Büchner Biographie.rtf

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Biographie - Georg Büchner
War Büchner ein typischer Intellektueller, linksorientiert
(aber im Grunde weltfremd) und obendrein arrogant? Oder
entsprach er eher dem pseudoromantischen Klischee des in
Armut, Krankheit, Einsamkeit und seelischer Zerrüttung
schaffenden Genies? Mancher Zeitgenosse sah in ihm
tatsächlich den hochmütigen, vielleicht sogar zynischen
Beobachter des Geschehens um sich herum, und Büchner
war sich dessen durchaus bewußt: »Man nennt mich einen
Spötter«, schrieb er im Februar 1834 an seine Familie,
erklärte aber im selben Brief: »Ich verachte Niemanden.«
Der Vorwurf des Hochmuts, »weil ich an ihren
Vergnügungen oder Beschäftigungen keinen Geschmack
finde«, erschien ihm ungerecht; über seine Neigung zum
Spott erklärte er:
Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie
Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, daß er ein
Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und lache dabei
über mich selbst, der ich sein Schicksal teile.
Also doch das einsame Genie in der Dachkammer? In Büchners Lebenslauf spricht einiges
dagegen:
In Goddelau, einem Dorf im damaligen Großherzogtum Hessen, wenige Kilometer südwestlich
von Darmstadt, wurde Georg Büchner als ältester Sohn von Caroline Büchner, geb. Reuß, und
Dr. Ernst Büchner – damals Kreis-Chirurg des Amtes Dornberg – am 17. Oktober 1813 geboren.
Zu ermitteln, welche spezifischen Einflüsse das Elternhaus auf Büchners Denkweise und
Persönlichkeit gehabt hat, muß spekulativ bleiben. Bemerkenswert allerdings ist, daß alle seine
Geschwister eine deutliche, wenn auch unterschiedlich ausgeprägte ,demokratische Ader' zeigten,
oder genauer: eine offensichtliche Abneigung gegen alles Repressive.
Wilhelm, der mit seiner Farbenfabrik für Ultramarin zu großem Reichtum gelangte, war
Landtags- und später auch Reichtagsabgeordneter für die liberal-demokratisch ausgerichtete
»Fortschrittspartei«; Luise setzte sich mit mehreren Schriften (u.a. ihrem Buch Die Frauen und
ihr Beruf, 1855) für die Rechte der Frauen ein; Ludwig Büchner verfaßte mit Kraft und Stoff
(1855) eines der meistgelesenen philosophischen Werke seiner Zeit, das in zahlreiche Sprachen
übersetzt wurde. Er vertrat darin eine radikal materialistische Weltanschauung; darüberhinaus
stand der praktizierende Arzt der sozialdemokratischen Bewegung nahe. Alexander schließlich,
später Literaturprofessor in Frankreich, beteiligte sich an der 1848er Revolution und wurde sogar
wegen radikal-demokratischer Ansichten vor Gericht gestellt. Nur die zweitälteste, Mathilde
(geboren 1815), wurde keine Person der Öffentlichkeit.
Die Figur des Vaters muß widersprüchlich gewesen sein: War es ihm einerseits als engagiertem
praktizierenden Arzt ein echtes Anliegen, leidenden (Mit-) Menschen zu helfen, verkörperte er
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andererseits durch seine extrem autoritären Erziehungsmethoden gerade die verhaßten
Unterdrückungsmechanismen seiner Zeit. So mögen beide Aspekte auf den sensiblen Georg
gewirkt haben; aus der Identifikation mit dem durchaus als Vorbild erlebten Arzt-Vater ließe sich
die Selbstverständlichkeit und Unbedingtheit seiner sozialen Zugewandtheit und letztlich auch
seiner sozialistischen Einstellung erklären, aus dem Widerstand gegen den Tyrannen-Vater die
Widerspenstigkeit gegen alle obrigkeitlichen Instanzen und der tiefe Abscheu vor
Ungerechtigkeit.
