Blaschke · Dunker · Hofmann (Hg.) REISELITERATUR DER DDR
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Blaschke · Dunker · Hofmann (Hg.) REISELITERATUR DER DDR
Blaschke · Dunker · Hofmann (Hg.) REISELITERATUR DER DDR Bernd Blaschke · Axel Dunker · Michael Hofmann (Hg.) REISELITERATUR DER DDR Bestandsaufnahmen und Modellanalysen Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung Umschlagabbildung: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a6/DDR_Reisepass2.jpg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5856-8 Inhalt BERND BLASCHKE, AXEL DUNKER, MICHAEL HOFMANN Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 AXEL DUNKER „Hier mündet die Revolution“. Frankreich-Reisen in der DDR-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 BERND BLASCHKE „In vier Tagen können wir uns nicht formen und bilden… Wir bluten vor Sehnsucht“. Italienreisen von DDR-AutorInnen . . . . . . . . . 31 MATTEO GALLI Der „Augenzeuge“ mit Bildverbot. Filmdokumentarisches über Italien . . . . 51 MICHAEL HOFMANN West/Ost – Nord/Süd. Die Komplexität der Fremderfahrung in Bernd Schirmers Algerien-Reisebildern Die Hand der Fatima auf meiner Schulter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 JANINE LUDWIG Bericht vom Klassenfeind USA – Günter Kunerts Der andere Planet. Ansichten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 FRANK THOMAS GRUB Von der „Reisereportage als ein Instrument des Klassenkampfs“ zur Traumreise ins „Märchenland“: Reisereportagen über Schweden, Finnland und Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 FRANZISKA SCHÖSSLER Meer und Wüste: Reisen und Landschaften in der DDR-Dramatik der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 HEINZ-PETER PREUSSER Projektionsraum Hellas – Erich Arendts und Christa Wolfs Griechenland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6 INHALT NORBERT OTTO EKE Der Reisende Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 HANS-CHRISTIAN STILLMARK Zu Wieland Försters Reisetagebüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 MARIA BROSIG Reisen durch die Mark: Franz Fühmann und Joachim Seyppel auf den Spuren von Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 CAROLA HÄHNEL-MESNARD Heimkehr in die Fremde – Reisen an den Ort der Kindheit bei Helga Schütz, Christa Wolf und Elisabeth Schulz-Semrau. . . . . . . . . . . . . . 201 BERND BLASCHKE, AXEL DUNKER, MICHAEL HOFMANN Vorwort Der vorliegende Band eröffnet ein Forschungsfeld, das bisher noch kaum bearbeitet wurde.1 In der DDR war Reisen ein heikles Thema, weil die meisten Bürger des Landes vor dem Eintritt in das Rentenalter nicht reisen durften – oder zumindest nicht in Länder oder Städte ihrer Wahl. Paris beispielsweise, stellt der 1956 in der DDR geborene Kurt Drawert fest, war „von Halle oder Leipzig in den 1970er Jahren entfernter als eine Reise zum Mond“2. Und doch gab es Reiseliteratur in quantitativ und qualitativ bedeutenden Ausprägungen. Der DDR-Literaturwissenschaftler Heinz Härtl stellt 1977 fest: Die literarischen Interessen vieler Leser und die Produktion von Autoren und Verlagen der DDR werden wesentlich von Reiseliteratur bestimmt. Eine 1970 durchgeführte Befragung von Arbeitern und Angestellten aus Produktionsbetrieben der Bezirke Halle/Leipzig hat ergeben, daß diese Gruppe Reise- und Expeditionsschilderungen bzw. Darstellungen bevorzugt, welche ‚Kenntnisse über das Leben in anderen Ländern vermitteln‘. Zahlreiche Reisebücher bezeugen mit der Mannigfaltigkeit der in die DDR-Literatur eingebrachten internationalen Stoffe ihre Anteilnahme am antiimperialistischen und Befreiungskampf anderer Länder, Völker und Menschen und damit eine Welthaltigkeit, die primär durch politische und soziale Interessen vermittelt ist und von exotischen unterstützt wird.3 1 Die wenigen Ausnahmen und Vorarbeiten zur Reiseliteratur der DDR sind meist schon älteren Datums und kaum auf dem Stand aktueller Interkulturalitäts-, Alteritäts- und Reiseliteraturforschung: Heinz Härtl, Entwicklung und Tradition der sozialistischen Reiseliteratur, in: Erworbene Tradition. Studien zu Werken der sozialistischen Literatur, hg. v. Günter Hartung u.a., Berlin, Weimar: Aufbau, 1977, S. 299-340; Harri Günther, Reiseprosa in der Gegenwartsliteratur der DDR, in: Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift für Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer. Literarisches Sonderheft, 1982, S. 39-54; Barbara Zwirner, „Besseres Land – Schöne Welt“. Sozialistischer Patriotismus und Welterfahrung in der Reiseliteratur der DDR nach dem VIII. Parteitag der SED 1971, Dissertation der FU Berlin (ohne Verlag), 1986; Birgit Kawohl, „Besser als hier ist es überall“. Reisen im Spiegel der DDR-Literatur, Wetzlar: Kletsmeier, 1998. Eher auf dichterische Reisephantasien und Ich-Entwürfe als auf reale Reise- und Reisereportageliteratur fokussiert: Monika Hohbein-Degen, Reisen zum Ich: Ostdeutsche Identitätssuche in Texten der neunziger Jahre, Bern: Peter Lang, 2010. Hervorzuheben ist eine umsichtige und materialreiche Dissertation, die zahlreiche ost- wie westdeutsche Reisebücher in einem gut gegliederten historischen Abriss verhandelt: Ulla Biernat, „Ich bin nicht der erste Fremde hier“. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2004. Für einen ersten Überblick zur DDR-Reiseliteratur vgl. den Eintrag ‚Reiseliteratur‘ von Jean Mortier, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Michael Hofmann und Michael Opitz, Stuttgart: Metzler, 2009, S. 270-272. 2 Kurt Drawert, Bilder und Worte, in: Marbacher Katalog 67. Reisen. Fotos von unterwegs, hg. von Heike Gfrereis, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, 2014, S. 472-473, hier S. 473. 