Sahelzone: 15 Millionen Menschen droht Hunger
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Sahelzone: 15 Millionen Menschen droht Hunger
. NR. 116 . SAMSTAG, 19. MAI 2012 SEITE 8 Tages Thema Sahelzone: 15 Millionen Menschen droht Hunger Westafrika Zum dritten Mal innerhalb weniger Jahre droht Dürre-Katastrope – Hilfsorganisationen fordern Geberländer dringend zu einer Reaktion auf Von Antonia Lange M Berlin. Sterbende Tiere, ausgefallene Ernten, hohe Lebensmittelpreise: Nach einer späten und unregelmäßigen Regenzeit leiden die Menschen in Westafrika zum dritten Mal innerhalb nur weniger Jahre unter einer schweren Dürre. Fragen und Antworten: Wie ist die Lage in Westafrika? Millionen Menschen droht zum dritten Mal eine Hungersnot. Bereits 2005 und 2010 hatte es in der Sahelzone schwere Dürren gegeben. „Was es dieses Mal schwieriger macht, sind eine schlechte Ernte und viel höhere Nahrungsmittelpreise in der Region als 2010“, sagte die Exekutivdirektorin des UN World Food Programme (WFP), Ertharin Cousin. Dieses Mal seien zudem nicht nur einzelne Staaten, sondern nahezu die gesamte Sahelzone in Westafrika betroffen. Cousin forderte die Geberländer auf, schnell zu reagieren. Deutschland unterstützt die sche Sahelzone 2012 nach WFP-Angaben mit rund 13,5 Millionen Euro. Auch die Aktion Deutschland Hilft (ADH) hat jüngst die Bundesregierung aufgefordert, mehr Geld zur Bekämpfung des Hungers in Westafrika zur Verfügung zu stellen. „Jetzt ist es fünf vor zwölf, um eine größere Katastrophe zu vermeiden“, warnte vor wenigen Tagen Heribert Scharrenbroich, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von ADH. Wie viele Menschen sind genau gefährdet? 15 Millionen Menschen könnten laut Hilfsorganisationen bald unter einer Hungerkrise leiden. Eine Million Kinder ist laut Unicef von schwerer Mangelernährung bedroht. Besonders ernst ist die Lage im Niger, im Tschad, in Mali und Burkina Faso. Was wird getan, um den betroffenen Ländern zu helfen? Hilfsorganisationen haben bereits Nahrungsmittelvorräte angelegt und schicken Teams in die Region. Allerdings reichen die internationalen Hilfen angesichts der großen Not bei Weitem nicht. Allein die UN-Organisation WFP beziffert die Kosten ihrer Nothilfe im Sahel auf insgesamt rund 751 Millionen USDollar (590 Millionen Euro). Nur etwa die Hälfte des Geldes ist demnach bisher zusammengekommen. Die Welthungerhilfe appelliert an den bis Samstag tagenden G8-Gipfel, das 2009 in L'Aquila gemachte Versprechen zur Unterstützung der Landwirtschaft und Nahrungsmittelsicherheit einzuhalten. Die Staaten verpflichteten sich damals, von 2010 bis 2012 insgesamt 22 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen. Nach Schätzungen seien bisher nur etwa 20 bis 30 Prozent tatsächlich ausgezahlt worden, kritisierte die Welthungerhilfe. Chronik Hunger in Afrika Immer wieder wird der afrikanische Kontinent von Hungersnöten getroffen. Eine Übersicht über die schwersten Krisen der vergangenen Jahrzehnte: 2011: Hungersnot in Ostafrika. Mehr als eine Million Menschen fliehen aus den von Islamisten beherrschten Katastrophenregionen Somalias in das benachbarte Kenia. 2006: Hunger am Horn von Afrika. In Äthiopien, Kenia, Somalia und Dschibuti sind etwa elf Millionen Menschen bedroht. 