Die Orgel der Universitätskirche in Marburg
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Die Orgel der Universitätskirche in Marburg
Die Orgel der Universitätskirche in Marburg Die Orgel der Universitätskirche in Marburg Marburg im März 2009 Herausgegeben von Gerold Vorrath und Dietrich Hannes Eibach Fotonachweis: Oberhessische Presse (S. 1), Bildarchiv Foto Marburg (S. 11, 13, 15), Archiv der Universitätskirchengemeinde (S. 22), Gerold Vorrath (S. 3, 5, 17, 23, 25, 26, 27, 32), Dietrich Hannes Eibach (S. 28) Grafik und Layout: Jörg Rustmeier Endredaktion und Druck: Heinrich Rockel (Just-In-Time-Printing) Diese Broschüre ist in der Universitätskirche erhältlich. Die Universitätskirchengemeinde dankt für die Renovierung der Orgel Das Instrument – im Jahr 1965 von der Orgelbauwerkstatt Emil Hammer erbaut – war in den letzten Jahren vor allem wegen der technischen Defekte kaum noch spielbar. So ist der Kirchenvorstand froh darüber, dass ein Plan für die notwendigen Arbeiten entstanden ist und die umfangreichen Maßnahmen vom Spätsommer 2008 bis März 2009 durchgeführt werden konnten. Die Hilfselektronik und die Mechanik sind nun auf den neuesten Stand gebracht. Sämtliche Pfeifen wurden repariert, gereinigt und intoniert, die Windversorgung stabilisiert. Der Registerbestand ist von 46 auf 54 erweitert worden. Auch die großen Originalpfeifen aus dem Jahr 1927, die bisher stumm waren, sind mit in das Gesamtkonzept einbezogen, so dass die Orgel gerade in ihrem Klangfundament deutlich gewonnen hat. Ein langer Weg liegt hinter uns. Am Anfang stellten die Orgelsachverständigen Gerold Vorrath und Peer Schlechta einen Maßnahmenkatalog auf, der im Wesentlichen von Landeskirchenmusikdirektor Uwe Maibaum und dem Hessischen Baumanagement unterstützt worden ist. Der Leiter des Evangelischen Stadtkirchenamtes Marburg Heinz Gerbig entwickelte einen Finanzierungsplan, dem das Land Hessen und die Evangelische Landeskirche von KurhessenWaldeck zugestimmt haben. Auf der Basis des Patronatsvertrages übernimmt das Bundesland 70 % der Kosten. Von dem verbleibenden Betrag kann die Landeskirche 50 % abdecken. Die noch aufzubringenden Finanzmittel für den Kirchenkreis wurden fast vollständig durch vielfache Gemeinde- Orgelbaustelle | 3 aktionen und Spenden so wie durch die Verdoppelung des gesammelten Betrages von der Stiftung Kirchenerhaltungsfonds der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck aufgebracht. Nachdem der Finanzierungsplan aufgestellt war, konnte das Hessische Baumanagement unter der Projektleitung von Detlef Strack die Baumaßnahmen ausschreiben. Die Werkstatt Freiburger Orgelbau erhielt den Zuschlag. Orgelbaumeister Hartwig Späth konnte mit seinen Mitarbeitern im August 2008 mit den notwendigen Arbeiten beginnen. Für die Erneuerung des elektronischen Bereichs übernahm der Orgelbauer Andreas Seul die Verantwortung. Wenn am 22. März 2009 die Orgel in einem festlichen Rahmen wieder erklingen wird, ist dem Land Hessen und der Landeskirche, den zahlreichen Spendern und all denen herzlich zu danken, die sich für die Erhaltung des Instrumentes mit ihrem ganzen Können, vielen Ideen und der Liebe zur Kirchenmusik geduldig und zielstrebig eingesetzt haben. Möge dieses Instrument noch viele Generationen der Universitätskirchengemeinde erfreuen und zum Lobe Gottes einladen – so wie es im Psalm 150 heißt: „Lobet ihn mit Posaunen, lobet ihn mit Psalter und Harfen! Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen! Lobet ihn mit hellen Zimbeln, lobet ihn mit klingenden Zimbeln! Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!“ Dietrich Hannes Eibach Pfarrer Der Evangelische Stadtkirchenkreis Marburg sagt Dank Ein herzlicher Glückwunsch gilt der Universitätskirchengemeinde Marburg, wenn in einem festlichen Gottesdienst am 22. März 2009 die Orgel in der Universitätskirche nach umfangreicher Sanierung wieder in Gebrauch genommen werden kann. Jahrelang hatte sich Kantor Gerold 4 | Vorrath mit großem Engagement persönlich darum bemüht, das Instrument – so gut es ging – spielbar zu halten. Es hat einige Zeit in Anspruch genommen, bis der Plan für eine Sanierung aufgestellt und die dazu erforderliche Finanzierung gesichert werden konnten. Heute möchte ich im Namen des Evangelischen Stadtkirchenkreises Marburg allen an der Planung, der Ausführung und der Finanzierung der Arbeiten Beteiligten sehr herzlich danken. Hier sind insbesondere der Kantor an der Universitätskirche, der Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche von KurhessenWaldeck, Orgelsachverständige der Landeskirche, das Landesamt für Denkmalpflege und die ausführende Werkstatt Freiburger Orgelbau Hartwig Späth zu nennen. Allen voran gebührt jedoch ein besonderer Dank dem Hessischen Baumanagement, Regionalniederlassung Mitte, das mit der Planung und Begleitung der Arbeiten beauftragt war. Wie kommt das Hessische Baumanagement dazu, sich um Orgelbauarbeiten in der Universitätskirche Marburg zu kümmern? Die Universitätskirche gehört nach dem Vertrag des Landes Hessen mit den Evangelischen Kirchen in Hessen vom 18. 02. 