Andererseits muß aber auch – jenseits von pädagogischen Angelegenheiten – ein liberaler Geist
in der Familie geherrscht haben, der offene Auseinandersetzungen über die verschiedensten
Themen erlaubte. Dieser Aspekt und der große Zusammenhalt, der zwischen den Geschwistern
bestand, erklärt einigermaßen, daß Büchner sich zeit seines Lebens sehr stark an das Elternhaus
gebunden fühlte und dieses als einen seiner wesentlichen Ansprechpartner ansah.
Nachdem er seinen ersten Unterricht von der Mutter erhalten hatte, besuchte Büchner ab 1819 die
»Privat-Erziehungs- und Unterrichtsanstalt« von Carl Weitershausen in Darmstadt, wohin die
Familie 1816 übergesiedelt war, von 1825 an das dortige humanistische Gymnasium. Aus seiner
Schulzeit haben sich über 600 Seiten mit Schriften erhalten, die als Aufgaben im Rahmen des
Unterrichts verfaßt wurden. Als durchaus eigenständig können die Rede Helden-Tod der
vierhundert Pforzheimer, das Aufsatz-Fragment Über den Traum eines Arkadiers (beide 1829),
die Rede zur Verteidigung des Kato von Utika (1830) und die Rezension eines MitschülerAufsatzes Über den Selbstmord gelten (1831).
Diese Schriften des Sechzehn- bis Siebzehnjährigen zeigen – abgesehen von einer
offensichtlichen rhetorischen Begabung, die dazu führte, daß er zweimal als Redner des
halbjährlich stattfindenden Redeaktus des Gymnasiums auftrat – seine schon damals sehr
ausgeprägten Sympathien für republikanisches Gedankengut. Die Pforzheimer Bürger, die im
Dreißigjährigen Krieg dem Heere Tillys trotzten, stellt Büchner als Beispiel für unbedingten
Freiheitswillen dar; die engagierte Verteidigung von Catos Selbstmord nach der Machtergreifung
Cäsars huldigt dem römischen Zensor als Symbolfigur republikanischen Denkens und Handelns,
der einem Leben in Unfreiheit den Tod vorzog.
Büchner hatte schon als Schüler ein scharfes politisches Bewußtsein entwickelt, das ihn auch im
täglichen Leben (er trug einen »Polen-Rock« und angeblich auch eine »Jakobiner-Mütze«) seine
republikanische Haltung zeigen ließ. Er war nicht der einzige: viele seiner Schulkameraden
teilten Büchners Gesinnung und waren – anders als er – Mitglieder konspirativer oder zumindest
oppositioneller Kreise. Davon hielt sich Büchner zunächst fern; nicht etwa aus Halbherzigkeit,
sondern aus der Überzeugung, daß die Situation für revolutionäre Handlungen nicht reif sei.
Im November 1831 verließ Büchner das politisch bedrückende Darmstadt, um an der Universität
in Straßburg das Studium der Medizin aufzunehmen. Dort wurde er von Verwandten
mütterlicherseits – die Reuß waren seit dem 17. Jahrhundert im Elsaß ansässig – bei Anmeldung,
Immatrikulation und Wohnungssuche unterstützt; er kam bei Pfarrer Johann Jakob Jaeglé, einem
entfernten Verwandten, unter, und lernte auf diese Weise dessen Tochter Wilhelmine (Minna)
(1810–1880) kennen. Zwischen beiden entstand bald eine enge Beziehung, die zur – allerdings
zunächst heimlichen – Verlobung führte.
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Hier zeigt sich die kolossale Macht, die der Vater auf Büchner ausgeübt haben muß: so stark war
diese Autorität verinnerlicht, daß der sonst freidenkende, ja durchaus revolutionär gesinnte, noch
dazu nun im Ausland sich aufhaltende Student aus Angst vor der väterlichen Reaktion sich nicht
traute, die ihm wohl am nächsten gehende menschliche Verbindung dem Elternhaus zu melden.