2005: Im Niger hoffen rund acht Millionen Menschen nach ausgebliebenen Regenfällen und schlechten Ernten auf Hilfe. Wie viel Zeit bleibt noch, um den Menschen zu helfen? Nicht mehr viel. „In Dürregebieten können Nahrungsmittel nicht lokal gekauft werden. Wenn man sie aber erst in die Region bringen muss, braucht man dafür gerade bei einem Land wie Niger ohne Seezugang rund zwei Monate“, sagt der Chef des deutschen Büros des Welternährungsprogramms, Ralf Südhoff. Werde erst im August gespendet, sei es zu spät, um die Menschen noch bis zur nächsten Ernte im Oktober durchzubringen. 2003: Hungersnot in Darfur/Sudan als Folge eines Konflikts. Drei Millionen Menschen befinden sich zum wiederholten Male auf der Flucht. 2000: Eine verfehlte Landreform ist die Ursache für eine große Hungersnot in Simbabwe. 4500 weiße Farmer werden enteignet und vertrieben. 1990: Hungersnot im Sudan als Folge des seit 1983 schwelenden Bürgerkrieges. Mehr als vier Millionen Menschen leiden. Was tun Mütter, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können? Frauen können ihre Kinder wegen ihrer eigenen Unterernährung häufig nicht mehr stillen. „Viele Mütter pflücken Blätter und kochen sie, bis sie flüssig werden“, berichtet Ertharin Cousin vom Welternährungsprogramm der UN. Dabei sind die Blätter wegen der anhaltenden Dürre in der Region völlig vertrocknet. Andere kochen selbst giftige Beeren so lange, bis sie essbar sind – nur um ihre Kinder damit zu füttern. 1984/1985: Hungersnot in Äthiopien und mehreren Ländern der Sahelzone. Hunderttausende Menschen fliehen oder werden umgesiedelt. 1973: Hungersnot in Äthiopien. Bei einer katastrophalen Dürrephase sterben mehr als eine Millionen Menschen. 1968 bis 1974: Hungersnot in der Sahelzone. Es stirbt nach Expertenschätzungen eine halbe Million Menschen. Die Sahelzone in Afrika 1967 bis 1970: Der Biafra-Krieg in Nigeria verursacht eine große Hungersnot und treibt drei Millionen Menschen in die Flucht. 1957 bis 1958: Nach einer Dürre und einer Heuschreckenplage kommen in Äthiopien rund 200 000 Menschen ums Leben. Unter Haile Mengistu bekämpfen Regierungstruppen in der Region Tigray einen Aufstand und blockieren Lebensmittellieferungen. fwg Algerien Mauretanien Mali Niger Senegal Burkina Faso Tschad Eritrea Sudan Nigeria Südsudan rz Grafik Ausdruck der Hilflosigkeit: Ein kleines Kind spielt in einem Flüchtlingscamp in Mauretanien im Sand . Vor Beginn der Dürremonate in Westafrika haben Hilfsorganisationen vor einer Ausweitung der Hungersnot gewarnt. Foto: AFP Quellen: UNHCR, Munzinger-Archiv, Bundeszentrale für politische Bildung, Welthungerhilfe, Wikipedia Nur mit schnellen Spenden ist das Drama abzuwenden Hilferuf Experte aus Deutschland hat sich selbst ein Bild vor Ort gemacht – Es bleibt nicht mehr viel Zeit M Niamey. Bei einer Fahrt durch den Niger sieht man bis zum Horizont nur Staub und Sand. Das westafrikanische Land leidet ganz besonders unter der schweren Dürrekrise, die nahezu die gesamte Sahelzone im Griff hat. Der Chef des deutschen Büros des Welternährungsprogramms (WFP), Ralf Südhoff, war nun selbst vor Ort, um sich ein Bild von der aktuellen Lage zu machen. Er ist überzeugt: Wenn in den nächsten vier Wochen nicht die dringend benötigten Spendengelder eintreffen, kann in der Region eine verheerende Hungerkatastrophe kaum noch abgewendet werden. Welche Impressionen nehmen Sie von Ihrem Besuch im Niger mit? Es hat sich bestätigt, dass Niger hier in der westafrikanischen Sahel das Land ist, das am meisten unter der Dürre leidet, auch aufgrund der sehr schlechten letzten Ernte. Hunderttausende Bauern, die