3 Heinz Härtl, Entwicklung und Traditionen der sozialistischen Reiseliteratur, S. 299. 8 BERND BLASCHKE, AXEL DUNKER, MICHAEL HOFMANN Das ist eine interessante Äußerung, aus der die Begriffe ‚Welthaltigkeit‘ und ‚exotische Interessen‘ sicherlich Beachtung verdienen. 1982 konstatiert dann Harri Günther in der DDR-Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache, „daß etwa jeder zehnte bis zwölfte Titel der Erstauflagen von DDRGegenwartsliteratur der Reiseprosa zuzurechnen ist.“4 Dabei spricht er von den „hohen Auflageziffern dieser Bücher – von denen manche mehrere Zehntausend Exemplare erreichen“ und der „Vielzahl von Nachauflagen“, „die Auskunft über die Beliebtheit bei einer großen Leserzahl“ geben.5 Das ist ein Phänomen, das sicherlich etwas mit der spezifischen Situation von Lesern in der DDR zu tun hat, die wegen der eingeschränkten Reisemöglichkeiten darauf angewiesen waren, Fremdheitserfahrungen über Literatur zu machen. Deutlicher als in anderen Feldern der DDR-Literatur waren die Autorinnen und Autoren von Reiseliteratur privilegiert, und es ist interessant zu sehen, wie sie mit diesem Sachverhalt umgingen – ob sie ihn thematisierten oder ob sie davon ausgingen, dass er stillschweigend vorausgesetzt wurde. Und doch gilt auch für die Reiseliteratur der DDR: In einer sehr komplexen Weise schwanken die Texte zwischen Anpassung und impliziter oder offener Kritik an Zuständen in der DDR. Kommentare über das Fremde, so lehrt uns die Reiseliteraturforschung, sind immer auch implizite und explizite Kommentare über das Eigene, und die Leserinnen und Leser der DDR-Literatur waren versiert in der Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen. Die folgenden Ausführungen reflektieren einige allgemeine Aspekte des Themas und stellen die Beiträge dieses Sammelbandes in einen weiteren Kontext. I. Bedingungen des Reisens in der DDR Wie allgemein bekannt ist, bestand zumindest nach 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer und der Sperranlagen an der deutsch-deutschen Grenze ein entschlossen durchgesetztes Verbot von privaten Reisen ins westliche Ausland. Dieses Reiseverbot für Normalbürger unterhalb des Rentenalters gehörte zu den Problemen, die während der friedlichen Revolution in der DDR besonders intensiv diskutiert wurden und die entscheidend an dem allgemeinen Gefühl der Unfreiheit Anteil hatten. Dennoch gab es aber verstärkt seit den 1970er Jahren auch Urlaubsreisen ins sozialistische Ausland; Reisen in die Tschechoslowakei und an den ungarischen Plattensee führten bald auch zu deutsch-deutschen Begegnungen der besonderen Art. Private Urlaubsreisen innerhalb der DDR waren schwierig; die meisten Urlaubsreisen wurden über gesellschaftliche Organisationen durchgeführt und waren insofern sicherlich stärker als im Westen von einem kollektiven Charakter. Ein besonderes Phänomen der DDR stellten die sogenannten „Reisekader“ dar, deren Privileg auf einer (zumindest angenommenen) Loyalität zum sozialistischen System beruhte und von der gewöhnlichen Bevölkerung kritisch betrachtet wurde. 4 Harri Günther, Reiseprosa in der Gegenwartsliteratur der DDR, S. 40. 5 Ebd. VORWORT 9 Die hier benannten Grundbedingungen des Reisens in der DDR hatten auch Auswirkungen auf die Reiseliteratur, die meistens nicht wie im Westen das Ergebnis von privaten Initiativen war, sondern in der Regel etwas mit einem staatlich geförderten oder tolerierten Auftrag zu tun hatte: So konnten Reisedarstellungen aus Delegationen offizieller Organisationen heraus stattfinden (wie Brigitte Reimanns Sibirien-Buch oder einige von Christine Wolters Italien-Berichten); sie konnten mit Aufträgen zu literarischen Projekten (so Adolf Endlers GeorgienBuch) oder mit künstlerischen Aktivitäten (so Wieland Försters Tunesien- und Bulgarien-Darstellungen) zu tun haben. Eher selten kam es zu Reisen auf eigene Faust oder aus einem privaten Hintergrund (wie etwa bei Fritz Rudolf Fries’ Spanien-Reisen). Ein besonderes Phänomen finden wir dann seit den 1980er Jahren, wo bestimmte Autoren Reisefreiheit genießen, weil sie trotz gewisser kritischer Vorbehalte als dem SED-Regime verbunden gelten (Heiner Müller, Christa Wolf, Erich Arendt). Im letzteren Fall kommt es zu Reisen, die zu einem großen Teil von den Autorinnen und Autoren individuell bestimmt wurden und einen klar erkennbaren Bezug zu deren literarischem Werk haben (dies sehen wir wiederum deutlich bei Wolf und Arendt). II. Grundkonzepte der Reiseliteraturforschung Grundlegend für die Erforschung von Reiseliteratur allgemein ist die Einsicht, dass eine grundlegende Beziehung zwischen dem Fremden und dem Eigenen besteht: Wir deuten das Fremde als das uns (bisher) Unvertraute aus dem Eigenen heraus. Das bedeutet: Uns fallen beim Fremden Dinge auf, die sich vom Eigenen in signifikanter Weise unterscheiden und/oder die im Eigenen eine besondere Problematik darstellen. Das Fremde wird somit nicht „objektiv“ dargestellt, sondern immer in Relation zum Eigenen und Vertrauten. Für die DDR-Reiseliteratur bedeutet das: Die Beobachtungen und Aufzeichnungen über das Fremde lassen immer auch einen Rückbezug auf relevante Probleme und Phänomene zu, die für die Gesellschaft der DDR oder für den entsprechenden Schreibenden in seiner Situation in der DDR von Bedeutung sind. Somit ist gewissermaßen apriori festzuhalten, dass es DDR-spezifisches Fremdes und somit auch eine DDR-spezifische Reiseliteratur gegeben haben muss. Auf der anderen Seite war die DDR selbstverständlich und ohne jeden Zweifel ein Land, das zu Europa