranten geführt werden und bisher noch nicht ausgebildet haben, so beraten, dass sie Ausbildungsplätze anbieten können. „Wir sind eine von ganz wenigen Stiftungen in Deutschland, die sich ausdrücklich für solche Jugendliche einsetzt, die bisher wenig Chancen hatten, ihre Talente zu entfalten“, stellt Susanna Schagerl fest. „Wir wollen mit der Stiftung vor allem zur sozialen Integration der nachwachsenden Generation in Arbeit und Gesellschaft beitragen.“ Zu den Gründungsstiftern und Unterstützern der Förderstiftung für Ausbildung und Beruf gehören so prominente Personen wie Arthur Fischer, Unternehmer und unter anderem Erfinder des Fischer-Dübels. Oder Irmgard Schmid-Maybach, die Enkelin von Wilhelm Maybach. Der war einst als Waisenjunge in Gustav Werners Reutlinger Bruderhaus aufgenommen worden und hatte dort die Ausbildung erhalten, die ihn später zum genialen Motorenkonstrukteur und Mit-Erfinder des Automobils werden ließ. „Arbeit ist der Schlüssel für ein selbstständiges Leben“, sagt etwa Arthur Fischer, „eine gute Ausbildung ist die wichtigste Voraussetzung für Jugendliche mit schlechteren Startbedingungen, um sich später auf eigene Beine stellen zu können.“ Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie und Vorstand der Förderstiftung für Ausbildung und Beruf, zieht eine direkte Linie von Gustav Werner, dem Gründervater der BruderhausDiakonie, zur Arbeit der Förderstiftung: „Dass junge Menschen – die Starken und die Schwachen – ihre Talente ausbilden können und den Weg in ein selbstständiges Leben finden, war Gustav Werners Grundanliegen.“ Obwohl das Stiftungskapital noch vergleichsweise gering ist – derzeit liegt es bei rund 50 000 Euro – und deshalb auch nur geringe Ausschüttungen erlaubt, stellte die Stiftung schon im ersten Jahr 15 000 Euro bereit für verschiedene kleinere Projekte der BruderhausDiakonie. Möglich wurde das durch etliche größere Spenden, die der Förderstiftung zuflossen. „Den geförderten Projekten gemeinsam ist, dass sie notwendig und auch kreativ sind, dass es dafür aber keine öffentliche Finanzierung gibt“, erläutert Barbara Fischer, die bei der BruderhausDiakonie als Ansprechpartnerin der Förderstiftung fungiert. Mit Stiftungsgeldern gefördert wird etwa zusätzlicher Stützunterricht und ein Sprachtraining sowie ein Training zur Verbesserung der Selbstkontrolle und ein Arbeitsprojekt des Oberlin-Jugendhilfeverbunds. „Wir hoffen natürlich, dass wir das Stiftungskapital längerfristig deutlich erhöhen können – etwa durch Zustiftungen“, sagt Susanna Schagerl. Denn hauptsächlicher Zweck der Stiftung ist es, die Nachhaltigkeit der Förderungen zu sichern. Und sie betont: „In einer Gesellschaft, in der Bildung zu den wichtigsten Gütern gehört, können wir es uns auf Dauer nicht leisten, jemanden außen vor zu lassen.“ msk Z REGIONEN sozial • Ausgabe 1 | 2009 Kusterdingen Wohnangebot mit offener Tür Die Behindertenhilfe der BruderhausDiakonie ist zum ersten Mal im Landkreis Tübingen vertreten. Am 1. März wurde ein neues Wohnangebot für Menschen mit geistiger Behinderung in Kusterdingen der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Neubau in der Emil-Martin-Straße 15 mitten in Kusterdingen ist nicht irgendein Neubau. Er ist in mancherlei Hinsicht etwas Besonderes. Zum einen werden hier künftig Menschen mit und ohne Behinderung unter einem Dach leben. Es handelt sich dabei um das erste professionelle Angebot für Menschen mit geistiger Behinderung in der Gemeinde Kusterdingen. Zum anderen, und das ist für Wolfgang Welte, den Bereichsleiter Behindertenhilfe der BruderhausDiakonie, am wichtigsten: „Das ist der erste Schritt der Behindertenhilfe in den Landkreis Tübingen.