1960 zu den vier bedeutenden denkmalgeschützten Patronatskirchen, für die das Land weiterhin die bauliche Unterhaltung zu tragen hat. Für alle anderen bis dahin in der Unterhaltungsverpflichtung des Staates stehenden kirchlichen Gebäude wurde durch eine umfangreiche Abfindungszahlung des Landes die Baulast an die Kirchengemeinden übertragen. In den vergangenen Jahrhunderten wechselten mehrfach die Patronatsinhaber. Waren es ursprünglich die Stifter und kirchlichen Landesherren, so brachte der Reichsdeputati- Der Orgelbauer Alexander Heldt beim Abbau der großen Pfeifen von 1927 | 5 onshauptschluss von 1803 und die darauf beruhende Säkularisierung eine grundlegende Änderung. Mit dem Übergang der kirchlichen Vermögen rückten vielfach neue weltliche Landesherren an die Position der Patronatsverpflichteten, in deren Rechtsnachfolge nach dem zweiten Weltkrieg das Land Hessen eingetreten ist. Für die Erfüllung der Aufgaben des Landes zur Unterhaltung der Patronatskirchen ist das Hessische Baumanagement zuständig. Der Umfang der staatlichen Leistungen ist in den so genannten Patronatsverzeichnissen erfasst. Für die Orgel in der Universitätskirche ist dort festgehalten, dass sich das Land Hessen an den Unterhaltungskosten mit 70 % der Aufwendungen beteiligt. Während die Planung für die Sanierung der Orgel auf vollen Touren lief, wurde gleichzeitig fieberhaft daran gearbeitet, dass die notwendigen Finanzierungsmittel auch zur Verfügung gestellt werden konnten. Auch wenn das Land Hessen verpflichtet ist, 70 % der Kosten zu tragen, bedeutet das noch lange nicht, dass diese Mittel im Haushalt des Landes auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Auch wenn der verbleibende kirchliche Finanzierungsanteil „nur“ 30 % beträgt, bedeutet das nicht, dass dieses Geld irgendwo herumliegt, um es für diese Maßnahme einzusetzen. Nach intensiven Verhandlungen mit dem Hessischen Kultusministerium und dem Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck ist es schließlich gelungen, dass der größte Teil der Finanzmittel in den Jahren 2008 und 2009 zur Verfügung gestellt werden konnte. Sowohl dem Hessischen Kultusministerium als auch dem Landeskirchenamt gebührt ein herzliches Dankeschön, dem Landeskirchenamt auch dafür, dass es für das Land sogar teilweise in Vorlage getreten ist. Nun wurde es Zeit für den so genannten „Kassensturz“. Es galt zu ermitteln, welche Mittel immer noch fehlten, um das Projekt der Orgelsanierung zu verwirklichen. Die Gesamtkosten einschließlich aller Nebenkosten sind mit 290.000,00 Euro veranschlagt. Davon trägt das Land Hessen 70 % = 203.000,00 Euro. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck trägt 50 % der durch das Land nicht gedeckten Kosten = 43.500,00 Euro. Der Evangelische Stadtkirchenkreis Marburg als Bauträger sah sich nicht in 6 | der Lage, den verbleibenden Anteil in dieser Höhe aufzubringen. Also musste eine andere Lösung gefunden werden. Hier war die Kirchengemeinde der Universitätskirche gefordert. Der Kirchenvorstand hat im Frühjahr 2008 eine umfangreiche Spendenaktion ins Leben gerufen, die auf ein großartiges Echo gestoßen ist. Bei verschiedenen Veranstaltungen und Aktionen wurde für die Sanierung gesammelt. Zusammen mit vielen großen und kleinen Einzelspenden sind auf diese Weise bis Mitte Februar 2009 mehr als 20.000,00 Euro zusammen gekommen. Allen Spenderinnen und Spendern sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Nur durch diese Spendeneinnahmen ist es möglich geworden, dass die Stiftung Kirchenerhaltungsfonds der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck für das Orgelbauprojekt 19.000,00 Euro (Verdoppelung des Spendenstandes am Vergabetermin im Dezember 2008) bewilligen konnte. Damit konnte die Finanzierungslücke bis auf 3.500,00 Euro geschlossen werden. Diese Lücke wird der Stadtkirchenkreis aus Baurücklagen stopfen. Herzlichen Dank nochmals an alle, die mitgeholfen haben, das Werk zu vollenden. Möge die Orgel recht lange und gut erklingen, zum Lobe Gottes und zur Erbauung der Menschen, die ihr zuhören und mit ihr musizieren. Heinz Gerbig Leiter des Evangelischen Stadtkirchenamtes Marburg Frischer Wind Erst Stille, dann – einzelne Töne, ein Klang, eine Linie. Einzelstimmen – leise, lauter und wieder verhallend. Dann Stille. Töne – schnarrend oder ganz weich, hell und leuchtend oder auch spitz, und dann grundig und tief und sehr innen, und ganz wild. | 7 Dann wieder Stille. Manchmal einsam und alleine, manchmal zu zweit sich und uns umwebend, manchmal auch alle zusammen – wuchtig, mächtig, groß und prächtig, entfaltet im Körper, im Resonanzkörper Kirchraum, wie ein Ruf zu Ihm. Von Ihm? Manchmal geschieht es – das leise Säuseln ganz tief in uns beim Klang einer Orgel in einem Kirchraum – Ein Säuseln, mit dem Er kommt und ahnbar wird. In Marburgs Universitätskirche ist es nun wieder soweit. Die alte Orgel ist restauriert, nun kann der Wind wieder wirken. Ich wünsche es Ihnen, liebe Gemeinde, in vielen Variationen, auch immer wieder in Erinnerung an diejenigen, die dieses Instrument mit ihrem persönlichen und liebevollen Einsatz geschaffen und erneuert haben. Uwe Maibaum Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Soli Deo Gloria Diese so oft zitierten Worte sollen den Sinn und Zweck, für den Kunst, Musik, Architektur – Schönes und Wertvolles – geschaffen wurden, erläutern. Diese Worte drücken auch die Mahnung aus, Verantwortung für das Geschaffene zu zeigen: Es muss bewahrt und gepflegt, bisweilen auch restauriert oder erneuert werden, damit es zum Ruhm und zur Ehre Gottes dienen kann. Auch in der Universitätskirche kann man diese Worte lesen, und sie treffen auch hier zu. Betritt man die Universitätskirche, so fällt der Blick unweigerlich über Altar, Kanzel und Lettner auf die Orgel. Das dunkle, fast schwarze Orgelgehäuse, 1927 im beeindruckenden Stil der damaligen Jahre erbaut, trägt als Schmuck eben dieses Zitat. 