gehörte und das damit auch in die Geschichte des Verhältnisses Europas zur außereuropäischen Welt eingebunden war. Insofern war zu erwarten und es hat sich in unseren Untersuchungen bestätigt, dass allgemein-europäische Phänomene wie Projektionen europäischer Wünsche und Sehnsüchte in den oder die außereuropäischen Anderen, Exotismus und Zivilisationskritik in der Tradition des Rousseauismus („zurück zur Natur“) auch in der DDR vorkamen. Ein besonderer Aspekt liegt in der Frage nach dem Postkolonialismus in der DDR; denn einerseits finden wir eine offizielle und sicher auch bei vielen Einzelnen authentische Solidarität mit den Ländern und Menschen der damals sogenannten „Dritten Welt“, die als Partner im antikapitalistischen Kampf 10 BERND BLASCHKE, AXEL DUNKER, MICHAEL HOFMANN verstanden wurden; andererseits waren auch die Bewohnerinnen und Bewohner und auch die Autorinnen und Autoren der DDR nicht immer frei von Eurozentrismus und der Tendenz, die außereuropäischen Kulturen und Gesellschaften mit europäischen Denkmustern und Handlungsweisen zu bevormunden. Als definitorische Grundlage unseres Bandes ist festzuhalten, dass wir unter „Reiseliteratur“ im engeren Sinne Texte verstehen, die auf tatsächlich durchgeführte Reisen Bezug nehmen und damit trotz mancher Nuancen und Einschränkungen (die darauf zurückgehen, dass aus ästhetisch-literarischen Gründen fiktionale Elemente in den reiseliterarischen Text eingeführt werden) prinzipiell als nicht-fiktional zu gelten haben. Trotz dieser Festlegung, die dem Konsens der Reiseliteraturforschung entspricht, hat es sich als reizvoll erwiesen, als Bezugspunkte auch Texte hinzuzuziehen, die auf imaginären bzw. fiktionalen Reisen beruhen, weil in diesen Fremdheits- und Alteritätserfahrungen dargestellt werden, die im Kontext unserer Fragestellungen von besonderem Interesse sind. III. Reisen nach 1945 in europäischer Perspektive Insgesamt kann festgestellt werden, dass in Europa das Reisen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen ambivalenten Charakter hatte. Denn während einerseits so viel gereist wurde wie nie zuvor, war andererseits der Anspruch verwirkt, auf Reisen das Unentdeckte und damit das wirklich Neue erfahren zu können. Mit dem Ende der europäischen „Entdeckungen“ in der außereuropäischen Welt war somit ein wichtiges Moment des Reisens nicht mehr gegeben. Gleichzeitig sehen wir den Beginn der Pauschalreisen und des Massentourismus, die einerseits zweifelsfrei als soziale Errungenschaften gelten müssen, andererseits aber eine Form des Reisens darstellen, die häufig ohne eine Neugier auf das Fremde auskommt oder dieses nur in speziell präparierter Form aufnimmt. Niemand will Tourist sein und alle sind Touristen. So entspricht einer Kritik des Tourismus eine Kritik der Kritik des Tourismus, die den Individualismus der ‚echten Reisenden‘ als Snobismus und elitäres Gebahren entlarvt (Hans Magnus Enzensberger6). Reiseliteratur verbindet sich im Übrigen häufig – wie bereits die Berichte von den Weltumsegelungen Bougainvilles und Cooks (Georg Forsters) – mit Zivilisationskritik. Dies ist nicht grundsätzlich verwerflich oder problematisch; eine einfache Reflexion führt aber sehr schnell zu der Einsicht, dass die vermeintlich ‚edlen Wilden‘ der exotischen Gefilde meistens weder wild noch edel und dass die vermeintlichen Erkenntnisse über die fremde Zivilisation oft nur Projektionen und Illusionen sind. Eine wichtige Frage der aktuellen Interkulturalitätsforschung, die sich auch auf die Reiseliteratur bezieht, betrifft das Verhältnis von Eurozentrismus und Orientalismus: Der „Orient“ als ein besonderes Anderes der Europäer ist eine wichtige Region der Weltgeschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhun6 Hans Magnus Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, in: ders.: Einzelheiten I. BewußtseinsIndustrie, 8. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973, S. 179-205. VORWORT 11 derts (und auch noch unserer Gegenwart?) und er ist der Gegenstand von Darstellungen, die zwischen Attraktion und Abwehr schwanken und deren Basis häufig ein europäisches Überlegenheitsgefühl ist.7 Die hier aufgezeigten gesamteuropäischen Tendenzen der Geschichte des Reisens und der Verwandlungen des Fremden haben auch ihren Einfluss auf die DDR gehabt; sie sind bisher aber im Wesentlichen mit Blick auf die kapitalistische Moderne ausgearbeitet und formuliert worden. Allerdings lässt sich festhalten, dass die DDR im Weltmaßstab zu den reicheren Ländern gehörte und sich Phänomene der „Ersten Welt“ auch in der damals sogenannten „Zweiten Welt“ ergaben; trotzdem ist es eine interessante Frage, ob Reisende aus der DDR sich in der Fremde anders bewegten und anders wahrgenommen wurden als ihre „Landsleute“ aus der kapitalistischen BRD und ob dies sich auch auf die Reiseberichte abfärbte. IV. Reiseliteratur der DDR – literarische Vorbilder Fruchtbar erscheint auch die Frage, welche literarischen Vorbilder sich in der DDR-Reiseliteratur ausmachen lassen. Hier ist deutlich, dass ähnlich wie in der Literatur insgesamt durchaus eine alternative Kanonbildung festzustellen ist, die auch Auswirkungen auf Autorinnen und Autoren hat, die sich nicht mit der offiziellen Kulturpolitik der DDR identifizieren konnten. Natürlich kann kein ItalienReisender Goethe völlig links liegen lassen, aber der sozialkritisch eingestellte Seume mit seinem Fußmarsch nach Syrakus wird in der DDR eher als der Weimarer Olympier als ein kanonisches Vorbild für Reiseliteratur betrachtet. Ähnliches gilt für Heinrich Heine und seine „Reisebilder“, die einen sozialkritischen Anspruch mit einer ironischen Selbstreflexion verbanden. Im 20. Jahrhundert stellt Egon Erwin Kisch, der „rasende Reporter“, ein Vorbild dar, weil er mit seiner Form der sozialkritischen Reportage Maßstäbe setzte. Diese Wendung zu einer Reiseliteratur, die sich nicht nur um die Kunstwerke und Sehenswürdigkeiten kümmert, sondern auch die Lebensbedingungen des einfachen Volkes berücksichtigt, war nicht nur in der DDR ein Vorbild für die moderne und postmoderne Reiseliteratur. In der DDR waren es aber die genannten Autoren, mit deren Inanspruchnahme sich ein legitimes eigenes Interesse mit den Vorgaben der offiziellen Kulturpolitik verbinden ließ. Reiseberichte von Ernst Jünger etwa konnten demgegenüber im Gebiet der DDR erst nach der Wende 1989/90 verbreitet oder offiziell gelesen werden. 