In der Tat folgte zwei Jahre (!) später auf die offizielle Ankündigung dann auch ein heftiges
Donnerwetter seitens Dr. Ernst Büchners. Wie sehr es ihm dabei nur um tyrannisches
Kontrollieren ging, wird an der Tatsache deutlich, daß er nach Kennenlernen Wilhelmines nichts
gegen die Verbindung einzuwenden hatte – aber das ,eigenmächtige' Handeln des Sohnes verbat
er sich offensichtlich.
In Straßburg wurde Büchners Auseinandersetzung mit
politischen und sozialen Fragen noch intensiver. Durch
Lektüre und Diskussionen in seinem dortigen Freundeskreis,
zu dem vor allem Eugène Boeckel, Wilhelm Baum, Alexis
Muston, August und Adolph Stoeber sowie deren Vater
Ehrenfried Stoeber, seinerzeit ein recht bekannter Literat und
Publizist, gehörten, schärfte sich Büchners Blick für die
Tatsache, daß die Wurzeln des Übels nicht nur in der
Vorenthaltung bürgerlicher Rechte, sondern in erster Linie in
der materiellen Unterdrückung des Volkes lagen. Er konnte
dies besonders gut an den Folgen der französischen JuliRevolution von 1830 beobachten, aus der sich zielstrebig eine
Diktatur des Großbürgertums entwickelte. Besonders im Rahmen von Abenden der
Studentenverbindung »Eugenia«, die Büchner als Dauergast besuchte, legte er seine politischen
Ansichten dar, die sich als wesentlich radikaler als diejenigen seiner Freunde und Bekannten
herausstellten. Aber auch zu den französischen Linksrepublikanern knüpfte Büchner Kontakte,
lernte ihre Organisationsform kennen und befaßte sich mit den politischen Theorien der
sogenannten utopischen Sozialisten Saint-Simon, Babeuf und Fourier.
Doch blieb er bei seiner Überzeugung, daß revolutionäre Umtriebe in Deutschland noch keine
Aussicht auf Erfolg hätten. Weder beteiligte er sich am berühmten Hambacher Fest vom 27. Mai
1832, bei welchem rund 30.000 Menschen gegen die politischen Verhältnisse demonstrierten,
noch hatte er Verbindung zu den Drahtziehern des Frankfurter Wachensturms vom 3. April 1833,
eines schlecht organisierten Revolte-Versuchs, der neun Tote und mehrere Verletzte forderte und
die erhoffte Signalwirkung völlig verfehlte,
weil ich im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche
Unternehmung betrachte und nicht die Verblendung Derer teile, welche in den Deutschen ein
zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen. Diese tolle Meinung führte die Frankfurter
Vorfälle herbei, und der Irrtum büßte sich schwer. (Brief an die Eltern vom [ca. 6.] April 1833)
Dafür ging er seinen literarischen Interessen nach; hier spielten vor allem die Stoebers eine
wichtige Rolle: 1831 veröffentlichte der Vater eine Biographie seines Lehrers, des Pfarrers
Johann Friedrich Oberlin, und August Stoeber publizierte im selben Jahr einen Artikel in
mehreren Folgen, in welchem er über bis dahin unbekannte Aspekte aus dem Leben des Dichters
Jakob Michael Reinhold Lenz berichtete und die bestehenden Vorurteile gegen Goethes
Zeitgenossen auszuräumen suchte. Büchner wird diese Beiträge mit Interesse zur Kenntnis
genommen haben...
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Im August 1833 kehrte Büchner nach Darmstadt zurück, um – wie es die hessischen Gesetze
verlangten – sein Studium in Gießen abzuschließen. Es war ein Ortswechsel mit gewaltiger
Wirkung: In vollem Bewußtsein erlebte er nun die Beengtheit, die das politische System in
Deutschland hervorrief – »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen« (Brief an
August Stoeber vom 9. Dezember 1833) –; hinzu kam die schwer erträgliche räumliche Trennung
von Minna und, durch beide Umstände verstärkt, seine ohnehin depressive Grundveranlagung.
