Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren

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Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren
Kolmann, Stephan
Europäisches internationales Insolvenzrecht - Die Verordnung (EG)
Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren
The European Legal Forum (D) 3, 2002, 167 - 170
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Literatur Dok.-Nr. 287
n The European Legal Forum n Heft 3-2002
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dass eine in der Liste aufgeführte Klausel nicht zwangsläufig als
missbräuchlich anzusehen ist und umgekehrt eine nicht darin aufgeführte Klausel gleichwohl für missbräuchlich erklärt werden
kann.
21. Da die Liste im Anhang der Richtlinie nicht den Ermessensspielraum einschränkt, über den die nationalen Behörden bei der
Entscheidung über die Missbräuchlichkeit einer Klausel verfügen,
bezweckt diese Liste nicht, den Verbrauchern Ansprüche zuzuerkennen, die über die Ansprüche hinausgehen, die sich aus den
Art. 3 bis 7 der Richtlinie ergeben. Die Liste ändert nichts an dem
Ziel, das mit der Richtlinie angestrebt wird und das als solches für
die Mitgliedstaaten verbindlich ist. Folglich kann entgegen der
Auffassung der Kommission die volle Wirksamkeit der Richtlinie
in einem hinreichend genauen und klaren rechtlichen Rahmen
gewährleistet werden, ohne dass die Liste im Anhang der Richtlinie Bestandteil der Bestimmungen ist, mit denen die Richtlinie
umgesetzt wird.
22. Da die Liste im Anhang der Richtlinie Hinweis- und Beispielcharakter hat, stellt sie eine Informationsquelle sowohl für
die mit der Anwendung der Umsetzungsmaßnahmen betrauten
nationalen Behörden als auch für die von diesen Maßnahmen betroffenen Einzelnen dar. Wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner
Schlussanträge festgestellt hat, müssen die Mitgliedstaaten daher
zur Erreichung des Zieles der Richtlinie Umsetzungsformen und mittel wählen, die hinreichende Sicherheit dafür bieten, dass die
Allgemeinheit von dieser Liste Kenntnis erlangen kann.
23. Im vorliegenden Fall ist der Anhang der Richtlinie vollständig in die Materialien des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
übernommen worden. Die schwedische Regierung hat geltend
gemacht, dass nach einer in Schweden und den anderen nordischen Ländern fest begründeten Rechtstradition die Materialien
ein wichtiges Hilfsmittel für die Auslegung von Gesetzen darstellten. Diese Materialien könnten auch leicht konsultiert werden,
und darüber hinaus werde die Unterrichtung der Allgemeinheit
über die Klauseln, die als missbräuchlich angesehen würden oder
werden könnten, auf unterschiedliche Weise sichergestellt. Auf
diese Erklärungen hat die Kommission lediglich vorgetragen, dass
diese Gesichtspunkte die Tatsache nicht aufwiegen könnten, dass
die Liste im Anhang der Richtlinie nicht Bestandteil der Bestimmungen sei, mit denen die Richtlinie umgesetzt werde.
24. Somit ist festzustellen, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass die Maßnahmen des Königreichs Schweden keine
hinreichende Sicherheit dafür bieten, dass die Allgemeinheit von
der Liste im Anhang der Richtlinie Kenntnis erlangen kann.
25. Nach alledem hat die Kommission nicht dargetan, dass das
Königreich Schweden nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um den in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie genannten Anhang in seine nationale Rechtsordnung umzusetzen.
26. Die Klage ist folglich abzuweisen. (...)“
INTERNATIONALES UND EUROPÄISCHES VERFAHRENSRECHT
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Europäisches internationales Insolvenzrecht –
die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren
Dr. Stephan Kolmann
I. Einleitung
Am 29. 5. 2000 hat der Rat der Europäischen Union die Ver1
ordnung über Insolvenzverfahren (im folgenden: „EGInsVO“)
2
verabschiedet. Sie tritt gemäß Art. 47 am 31. 5. 2002 in Kraft.
Damit gibt es erstmalig für den Rechtsraum der Europäischen
Union einheitliche Regeln zur Abwicklung grenzüberschreitender Insolvenzen. Das Brüsseler Übereinkommen über die
gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
3
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) und
die an seine Stelle getretene Verordnung (EG) Nr. 44/2001
4
(EuGVVO) sind gemäß Art. 1 Nr. 2 EuGVÜ bzw. Art. 1
Abs. 2 lit. b EuGVVO auf Konkurse, Vergleiche und ähnliche
Verfahren nicht anwendbar.