“ Eine weitere Besonderheit: Laut Welte handelt es sich um ein Wohnangebot mit offener Tür. Die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen auch Ansprechpartner für andere Menschen mit Behinderung und deren Angehörige in Kusterdingen sein – beispielsweise wenn Betroffene zu Hause bei den Eltern leben und sich über neue Angebote informieren wollen. In dem Mehrfamilienhaus, das am 1. März diesen Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, befinden sich sechs Appartements, die die BruderhausDiakonie an Menschen mit geistiger Behinderung im Rahmen des Ambulant betreuten Wohnens vermietet. Ganz im Sinne einer wohnortnahen Versorgung richtet sich das Angebot der Behindertenhilfe im Landkreis Tübingen in erster Linie an Menschen aus Kusterdingen und Umgebung. Zwei weitere Appartements sowie eine Vier-Zimmer-Wohnung sollen an Menschen ohne Behinderung vermietet werden. Alle Wohnungen sind barrierefrei und mit einem Aufzug erreichbar. Im Untergeschoss des Wohn- und Geschäftshauses befindet sich eine Bäckerei, in unmittelbarer Nähe gibt es eine Bushaltestelle und ein Lebensmittelgeschäft. „Das ist gemeindeintegriertes Wohnen, wie man es sich vorstellt“, betont Wolfgang Welte. Der Bereichsleiter sieht klare Vorteile, die sich aus dem Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung im selben Gebäude ergeben. Das Angebot ermögliche Kontakte zwischen den einzelnen Hausbewohnern und damit ein Stück Normalität, es wirke der Isolation von Menschen mit Behinderung entgegen und fördere deren Integration ins Gemeinwesen. Geplant sei ein Personalmix aus qualifizierten Fachkräften (60 Prozent) und geschulten Hilfskräften (40 Prozent). In diesem Zusammenhang sei es durchaus erwünscht, dass Mitbewohner ohne Behinderung einen Teil der Assistenzleistungen für Menschen mit Assistenzbedarf übernehmen. Nach Auskunft von Wolfgang Welte ist das Angebot der Behindertenhilfe „ein Wohnangebot mit flexibler, am individuellen Bedarf orientierter Betreuung“. Anstelle der bisherigen Monatspauschale von rund 650 Euro gebe es fünf differenzierte Pauschalen zwischen 485 Euro und 2426 Euro, je nachdem, welche der fünf Hilfebedarfsgruppen vorliege. Nach den bisherigen Erfahrungen mit den gestaffelten Pauschalen im Landkreis Tübingen seien die meisten Klienten in Hilfebedarfsgruppe zwei oder drei eingestuft. Dies gelte auch für das Projekt in Kusterdingen. Der erste Schritt ist also getan. Und weil dem ersten gewöhnlich der zweite Schritt folgt, wird es auch nicht bei den sechs Plätzen in Kusterdingen bleiben. Weitere Angebote des Ambulant betreuten Wohnens im Landkreis Tübingen seien, so Wolfgang Welte, in Planung. kaw Z Sechs Menschen mit Behinderung finden in diesem Neubau in Kusterdingen eine neue Unterkunft + www.bruderhausdiakonie.de/infobereich/wir/organisation/ standorte/d.php?hid=2816 15 D I A KO N I S C H E R I M P U L S Frank Otfried July Von tätiger Liebe vorangetrieben Frank Otfried July ist Bischof der Evangelischen Landeskirche Württemberg und Schirmherr des Jubiläumsjahrs „200 Jahre Gustav Werner“ „Ich möchte nichts Gemeines, Alltägliches leisten, und doch sehe ich bei meinen beschränkten Anlagen für das Studium nichts Erhebliches voraus.