Im November, kurz nach Semesterbeginn, erlitt er einen Anfall von Hirnhautentzündung und
blieb bis zum Jahresende im Elternhaus; nach Wiederaufnahme des Studiums verfiel er im
Februar 1834 in eine schwere depressive Krise. Und doch vollzieht sich gerade in dieser Zeit ein
entscheidender Wandel. Der bisher nur beobachtende, an den Möglichkeiten politischer Tätigkeit
zweifelnde Büchner entdeckt für sich die Notwendigkeit des Handelns (auch im privaten Bereich,
denn nun, nach einer heimlichen Eskapade nach Straßburg, offenbart er seinen Eltern endlich sein
Verlöbnis).
Zum einen begann eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Französischen
Revolution, zum anderen gründete er in Gießen mit einigen Gesinnungsgenossen (u.a. Karl
Minnigerode, Jakob Friedrich Schütz und Gustav Clemm) eine »Gesellschaft der
Menschenrechte«, die er bald um eine Darmstädter Sektion erweiterte.
Über seinen Gießener Freund August Becker lernte er Anfang 1834 auch Ludwig Weidig kennen,
Rektor in Butzbach, einen republikanischen Aktivisten, mit dem er beschloß, ein Flugblatt zu
verfassen und in Umlauf zu bringen. Es ist Der hessische Landbote, in welchem – trotz massiver
Eingriffe Weidigs – Büchner seinen sozialrevolutionären Ansatz (»Friede den Hütten, Krieg den
Palästen«) in aller Schärfe formuliert.
Im Juli brachte Büchner das Manuskript zu einem Drucker nach Offenbach; dort wurden die
fertigen Exemplare am 31. Juli von drei Mitgliedern der »Gesellschaft der Menschenrechte«
abgeholt. Einen Tag später kam es durch eine Denunziation zur Verhaftung Minnigerodes, bei
dem 139 Exemplare gefunden wurden. Sofort reagierte Büchner und machte sich unter einem
Vorwand nach Butzbach, Offenbach und Frankfurt auf, um die dortigen Freunde zu warnen – in
der Zwischenzeit wurde sein Zimmer in Gießen durchsucht, wobei allerdings kein
Beweismaterial gegen ihn sichergestellt werden konnte; Büchner beschwerte sich sogar bei den
Behörden offiziell über diese Vorgehensweise.
Im Herbst schien die Gefahr zunächst vorüber, was jedoch keineswegs eine Ruhephase mit sich
brachte. Nach einem Besuch Minnas in Darmstadt verfolgte Büchner mit gesteigerter Energie
seine Aktivitäten. Nicht nur die Französische Revolution war Gegenstand seiner Studien, sondern
nun auch die Geschichte der Philosophie, hinzu kam die Arbeit im Laboratorium seines Vaters.
Auch die Tätigkeit im Untergrund wurde wieder aufgenommen: Büchner verfaßte (leider
verloren gegangene) Grundsatzpapiere, beteiligte sich an Waffenübungen, Geldsammlungen und
einem erfolglosen Versuch, Minnigerode aus dem Gefängnis zu befreien.
Und im Januar begann Büchner mit der Niederschrift seines ersten Dramas, Dantons Tod, in
welchem seine Quellenkenntnis über die Französische Revolution zum Tragen kam. Bereits einen
Monat später sandte er das Manuskript an den Verleger Johann David Sauerländer und an dessen
Redakteur Karl Gutzkow, einen der führenden Vertreter des »Jungen Deutschland«. Gutzkow
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war beeindruckt und antwortete postwendend: »In aller Eile einige Worte! Ihr Drama gefällt mir
sehr, u[nd] ich werde es Sauerl[änder] empfehlen« (Brief vom 25. Februar 1835). Tatsächlich
erschien durch Gutzkows Vermittlung ab Ende März ein – vor allem aus Zensurgründen –
gekürzter Vorabdruck in der Literaturzeitschrift Phönix.
