In der Tiefe ist Wahrheit Psalm 130 Gottesdienst in der Stadtkirche
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In der Tiefe ist Wahrheit Psalm 130 Gottesdienst in der Stadtkirche
In der Tiefe ist Wahrheit Psalm 130 Gottesdienst in der Stadtkirche Frauenfeld, 10. September 2006 Liebe Gemeinde Am letzten Dienstag durfte ich dabei sein beim Seniorenausflug nach Obstalden und nach Quinten. Obstalden liegt auf der Höhe des Kerenzerbergs, Quinten am nördlichen Ufer des Walensees. Kurz vor der Rückfahrt nahm ich mir ein paar Minuten Zeit und sah mich hochaufragenden, ja fast senkrechten Felswänden gegenüber. Da wurde mir auf einmal wieder bewusst, was für Eintagsfliegen wir sind. Der Weg in die Tiefe stellte mir diese Tatsache neu vor Augen. In einer ganz andern und besonders schmerzvollen Weise habe ich den Weg in die Tiefe einen Tag später zu spüren bekommen, als ich am Sarg eines Familienvaters stand, der seine Frau und zwei Kinder im Alter von 8 und 10 Jahren zurücklässt. Da fällt selbst einem Berufsredner das Reden schwer. Da muss er um Worte förmlich ringen. Ja, angesichts einer solchen Tiefe und Tragödie würde er am liebsten schweigen. Viele von uns hat auch das Schicksal von Natascha Kampusch beschäftigt, die als Zehnjährige auf dem Schulweg verschleppt wurde und jetzt als 18-jährige aus ihrem Kellerverlies fliehen konnte. Rund acht Jahre hat diese junge Frau in der Tiefe eines Kellerlochs verbracht und wir können nur schwerlich nachempfinden, was während dieser langen Zeit in ihr vorgegangen ist. Der Weg in die Tiefe, das ist viele Male ein Weg in die Verlassenheit und Einsamkeit. Doch wie viele Menschen haben uns schon bezeugt, dass sie ihr Leben nie so intensiv erfahren haben wie dort, wo sie sich in der grössten Tiefe befanden. Darum hat ein berühmter Theologe eine seiner Predigtsammlungen mit den Worten überschrieben: „In der Tiefe ist Wahrheit.“ Also gerade dort, wo ich meine, verzweifeln und aufgeben zu Predigt über Psalm 130: „In der Tiefe ist Wahrheit“ Pfarrer Christoph Naegeli 1/4 müssen, weil mein Weg scheinbar nicht mehr weiterführt, gerade dort erfahre ich die Wahrheit meines Angewiesenseins auf eine Kraft aus der Höhe. Oder wie ist es denn, wenn wir sagen, jemand habe eine tiefe Einsicht, ein tiefes Verständnis, einen tiefen Glauben? – In der Tiefe sein, das kann auch heissen, im Eigentlichen, im Wesentlichen sein. Unser Lebensgebäude braucht nicht so sehr schöne Fassaden, sondern Tiefenräume. Wenn eine Bedrohung an uns herantritt, dann fliehen wir nicht auf den Estrich oder auf den Balkon, sondern in die Tiefengeschosse. Darum geht es. Und daran fehlt es. Unser Leben hat vielfach keinen Tiefgang mehr. Bis eine Not an uns herantritt. Bis die Tiefe unausweichlich wird. Ich weiss nicht, ob ihr auch gewohnt seid, auf eure nächtlichen Träume zu achten. Wenn ein Traum sich wiederholt, das heisst, wenn wir mehrere Male dasselbe träumen oder auch, wenn ein Traum uns in ganz besonderer Weise berührt, dann sollten wir ihn bedenken, ja, dann müssen wir ihn ernstnehmen. So hatte ich in der vergangenen Woche zweimal einen ähnlichen Traum, in dem jedoch nicht die Vertikale eine Rolle spielte, nicht die Höhe und nicht die Tiefe, sondern die Horizontale: Mir träumte, ich sitze in einem Zug, der immer schneller und schneller fährt, so dass ich Angst bekam, er könnte entgleisen. Und der zweite Traum: Ich sass in einem Auto, das schneller und schneller fuhr, so dass ich den Eindruck gewann, ich würde einer Katastrophe entgegenrasen. Bewegt sich nicht unser aller Leben mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in der Horizontalen, sodass wir kaum noch Zeit finden, in die Tiefe zu gehen? Aus der tiefe rufe ich, Herr, zu dir. 2 Höre meine Stimme. Lass deine Ohren vernehmen den Ruf meines Flehens. Dieser Psalmvers könnte ja auch ganz anders lauten, zum Beispiel so: In der Tiefe grüble ich unablässig und suche nach dem Grund meines Schicksals. Oder: In der Tiefe kreisen meine Gedanken ständig um mein kleines Ich. Oder: in der Tiefe hadere ich und lehne mich auf. Aber hier heisst es: 1 Aus der Tiefe rufe ich, Gott, zu dir. 1 Wenn ein Mensch noch rufen kann, liebe Gemeinde, wenn er noch beten kann, ja vielleicht sogar noch singen kann, dann ist seine Situation noch nicht