Die Orgel ist keine Titanic - Zürcher Hochschule der Künste

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Die Orgel ist keine Titanic - Zürcher Hochschule der Künste
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Revue Musicale Suisse
N°10 / Octobre 2011
berichte • comptes rendus
Die Orgel ist keine Titanic
Während vier Tagen trafen sich in
­Zürich Fachleute aus zahlreichen
­europäischen Ländern zu einem
­Orgelsymposium. Höhepunkt bildete
eine Resolution, die zur Erhaltung
und Förderung der bedrohten
­Orgelkultur aufruft.
Alarmglocken ertönen unüberhörbar:
Im Frühsommer feierte der Kirchenmusikverband des Bistums Basel seinen
125-jährigen Geburtstag mit Cantars,
einer zwei Monate dauernden Veranstaltungsreihe in neun Kantonen (siehe
Bericht SMZ 7/8, S. 25). Vom 8. bis zum
11. September fand in Zürich ein internationales Symposium zur Bedeutung
und Zukunft der Orgel statt. Beide Veranstaltungen wollen eine musikalische
Kultur am Leben erhalten, die als bedroht angesehen wird. War dies bei
Cantars der kirchliche Chorgesang,
betraf es in Zürich die Orgel, den Orgelbau und das Orgelspiel. Bevor das Schiff
untergeht, will man Massnahmen zu
seiner Rettung treffen. Das viertägige
Symposium mit dem Titel Orgel/Orgue/
Organo/Organ 2011 bestand aus einem
Teil, der sich an Fachleute richtete, und
einem öffentlichen Teil, der ein breites
Publikum ansprechen wollte. Durchgeführt wurde es vom Verein Orgel 2011
und dem Departement Musik der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), in
Zusammenarbeit mit den Musikhochschulen von Basel, Bern und Luzern,
der Universität Zürich, den reformierten und katholischen Landeskirchen
sowie verschiedenen Verbänden. Die
Themen boten dementsprechend ein
breites Spektrum und betrafen unter
anderem die Vermittlung der Orgelkultur an Kinder und Jugendliche, die
Nachwuchsförderung und Ausbildung
von Organistinnen und Organisten, das
Spannungsfeld von Orgel und Kirche
oder Orgelbau und Orgelrestaurierung
vor dem Hintergrund des Denkmalschutzes.
Warnsignale
Dass das schwindende Interesse für die
Orgel parallel zum Mitgliederschwund
in den christlichen Kirchen verläuft,
war am Symposium mehrmals zu hören. An der ZHdK gibt es, wie Projektleiter Beat Schäfer ausführte, zurzeit
könne. Damit die Partnerschaft auch
in Zukunft Erfolg habe, forderten die
Teilnehmer eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Theologen und
Organisten, ein hohes Niveau des Orgelspiels und eine Erweiterung des
stilistischen Repertoires. Was Letzteres
bedeuten könnte, zeigte eine herausfordernde Performance des Luzerner
Mädchenchors mit einem Salve Regina,
das nicht nur von der Orgel, sondern
auch von einem Rapper und einem
­Beatboxer begleitet wurde.
Ulrich Meldau spielt mit dem Basler Capriccio Barockorchester Orgelkonzerte von Richard Bartmuss auf der Kleuker-Steinmeyer Orgel im
Grossen Saal der Tonhalle Zürich.
Foto: © Simon Reich
nur noch 12 Hauptfachstudierende für
Orgel, vor 40 Jahren waren es vier Mal
so viele. Und der Stadtverband der evangelischen Landeskirche des Kantons
Zürich zählt heute 94 000 Mitglieder,
während es Mitte der 1960er-Jahre noch
266 000 waren. Im Podiumsgespräch
Die Orgel im kirchlichen Kontext war
man sich einig, dass die christlichen
Kirchen und das Orgelspiel seit Jahrhunderten eine Schicksalsgemeinschaft bildeten, auf die man stolz sein
den divergierenden Wünschen der
Denkmalpflege und der Organisten
konfrontiert.