Aber die Ereignisse überschlugen sich. Nachdem die hessischen Behörden ihre Ermittlungen
gegen revolutionäre Kreise in den vorangegangenen Monaten intensiviert und Büchner selbst
mehrmals Vorladungen zugestellt hatten – denen er bis dahin hatte ausweichen können –,
entschloß er sich, als ein erneutes amtliches Schreiben eintraf, das ihn zu einem
Untersuchungstermin nach Friedberg zitierte, endgültig zur Flucht. Büchner wußte genau, daß er
den Verlust der persönlichen Freiheit psychisch nicht überstehen würde; auch seine Mitstreiter
haben ihm niemals einen Vorwurf wegen dieses Schrittes gemacht. Wie klug seine Entscheidung
war, zeigte sich bald darauf, als durch das Umkippen Clemms, eines der aktivsten Mitglieder der
»Gesellschaft der Menschenrechte«, eine große Verhaftungswelle folgte, der u.a. auch Ludwig
Weidig zum Opfer fiel – im drastischsten Sinne: Nach fast zwei Jahren Gefangenschaft mit
ständigen Verhören und Folterungen starb der Mitverfasser des Hessischen Landboten am 23.
Februar 1837 in seiner Zelle.
Büchner erreichte in den ersten Märztagen unbehelligt Straßburg, wo er sich als der Weinkellner
Jacques Lutzius anmeldete, um eine Abschiebung durch die dortigen Behörden zu vermeiden.
Erst im Herbst erhielt er – ungeachtet des Steckbriefes, den die hessischen Behörden im Juni
gegen ihn erlassen hatten – durch die Verwendung einflußreicher Bürger die Sicherheitskarte,
eine Art Aufenthaltsgenehmigung. Damit endeten Büchners revolutionäre Aktivitäten. Zum
einen, weil er sie sich aufgrund seines Flüchtling-Status nicht erlauben konnte, vor allem aber,
weil seine Überzeugung noch fester geworden war, daß ein Umsturz in der damaligen Situation
nicht möglich sei; vielmehr hoffte er darauf, daß die republikanischen Ideen sich immer mehr
verbreiten und schließlich zu einem Zusammenfall des Systems führen würden.
Um so intensiver widmete er sich nun der Literatur und den Wissenschaften. Über Gutzkow
erhielt er den Auftrag, zwei historische Dramen von Victor Hugo (Marie Tudor und Lucrèce
Borgia) für die mehrbändige Hugo-Ausgabe bei Sauerländer ins Deutsche zu übersetzen – eine
Arbeit, die er binnen zwei Monaten erledigte; offensichtlich wurde er mit den Werken des
französischen Romantikers nicht besonders warm.
Im Mai begann er, parallel dazu, mit der Arbeit an der Novelle Lenz; u.a. lieferte ihm August
Stoeber nun neben anderen Dokumenten auch eine Abschrift von Oberlins Bericht über den
Aufenthalt Jakob Michael Reinhold Lenz’ in seinem Elsässer Pfarrhaus. War der unglückliche
Stürmer und Dränger für Büchner schon seit der Studienzeit eine interessante Gestalt gewesen, so
hatte er nun, im Exil, die nötige Energie, diesem Sujet konkrete Form zu geben. Besonders
reizvoll war auch der Umstand, daß Lenz als ,Nachfolger' Goethes mit der Sesenheimer
Pfarrerstochter Friederike Brion eine Verbindung eingegangen war, deren unglückliches Ende
wohl in starkem Maße zu seiner geistigen Verwirrung beitrug; allerdings gab Büchner den Plan
auf, diese ,Dreiecksgeschichte' literarisch zu verwerten, und beschränkte sich auf eine Novelle,
die inhaltlich auf Oberlins Bericht basiert. Gutzkow hatte eine Veröffentlichung in der Deutschen
Revue in Aussicht gestellt, aber nach dem Vorausverbot des Blattes und Gutzkows Verhaftung
sah Büchner wohl vorerst keine Möglichkeit, den Text erscheinen zu lassen, und legte ihn
beiseite. Erst im Januar 1839 gab Gutzkow, dem eine Abschrift des Manuskripts vorlag, das
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fragmentarische, nicht mehr überarbeitete Werk mit dem Untertitel Eine Reliquie von Georg
Büchner in der Zeitschrift Telegraph für Deutschland heraus.