“ Das schrieb Gustav Werner in einem Brief an seinen Vater vom Mai 1827. Und er fuhr fort: „Pahl hat mich schon befestigt, er sagt, dass ein moralischer Mensch, wenn auch von mittelmäßiger Gabe, viel wirken kann, und zuletzt ist es doch nur die Eitelkeit, die mich sticht.“ Es war aber keine Eitelkeit, die seinen weiteren Lebensweg bestimmte. Es war der Gedanke der tätigen Liebe, die ihn vorantrieb, und ohne die Glaube für ihn nicht vorstellbar war. Schon in jungen Jahren sah Gustav Werner in der Technik und der sich auf Technik stützenden Industrie auch Gott am Werk. Das hob ihn ab von den Diakonikern und christlichen Sozialreformern seiner Zeit und brachte ihn zu der Überzeugung, dass Gottes Reich gerade in der Großindustrie Raum finden könne. Genau dort sollte der König der Ehren einziehen können. Land so arm ist, wie die Masse der Armen es ist, die darin leben; dass Müßiggang verderbliche Folgen hat auf die Moral; dass hungernde Menschen sich irgendwann verzweifelt auf die übrige Gesellschaft stürzen und sie zu vernichten drohen, sind eigentlich Binsenweisheiten. Gustav Werner hat Kirche und ihre Diakonie gelehrt, diese Beobachtungen zur Grundlage ihrer gemeinsamen Arbeit zu machen, weil christliche Liebe spürbare Gestalt gewinnen muss. Diese Aufgabenstellung ist auch in unserer Zeit neu durchzubuchstabieren. Gerade weil sich die Bedingungen sozialer Arbeit in einem Transformationsprozess zum Sozialmarkt hin in den letzten Jahren erheblich veränderten, haben sich die diakonische Arbeit der Kirche, die diakonischen Einrichtungen darüber Rechenschaft zu geben, wo ihr Platz, ihre Aufgabe und ihre Zielrichtung ist. Um des Evangeliums Jesu Christi willen hat Kirche mit ihrer vielgestaltigen Diakonie Teil an der Bewältigung der Aufgaben des Sozialstaats und wird auf diese Weise zu einem wichtigen, öffentlich wahrgenommenen Faktor der Zivilgesellschaft. Für die Kirche und ihre Diakonie hatte dies bahnbrechende und Die barmherzige Liebe Jesu Christi soll immer wieder zukunftweisende Folgen. Wenn neu und für alle verständlich in die Lebenswirklichkeit Glaube sich auch und vor allem der Menschen hinein verkündet werden diakonisch zu zeigen hat, dann müssen nicht nur Arbeitsstätten Sie tut es aus demselben Grund, der Gustav Werner zu Pflanzstätten christlichen Lebens werden, sondern vorantrieb: Die barmherzige Liebe Jesu Christi soll umgekehrt müssen auch christliche Grundsätze immer wieder neu und für alle verständlich in die hineinwirken in die Arbeitswelt. Gustav Werner hat Lebenswirklichkeit der Menschen hinein verkündet Kirche und Diakonie gelehrt, dass ihr Auftrag nicht werden, die dringend auf einen Erweis dieser Liebe nur darin bestehen kann, denen zu helfen, die unter warten. die Räder gekommen sind, sondern vor allem darin, So hat ein Mann, der, wie seine Zeugnisse zeigen, im bereits im Vorfeld zu verhindern, dass sie unter diese Studium „nie über ein gewisses Mittelmaß“ hinausRäder geraten. gekommen ist, der Kirche durch sein Handeln ihre Dass Arbeitslosigkeit einen Staat auf die Dauer teurer ureigenste Verkündigung in höchstem Maße beispielhaft vor Augen geführt. kommt als der Versuch, Arbeit zu schaffen; dass ein