Artikel Ev. Zeitung - Kriegskinder

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Artikel Ev. Zeitung - Kriegskinder
Kriegstraumata werden an Kriegskinder und Kriegsenkel weitergegeben
Ohlsdorfer Friedensfest diskutiert verborgene Belastungen aus Kriegserfahrungen bei
der Nachkriegsgeneration
Meine Mutter ist als Jugendliche allein aus Danzig geflohen. Nach dem Krieg, in meiner
Kindheit, wachte sie nachts schreiend auf, verfolgt von schlimmen Erinnerungen.“ Das
habe sie bis heute geprägt, erzählt Monika Roloff, selbst ein Nachkriegskind und 1949
geboren, vor dem Mahnmal an die Bombenopfer des Hamburger Feuersturms 1943.
Dort, auf dem diesjährigen, siebten Ohlsdorfer Friedensfest, ist die Weitergabe
traumatischer Erfahrungen von Kriegsteilnehmern an ihre Kinder und Enkel eines von
zwölf Themen. Bis Sonntag, 2. August, werden sie öffentlich diskutiert. Veranstalter ist
das „Bündnis Ohlsdorfer Friedensfest“ mit 13 Einrichtungen und Initiativen aus Hamburg.
Seit 2008 führen sie Veranstaltungen zur Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt
mit Blick auf die heutige Friedenarbeit durch.
Am 25. Juli berichteten Kriegskinder und Kriegsenkel vor 70 Zuhörern von Erfahrungen,
die in der Familie an die zweite und dritte Generation weitergegeben wurden, und deren
Haltungen, Lebensängste und Unsicherheiten die Kinder- und Enkelgeneration bis heute
prägen.
Können seelische Auswirkungen von Kriegserfahrungen, also Verlassenheitsangst,
Desorientierung im Alltag oder übertriebene Sparsamkeit („Nichts wegwerfen können“)
von Kindern und Enkeln unbewusst übernommen werden? Über die transgenerationelle
Weitergabe seelischer Wunden und Verhaltensmuster diskutierten auf dem Podium eine
Ärztin, ein „Kriegsenkel“ und ein „Kriegskind“. „Ich habe als kleiner Junge den Hamburger
Feuersturm im Bunker erlebt,“ erzählt Harald Hinsch. Er wusste, dass sein Vater von der
Gestapo in das KZ eingeliefert wurde und saß im Bunker, eng gedrängt zwischen
Nachbarn, Geschwistern und der Mutter: „Die Stahlbeton-Decke des Bunkers war mehr
als drei Meter dick. Als die Bomben niedergingen, hat der gesamte Bunker gewackelt. Das
vergisst man nicht“ Angstträume verfolgten den späteren Sozialpädagogen viele Jahre
lang. „Geholfen haben mir Gespräche in der Familie.“ Als hilfreiche ‚Autotherapie‘
bezeichnet der heutige Großvater die Gespräche mit seinen fünf Kindern und das
Niederschreiben der Erlebnisse in seinem 2009 erschienenen Buch: „Roter Junge“. „Das
hat die seelische Bürde der Kriegserlebnisse gemindert.“ Psychotherapeuten weisen
inzwischen verstärkt darauf hin: Selbst kleine Kinder haben die Todesangst von
Erwachsenen auf der Flucht oder das Flammenmeer in Städten bewusst erlebt. „Kinder
konnten noch nicht darüber sprechen wie Erwachsene. Doch heute weiß man, dass sie
traumatische Erfahrungen gespeichert haben“, erklärt die Ärztin und angehende
Psychotherapeutin Hella Stahmann auf dem Ohlsdorfer Friedhof. In einem
Forschungsprojekt des Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) und der Forschungsstelle für
Zeitgeschichte der Universität Hamburg hat Hella Stahmann die Aussagen von drei
Generationen, insbesondere von Kriegskindern und Kriegsenkeln untersucht und die
Ergebnisse im Jahr 2013 zusammengestellt . „Der Aufruf in einer großen Hamburger
Zeitung brachte eine überwältigende Flut von Kriegskindern und Kriegsenkeln dazu, der
Forschungsstelle über ihre zum Teil traumatischen Erlebnisse während des Feuersturms
zu berichten “, erzählt Hella Stahmann. In den späten Lebensjahren steige das Bedürfnis
vieler Kriegskinder, über diese Leidenserfahrungen zu sprechen. „In der früheren
Nachkriegszeit gab es dafür weder Zeit noch oft willige Zuhörer. Viele Menschen haben
geschwiegen. Unterschwellig hatten viele sicher auch Angst, von ihrer eigenen Gefühlsflut
übermannt zu werden“, erklärt die Ärztin das Verhalten.“ Gefühlskälte und verbissenes
Schweigen waren bei vielen die Folge. „Dies hat bei ihren Kindern und Enkeln, die sie
nach dem Krieg befragt haben und auf Schweigen stießen, ebenfalls oft Unsicherheit und
mangelndes Selbstwertgefühl hinterlassen. „So entstanden bei den Nachkommen
ähnliche Verhaltensmuster, an denen sie oft bis heute leiden“, so die Ärztin. Beispiele
aus dem Publikum bestätigen die These: „Wir haben als Kinder nicht verstanden, dass ein
Opa, der mit uns so wunderbar spielen konnte, ein böser Nazi gewesen sein soll. Das
wurde in der Familie angedeutet, aber nie richtig erklärt.“ Die Diskrepanz zwischen der
liebevollen Verlässlichkeit des Großvaters und dem moralischen Vorwurf, er sei ein böser
Mensch gewesen, hätten die Enkel nicht „zusammenbringen“ können.