*
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2
3
4
Rechtsanwalt bei Honert Funke Maute Neumayer Partnerschaftsgesellschaft, Rechtsanwälte/Wirtschaftsprüfer/Steuerberater, München (D).
ABl. EG Nr. L 160 vom 30. 6. 2000, S. 1.
1. Hintergrund
Mit der EGInsVO haben langjährige Verhandlungen über
ein gemeinschaftliches internationales Insolvenzrecht auf der
Ebene der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihren vorläufigen Abschluss gefunden. Diese Verhandlungen begannen
bereits im Jahre 1960 und mündeten in der Folgezeit in unter5
schiedliche Entwürfe. Geplant war jeweils der Abschluss eines völkerrechtlichen multilateralen Staatsvertrages auf der
Grundlage des Art. 220 EGV als Parallelübereinkommen zum
EuGVÜ. Erst der Amsterdamer Vertrag eröffnete die Möglichkeit, in der Rechtsform einer europäischen Rechtsverordnung gemeinschaftsweit einheitliche Regeln zum internationalen Insolvenzrecht aufzustellen. Ziel der Verhandlungen war,
sich auf ein System zu verständigen, in dem zumindest das im
Geltungsbereich der jeweiligen Mitgliedstaaten belegene
Schuldnervermögen erfasst und zur Befriedigung der dort ansässigen Gläubiger verwendet werden kann.
Den Bemühungen, ein solches System der grenzüberschrei-
Art. sind, soweit nichts Abweichendes bestimmt, Artikel der EGInsVO.
ABl. EG Nr. L 299 vom 31. 12. 1972, S. 32, i.d.F. seiner zahlreichen
Beitrittsübereinkommen.
Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen, ABl. EG Nr. L 12 vom 16. 1. 2001, S. 1.
*
5
Vorentwurf von 1970, Entwürfe von 1980 und 1984 sowie das Europäische Insolvenzübereinkommen (EuInsÜ); Fundstellen bei Kolmann,
Kooperationsmodelle im internationalen Insolvenzrecht, Bielefeld (D),
2001, S. 262 ff.
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tenden Insolvenzabwicklung zu schaffen, lagen unterschiedliche Denkmodelle zugrunde: Zu Beginn der Verhandlungen
bestand das ehrgeizige Bestreben darin, möglichst weitgehend
das theoretische Ideal des Einheitsverfahrens zu verwirklichen. Einheitsverfahren bedeutet, dass es nur ein einziges Insolvenzverfahren gibt, an dem sämtliche Gläubiger teilnehmen
und in dem das gesamte Vermögen des Schuldners nach einem
6
Recht abgewickelt wird. Schon bald zeigte sich, dass das Modell des Einheitsverfahrens kaum realisierbar war. Das jeweilige materielle Recht (z.B. Arbeitsrecht, Recht der dinglichen
Sicherheiten), auf dem das Insolvenzrecht aufbaut, aber auch
das Insolvenzsachrecht in den Mitgliedstaaten waren zu unterschiedlich, so dass an eine Vereinheitlichung des Insolvenzrechts nicht zu denken war. Besonders deutlich wurden die
Unterschiede bei den Vorrechten. Infolgedessen ging der
Entwurf 1984 dazu über, territoriale rechnerische Untermassen innerhalb des Einheitsverfahrens zu bilden, und scheiterte
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mangels Praktikabilität.
Aufbauend auf diesen Erfahrungen und angespornt durch
die positiven Resultate des Europarates im Zusammenhang
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mit dem sog. Istanbul-Übereinkommen prägte das „Modell
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der kontrollierten Universalität“ die weiteren Verhandlungen. Hiernach soll es ein Universalverfahren geben, das einen
Geltungsanspruch hinsichtlich des gesamten in den Mitgliedstaaten belegenen Schuldnervermögen hat, den sämtliche Mitgliedstaaten anerkennen. In den Mitgliedstaaten können jedoch unterstützende Nebenverfahren eröffnet werden, die mit
dem Universalverfahren kooperieren und mit ihm koordiniert
werden. Das jeweils anwendbare Recht bestimmen Kollisionsnormen.
Verordnung gemäß Art. 249 Abs. 2 EG in allen ihren Teilen
verbindlich ist und in jedem Mitgliedstaat unmittelbar gilt.