8 | In der Vergangenheit verweigerte die Orgel bisweilen den Dienst, und ihrer „Stimme“ fehlten Glanz und Schönheit. Es freut mich außerordentlich, dass es möglich war, mit entscheidender finanzieller Hilfe des Landes Hessen auf der Grundlage des Patronatsvertrages die Instandsetzung der Orgel durchführen zu können. Die Kirchengemeinde ist zu der gelungenen Orgelrenovierung zu beglückwünschen. Die Orgel gehört nunmehr nicht nur zu den drei größten in Marburg und Umgebung, sondern auch zu den klangschönsten und verlässlichsten. Möge die Kirchengemeinde hieran für lange Zeit große Freude haben. Als Projektleiter des hessischen Baumanagements bin ich verantwortlich für die Durchführung dieser Instandsetzungsmaßnahme. In dieser Funktion möchte ich allen Beteiligten herzlich danken für das Engagement, die Mühe und für die investierte Arbeit. Zu danken ist den Mitgliedern der „Projektgruppe“: Herrn LKMD Maibaum, Herrn OSV Schlechta, Herrn OSV Vorrath sowie Herrn Dr. Buchstab vom Landesamt für Denkmalpflege, die zielgerichtet mit mir gemeinsam die Maßnahme vorangetrieben haben. Weiterhin danke ich der Fa. Freiburger Orgelbau mit ihrem Inhaber Herrn Orgelbaumeister Hartwig Späth und seinen Mitarbeitern, den Herren Manuel Diesing, Eckhard Dittmer, Alexander Held, Harald Höck, Reiner Janke, Stefan Theileis, Erich Weber und darüber hinaus Herrn Andreas Seul als Subunternehmer. Die Fa. Freiburger Orgelbau hat sich als kompetente und äußerst fachkundige Firma gezeigt. Ebenso ist meinen Kollegen Herrn Waschkowitz und Herrn Turba für ihre tatkräftige Mitarbeit zu danken. Nicht zuletzt danke ich Herrn Pfr. Eibach und dem evangelischen Stadtkirchenkreis für die harmonische Zusammenarbeit. Die Renovierung ist erfolgreich abgeschlossen. Der Wohlklang der Orgel möge davon zeugen. Die Orgel erklingt nun wahrhaftig zum Ruhm und zur Ehre Gottes. Detlef Strack Hessisches Baumanagement | 9 Freiburger Orgelbau Als August Späth mit seinem Sohn Hartwig 1964 die Firma „Freiburger Orgelbau“ gründete, führte er in dritter Generation die Orgelbautradition seiner Familie weiter. 1862 hatte Alois Späth die Werkstatt von Vitus Klingler in Ennetach übernommen. Seine beiden Söhne Franz Xaver und Albert Späth firmierten 1891 als die „Gebrüder Späth“ und erhielten 1912 den Titel „Hoforgelbaumeister des Fürstenhauses Sigmaringen“. August Späth war seit 1934 Mitinhaber der väterlichen Firma, konzentrierte sich dann aber ganz auf die Freiburger Filiale. Hartwig Späth führt sie seit 1979 alleine und kann heute auf eine sehr erfolgreiche Geschichte des Freiburger Orgelbaus schauen. 200 neue Orgeln sind entstanden. Davon wurden 30 Orgeln ins Ausland geliefert. 2008 hat Tilmann Späth seine Meisterprüfung abgelegt und ist nun in fünfter Generation Mitinhaber der Werkstatt seines Vaters in March-Hugstetten. Zur Zeit arbeitet die Firma auch an den Projekten in St. Michaelis in Hamburg und am Kaiserdom von Königslutter. Die Werkstatt Freiburger Orgelbau ist u. a. durch ihre künstlerisch hochwertige Intonation international bekannt geworden. Zur Geschichte der Orgeln in der Marburger Universitätskirche 1526 verließen im Zuge der Reformation die Dominikanermönche am Lahntor ihr dem Täufer Johannes geweihtes Kloster. Es wurde von der neu gegründeten Universität übernommen. Die Klosterkirche war überflüssig geworden, verfiel und wurde schließlich zu einem Kornspeicher umgebaut. Über die mittelalterliche Ausstattung der Kirche ist nichts bekannt, außer dass sie eine Orgel gehabt haben muss, denn in einer Stiftungsurkunde des Jahres 1459 heißt es: Johann Quinckus gibt dem Bruder Henriecus Mengelonis, Prior, Ludwig Bordiclois und den übrigen Herrn und Brüdern des Predigerordens 100 Gulden zu einem Testament. Dafür sollen sie jeden Donnerstag auf dem hohen Altar ihrer Kirche eine Singmesse halten de corpore Christi mit Orgelspiel und Sequenz Lauda Sion oder einigen Versen daraus; ecce 10 | Orgel aus der Werkstatt Friedrich Krebaum 1846 planes angelorum nach Gelegenheit der Zeit. 1459, in die assumptionis Virginies gloriosae. (Mariä Himmelfahrt wird am 15. August gefeiert.) Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Dominikanerkirche im Jahre 1653 als protestantische Gemeinde- und Universitätskirche wieder ihrer ursprünglichen kultischen Bestimmung zugeführt und neu eingerichtet. Dabei ist auch eine Orgel aufgestellt worden, da die Rechnungen der niederhessisch-reformierten Kirchengemeinde der Universitätskirche stets einen Etat für einen Organisten auswiesen. In der Tat berichtet Superintendent Wolff aus Eschwege in seiner 1896 erschienenen Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde in Marburg, dass in den Jahren 1667–1668 der Schmalkaldener Orgelbauer Kaspar Lehmann eine Orgel aufstellte, für die Landgräfin Hedwig Sophia von Hessen-Kassel 400 Reichstaler beisteuerte. Den Restbetrag von 1200 Talern musste die Gemeinde selbst aufbringen. Näheres über diese Orgel ist nicht bekannt. 