7 Vgl. Edward W. Said, Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt/M.: Fischer, 2009 [engl. 1978]; Der Deutschen Morgendland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850, hg. v. Charis Goer und Michael Hofmann, Paderborn: Fink, 2008; Morgenland und Moderne. Orient-Diskurse in der deutschsprachigen Literatur von 1890 bis zur Gegenwart, hg. v. Axel Dunker und Michael Hofmann, Frankfurt/M.: Lang, 2014. 12 BERND BLASCHKE, AXEL DUNKER, MICHAEL HOFMANN Was die DDR-Reiseliteratur selbst und ihre Entwicklung angeht, hat Jean Mortier in dem 2009 erschienenen Metzler-Lexikon einen ersten Überblick gegeben8: In den 1940er und 1950er Jahren überwiegen nach seiner Einschätzung Berichte vom Aufbau des Sozialismus etwa in der Sowjetunion und in China, zum Beispiel bei Bodo Uhse. In den 1960er Jahren sind auch Texte über Westeuropa festzustellen, vor allem über Frankreich (z. B. Fred Wander), während das Interesse an Sibirien anhält. Die 1970er Jahre bringen Berichte prominenter DDR-Autoren über das westliche Ausland: so schreiben Hermann Kant über Schweden, Günter Kunert über die USA, Rolf Schneider über Frankreich und Fritz Rudolf Fries über Spanien; es finden sich aber auch sehr originelle Texte über das sozialistische Ausland, so etwa von Franz Fühmann über Ungarn und von Adolf Endler über Georgien. Die 1980er Jahre bringen nach Mortier keine sehr bedeutenden Texte hervor, obwohl gleichzeitig die Surrogatbedürfnisse der Leser gewachsen seien. Dieser Einschätzung widersprechen einige der in diesem Band versammelten Beiträge. V. Reiseliteratur der DDR – Überblick über den Band Der vorliegende Band kann keine Vollständigkeit für die Erforschung der Geschichte der Reiseliteratur in der DDR beanspruchen. Unser Ziel war es, mittels exemplarischer Analysen von reiseliterarischen Texten zu möglichst unterschiedlichen Reisezielen aus den Beobachterperspektiven diverser DDR-Autoren und Autorinnen und ihrer je spezifischen ästhetischen und politischen Positionen das bisher kaum kartographierte Feld der DDR-Reiseliteratur überblickshaft zu vermessen. Doch zeigen sich hier schon die grundlegenden Aspekte, die wir gerade vorgestellt haben, in den versammelten Beiträgen auf je unterschiedliche Weise. Reiseberichte über Fahrten in das kapitalistische Ausland waren trotz oder gerade wegen der problematischen Voraussetzungen in der DDR sehr beliebt. Unsere Beiträge befassen sich zunächst mit den Sehnsuchtsländern Frankreich, dem bewunderten und doch so fernen Heimatland der Revolution (Axel Dunker), und Italien (Bernd Blaschke und Matteo Galli). Das „Land, wo die Zitronen blühen“, wird nun eher als das Land der Mafia, der Bausünden, der sozialen Ungleichheit und eines überkommenen Patriarchats wahrgenommen; freilich auch als das Land der größten Kommunistischen Partei des Westens. Bernd Schirmer, der als Lektor im Auftrag der DDR in Algerien gearbeitet hat, schreibt in seinem literarischen Reisebericht über seine Rückkehr in das maghrebinische Land ein paar Jahre nach dieser Tätigkeit und er reflektiert die komplexe Stellung der DDR zwischen „Erster“, „Zweiter“ und „Dritter“ Welt: Insofern die DDR „Osten“ ist, ist sie Algerien nah, insofern sie „Norden“ ist, lässt sich Distanz erkennen. Diese polare Identität des DDR-Bürgers spiegelt sich in der literarischen Struktur und der Autofiktionalität 8 Vgl. Jean Mortier, Reiseliteratur, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten, hg. v. Michael Opitz und Michael Hofmann, unter Mitarbeit von Julian Kanning, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2009, S. 270-272. VORWORT 13 von Schirmers Text, der vor diesem Hintergrund originell und aktuell erscheint (Michael Hofmann). Fremdartig und letztlich befremdend bleiben die Vereinigten Staaten und damit das Land der Führungsmacht der kapitalistischen Welt trotz ihrer landschaftlichen Schönheiten und ihren beeindruckenden Metropolen für Günter Kunert (Janine Ludwig). Komplex und ambivalent fallen die Diskurse über Skandinavien aus – das teilweise als Zwischenwelt zwischen Ost- und West aufgefasst wird (Frank Thomas Grub). Reisen in das sozialistische Ausland, die zwischen Auftragslob und komplexer impliziter DDR-Kritik schwankten, wurden schon häufiger erforscht9 und werden in diesem Band nicht eigens thematisiert. Die erwähnte Beziehung zwischen Reisen und Zivilisationskritik findet sich erwartungsgemäß auch in Texten der DDR, so in der Thematisierung von Meer und Wüste in den Dramen der 1990er Jahre (Franziska Schößler) und in ehrgeizigen und anspruchsvollen Griechenland-Texten von Erich Arendt und Christa Wolf (Heinz-Peter Preußer). Im Falle von Heiner Müller und Wieland Förster zeigt sich, dass Reisen, Notizen und Berichte besonders eng mit dem jeweiligen Schaffen der Autoren verbunden sind (Norbert Eke, Hans-Christian Stillmark). Und endlich erweist sich, dass auch und gerade in der DDR Reisen – und die literarische Reflexion der dabei gemachten Erfahrungen – nicht immer in der Ferne stattfanden, sondern etwa in der Tradition Theodor Fontanes auch in die Mark Brandenburg führen konnten (Maria Brosig), aber auch in die Kindheit und deren wegen Flucht und Vertreibung verlassenen Landschaften Osteuropas (Carola HähnelMesnard). Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen zurück auf die in Kooperation mit dem Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien der Universität Bremen (IfkuD) durchgeführte Tagung „Reiseliteratur der DDR. Bestandsaufnahme und Modellanalysen“, die vom 5.-7. März 2013 im Literaturforum im BrechtHaus Berlin stattgefunden hat. Unser Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung. Dank für die Mitarbeit an der Textredaktion gilt Philipp Böhm und vor allem Jan Gerstner. 9 Vgl. Michael Hofmann, Der Wilde Osten und der poetische Süden. Grundlegungen und Modellanalysen zur Reiseliteratur in der DDR, in: „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder-) Annäherungen an die DDR-Literatur, hg. v. Norbert Otto Eke, Amsterdam, New York: Rodopi, 2013, S. 175-193. AXEL DUNKER „Hier mündet die Revolution“. Frankreich-Reisen in der DDR-Literatur Innerhalb des westeuropäischen Auslands nahm Frankreich für die Auseinandersetzung der DDR mit ihrer Vorgeschichte (ihrem ‚Erbe‘) eine Sonderstellung ein, was sich in zahlreichen Publikationen in DDR-Verlagen niederschlug. Das betrifft zum einen die Geschichte der französischen Revolutionen, von der Revolution von 1789 über die Juli-Revolution bis zur Pariser Kommune von 1871. „Hier mündet die Revolution“1, ist programmatisch das erste Kapitel in Kurt und Jeanne Sterns 1972 im Verlag Neues Leben erschienenen Paris-Buch überschrieben. Unter der ohnehin großen Zahl an Editionen historischer Reiseberichte finden sich zahlreiche Beschreibungen von Reisen nach Frankreich – genannt seien etwa Georg Friedrich Rebmanns Holland und Frankreich in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796 und dem fünften Jahr der französischen Republik, 1981 bei Rütten & Loening erschienen2 oder Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Juni 1790, 1979 in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig3 publiziert. Diese Berichte, die vor allem auf Paris als Zentrum der Revolution fixiert sind, fallen in den Jahren nach 1789 mit der Tradition der spätaufklärerischen Reisebeschreibung zusammen, für die noch der letzte Teil von Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 zu nennen wäre, der ihn durch das napoleonische Frankreich führt.4 In Gotthard Erlers dreibändiger Edition von Reisebildern z. B., 1975-78 bei Hinstorff erschienen, finden sich Auszüge aus Johann Heinrich Campes Briefe aus Paris, zur Zeit der Revolution geschrieben, aus Ludwig Börnes Briefen aus Paris, aus Alfred Meißners Revolutionäre Studien aus Paris 1849 und aus Ludwig Kalischs Paris und London.5 Wiederum bei Rütten & Loening erschien 1972 (1980 in 2. Auflage) mit Moritz Hartmanns Tagebuch aus 1 Kurt und Jeanne Stern, Schauplatz Paris, Berlin: Neues Leben, 1972, S. 5. 2 Georg Friedrich Rebmann, Holland und Frankreich in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796 und dem fünften Jahr der französischen Republik, hg. v. Hedwig Voegt, Berlin: Rütten & Loening, 1981. 3 Georg Forster, Ansichten vom Niederrhein von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Juni 1790, Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1979. 4 Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, hg. v. Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin: Rütten & Loening, 1989; Seumes Werke in zwei Bänden, ausgewählt und eingeleitet von Karl-Heinz Klingenberg, Berlin/Weimar: Aufbau, 1983 (= Bibliothek deutscher Klassiker). 5 Reisebilder von Goethe bis Chamisso. Wanderschaften und Schicksale, hg. v. Gotthard Erler, Rostock: VEB Hinstorff, 1975; Reisebilder von Heine bis Weerth. Spaziergänge und Weltfahrten, hg. v. Gotthard Erler, Rostock: VEB Hinstorff, 1976; Reisebilder von Gerstäcker bis Fontane. Streifzü- 16 AXEL DUNKER Languedoc und Provence (1853) eine bedeutende Reisebeschreibung eines VormärzAutors.6 Der 1978 von Rolf Weber im Buchverlag Der Morgen herausgegebene Sammelband Feuerwerk im Juli versammelt Zeugnisse von 1789 bis 1871.7 Daneben wären noch Titel zu nennen wie etwa die Ansichten der Hauptstadt des Französischen Kaiserreichs vom Jahre 1806 an.8 Die zweite Traditionslinie, die Frankreich einbegreift, betrifft den Widerstand gegen die Nazi-Truppen in Frankreich. In der Résistance waren zahlreiche deutsche Kommunisten aktiv, die später in die DDR gegangen sind. Zu nennen ist hier etwa der von Dora Schaul zusammengestellte und vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED herausgegebene Band Résistance. Erinnerungen deutscher Antifaschisten9, der 1973 im Dietz Verlag erschienen ist. Herausgestellt wird hier der Internationalismus, der dazu führte, dass deutsche Angehörige der Résistance „Seite an Seite mit ihren französischen Klassenbrüdern und mit Angehörigen vieler anderer Nationen gegen die faschistischen Okkupanten kämpften“10. Enthalten ist hier beispielsweise ein Bericht von Max Dankner über „Das Massaker von La Parade“ auf dem Causse Méjean im Departement Lozère, bei dem 32 Widerstandskämpfer den Tod fanden, darunter vier Deutsche, die auf dem dort errichteten und noch heute erhaltenen Denkmal namentlich genannt werden.11 In den ersten Jahrzehnten nach 1945 war den sogenannten West-Emigranten von der SED mit großer Skepsis begegnet worden, da sie