Neue Stücke, neue Technik
Die Zukunft der so genannten Königin
der Instrumente hängt auch vom Repertoire ab. Während Wolfgang Sieber
mit seinen Musikimpulsen eine Nähe
der Orgelmusik zur Volksmusik propagierte, stellte Elisabeth Zawadke in der
Predigerkirche ein Projekt vor, das auf
der Schiene der zeitgenössischen Mu-
«Ludothek im Zwei»: Elisabeth Zawadke mit den Registrantinnen
Heidi Bollhalder und Katja Sager an der Orgel in der Französischen
Kirche Zürich
Foto: © Simon Reich
Soll Orgelmusik ankommen, braucht
es auch gute Instrumente. Dieser Thematik ging das Podium Warum überdauern (viele) Orgeln nicht Jahrhunderte? nach. In den Voten zeigte sich,
dass es in den reichen Ländern Europas
in den letzten Jahrzehnten zwar viele
hervorragende Neubauten und Restaurierungen gab, dass das Problem aber
vielerorts in der mangelnden Pflege der
Orgeln liegt. Bei Restaurierungen sehen
sich die Orgelbauer nicht selten mit
sik fährt. Liturgische Orgelmusik von
jungen KomponistInnen ist an der Musikhochschule Luzern erarbeitet und
bereits im Rahmen von Cantars präsentiert worden. Für junge Komponisten
ist der Zugang zur Orgel nicht unproblematisch, da sie mit dem kirchlichen
Repertoire wenig vertraut sind und die
Orgel als starres Instrument ansehen.
Dass dennoch überzeugende Resultate
entstehen können, zeigte Maurus
Conte mit seiner Komposition Viri Ga-
sche Fächer. Moderiert wurde die Runde von Anton Haefeli, selbst Buchautor
und Vorkämpfer für Schulmusik.
Den Auftakt der Kindermusiktage
bildete ein Treffen von Kindergartenund Primarschulklassen aus verschiedenen Gemeinden und dem SolotuttiChor aus Solothurn. Dabei trat der
Chor der Nationen (siehe SMZ 11/2010,
S. 15), ein Ensemble mit kulturell übergreifender Zielsetzung, als Gast auf
und leistete so einen Beitrag zum stimmungsvollen Einstieg. Später sangen
unter der Leitung von Michael Gohl
der Jugendchor Zürich, die Solothurner Singknaben und der Solothurner
Mädchenchor getrennt, aber auch gemeinsam mit dem Publikum beliebte
Lieder.
In Workshops im Zentrum für Musik
erarbeiteten die Kinder mit dem Schriftsteller Peter Bichsel, dem Klarinettisten
Dimitri Ashkenazy und der Bratschistin
Ada Meinich ein Konzert.
Den witzigen Schlusspunkt setzte Barbara Gasser, Cellistin und Musiklehrerin.
Zusammen mit Rahel Wohlgensinger,
die eine Hundehandpuppe führte, erklärte sie auf einfache Art ihr Instrument
und wie sie ihm Töne entlocken kann.
Isabella Steffen Meister freute sich
über den Erfolg der ersten Solothurner
Kindermusiktage. Ermutigt durch das
positive Echo seitens des Publikums
und der Teilnehmer kündigte sie an,
das Festival ein weiteres Mal durchführen zu wollen.
Martin Arnold
Die Welt ist Klang
Ein breit gefasstes Programm prägte
die 1. Solothurner Kindermusiktage.
«Lasset uns singen, tanzen und springen» – diese Passage aus dem Kinderlied
über den Kuckuck war bezeichnend für
die ausgelassene Stimmung an den ersten Solothurner Kindermusiktagen,
einem neuen Festival, das vom 19. bis
21. August stattfand. Mit diesem Lied
eröffnete das Solotutti-Orchester am
Sonntagnachmittag im grossen Konzertsaal das gemeinsame Konzert mit
dem Solothurner Kammerorchester. Es
war der Höhepunkt der Kindermusiktage, organisiert vom Zentrum für Musik Solotutti, einer privaten Musikschule, gegründet und geleitet von Isabella
Steffen Meister. 450 Kinder schafften es
nach wenigen Proben, mit den Musikern des Solothurner Kammerorches­
ters unter der Leitung von Ueli Steiner
flüssig zusammenzuspielen und zu
improvisieren. Die Welt ist Klang: Selbst
mit raschelndem Papier liess sich ein
Rhythmus gestalten.
Nachdenken, singen, spielen
Am Festival-Symposium auf Schloss
Waldegg forderten der Buchautor Jürg
Jegge (Dummheit ist lernbar, Zytglogge, Gümligen 1976), die am Mozarteum
Salzburg tätige Musikpädagogin Manuela Widmer sowie der Sekundarlehrer,
Pädagogik-Kritiker und Buchautor
Ernst Waldemar Weber (Schafft die
Hauptfächer ab, Zytglogge, Bern 1991)
einen höheren Stellenwert für musi-
Schweizer Musikzeitung
Nr. 10 / Oktober 2011
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berichte • comptes rendus
lilaei, die auf dem gregorianischen
Introitus zum Fest Christi Himmelfahrt basiert.