aussichtslos. Schlimm wird es erst, wenn einer verstummt in seiner Rede, am Arbeitsplatz oder in der Familie oder auch angesichts dessen, was Tag für Tag durch die Medien sich ihm vor Augen drängt. Predigt über Psalm 130: „In der Tiefe ist Wahrheit“ Pfarrer Christoph Naegeli 2/4 Aber wo liegt denn der Grund, dass der Psalmist sich in einer solch miserablen Situation befindet? Er nennt es Sünde, was ihm den Blickkontakt verbaut, was den direkten Weg unbegehbar macht, was die Entfernung zwischen ihm und andern so immens vergrössert. Wir tun uns schwer mit diesem Wort. Haben wir doch allzu lange Gott als den grossen Aufpasser vermittelt bekommen, der alles sieht und in irgend einer Weise auch ahndet. Wurde denn mit solchem Reden nicht vielfach elterliche, staatliche und auch kirchliche Macht gesichert und gestützt? Doch gerade in diesem Psalm begegnet uns ein anderes Gottesbild als das des Himmelspolizisten, ein hilfreiches und tröstliches, wenn es heisst: 3 Wenn du, Gott, Sünden anrechnest, wer wird bestehen? Heute in einer Woche feiern wir den Eidgenössischen Dank- Buss- und Bettag. Während mehr als 200 Jahren war dieser Tag ein Angebot für suchende, leidende und hoffende Menschen, ein Angebot für solche also, die sich ihrer irdischen Tiefen-Situation bewusst geworden sind. Ihr wisst: In Deutschland hat man den Buss- und Bettag faktisch abgeschafft und auch in unserem Land hat er an Gewicht von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verloren. Wenn wir hineinschauen in die Geschichte, dann begegnet uns dort ein Gott, der immer wieder versklavte Menschen aus der Tiefe heraus geführt hat, der Einsame an einen Tisch bringt und der Niedergeschlagene aufstellt. Und auch der Weg, den uns Christus aufgezeigt hat, war immer wieder ein Weg in die Tiefe: so steigt der Fröhliche ein paar Stufen hinab, um denjenigen zu trösten, der traurig ist. Der Zuversichtliche macht sich hinunter in die Tiefe, um dem beizustehen, der sich ängstet und nicht mehr weiter weiss. Der vermeintlich Gerechte begibt sich auf den Weg um zu hören wie ein Mensch ihm Anteil gibt an seinem schuldhaften Verhalten. Und nicht wahr, da bekommt dann auch das Wort Sünde einen ganz neuen Klang. Da bezieht es sich nicht mehr nur auf diese oder jene Verfehlung, sondern da geht es ums Ganze, da geht es letztlich um die eine Frage, ob unser Leben noch in einem Zusammenhang mit seinem Ursprung steht. Wen suchen wir denn? Und wem vertrauen wir? Haben wir uns nicht schon längst selber zum Massstab aller Dinge gemacht? Bei dir ist die Vergebung, sagt der Psalmist. Behutsam geht er mit diesem Wort um. Er fordert nicht. Er bittet nicht. Er stellt einfach fest: Bei dir. Und er erinnert Gott, dass er allein es ist, der alles Trennende zwischen ihm und uns Menschen und auch zwischen uns und unseren Mitmenschen entfernen kann. 4 Predigt über Psalm 130: „In der Tiefe ist Wahrheit“ Pfarrer Christoph Naegeli 3/4 Denn Vergebung ist keine Schleuderware. Vergebung ist kein Artikel des Ausverkaufs. Vergebung ist auch keine Schnellreinigung des Gewissens. Vergebung ist vielmehr ein kostbares gut, das uns Menschen unter Tränen und grossen Schmerzen zuteil wird. Auf einem Bild ist ein Mensch zu sehen, der auch in die Tiefe geraten ist. Er befindet sich in einer Grube und bemüht sich vergeblich, wieder herauszukommen. Und nun begegnet ihm Konfuzius, der Weise, der ihm Lehren erteilt und Ratschläge gibt. Dann Laotse, der Denker, der niederkniet, ja sich flach auf den Boden legt, um die Hand dieses Verzweifelten in der Tiefe zu ergreifen. Und schliesslich Christus, der hinuntersteigt und dem Hilfesuchenden von untern her heraushilft. Und zuletzt seht er oben, der Leidende, und Christus ist unten, in der Tiefe, für ihn, an seiner Stelle. Liebe Mitmenschen, so geschieht Seelsorge, auch heute. Und darum ist die Kanzel, das erhöhte Podest, im Grunde ein problematischer Ort. Viel lieber möchte ich neben euch stehen, bei euch stehen, und an eurer Seite den Weg durch die Tiefe gehen, so wie letzten Dienstag, als ich mit 87 Reiseteilnehmern von Obstalden hinunter an das Ufer des Walensees fuhr, damit wir gerade in unserer Tiefe ermessen, wie gewaltig ihr gegenüber die Höhe ist. Amen Predigt über Psalm 130: „In der Tiefe ist Wahrheit“ Pfarrer Christoph Naegeli 4/4