Spielräume der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Umsetzung
und sich hieraus ergebende Differenzen, die dem Ziel einer
einheitlichen Regelung, insbesondere einem einheitlichen
Gläubigerschutz und der Umsetzung einer Gläubigergleich13
behandlung abträglich wären, sind damit ausgeschlossen. Als
sekundäres Gemeinschaftsrecht unterliegt die EGInsVO zudem der Jurisdiktion des EuGH, der ihre einheitliche Auslegung gewährleistet.
II. Anwendungsbereich der EGInsVO
1. Sachlicher Anwendungsbereich
Gemäß Art. 1 Abs. 1 gilt die EGInsVO für „Gesamtverfahren, welche die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und
den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen
den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge
haben.“ Art. 2 lit. a bezeichnet diese Verfahren als Insolvenzverfahren. Diejenigen Insolvenzverfahren, welche die in Art. 1
Abs. 1 genannten Kriterien erfüllen, listet Anhang A abschließend auf und erleichtert hierdurch die praktische Anwendung
der EGInsVO; entsprechend geht die EGInsVO bezüglich der
Verwalter vor (Art. 2 lit. b i.V.m. Anhang C). Die Definitionen haben also nur dann Bedeutung, wenn es um die Erweiterung der Anhänge geht, beispielsweise aufgrund des Beitritts
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eines weiteren Staates zur Europäischen Union.
Die EGInsVO beruht auf Art. 61 lit. c, 65, 67 Abs. 1, 249
12
EGV. Mit der Verabschiedung in der Form einer europäischen Rechtsverordnung hat der Rat die strengste Rechtsform
des europarechtlichen Instrumentariums gewählt, da eine
Die EGInsVO unterlässt es, für Insolvenzverfahren eine bestimmte Verwertungsform, insbesondere die Möglichkeit einer Liquidation, zu verlangen. Daher kann die EGInsVO
auch auf liquidationsabwendende Verfahren Anwendung fin15
den. Im Grundsatz ist dies zu begrüßen. Wann eine Insolvenz vorliegt, bestimmt die EGInsVO nicht. Vielmehr soll das
jeweilige Recht des Staates der Verfahrenseröffnung über die
Voraussetzungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens
entscheiden (Art. 4 Abs. 2 S. 1), welche die zuständige natio16
nale Stelle, im Regelfall ein Gericht, prüfen muss. Somit fallen beispielsweise auch Insolvenzverfahren im Sinne der deutschen Insolvenzordnung (InsO), die aufgrund drohender Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO eröffnet worden sind, in
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den Anwendungsbereich der EGInsVO. Das creditors´ voluntary winding-up im Vereinigten Königreich ist ebenfalls
einbezogen, sofern es aufgrund der Insolvenz eröffnet, dies
gerichtlich festgestellt wurde und zur Bestellung eines Verwalters geführt hat. Unanwendbar ist die EGInsVO hingegen auf
rein vorinsolvenzliche Verfahren wie beispielsweise das fran18
zösische règlement amiable.
6
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Letzterem, bescheideneren Ansatz folgte der Entwurf eines
Übereinkommens über Insolvenzverfahren vom 23. 11. 1995
10
(EuInsÜ). Die BSE-Krise und die Gibraltarfrage, aber nicht
inhaltliche Gründe, verhinderten seine Unterzeichnung durch
sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union und folg11
lich sein Inkrafttreten. Das Fehlen einer einheitlichen europäischen Regelung zu grenzüberschreitenden Insolvenzen im
Binnenmarkt wurde in zunehmendem Maße als Manko empfunden. Deutschland und Finnland ergriffen daher die Initiative zu Neuverhandlungen auf der Grundlage des Entwurfs
zum EuInsÜ, die in der Verabschiedung der EGInsVO ihren
erfolgreichen Abschluss fanden.
2. Rechtsgrundlagen
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12
Vgl. Erwägungsgrund (11) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Vgl. Erwägungsgrund (11) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
„European Convention on certain international aspects of bankruptcy“, unterzeichnet am 5. 6. 1990 in Istanbul; hierzu ausführlich Kolmann, (Fn. 5), S. 63 ff.
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16
So der von Hanisch geprägte Begriff, z.B.: Aktuelle Probleme des Internationalen Insolvenzrechts, SchwJbIntR 36, 1980, S. 115 ff.
Veröffentlicht in I.L.M. 35, 1996, S. 1223 ff.