1841 wurde eine umfassende Renovierung des Innenraumes der Kirche vorgenommen und bei | 11 dieser Gelegenheit eine neue Orgel bei dem Eschweger Orgelbaumeister Friedrich Krebaum bestellt. Krebaum war schon 1829 durch die Aufstellung einer Orgel in der Kugelkirche in Marburg bekannt geworden. Die Renovierungsarbeiten in der Universitätskirche zogen sich hin und überdauerten den plötzlichen Tod Krebaums im April 1845. Die Orgel muss damals schon fast vollendet gewesen sein, denn der Orgelbaumeister Bernhard aus Romrod erhielt den Auftrag, die fertigen Orgelteile der Witwe Krebaums abzukaufen und die Orgel in Marburg aufzustellen. Doch seine Verhandlungen mit der Witwe kamen nicht zum Ziel, so dass der Kasseler Hoforgelbauer Wilhelm die Sache erfolgreich in die Hand nahm. Sein Bruder, der Kasseler Kreisorgelbaumeister Gustav Wilhelm, stellte die Orgel auf. Sie konnte im Oktober 1846 mit der nunmehr renovierten Kirche ihrer Bestimmung übergeben werden. Die schöne klassizistische Fassade stammte auch von Friedrich Krebaum. Ein kleineres Gegenstück zur Orgel der Universitätskirche von 1845/46 ist vollständig erhalten und kürzlich restauriert worden in der ev. Kirche Erksdorf/Kirchenkreis Kirchhain. Sehr lange hat die Krebaumsche Orgel nicht in der Universitätskirche gestanden. In der Wilhelminischen Zeit entsprach sie nicht mehr den gestiegenen Ansprüchen und wurde durch einen neo-gotischen Prospekt ersetzt. Die Firmen Ratzmann in Gelnhausen und Förster in Lich bewarben sich beim preußischen Staat, dem Eigentümer der Kirche um den Auftrag und legten ihre Pläne vor. Ratzmanns luxuriösere Ausführung wurde abgelehnt. Förster legte eine Zeichnung vor, auf deren linker Hälfte eine einfachere, auf der rechten Hälfte eine anspruchsvollere Ausführung des Orgelprospektes zu sehen ist. Ein späteres Foto der Orgel zeigt, dass sich der sparsame preußische Staat für die schlichte Ausführung entschieden hat. Im Jahre 1894 wurde die neugotische Orgel auf der Westempore aufgestellt. 1904 wurde die Orgel im Zuge einer neuen, umfassenden Innenrenovierung der Universitätskirche wesentlich erweitert und in den Hohen Chor auf eine große, neu erbaute Gegenüberliegende Seite: Entwürfe der Fa. Ratzmann (oben links) und der Fa. Förster (oben rechts – linke Hälfte in der einfacheren und rechte Hälfte in der anspruchsvolleren Ausführung, hier farbig hervorgehoben durch die Herausgeber); Förster-Orgel auf der Westempore vor 1904 (unten) 12 | Ansicht der Förster-Orgel 1904 (links) und des Orgelprospektes von F. Keibel 1927 (rechts) im Ostchor. Gegenüberliegende Seite: Gesamtansicht von 1927 Sängerempore gesetzt. Auf diese Weise konnte das seit Jahrhunderten vermauerte große Westfenster der Kirche wieder freigelegt und restauriert werden. Der Förstersche Orgelprospekt wurde bei der Innenausgestaltung der Kirche zur Vierhundertjahrfeier der Philipps-Universität im Jahre 1927 entfernt, das Pfeifenwerk aber im Wesentlichen in den neuen von Regierungsoberbaurat Fritz Keibel entworfenen expressionistischen Orgelprospekt eingearbeitet. Die von der Firma Walcker erneuerte Orgel wurde am Standort ihrer Vorgängerin im Hohen Chor errichtet. Erst in den fünfziger Jahren wurden teilweise neue Register eingebaut. Die alten Windladen verschwanden erst Mitte der sechziger Jahre, nachdem sie in dem kalten Winter 1962/63 gerissen und völlig unbrauchbar geworden waren. Friedrich Dickmann Pfarrer i. R. 14 | Die Orgel der Universitätskirche Marburg 1927–2009 Die Walcker-Orgel von 1927 „Gerade in Hessen steht am Anfang der modernen Prospektgestaltung eine kaum weniger bedeutende Leistung als der Orgelprospekt der Göttinger Marienkirche, nämlich die Orgel der Universitätskirche in Marburg. Das Werk wurde von der Firma E. F. Walcker in Ludwigsburg erbaut, der Prospekt entstand unter dem Einfluss des preußischen Konservators Hiecke. Er stellt einen außerordentlich bemerkenswerten Versuch dar, mit modernen Mitteln des Aufbaus und der Ornamentik eine orgelgemäße Gehäuseform zu schaffen. Vom Standpunkt der Werkgerechtigkeit lässt sich lediglich beanstanden, dass die Mittelgruppe einen Aufbau aus drei Werken vortäuscht, während zur Erbauungszeit tatsächlich nur zwei Werke dahinter standen . . . Sehr beachtenswert ist die großzügige, durch Schrägfronten bereicherte Pedalgestaltung. Gesimsformen und Ornamentformen sind aus dem damaligen Zackenstil des Expressionismus entwickelt. Es handelt sich also um eine durchaus legitime moderne Schöpfung von im Wesentlichen orgelgerechtem Charakter, der eine größere Wirkung auf die Folgezeit zu Unrecht versagt geblieben ist.