Wie das Instrument Orgel für zeitgenössische Komponisten noch interessanter werden könnte, demonstrierte
Daniel Glaus, Organist am Berner
Münster, anhand seiner Erfindung, der
winddynamischen Orgel. Im Unterschied zu den herkömmlichen Instrumenten kann bei diesem Prototyp der
Luftdruck, der die Pfeifen zum Erklingen bringt, verändert werden. Folglich
kann der Organist beim Niederdrücken
der einzelnen Tasten sowohl die Tonhöhe wie auch die Lautstärke des erklin-
genden Tons beeinflussen. Und für die
Komponisten öffnen sich unerhörte
Möglichkeiten.
Interpretations- und Klangvielfalt
Ein attraktives Angebot an öffentlichen
Veranstaltungen lockte zahlreiche Interessierte an. In der Französischen
Kirche massen sich die Organisten Martin Sander, Tobias Willi und Elisabeth
Zawadke in einem veritablen Orgelwettkampf. Nach dem Modell der Diskothek
im Zwei interpretierten sie Franz Liszts
Präludium und Fuge über B-A-C-H und
liessen sich dabei von ihren Kollegen
kritisieren, was aber angesichts der
The organ in concert im Musikklub Mehrspur: das Trio Greasy mit
­Roland Köppel, Hammond B3 Organ, Oliver Keller, Guitar und Daniel
Aebi, Drums
Foto: © Simon Reich
heiklen Situation in sehr moderater
Form geschah. In der Kirche St. Jakob
durften Kinder und Jugendliche unter
Anleitung von Orgelbaulehrlingen eine
eigene Orgelpfeife herstellen. In der
Tonhalle liess Ulrich Meldau, begleitet
vom Capriccio Basel, auf der zu Unrecht
vernachlässigten Kleuker-SteinmeyerOrgel zwei Orgelkonzerte des romantischen Komponisten Richard Bartmuss
erklingen. In Scharen kam das Publikum am Samstagnachmittag zum Orgelspaziergang, der, moderiert von
Michael Meyer, zu vier Kirchen der Zürcher Altstadt führte. Dabei konnte man
erleben, dass nicht nur jede Orgel an-
Auf einem Orgelspaziergang besuchten Kinder begleitet von
­Jörg-Ulrich Busch die Orgeln im Fraumünster und im Grossmünster.
Foto: © Gaspard Weissheimer, Basel
ders klingt, sondern auch ein anderes
Repertoire verlangt.
Forderungen und Visionen
Den Höhepunkt des Symposiums bildete der Festakt vom Samstagmorgen. Er
gipfelte in der Verlesung der Resolution
Orgel 2011, die anschliessend den Vertretern von Behörden, Kirchen, Ausbildungsstätten und Medien überreicht
wurde. Die Resolution fordert die Entscheidungsträger auf, mehr Verantwortung zur Erhaltung und Förderung der
Orgelkultur zu übernehmen (siehe Kasten). Indes wollte man nicht nur jammern, sondern auch Perspektiven aufzeigen. Der belgische Konzertorganist
und Orgelprofessor Bernard Foccroulle
formulierte anregende Visionen, beispielsweise die Gründung eines europäischen Orgelverbandes, den Einbezug
neuer Technologien oder die Durchführung von Grossanlässen. Sein Schlusswort möge gleichzeitig als Fazit des
Zürcher Orgelkongresses gelten: «Geben
wir uns nicht zufrieden damit, Warnrufe auszustossen und Forderungen zu
erheben. Wir müssen auch lernen, uns
gegenseitig anzuregen, kreativ zu sein
sowie aus unseren Erfolgen, aber auch
aus unseren Niederlagen zu lernen.»
Mag die Titanic auch untergegangen
sein: Wenn dies gelingt, wird die Orgel
ihr Schicksal nicht teilen.
Thomas Schacher
Resolution «Orgel Orgue Organo Organ 2011»
Die Orgel ist ein Kulturgut Europas mit Ausstrahlung in die ganze Welt. Sie prägt das
Musikschaffen, die Musikausführung, die Musikerziehung und den Instrumentenbau
seit Jahrhunderten.
Doch sie ist noch mehr: Im Kontext von Kirche und Christentum war und ist ihr
geistlich-spiritueller Einfluss auf die Geisteshaltungen, Geistesströmungen und Werte mitprägend, auf welche Europa heute zu Recht stolz ist.