aufgrund ihrer engen Kontakte mit Nicht-Kommunisten als verdächtig galten. Die 1970er Jahre wurden dann, wie der Historiker Ulrich Pfeil beschrieben hat, zu einer „Hochzeit des Antifaschismus-Mythos zwischen der DDR und Frankreich“12. Ausdruck davon ist auch der Résistance-Band, der „zu einer Welle autobiographischer Erinnerungsschriften in der Literatur- wie in der Geschichtswissenschaft der DDR“ gehört, die in der Regel die Entwicklung zur ‚sozialistischen Persönlichkeit‘ zum Thema hatten“.13 Pfeil stellt dabei besonders die zweibändigen Erinnerungen Franz Dahlems heraus, in denen der spätere Kaderchef der SED auf seine Emigration nach Paris und die 6 7 8 9 10 11 12 13 ge und Wanderungen, hg. v. Gotthard Erler, Rostock: VEB Hinstorff, 1978. Alle drei Bände erschienen als Taschenbuchausgabe bei Ullstein (Frankfurt/M./Berlin/Wien: Ullstein, 1983/1984). Moritz Hartmann, Tagebuch aus Languedoc und Provence, 2. Aufl., Berlin: Rütten & Loening, 1980. Feuerwerk im Juli. Begegnungen in Paris 1789-1871, hg. v. Rolf Weber, Berlin: Der Morgen, 1978. John Pinkerton/Louis Sébastian Mercier/Carl Friedrich Cramer, Ansichten der Hauptstadt des Französischen Kaiserreichs vom Jahre 1806 an, erstmals erschienen im Jahre 1807, neu herausgegeben und ausgewählt von Klaus Linke, Leipzig: Brockhaus, 1980. Résistance. Erinnerungen deutscher Antifaschisten, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, zusammengestellt und bearbeitet von Dora Schaul, Berlin: Dietz, 1973. Ebd., S. 7. Vgl. H.R. Kedward, In Search of the Maquis. Rural Resistance in Southern France 1942-1944, Oxford: University Press, 1993, S. 194. Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 19491990, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2004, S. 233. Ebd. „HIER MÜNDET DIE REVOLUTION“ 17 dreijährige Internierung im Lager Le Vernet zurückblickt.14 Fred Wanders ParisBuch, in dem sein dortiges Exil eine große Rolle spielt, erschien allerdings bereits 1966 und behandelt zwei Paris-Aufenthalte in den Jahren 1962 und 1964.15 Doch dazu später. 1987 erschien bei Reclam in Leipzig ein von Irene Selle herausgegebener Band mit dem Titel Frankreich meines Herzens. Die Résistance in Gedicht und Essay16, der Texte französischer Autoren von Charles de Gaulles Aufruf an die Franzosen über Louis Aragon bis zu Albert Camus und damit eine sehr viel breitere Materialbasis bietet als nur das kommunistische Exil in Frankreich. Die Revolutionen und die Geschichte des französischen Maquis bilden die Folie, vor der die Reiseberichte von Autoren der DDR nach Frankreich zu sehen sind,17 was die Reiseerlaubnis und die Publikationsmöglichkeit in der DDR einschließt. Heinz Härtl betont 1977 in einem Aufsatz über „Entwicklung und Traditionen der sozialistischen Reiseliteratur“, die zahlreichen Reiseberichte bezeugten „mit der Mannigfaltigkeit der in die DDR-Literatur eingebrachten internationalen Stoffe ihre Anteilnahme am antiimperialistischen und Befreiungskampf anderer Länder, Völker und Menschen und damit eine Welthaltigkeit, die primär durch politische und soziale Interessen vermittelt ist und von exotischen unterstützt wird.“18 Man könnte im Umkehrschluss auch sagen, die Bezugnahmen auf den ‚antiimperialistischen Befreiungskampf‘ erlaubten es, exotistische Sehnsüchte der DDR-Leserschaft zu befriedigen, die bei der Lektüre von Reiseberichten über ferne Länder wohl fast immer eine Rolle spielen, aber bei einem Land, das Reisen in westliche Länder verbietet, sicher einen besonderen Stellenwert. besitzen19. 14 Franz Dahlem, Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Erinnerungen, Berlin: Dietz, 1977. 15 Fred Wander, Doppeltes Antlitz. Pariser Impressionen, 2. Aufl., Berlin: Volk und Welt, 1967 [1966]. 16 Frankreich meines Herzens. Die Résistance in Gedicht und Essay, hg. v. Irene Selle, Leipzig: Reclam, 1987. 17 Einen chronologischen Überblick (ohne das Buch von Inge von Wangenheim) bietet Frank Thomas Grub, Mögliche und unmögliche Reisen: Frankreich aus DDR-Sicht, in: Text im Kontext 9. Beiträge zur 9. Arbeitstagung Schwedischer Germanisten, 7.-8. Mai 2010, hg. v. Mareike Jendis u. a., Ume:, Institutionen för språkstudier, 2011, S. 22-44. Einige dort genannte Bände zu Frankreich, die keinen literarischen Anspruch haben, werden in diesem Aufsatz nicht behandelt. Dazu zählen Gerhard Reinhold/Horst Münnich, Frankreich, Leipzig: Brockhaus, 1958; Ralf Klingsieck, Rendezvous mit Paris, 2. Aufl., Leipzig: Brockhaus, 1986. 18 Heinz Härtl, Entwicklung und Traditionen der sozialistischen Reiseliteratur, in: Erworbene Tradition. Studien zu Werken der sozialistischen deutschen Literatur, hg. v. Günter Hartung/Thomas Höhle/Hans-Georg Werner, Berlin/Weimar: Aufbau, 1977, S 299-340, hier S. 299 (Härtl verweist auf Dietrich Löffler, Literarische Interessen der Arbeiterklasse in der DDR. Empirische Daten und theoretische Fragestellungen, in: Weimarer Beiträge 6 (1975), S. 52.). 19 Natürlich ist Paris in den 1960er und 1970er Jahren auch ein beliebtes Reiseziel für Autoren aus den anderen deutschsprachigen Ländern. Vgl. z. B. Wolfgang Koeppen, Reisen nach Frankreich, Stuttgart: Goverts, 1961; Alfred Andersch, Paris ist eine ernste Stadt, Olten: Walter, 1961. Eine Auswahl aus Texten von Peter Weiss, Niklaus Meienberg, Peter Handke und Wolf Wondratschek bietet: Paris. Deutsche Republikaner reisen, hg. v. Karsten Witte, 3. Aufl., Frankfurt/M.: Insel, 1986, S. 385-401. 