“ So schrieb der Kunsthistoriker Dr. Dieter Großmann in der Fachzeitschrift Acta Organologica I 1967, vierzig Jahre nach Entstehung des inzwischen unter Denkmalschutz stehenden Prospektbildes der Orgel. Das Instrument ist aus der so genannten Orgelbewegung entstanden, eine von Fachleuten und Laien in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts proklamierten Initiative, wieder Orgeln nach barocken Prinzipien zu bauen. Viele „Bewegungen“ äußern sich gelegentlich in einer gewissen Unerbittlichkeit; so hatte insbesondere die Intonation („Stimmbildung“) der Orgeln in wesentlichen Bereichen keine Verbindungen mehr zu den hoch entwickelten Intonationstechniken vorhergehender Jahrhunderte. Kennzeichnend für die sich nun entwickelnde neobarocke Intonation ist ein kühler, obertonreicher und dabei oft scharfer Klang, dem grundtönige und differenzierte Weichheit und Farbigkeit häufig fehlten. Entsprechend wurde auch Orgelmusik des 19. Jahrhunderts nicht ge16 | spielt. Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy jedoch standen außer Frage; wegen seiner Verehrung der Kompositionskunst Bachs galten sie als über jeden Zweifel erhaben. Und wie verhielt es sich mit der Orgelmusik von Max Reger (1874–1916)? Tatsächlich wurde noch in den 1950er Jahren erbittert um den „Wert“ seiner Orgelwerke gestritten; an der Frankfurter Musikhochschule existierte kurzzeitig ein „RegerVerdikt“ . . . Im Zusammenhang mit der umfassenden Renovierung der Universitätskirche anlässlich des 400. Gründungsjubiläums der PhilippsUniversität durch Staatsregierung und Provinz, vorangetrieben durch Kirchenrat Karl Bernhard Ritter, Geheimrat Freiherr von Soden und Kurator Geheimrat von Hülsen, wurde auch die neue Orgel als op. 2162 von der weltweit bekannten Firma E. F. Walcker & Cie gebaut. Das Instrument hatte auf zwei Manualen und Pedal 39 klingende Register. Seine genaue Disposition ist dem in der Universität Hohenheim gelagerten Firmenarchiv derzeit nicht zu entnehmen. Das Windladensystem, so genannte elektropneumatische Taschenladen, eignete sich auf Grund problematischer Verschmelzungsfähigkeit hoch klingender Register nur sehr bedingt zur überzeugenden Darstellung neobarockobertöniger Orgelmusik. Der Architekt Fritz Keibel schreibt über die Orgel (Zeitschrift Die Denkmalpflege, Wien und Berlin Jahrgang 1930): „Die Prospektpfeifen sind alle tönend bis auf die oberste Reihe des Mittelturmes. Da Zinnpfeifen für den Prospekt leider zu teuer waren, mussten solche aus Zinkblech gewählt werden, die aber nicht in der üblichen hässlichen Art mit Aluminiumbronze überzogen, sondern zum ersten Male hier, auf den Vorschlag des Malers Fey hin, mit Blattaluminium ähnlich einer Blattvergol- Pedalpfeifen von 1927 | 17 dung behandelt und danach mit einem durchsichtigen farblosen Lack gegen Patinierung geschützt wurden. Zu dem bewegten Umriss der Grundfläche kommt im Aufbau die fast gänzliche Auflösung der Flächen in Pfeifen hinzu . . . Hierdurch wurde erreicht, dass die große Masse der Orgel dem Beschauer nicht zum Bewusstsein kommt.“ Im Jahr 1952 wurde, angeregt durch den an der Universitätskirche amtierenden Kirchenmusikdirektor Johannes Stadelmann, der in Leipzig entscheidende Prägung durch Karl Straube erfahren hatte, die Walcker-Orgel technisch überholt, klanglich umgestaltet und erweitert. Der Umbau, ausgeführt durch den legendären Walcker-Mitarbeiter Orgelbaumeister Paul Tesche, intensivierte die bereits genannte neobarocke Klangausrichtung. Es entstand die folgende Disposition: Hauptwerk Prinzipal Weitprinzipal Gedackt Harfpfeife Oktave Flöte Nasat Waldflöte Oktave Mixtur 4fach Sesquialter 2fach Terzcymbel 3fach Dulcian Trompete 16’ 8’ 8’ 8’ 4’ 4’ 2 2/3’ 2’ 2’ umgebaut Namensänderung Namensänderung neu gebaut umgebaut neu gebaut 16’ 8’ Oberwerk Hellprinzipal Oktave Engprinzipal Quinte Scharff 5fach Terzmixtur 3fach Lieblich Gedackt Hohlflöte Gedackt 18 | 8’ 4’ 2’ 1 1/3’ 16’ 8’ 8’ umgebaut umgebaut umgebaut umgebaut neu gebaut Quintatön Nachthorn Kleine Flöte Schwiegel Rankett Krummhorn Geigenregal 8’ 4’ 2’ 1’ 16’ 8’ 4’ Namensänderung umgebaut Pedal Prinzipal 16’ Contrabass 16’ Untersatz 16’ Gedacktbass 16’ Klangbass 10 2/3’ Oktavbass 8’ Choralbass 4’ Gedackt 4’ Prinzipal 2’ Pedalmixtur 4fach Rankett 16’ Posaune 16’ neu gebaut? umgebaut neu gebaut? Tremulant Oberwerk Normalkoppeln II/I, II/P, I/P Superoktavkoppel II/I Suboktavkoppel II/I Schweller Oberwerk Rollschweller 42 klingende Register Ein Zitat aus dem Abnahmegutachten vom 18. 06. 1952 mag die Intentionen des Organisten verdeutlichen: „Die Firma Walcker (OBM Paul Tesche) hat sich in allen Punkten nach den Anweisungen des Orgelpflegers gerichtet . . . Das Werk funktioniert jetzt einwandfrei, sowohl in den elektrischen als in den pneumatischen Stationen. Die klangliche Umgestaltung brachte das gewünschte Ergebnis: Die Orgel hat jetzt ausgesprochenen Werkcharakter. Obwohl äußerlich und vom Spieltisch her gesehen nur das Hauptwerk, das Oberwerk und das Pedal in Erscheinung treten, sind die Klangelemente eines Brustwerkes zu erkennen (siehe Disposition). | 19 Die Klarheit der Orgel im polyphonen Spiel (Raumlinienstärke) hat beträchtlich gewonnen. Die Grenzen, die in diesem Punkte gesetzt sind, ergeben sich aus der Taschenlade (Registerkanzelle). Es gelingt trotzdem, ein sechsstimmiges polyphones Gewebe klar darzustellen.