Die Orgel fasziniert Menschen sowohl als individuell gestaltetes, technisch komplexes Kunsthandwerk als auch durch ihre unermesslichen klanglichen Möglichkeiten.
Im Sinne der Unesco-Konvention zum Schutz und zur Förderung kultureller Vielfalt
bewahrt die funktionstüchtige Orgel und das künstlerische Orgelspiel kulturelles Erbe,
fördert musikalische Ausdrucksformen der Gegenwart und pflegt den Dialog mit anderen
Kulturen. Die Orgel stärkt damit die kulturelle Identität des Menschen.
In einer Zeit rascher Veränderungen, auch gesellschaftlicher Umbrüche, ist es den
hier versammelten Fachleuten für Orgelspiel und Orgelbau aus ganz Europa im Wissen
um die wechselvolle Geschichte ihres Instruments ein Anliegen, die Bedeutung der
Orgel für die Gesellschaft heute und in der Zukunft zu unterstreichen.
Mit Sorge stellen sie fest,
– dass die Orgelkultur in Europa Gefahr läuft, die ihr gebührende Aufmerksamkeit
und Wertschätzung zu verlieren,
– dass die Vertrautheit des Musikpublikums mit O
­ rgelmusik aufgrund abnehmender kirchlicher S­ ozialisation seit Jahrzehnten zurückgeht,
– dass die Orgel in Gottesdiensten nicht genügend als innovatives, auch für weitere Musikstile offenes I­ nstrument wahrgenommen und durch andere ­Instrumente
oder gar Tonkonserven verdrängt wird,
– dass die Orgel in Programmen von Konzertveranstaltern, des Rundfunks (Radio
und Fernsehen) sowie in den Printmedien wenig präsent ist,
– dass das Interesse an Orgelausbildungen, insbesondere an Musikhochschulen,
weit herum schwindet,
– dass in manchen Ländern Europas zu wenig Mittel für Pflege und Erhaltung kostbarer historischer oder neuer Orgeln zur Verfügung stehen,
– dass Kirchen- und Konzertsaal-Orgeln durch ­Umnutzung der Räume oder aus Desinteresse nicht mehr genutzt und deshalb vernachlässigt oder ­entsorgt werden.
Sie wenden sich mit Vorschlägen zur Verbesserung der Situation an die Verantwortungsträger aus Politik, Kirche und Kultur, insbesondere an die Instanzen der EU und
der Unesco, die Regierungen, die kirchlichen Behörden und Würdenträger, die Musikhochschulen und Musikschulen, die Konzertveranstalter und die Medien.
Sie fordern dazu auf,
– die Orgelkultur als relevanten Teil des öffentlichen Kulturlebens zu behandeln,
– der Orgelmusik in Gottesdienst, Konzert und Rundfunk einen adäquaten Platz zu
geben,
– Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch ­ansprechende Vorführungen und
Konzerte an die Kultur der Pfeifenorgel heranzuführen, sie für ­Orgelmusik, ihre
Klangvielfalt und Fülle zu begeistern sowie Interesse für das technische Wunderwerk zu wecken,
– den Pfeifenorgel-Unterricht in das Instrumentalunterrichts-Angebot aufzunehmen,
– Heranwachsende auf die interessanten Berufe der Orgelspielenden oder -bauenden hinzuweisen,
– die Ausbildung von haupt- wie nebenberuflichen Orgelspielenden anzubieten
und auszubauen,
– die Benützung der vorhandenen Kirchenorgeln für die Ausbildung zum Kirchendienst kostenfrei zu halten und durch ausreichende Übezeiten zu fördern,
– die stilistische Eigenheit bestehender guter Orgeln zu erhalten und nicht durch
unreflektierte modische Umbauten zu gefährden,
– Angestellte der Kirchenmusik angemessen zu positionieren und zu entlohnen,
– die notwendigen finanziellen Mittel für die Instandhaltung der Orgeln sowie für
die Inventarisierung und Denkmalpflege bereit zu stellen, wenn nötig über die
Landesgrenzen hinaus,
– mit dem Einsatz aller beteiligten Fachleute die Qualität der Instrumente sowie
des konzertanten und liturgischen Orgelspiels auf hohem Niveau zu sichern.
Sie sind der Überzeugung, dass durch all diese Massnahmen die Situation des Instruments Orgel und des Orgelspiels verbessert und ein vermehrtes Interesse einer
breiten Öffentlichkeit erreicht wird.