18 AXEL DUNKER Beides, der Befreiungskampf und die exotistische Sehnsucht, werden in den Berichten über Reisen nach Frankreich angesprochen. In den von Härtl benannten ‚exotischen Interessen‘ stecken interkulturelle Mechanismen, auf die einzugehen sein wird. 1. Paris als Gedächtnisort Zu einem ‚lieu de mémoire‘, einem Gedächtnisort, wird Paris für den in Wien geborenen Fred Wander. Wander war 1938 nach Frankreich geflüchtet,20 wurde nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wie so viele Emigranten aus Deutschland und Österreich interniert und schließlich 1942 nach Auschwitz deportiert und von dort nach Buchenwald weiter transportiert. Nach der Befreiung des Lagers kehrte er nach Österreich zurück, wurde Mitglied der KPÖ und übersiedelte 1958 gemeinsam mit seiner Frau Maxie Wander in die DDR. Neben seinen Romanen – am bekanntesten ist wohl Der siebente Brunnen (1971) – publizierte er eine Reihe von Reisebüchern über Korsika21 (1959), Paris (1966) und die Provence (1978). Die Reisen nach Paris 1962 und 1964 reißen „Abgründe des Erinnerns auf“22. Wander steigt in demselben kleinen Hotel in der Rue Delambre in der Nähe des Cimetière de Montparnasse ab wie vor 20 Jahren und erinnert sich an seine österreichischen und deutschen Mitemigranten. Er ist zurückgekehrt, „um die Spuren zu finden. Die Spuren der Helden einer heroischen Zeit“.23 Dazu begibt er sich an die Orte, an denen er sich aufgehalten und versteckt hatte, und versucht, die Bekannten von damals oder ihre Nachfahren zu finden. Ein mit „Jacques“ überschriebenes Kapitel ruft Auschwitz auf, der im Lager ermordete Freund wird in seiner Tochter Jacqueline wieder lebendig. Die Konfrontation mit dieser jungen Frau gibt Wander die Gelegenheit eines langen Exkurses über das Lager. Doch weniger hier findet er die Vergangenheit als in den alten Vierteln der Stadt Paris selbst24 mit ihren „kleinen Gewerbetreibenden, Patentinhaber[n], Marktfahrer[n] und Straßenhändler[n]“, den „Hausierer[n], Rentner[n], auch Ta20 Wander erzählt davon in Das gute Leben oder Von der Fröhlichkeit im Schrecken und singt dabei eine Hymne auf Paris und die Pariser, ohne die Schattenseiten auszulassen: „Die Stadt ist wie ein riesiger Schwamm, der die Menschen aufsaugt und zerstört!“ (München: dtv, 2009, S. 25). Wohl nicht zufällig findet sich letztere Äußerung zusammen mit einem Verweis auf seinen Aufenthalt in Paris 25 Jahre später, als er dort „für unser erstes Buch über Paris zusammen mit Maxie recherchierte“ (ebd.). 21 Fred Wander, Korsika – noch nicht entdeckt, Berlin: Neues Leben, 1958. 22 Wander, Antlitz, S. 8. 23 Ebd., S. 78. 24 Dies ist kein neuer Topos der Paris-Literatur. So heißt es in Jüngers Strahlungen: „Wieder bestätigte sich hier mein Eindruck von den Pariser Straßen, Häusern und Wohnungen: sie sind Archive einer von altem Leben durchwebten Substanz, bis zum Rande gefüllt mit Belegstücken, mit Erinnerungen aller Art.“ ( Ernst Jünger, Strahlungen II. Das zweite Pariser Tagebuch. Kirchhorster Blätter. Die Hütte im Weinberg, München: dtv/Klett-Cotta, 1988, S. 21.) „HIER MÜNDET DIE REVOLUTION“ 19 gediebe[n]“, den „undurchsichtige[n] Gestalten und Voyous“25. In den Menschen von Paris, schreibt Wander, „ist die Vergangenheit und die Geschichte“ der Stadt lebendig. Die Menschen der Gegenwart ergänzen die Erinnerungsorte im engeren Sinne, die „Umgebung der Bastille, das ganze Viertel um die Notre-Dame, de[n] Friedhof Père-Lachaise, de[n] Park der Buttes-Chaumont, keinen Fleck findest du, der nicht von Toten erzählt – von den Toten der Freiheitsaufstände und der Großen Revolution, von den Helden der Kommune. Und überall Erinnerungen an die Kämpfe der Résistance.“26 Doch Wander bleibt nicht fixiert auf dieses Paris der Vergangenheit, das z.T. auch seine eigene Vergangenheit bedeutet, sondern vor allem im zweiten Teil des Buches, in dem er seinen Paris-Aufenthalt 1964 beschreibt, versucht er, das Paris der Gegenwart zu sehen und zu verstehen. Dabei überträgt er den alten, vor allem an Paris entwickelten Topos von der ‚Lesbarkeit der Stadt‘, wie er in Victor Hugos Notre-Dame de Paris aufscheint und vor allem von Walter Benjamin beschrieben wird, dessen „grüblerischer Blick“ aber auch weniger „der Stadt selbst, sondern den vergangenen Stadttexten“27 galt, auf das Paris der Gegenwart. „Nichts ist so verlockend in der Seinestadt“, heißt es mit einer Verschiebung des Fokus bei Wander, „als durch die Straßen zu flanieren und die Gesichter zu studieren, in dem aufgeschlagenen Buch der menschlichen Seele zu lesen.“28 Damit richtet sich der Blick auf die Gegenwart der Stadt mit all ihren gegensätzlichen Erscheinungen. Die vielen Fotografien, von denen die meisten (165 an der Zahl) Fred und Maxie Wander selbst angefertigt haben, unterstreichen diese Seite des Buchs. Häufig kontrastieren diese Bilder die in den 60er Jahren offensichtlich stark abblätternde Schönheit der Architektur von Paris mit jungen Menschen, wodurch sich wohl Vergangenheit und Gegenwart vereinen sollen. 2. Das kommunistische Paris Enthält dieser Kontrast von alt und jung auch eine Perspektive auf die Zukunft? Nicht überraschend wird diese vor allem im kommunistischen Frankreich gesucht, das – ebenso wenig überraschend – in allen Reiseberichten von DDR-Autoren eine Rolle spielt. Es wird häufig ausgespielt gegen die touristische Seite von zumal Paris – Rolf Schneider spricht etwa von „den kommunistisch verwalteten VorstadtGemeinden von Paris, dem roten Gürtel, wohin kein Tourist sich üblicherweise begibt.“29 Damit wird es auch zu einem Mittel, sich abzusetzen von an pittoresken Sehenswürdigkeiten interessierten Reiseberichten und gewissermaßen eine DDRspezifische Perspektive auf (in diesem Fall, aber wahrscheinlich ist das zu verallge25 Wander, Antlitz, S. 106. 26 Ebd., S. 38. 27 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München/Wien: Hanser, 1993, S. 17. 