“ In dieser Klanggestalt verblieb die Orgel bis zu ihrem technischen Neubau im Jahr 1965. Der Orgelneubau 1965 Die musikalischen und technischen Postulate der bereits genannten Orgelbewegung sind nun in ihren Konsequenzen auch in Hessen erkennbar. In den Marburger Kirchen werden innerhalb von acht Jahren (1960 bis 1968) von vier Orgelbaufirmen elf neue Orgeln gebaut: Elisabethkirche (Chororgel und Westorgel) Luth. Pfarrkirche Universitätskirche Lukaskapelle Matthäuskirche Markuskirche Ortenberghaus Pauluskirche Kapelle St. Jost Friedhofskapelle Bosch/Kassel Schuke/Berlin Hammer/Arnum b. Hannover Bosch Bosch Bosch Bosch Walcker Walcker Walcker 56 13 55 46 4 23 13 4 14 11 4 bzw. Register Register Register Register Register Register Register Register Register Register Wer kann das bezahlen in dieser Wirtschafts-Wunder-Zeit? Wie immer in der Kirche zunächst ungezählte Spenderinnen und Spender aus den Kirchengemeinden, dann die Evangelische Kirche Kurhessen-Waldeck und das Land Hessen im Falle der beiden Staatspatronate Elisabethkirche und Universitätskirche. Nach den „orgelbewegten“ Vorstellungen Johannes Stadelmanns, der auch landeskirchlicher Orgelsachverständiger war, baute die 1835 gegründete Traditionsfirma Emil Hammer, ehemals Furtwängler & Hammer, ein neues Werk mit 46 klingenden Registern auf 3 Manualen und Pedal. Anlässlich der Orgelweihe in der Universitätskirche war zu lesen: „Es ist nötig, . . . sich jenes Instrumentes zu erinnern, das über vie20 | le Jahre den Dienst in der Universitätskirche getan hat und zugleich für die Gesamtgemeinde (heute Kirchenkreis Marburg-Stadt, Anm. d. Verf.) von Bedeutung gewesen ist durch die Tatsache, dass es eine Disposition im Sinne der Orgelbewegung hatte, . . . die die Literatur aller Stilepochen wiedergeben konnte. Seit längerer Zeit bestand die Sorge um den allmählichen Verfall der Windladen. Sie stammen aus einer Orgel, die um die Jahrhundertwende gebaut worden war. In der außergewöhnlichen Frostperiode des Winters 1962/63 jedoch rissen die Windladen und ein Teil der Holzpfeifen, als an der Fensterseite der Orgel −10 ℃ gemessen wurden und an der Vorderfront nach intensiver Heizung +15 ℃. Eine Reparatur des alten Instrumentes wäre der hohen Kosten und des unsicheren Erfolges wegen nicht zu verantworten gewesen.“ (Die neue Orgel der Universitätskirche, Marburg 1965.) Die Hammer-Orgel hatte folgende Disposition: Hauptwerk (I) C-g’’’ Prinzipal (Prospekt) Oktave Rauschquarte Mixtur 5-6fach Cymbel 4fach Sesquialtera Rohrflöte Spitzflöte Kleingedackt Nasat Waldflöte Fagott Trompete Oberwerk (II) C-g’’’ 8’ 4’ 2 2/3’ + 2’ 1 1/3’ 1/2’ 2 2/3’ + 1 3/5’ 8’ 8’ 4’ 2 2/3’ 2’ 16’ 8’ Hellprinzipal (Prospekt) Oktave Superoktave Quartan Scharff 4-5fach Oberton zu Scharff Strichflöte Nachthorn Terz None Dulcian Kopftrompete Positiv-Schwellwerk (III) C-g’’’ Pedal C-f ’ Quintade Metallgedackt Blockflöte Flachflöte Schwiegel Nonenkornett 16’ 8’ 4’ 2’ 1’ 5 1/3’ + 3 1/5’ + 2 2/7’ + 1 7/9’ Scharffmixtur 3-4fach 1’ Trichterschalmey 8’ Prinzipalbass (Prospekt) Quintbass Oktavbass Choralbass Mixtur 5fach Hornterz Subbass Gemshorn Rohrschelle Nachthorn 8’ 4’ 2’ 1 1/3’ + 1’ 1’ 8/9’ 8’ 4’ 1 3/5’ 8/9’ 16’ 8’ 16’ 10 2/3’ 8’ 4’ 2 2/3’ 1 3/5’ 16’ 8’ 4’ 2’ | 21 Posaune Trompete Clarine 16’ 8’ 4’ Tremulant II und III Normalkoppeln 4 freie Kombinationen Elektrische Schleifladen Was hatte sich verändert? Alles bis auf das Orgelgehäuse. Wiederum sei Johannes Stadelmann zitiert: „In den Aufbau des gesamten Werkes wurde der bisherige Prospekt einbezogen, obwohl er den Vorstellungen unserer Zeit nicht mehr entspricht. (Glücklicherweise steht er unter Denkmalschutz, Anm. d. Verf.) Er ist aber in seinen Stilelementen dem Lettner verwandt und hervorragend in den Raum eingegliedert. Die Windladen aus massiver Eiche sind nach neuesten Erkenntnissen gebaut und gegen Temperaturschwankungen weniger empfindlich, als es früher der Fall war. Beim Pfeifenwerk wurden jene hohen Materialqualitäten eingesetzt, die einer Orgel dieser Bedeutung zukommen. Auch die großen 16-FußProspektpfeifen bestehen aus der hochKirchenmusikdirektor Johannes wertigen Zinnlegierung von 75 %.“ Stadelmann am Spieltisch der Klanglich war eine durchgreifende Hammer-Orgel 1965 Veränderung eingetreten. Die vorher noch bestehende relative Gravität des Walcker-Registerbestandes wurde ausgedünnt. So verschwanden im Hauptwerk der Prinzipal 16’, im Oberwerk das Lieblich Gedackt 16’, im Pedal Contrabass 16’ und Gedacktbass 16’. Hohe Tonbereiche wurden dagegen bevorzugt und sogar noch weiter ausgebaut. Die so genannten Klangkronen Mixturen, 22 | Spieltisch vor der Renovierung 2009 Scharff und Cymbel repetierten bis an die Hörgrenze. Grundstimmen und Zungen bekamen relativ enge Mensuren. Signifikant für den in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts weiter entwickelten neobarocken Orgelbau wurden entlegene Aliquotstimmen, u. a. Terzen, Septimen und Nonen in teilweise abenteuerlichen Zusammensetzungen (Nonenkornett, None, Oberton zu Scharff, Hornterz, Quartan etc.). Die Vorstellungen des Disponenten sollen hier erneut zitiert werden: „Die Frage nach dem musikalischen Stil dieser Orgel ist gegenstandslos. Es ist keine Imitation eines historischen Typs versucht worden, vielmehr wurde Wert darauf gelegt, das ‚Gesetz der Orgel‘ zu erfüllen . . . Die entlegenen Obertöne stellen ein reiches Farbelement dar, das der Interpretation der modernen Musik zustatten kommt.