sonst das ganze Jahr von ihren Vorräten leben können, brauchen schon seit vielen Monaten Unterstützung, weil erst im Oktober die nächste Ernte kommt. Wenn ihnen niemand hilft, haben sie keine Wahl: Sie müssen ihr Saatgut aufessen, ihre Felder aufgeben, mit ihren Kindern in die Städte fliehen, um zu betteln. Wenn wir sie befähigen wollen, auf ihren Feldern zu bleiben und weiter anzubauen, müssen wir ihnen deshalb jetzt helfen und nicht erst, wenn eine mögliche Katastrophe bereits ausgebrochen ist. Wie schätzen Sie die Lage ein? Wirklich katastrophale Zustände habe ich nur punktuell gesehen, aber genau das war ja auch das Ziel dieser Reise: uns einen Eindruck davon zu verschaffen, wie man eine Krise – die hier definitiv herrscht – dieses Mal bewältigen kann, bevor eine Katastrophe daraus wird wie etwa im vergangenen Jahr am Horn von Afrika. Dort wurde trotz aller Warnungen und Prognosen viel zu spät reagiert, was Millionen Opfer kostete und Milliarden von Hilfsgeldern, die sonst gar nicht nötig gewesen wären. Was sieht man derzeit, wenn man durch den Niger fährt? Niger ist das trockenste und staubigste Land, das ich je bereist habe. Mit der dritten Dürre in nur acht Jahren leidet es offenkundig schon massiv unter dem Klimawandel, und es werden durchaus noch viele Wochen ins Land gehen, bevor der nächste Regen kommt. Wenn man durch das Land fährt, sieht man stundenlang nichts außer Sand und Staub, und es ist Ralf Südhoff Foto: dpa umso beeindruckender, wie die Menschen in der gleißenden Sonne schuften, um ihre Felder auf die Regenzeit vorzubereiten. Wie ist die Situation für die Kinder? Ein Bild werde ich nicht mehr vergessen: Wir waren in einem Krankenhaus in der Stadt Maradi für extrem mangelernährte Kinder. Da haben wir eine Mutter von Zwillingen getroffen, die vor einem Mo- nat geboren wurden. Während der Schwangerschaft ging es ihr so schlecht, dass ihre beiden Mädchen mit nur gut einem Kilo Gewicht zur Welt kamen. Als ich die Kinder sah, hatten sie ihr Gewicht dank Spezialnahrung bereits verdoppelt, und die Ärzte sagen, sie werden durchkommen – und zugleich waren sie immer noch die ausgehungertsten Kinder, die ich je gesehen habe. Und das Krankenhaus war voll von ähnlichen Kindern, fast jedes Bett war doppelt belegt. von den benötigten rund 320 Millionen Dollar, mit denen wir drei Millionen Menschen bis zur Ernte durchbringen müssen, noch fast 200 Millionen. Und die Zeit rennt. Wir müssen diese Zuwendungen und Spenden in den nächsten drei Wochen bekommen. Wenn erneut abgewartet wird, bis die typischen Hungerbilder ausgemergelter Menschen bei uns im Fernsehen gezeigt werden, kann man vielen von ihnen schon kaum noch helfen – und die Hilfe wird zudem viel, viel teurer. Was ist nötig, um zu vermeiden, dass viele andere Kinder das gleiche Schicksal ereilt? Erneut wurde sehr früh Alarm geschlagen in der Krise, und erstmals gab es auch früh gewisse Hilfen, unter anderem von der Bundesregierung. Aber all unsere bisherige Arbeit droht jetzt verloren zu gehen, wenn der zweite Schritt nicht folgt: Allein in Niger fehlen uns Wieso drängt die Zeit gerade jetzt? Wird erst im August gespendet, wird es zu spät sein, um die Menschen noch bis zur nächsten Ernte im Oktober durchzubringen. Noch aber haben wir in Westafrika eine historische Chance: Wir können zeigen, dass wir unsere Lektion gelernt haben und erstmals verhindern, dass auf Ansage aus einer Hungerkrise eine Katastrophe wird.