28 Wander, Antlitz, S. 124. 29 Rolf Schneider, Von Paris nach Frankreich. Reisenotizen, Rostock: Hinstorff, 1975, S. 44. 20 AXEL DUNKER meinern) Frankreich einzunehmen. So besteht beinahe das gesamte Paris-Buch von Kurt und Jeanne Stern aus Begegnungen mit Pariser Kommunisten, die es erlauben, die Geschichte der Stadt aus dieser Perspektive zu erzählen. Und doch steckt gerade hier eine Möglichkeit, zumindest sehr implizit und milde Kritik an den politischen Verhältnissen in der DDR zu üben – oder sie vielleicht zumindest herauszuhören. So sagt Fred Wander von den „Kommunisten von Ivry“: „Sie arbeiten und lernen und leben alle für das gleiche Ziel. / ‚Vive la vie, vive la joie, vive l’amour!‘“30 Im Buch selbst wird das natürlich Entfremdung, Zynismus, Melancholie31 der (nicht-kommunistischen) französischen Jugendlichen entgegengehalten, den „Beatniks“, „Teddyboys“ und „Beatle-Fans“ (sic), denen die „Monotonie der großen Städte und d[as] Gefühl der Entfremdung“ eine „übermüdete Psyche“ eingebracht habe und damit den Verlust der Fähigkeit, „Freude an echten Werten zu finden“ 32. Und doch ist es gerade Paris, das als Stadt der Lebensfreude konstruiert wird, die der DDR-Leser wohl unweigerlich mit seinen eigenen Erfahrungen konfrontieren muss. Heinz Czechowski bringt die Welt der eigenen Erfahrungen in seinem 1981 publizierten Paris-Buch gleich im Mitropa-Speisewagen mit, samt „vertrauten Gerüchen“ und „DDR-Polizeistunde“: „Dabei keine Kollege-kommt-gleich-Bedienung, sondern schnelles, zuvorkommendes Servieren des von uns Bestellten. Wir sind zufrieden und gedenken, noch immer auf heimatlichem Boden, des Vaterlands, welches uns auch in gastronomischen Belangen nicht gerade zu verwöhnen beliebt.“33 3. Exotismus und Interkulturalität Mit einer Erscheinung von Paris, die DDR-Reisenden besonders fremdartig vorkommen muss, werden diese schon bei der Ankunft im Hotel konfrontiert. Ein „riesiger Neger“34 teilt Heinz Czechowski mit, sein Zimmer sei schon belegt, da man ihn irrtümlich bereits einen Tag früher erwartet habe. Er geht daraufhin weiter zum Hôtel des Grands Hommes neben dem Pantheon, in dem André Breton und Philippe Soupault in den 1920er Jahren ihre Versuche in écriture automatique angestellt hatten. „Die Herren Tzara, Aragon oder Cocteau, die hier einmal gewohnt haben sollen“, begegnen ihm dort natürlich nicht mehr. „Doch die schmale Treppe herunter kommt alsbald eine junge Frau, Tochter des Stammes der Maghrebkinder, vielleicht Fatima geheißen, die nach unserem Begehr fragt.“ Das Hotel ist inzwischen zu einer Unterkunft 30 31 32 33 Wander, Antlitz, S. 161. Ebd., S. 151. Ebd., S. 162. Heinz Czechowski, Von Paris nach Montmartre. Erlebnis einer Stadt, 4. Aufl., Halle: Mitteldeutscher Verlag, 1991, [1981], S. 9f. 34 Ebd., S. 22. „HIER MÜNDET DIE REVOLUTION“ 21 für Marokkaner und Algerier geworden, die in Paris als Hilfskräfte der Müllabfuhr und der Straßenreinigung arbeiten. […] Wir versuchen uns der jungen Frau verständlich zu machen: daß wir auf das Zimmer leider verzichten müssen. Und es ist uns nicht besonders gut dabei zumute, uns, den Abkömmlingen aus dem Bannkreis jener Hygiene und Disziplin, auf die wir stolz zu sein haben und die uns gelehrt hat, Knoblauch und Hammelfleisch gehörten zu den niederen Genüssen, Bettwäsche müsse weiß sein und ein Zimmer gut gelüftet.35 Diese Ankunftsbeschreibung ist charakteristisch. „Man kennt Paris, noch ehe man die Stadt betreten hat“36, hatte Czechowski zuvor festgestellt. „Ich glaube, es gibt keine Stadt auf der Welt, die so sehr mit schöner Literatur verstellt ist wie Paris“37, konstatiert Rolf Schneider auf der ersten Seite seines Reiseberichts. Und was begegnet ihm, sobald er in seinem Hotel im Quartier Latin abgestiegen ist: „Studenten in schwarzen Mänteln, ein paar Neger, ein paar Laoten, ein paar verschlafene Hippies.“38 Auch Wander fallen sofort „Studenten aus dem schwärzesten Afrika“ auf: „Kreolen, Mulatten, Araber, Malaien. Kinder der noch bestehenden kleinen Kolonien Frankreichs, Saint-Martinique, Neukaledonien oder Cayenne“.39 Paris, das fällt offenkundig gerade Reisenden aus einem Land sofort ins Auge, in dem es Vergleichbares nicht gibt, enthält ein „Konglomerat von Menschen aus allen Ländern der Erde. In Paris leben Deutsche, Juden, Russen, Armenier, Türken, Griechen, Italiener, Spanier, Portugiesen, Annamiten, Chinesen, Japaner, Kabylen, Marokkaner, vor allem aber dreihunderttausend Algerier.“40 Paris erscheint als Zentrum interkultureller Begegnungen, als „ein Schmelztiegel der Völker“41, wobei bei Wanders Aufzählung sich die Frage stellt, weshalb hier Juden zwischen lauter Bezeichnungen von nationalen Zugehörigkeiten erscheinen42 – gehören sie keiner Nation an? Inge von Wangenheim, 1988 auf – wie sie selber schreibt – „Dienstreise“43 in Paris (deren Zweck nicht so recht deutlich wird), sinniert über den Nachtportier ihres luxuriösen Hotels, in dem man sie offiziell untergebracht hat: „Mir scheint, kein Algerier. Vielleicht überhaupt kein Araber? Wie ich im Lift noch über ihn nachdenke, fällt mir ein, daß er ein echter Ureinwohner aus dem Atlas sein könnte – ein echter Berber am Ende?“44 35 36 37 38 39 40 41 42 Ebd., S. 32. Ebd., S. 19. Schneider, Paris, S. 7. Ebd., S. 11. Wander, Antlitz, S. 11. Ebd., S. 13. Ebd. Auch wenn streng genommen Russen und Armenier zur Zeit der Sowjetunion auch keine – und die Ethnien der Annamiten und der Kabylen wohl nicht nur damals keine – eigene Staatsnation hatten. 43 Inge von Wangenheim, Der goldene Turm. Eine Woche Paris, Rudolstadt: Greifenverlag, 1988, S. 29. 44 Ebd., S. 35.