“ | 23 Das Jahr 1986 Seit Mitte des Jahres 1980 waren die so genannte elektrische Spieltraktur und der im Jahr 1952 gebaute, 1965 übernommene EisenschmidSpieltisch Ursache für immer häufiger auftretende technische Störungen im vielfältigen musikalischen Einsatz der Hammer-Orgel bei Gottesdiensten, Konzerten und Seminaren des Fachbereiches Evangelische Theologie. Gemeinsame Überlegungen von Kirchengemeinde, Gesamtverband und dem damaligen Hessischen Staatsbauamt führten zu der Erkenntnis, zur Abhilfe der Störungen grundlegend vorzugehen. Die elektrische Spieltraktur trägt ein grundsätzliches Problem mit all ihren musikalisch-technischen Fragen in sich: In diesem System werden die tonauslösenden und gestaltenden Hände und Füße des Organisten durch elektrische Zwischenglieder vom bewussten Tonansatz ausgeschlossen. Vereinfacht formuliert gibt es nur „Ton an“ und „Ton aus“. Und überspitzt, gleichwohl konsequent fortgeführt: Wer „lässt“ seine Geige, Blockflöte oder Basstuba freiwillig relaisgesteuert spielen? Also, was den Pianisten etc. recht ist, soll auch den Organisten billig sein – so wie in den knapp tausend Jahren Orgelbaugeschichte bisher. So erhielt die Orgel im Jahr 1986 eine aufwändig und detailgenau konstruierte mechanische Spieltraktur nach den handwerklichen Grundsätzen des klassischen Orgelbaus. Dem Konstrukteur Josef Ecke und dem ausführenden Orgelbaumeister August Kracke aus der Firma Hammer gebühren dafür noch heute prinzipieller Dank. Das Äußere des Orgelgehäuses sollte selbstverständlich unangetastet bleiben. Darum wurde ein neuer freistehender Spieltisch aus massiver, schwarz gebeizter Esche mit Blickrichtung zum Kirchenschiff vor der Orgel aufgebaut. Die neue Registeransteuerung im Spieltisch wurde durch eine 128fache elektronische Setzeranlage für bedarfsweise schnellen Klangfarbenwechsel eingerichtet. Auf dem Weg zur Renovierung 2009 Die Orgelbauwerkstatt Emil Hammer gehörte bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu den führenden Orgelbaufirmen der Bundesrepublik Deutschland. Sie war bekannt für ihre hohe Verarbeitungsqua24 | lität im Pfeifenbau und im Windladenbau (Eiche massiv, kaum „neue Werkstoffe“). Bei der Intonation, der Gestaltung des Klangbildes im Kirchenraum, fehlte jedoch häufig die über Jahrzehnte prägende Handschrift (oder das Ohr) eines führenden Intonateurs. Erst nach dem Einbau der neuen mechanischen Spieltraktur wurden durch den damaligen Intonateur OBM Ottermann manche Notwendigkeiten und Wünsche ansatzweise realisiert. Die elektropneumatische Register- Andreas Seul bei der Installation der traktur von 1965 war beibehalten wor- Setzeranlage den. Im Jahr 1992 wurden die großen Prospektpfeifen des Prinzipalbass 16’ aus Stabilitätsgründen mit veränderter Wandstärke und innen verstärkten Pfeifenfüßen neu eingebaut. Während der Jahre 2001 bis 2005 zeigten sich zunehmend gravierende und teils irreparable Schäden in der für diese Orgel „lebenswichtigen“ umfangreichen elektrischen Hilfstechnik (defekte Setzeranlage, blockierte Registrierungen, Ausfall von Schleifenzugapparaten, Ausfall oder Blockade von Koppeln etc.). Die Windversorgung war wegen des hohen Arbeitswindbedarfes der pneumatischen Hilfsaggregate unzureichend, als Folge waren insbesondere die so genannten Zungenstimmen kaum noch stimmbar. Alle mechanischen Spieltrakturen waren dereguliert, was häufig zu permanenten, oft schwer zu beseitigenden „Tonhängern“ führte. Für viele Organistinnen und Organisten und auch für die singende Gemeinde waren inzwischen erhebliche Klangdefizite des Instrumentes im Kirchenraum spürbar. Zur anschaulichen, pointierten Erläuterung sei ein Zitat von Martin Weyer angeführt: „Schräge Farbregister mit Septimen und Nonen sind zu dieser Zeit | 25 (1965, Anm. d. Verf.) Mode im Zeichen der Orgelmusik von Reda und Bornefeld. Die engen Prinzipalmensuren sind ebenfalls gängig. Was wurde auf diesen Instrumenten gespielt? ‚Alles!‘, könnte man antworten. Es gehört zu den naiven Überzeugungen der Orgelbewegung, dass mit ihr der Zenit der Entwicklung erreicht sei. Also haben sich Komponisten, die stilistisch da nicht hingehören, zu ihrem Heil anzupassen. Reger wird ebenso barockisiert wie César Franck eingedeutscht wird. Die ‚große‘ Geschichte der Kirchenmusik reichte bis Bach, dann war 150 Jahre ‚Verfallszeit‘ und erst mit Distler, Pepping, David und anderen Erneuerern war nach dem Zug durch die Wüste des 19. Jahrhunderts das gelobte Land erreicht.“ (Die Klais-Orgel in der Elisabethkirche Marburg, Marburg 2006.) Eine sorgfältige, am Bestand orientierte klangliche Veränderung der Orgel war inzwischen unumgänglich geworden. Das von Kirchengemeinde, Kirchenkreis und dem Hessischen Baumanagement intensiv vorangetriebene Renovierungsprojekt wurde scharf beobachtet: „Das Pfeifenwerk in seiner unverändert erhaltenen neobarocken Ausprägung, zusammen mit dem gesamten Windsystem, besitzen in ihrer Aussagekraft DenkmalOrgelzungenbecher vor der Renovierung wert . . . Dazu gehört auch . . . eine behutsame Intonation, welche die obertonreiche Aussagekraft des Pfeifenwerks beibehält.