Büchner wandte sich anderen Projekten zu. Hatte er gehofft, als freier Schriftsteller seinen
Lebensunterhalt bestreiten zu können, so sah er nun wohl ein, daß Politik und
Publikumsgeschmack Unwägbarkeiten darstellten, die das Ergreifen eines ,Brotberufs' dringend
nahelegten. Kurz entschlossen begann er im Spätherbst 1835 mit der Arbeit an einer Dissertation
über die Schädelnerven der Fische. Den ganzen Winter sezierte er vornehmlich die wegen ihres
niedrigen Preises und ihres massiven Skeletts besonders geeigneten Flußbarben und schrieb
darüber eine Abhandlung, die er im April 1836 beendete.
Heutzutage ist das Mutieren eines Literaten zu einem Anatom kaum nachvollziehbar; damals
jedoch wurden die Wissenschaftsbereiche nicht so scharf getrennt, und so sah er, der ja Medizin
studiert und sich mit Philosophie beschäftigt hatte, die Chance, in Zürich die Doktorwürde und
eine Dozentur zu erhalten, und suchte sich »einen philosophischen oder naturhistorischen
Gegenstand« (Brief an die Eltern vom Oktober 1835). Die Straßburger »Société du Muséum
d’histoire naturelle« lud ihn zum Vortrag über seine Forschungsergebnisse ein und war davon so
angetan, daß sie auch die Drucklegung übernahm. Die Arbeit erschien, allerdings erst 1837, unter
dem Titel Mémoire sur le système nerveux du barbeau (Cyprinus barbus L.); eine Abschrift
reichte Büchner bereits vorher bei der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ein, die
ihn am 3. September 1836 zum Dr. phil. ernannte.
Im Wintersemester 1936/37 trat er seine Vorlesungen über vergleichende Anatomie in Zürich an.
Doch bis zu seiner Übersiedlung im Oktober gönnte er sich nicht etwa eine kleine Ruhepause,
sondern stürzte sich wieder in seine (auch während seiner ichthiologischen Phase
weiterbetriebenen) Studien der Philosophie. Nicht aus Liebhaberei, wie die Passage aus dem
Brief an seinen Bruder Wilhelm vom 2. September 1836 belegt:
[...] und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges
Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst
Überflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und
Spinoza, zu halten.
Büchner trug sich mit dem Gedanken, die venia legendi auch für Philosophie zu erlangen; da
dieses Fach damals noch der gleichen Fakultät angehörte wie Medizin, hätte die
Doppelbefähigung einen großen Vorteil für ihn bedeutet.
Ging die Beschäftigung mit der Anatomie übergangslos in philosophische Studien über und
überlappte sich sogar mit ihnen, so blieb Büchner doch noch Zeit, seinen literarischen Projekten
nachzugehen. Im Januar 1836 hatte der Cotta-Verlag ein Lustspielwettbewerb ausgeschrieben –
zwischen Barben und Spinoza muß Büchner im ersten Halbjahr 1836 auch an Leonce und Lena
gearbeitet haben, denn zum Einsendeschluß am 1. Juli reichte er eine Fassung des Stückes ein,
die allerdings verspätet eintraf und deshalb nicht mehr zum Wettbewerb zugelassen wurde. Wie
er darauf reagierte, ist nicht überliefert, jedenfalls überantwortete er aber den Text nicht der
Schublade, sondern arbeitete weiter daran.
Irgendwann im Spätsommer muß er auch noch mit Skizzen für jenes Werk begonnen haben, das
– obwohl nur Fragment – eines der bedeutendsten Dramen seines Jahrhunderts im
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deutschsprachigen Raum werden sollte: Woyzeck. Wieder diente historisches Material als
,Vorlage': wichtigste Quelle war das Gutachten, das 1821 von Hofrat Prof. Dr. Johann Christian
August Clarus zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Perückenmachergesellen Johann
Christian Woyzeck verfaßt worden war, der seine Geliebte erstochen hatte; zusätzlichen Stoff
lieferten Aktenstücke aus zwei weiteren, ähnlich gelagerten Kriminalfällen. Und doch ist
Woyzeck alles andere als ein ,Dokumentarstück': Vielleicht hat die Genauigkeit des
Quellenstudiums es überhaupt erst erlaubt, die überindividuellen Aspekte des physischen,
sozialen und seelischen Leids mit einer derart atemberaubenden Wucht und Schonungslosigkeit
auf die Bühne zu bringen.