Die intergenerationellen seelischen Probleme zwischen den Generationen interessieren
inzwischen nicht nur die Geschichtswissenschaft sondern erhalten zunehmend
Bedeutung in der Entwicklungspsychologie. „In der Psychotherapie werden verdrängte
Kriegstraumata und deren unbewusster Einfluss auf Kinder und Enkel stärker
berücksichtigt als noch vor Jahren“, betont die angehende Psychotherapeutin Hella
Stahmann.
Wie kann eine Gesellschaft unsichtbare seelische Trümmer und ihre Weitergabe an
Kriegskinder und Kriegsenkel verarbeiten? Darum ging es im zweiten Teil der Diskussion.
„Es geht nur über persönliche Gespräche“, resümiert das ehemalige Kriegskind Harald
Hinsch. Als Zeitzeuge spricht der Hamburger in Schulen inzwischen mit Schülern der
vierten Nachkriegsgeneration. Ein russischer Bürger möchte in Hamburg ebenfalls von
seinen Kriegserlebnissen als Kind im belagerten St. Petersburg berichten. „Das versuchen
wir einzurichten“, verspricht Pastorin Inge Dehme aus Hamburg-Bramfeld. Aus
Blankenese werden gute Erfahrungen mit Veranstaltungen einer europäischen
Erinnerungskultur gemeldet. „Wie Feinde zu Freunden wurden“ heißt eine
Diskussionsreihe über Kriegserlebnisse des Ersten Weltkriegs. Die intensiven Gespräche
mit Franzosen, Russen, Polen und Belgiern zeigen: Die Weitergabe schlimmer
Kriegserfahrungen sogar aus dem Ersten Weltkrieg prägt auch dort die Generation der
Kriegskinder, Kriegsenkel und sogar -urenkel. Noch heute müssen falsche Bilder von
„Erbfeinden“ durch positive Erlebnisse mit europäischen Nachbarn ersetzt und durch
Gespräche über gemeinsame Werte der europäischen Aufklärung, Freiheit und
Demokratie gefestigt werden. Das ist auch das Ziel der europäischer Jugendlager, die der
Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge jährlich durchführt. Bildungsreferentin Dr.
Nele Maya Fahnenbruck: „In der Familie überlieferte Feindbilder werden am besten
ersetzt durch friedliche Erinnerungsbilder in persönlichen Begegnungen.“ Andernfalls, so
zeigt schon die Bibel, zerstören weitergegebene Ängste, Depressionen und Aggressionen
die Seele von Kriegsenkeln. Davor warnt der Prophet Ezechiel seine Zeitgenossen vor
mehr als 1.400 Jahren im babylonischen Exil: „Die Väter haben saure Trauben gegessen,
aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Cornelia Strauß
Veranstaltungstipps: Sonntag, 2. August, Ohlsdorfer Friedensfest:
10:30 Uhr: Geführte Fahrrad-Wanderungen an den Gräbern von Krieg und
Gewaltherrschaft
11 Uhr: Vortrag: Was haben die Rechtspopulisten aus den Ideen der Befreiung gemacht?
12:30 Uhr: Widerstandskultur: Konzert
14 Uhr: Flüchtlingsbewegungen gestern und Heute – historische Verantwortung und
menschenrechtlicher Auftrag: Gespräch mit Hans-Peter Strenge, Synodenpräsident a. D.
der Nordelbischen Synode und Claudius Brenneisen von „fluchtpunkt“.
Buchtipp:
Interdisziplinisches Forschungsprojekt, bei dem die Ärztin Hella Stahmann (Text)
mitarbeitete:
Herausgeber: Ulrich Lamparter, Silke Wiegand-Grefe, Dorothee Wierling:
„Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre Familien“, Göttingen 2013

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