“ (Zitat Landesamt für Denkmalpflege, Brief vom 28. 11. 2006). In der Konsequenz war somit überhöhte Obertönigkeit nicht zu kappen; die Orgel musste sehr überlegt klanglich „tiefer gelegt“ werden. Hier führte die intensive, teilweise kontrovers geführte Diskussion zwischen Bauleitung, Orgelbauer, Orgelsachverständigen und Denkmalpflege zu einem konstruktiven Ergebnis. 26 | Mixturen in neuem Glanz Disposition 2009 Unterwerk I Quintade Metallgedackt Blockflöte Flachflöte Schwiegel Nonenkornett 4fach Scharffmixtur 3-4fach Trichterschalmey Hauptwerk 16’ 8’ 4’ 2’ 1’ 1’ 8’ Prinzipal Prinzipal Rohrflöte Spitzflöte Oktave Kleingedackt Quinte Nasat Oktave Rauschquarte 2fach Waldflöte Sesquialtera 2fach Mixtur 5-6fach Cymbel 4fach Fagott Trompete 16’ 8’ 8’ 8’ 4’ 4’ 2 2/3’ 2 2/3’ 2’ 2’ 1 1/3’ 1/2’ 16’ 8’ | 27 Oberwerk III Gedackt Hellprinzipal Strichflöte Oktave Nachthorn Quinte Oktave Terz Quinte Oktave Quartan 2fach None Scharff 4-5fach None zu Scharff Dulcian Kopftrompete Pedal 16’ 8’ 8’ 4’ 4’ 2 2/3’ 2’ 1 3/5’ 1 1/3’ 1’ 8/9’ 1’ 8/9’ 16’ 8’ Großbass Großbordun Prinzipal Kontrabass Subbass Quintbass Oktavbass Gemshorn Choralbass Rohrschelle Nachthorn Hornterz Mixtur 5fach Posaune Posaune Clarine 32’ 32’ 16’ 16’ 16’ 10 2/3’ 8’ 8’ 4’ 4’ 2’ 1 3/5’ 2 2/3’ 16’ 16’ 4’ Tremulant I und III Normalkoppeln Suboktavkoppel III Superoktavkoppel II und III Setzeranlage 11.000fach mit Sequenzern Chefintonateur Reiner Janke 28 | Die vorher bestehenden Doppelregister in Hauptund Oberwerk wurden einzeln spielbar eingerichtet, mussten jedoch um ihre ursprünglichen Gruppenzüge ergänzt werden. Beide Nonen im Oberwerk, der Nonenkornett im Unterwerk und die Hornterz im Pedal sollten verbleiben (Konsequenz aus der Forderung der Denkmalpflege). Zur Erreichung intensiver Grundtönigkeit wur- den die letzten verbliebenen Walcker-Pfeifen aus dem Jahr 1927 zu einem Kontrabass 16’ vervollständigt. Besonders interessant ist hier seine Verwendung mit einer neu gebauten Quinte 10 2/3’ in entsprechender Mensur zu einem Großbass 32’, der erhebliche Gravität erwarten lässt. Großbordun 32’ wird durch akustische Kombination der schon bestehenden Register Subbass 16’ und Quinte 10 2/3’ (Hammer) erzeugt. Transmission des schlanken Prinzipal 16’ ins Hauptwerk vertieft dort ebenfalls die Klangbasis. Das Oberwerk wurde durch die Register Gedackt 16’ und Quinte 2 2/3’ aufgefüllt. Sechs zusätzliche Windladen nehmen den erheblich erweiterten Pfeifenbestand auf und sind mit großem Aufwand mechanisch und elektrisch in das Werk zu integrieren. Auch der wertvolle, frei stehende Spieltisch war in hoher schreinerischer Qualität in seinem Design zu erweitern und zu ergänzen. Eine grundlegende Nach- bzw. Neuintonation aller ca. 3.700 Pfeifen und physikalische Stabilisierung der Windanlage führen jetzt zu einem raumfüllenden, abgerundeten und reichhaltigen Klang der Orgel. Innerhalb des Zeitraumes der Orgelrenovierung von etwa neun Monaten hätte durchaus auch ein vergleichbar großes neues Instrument gebaut werden können; damit sei der hier notwendige technische und intonatorische Aufwand skizziert. Eine optische Aufarbeitung des Orgelprospektes in wünschenswert veränderter Farbfassung und damit auch die Neufassung der hinteren seitlichen Pedaltürme mit ihren Walcker-Pfeifen konnte leider aus Kostengründen innerhalb dieser Baumaßnahme nicht durchgeführt werden. Kantor Gerold Vorrath Landeskirchlicher Orgelsachverständiger | 29 Quellen und Literatur Acta Organologica I, Berlin 1967 Archiv der Universitätskirchengemeinde Archiv des Stadtkirchenkreises Marburg Archiv Walcker, Gerhard Walcker-Mayer, 2009 Bücking, Wilhelm: Geschichtliche Bilder aus Marburgs Vergangenheit. Marburg 1901, S. 70 Eggebrecht, Hans-Heinrich: Die Orgelbewegung, Frankfurt 1966 Großmann, Dieter: Die Eschweger Orgeln und ihre Erbauer. Hessische Heimat, Neue Folge 24, Jahrgang 1974 Heft 2/3 Großmann, Dieter: Orgeln und Orgelbauer in Hessen, Marburg 1998 Handbuch Orgelmusik, Bärenreiter/Metzler 2002 Keibel, Fritz: Die Wiederherstellung der Universitätskirche zu Marburg an der Lahn anlässlich der Vierhundertjahrfeier der Universität 1927. Die Denkmalspflege Heft 1/2 1930, S. 17 ff. Kerygma und Melos, Kassel 1970 Die Klais-Orgel der Elisabethkirche Marburg, Marburg 2006 Mundus Organorum, Berlin 1978 Orgeln im Magdeburger Dom, Magdeburg 2008 Les Orgues de Paris. Action Artistique de la Ville de Paris, 2005 Staatsbauamt Marburg: Risszeichnungen und Baupläne der Orgeln der Universitätskirche 1892–1894 Stadelmann, Johannes: Die neue Orgel der Universitätskirche Marburg/Lahn 1965. In: Das Leuchten des Klanges. Hrsg. von Ilse SchleiermacherStadelmann und Friedrich Dickmann, Marburg 2002, S. 147 f. Trinkaus, Eckhard: Orgeln und Orgelbauer im früheren Kreis Ziegenhain, Marburg 1981 Wolff, W.: Die evangelisch-reformierte Gemeinde in Marburg. Kassel und Marburg o. J. Gegenüberliegende Seite: Grundriss der Universitätskirche nach der Renovierung 1927, Erdgeschoss (oben) und Emporegeschoss (unten) Rückseite: Gesamtansicht des Altar- und Chorraumes 2008 30 |