Aber auch dies war nicht die ,letzte' literarische Arbeit Georg
Büchners. Fast gleichzeitig scheint er sich mit einem weiteren
Projekt beschäftigt zu haben: Pietro Aretino, einem Drama
über den ob seiner freizügigen Darstellung der Sexualität
berüchtigten italienischen Dichter der Renaissance. Nur
Indizien lassen auf die Existenz dieses Werkes schließen, das
vollständig verschollen ist (sofern Teile davon jemals zu
Papier gebracht worden sind). Daß Minna Jaeglé die
Handschrift
wegen
der
vielen
darin
enthaltenen
Anzüglichkeiten vernichtet haben soll, ist eine nicht eben
fromme Legende: Ganz im Gegenteil war sie nach Büchners
Tod neben dessen Bruder Ludwig und Karl Gutzkow sehr
bemüht, das Werk ihres Verlobten der Nachwelt zugänglich zu
machen. Überhaupt war Minna eine außerordentliche Stütze
für Büchner, und zwar nicht nur in Straßburg, das ihm letztlich
durch ihre Anwesenheit zur zweiten Heimat wurde, sondern
auch aus der Ferne – wer weiß, wie Büchner ohne die
Sicherheit ihrer Zuneigung die vielen einsamen, gefährdeten
Tage seines Lebens überstanden hätte.
Am 17. Oktober 1836, Büchners 23. Geburtstag, hieß es
wieder einmal Abschied nehmen für längere Zeit. Tags darauf
reiste Büchner nach Zürich ab, wo er am 5. November seine
Probevorlesung Über Schädelnerven hielt und, zum
Privatdozenten ernannt, im Wintersemester das Kolleg
»Zootomische Demonstrationen« durchführte.
Büchner hatte in der Spiegelgasse Nr. 12 ein Zimmer gefunden
und war Nachbar des Ehepaars Caroline und Wilhelm Schulz,
ebenfalls Exildeutsche, mit denen er eine enge Freundschaft
knüpfte. Zwar ließ er auch in der Schweiz die Finger von
jeglicher politischen Tätigkeit (was auch dem laufenden
Asylverfahren geschadet hätte), doch setzte er sein
unglaubliches Arbeitspensum ungebrochen fort, »du glaubst nicht, wie regelmäßig und
ordentlich. Ich gehe fast so richtig wie eine Schwarzwälder Uhr« (Brief an Minna Jaeglé vom 20.
Januar 1837). Im selben Brief meldete er, er habe sich »verkältet« – vielleicht eine Folge der
Überanstrengung; von Todesahnungen, dem Gefühl des Sich-Verzehrens jedoch keine Spur, denn
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am 27. Januar schrieb er, wieder an Minna: »[...] ich habe keine Lust zum Sterben und bin gesund
wie je.«
Am 2. Februar allerdings mußte er wegen Fiebers im Bett bleiben. Trotz der Pflege durch die
Schulz’ trat keine Besserung ein; im Gegenteil häuften sich immer mehr die Delirien. Als Minna
Jaeglé am 17. Februar endlich ans Krankenbett trat, hatte die inzwischen diagnostizierte
Typhusinfektion Georg Büchner schon fast besiegt – kaum noch erkannte er die Frau, die er so
geliebt hatte. Am 19. Februar 1837 starb er gegen vier Uhr nachmittags. Zwei Tage später fand
das Begräbnis auf dem Zürcher Friedhof am Zeltberg statt; nach dessen Einebnung wurden
Büchners sterbliche Reste 1875 auf den Germaniahügel am Zürichberg umgebettet, wo auch ein
Gedenkstein errichtet wurde.
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