Vgl. Taupitz, Das (zukünftige) europäische Internationale Insolvenzrecht – insb. aus internationalprivatrechtlicher Sicht, ZZP 111, 1998,
S. 319.
17
Vgl. Beginn und Erwägungsgrund (2) der Verordnung (EG)
Nr. 1346/2000 vom 29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
18
Vgl. Erwägungsgrund (8) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Vgl. Art. 45.
Dies hat zum Preis, dass Sekundärverfahren Liquidationsverfahren im
Sinne des Anhang B sind, vgl. im Text unter III. 2. b.
Art. 2 lit. d definiert ein Gericht als „Justizorgan oder jede sonstige zuständige Stelle eines Mitgliedstaates, die befugt ist, ein Insolvenzverfahren zu eröffnen oder im Laufe des Verfahrens Entscheidungen zu treffen“; vgl. zu dieser funktionalen Sichtweise auch Erwägungsgrund (10)
der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom 29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Vgl. Kolmann (oben Fn. 5), S. 271; zweifelnd Leipold, in: Stoll (Hrsg.),
Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens
über Insolvenzverfahren im deutschen Recht, 1997, S. 187.
Balz, Das neue Europäische Insolvenzübereinkommen, ZIP 1996,
S. 948 zum textgleichen EuInsÜ.
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2. Persönlicher Anwendungsbereich
Grundsätzlich gilt die EGInsVO für die Insolvenz von natürlichen und juristischen Personen, überlässt es aber dem
Recht des Staates der Verfahrenseröffnung, die Insolvenzfähigkeit zu bestimmen. Konzerninsolvenzen sind nicht erfasst.
Die EGInsVO regelt allein Fragestellungen bei grenzüber19
schreitenden Insolvenzen eines Rechtssubjekts.
Nicht den Regelungen der EGInsVO unterliegen gemäß
Art. 1 Abs. 2 bedauerlicherweise Insolvenzverfahren über das
Vermögen von Versicherungsunternehmen oder Kreditinstituten, von Wertpapierunternehmen, die Dienstleistungen
erbringen, welche die Haltung von Geldern oder Wertpapieren Dritter umfassen, sowie von Organismen für gemeinsame
Anlagen. Für derartige Insolvenzverfahren bestehen eigene
Richtlinien, so dass neben der EGInsVO eigene Systeme zur
grenzüberschreitenden Insolvenzabwicklung bestehen wer20
den.
3. Räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich
Die EGInsVO gilt gegenüber sämtlichen Mitgliedstaaten der
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Europäischen Union mit Ausnahme von Dänemark, jedoch
nur dann, wenn der Schuldner in einem der an die EGInsVO
gebundenen Mitgliedstaaten den „Mittelpunkt seiner haupt22
sächlichen Interessen“ hat. Liegt dieser Mittelpunkt außerhalb, können die Koordinierungsregeln der EGInsVO keine
Anwendung finden. Allgemein enthält die EGInsVO keine
Regelungen zum Verhältnis zu Drittstaaten, so dass insoweit
23
die einzelstaatlichen Regeln gelten.
Zeitlich erfasst die EGInsVO nur solche Insolvenzverfahren, die nach ihrem Inkrafttreten eröffnet werden (Art. 43).
Wurde bereits eines von mehreren Insolvenzverfahren über
denselben Schuldner vorher eröffnet, findet die EGInsVO
24
insgesamt keine Anwendung.
III. Konzept der EGInsVO - Umsetzung des Modells
der kontrollierten Universalität
Die folgende Darstellung gibt zunächst einen systematischen Überblick über Universal- und Nebenverfahren im Sinne der EGInsVO, ihre Koordinierung und die Stellung der
Gläubiger. Einzelheiten folgen im Anschluss.
1. Universalverfahren/Hauptverfahren
a) Internationale Eröffnungszuständigkeit
Um das Modell der kontrollierten Universalität zwischen
mehreren Staaten verwirklichen zu können, muss unter ihnen
19
20
21
22
23
24
Einverständnis darüber bestehen, welcher Staat für die Eröffnung des einzigen Universalverfahrens zuständig sein soll. Für
die EGInsVO einigten sich die Verhandlungspartner auf die
internationale Eröffnungszuständigkeit der Gerichte desjenigen Staates, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt
seiner hauptsächlichen Interessen hat (Art. 3 Abs. 1 S. 1). Dieser Interessenmittelpunkt wird bei Gesellschaften und juristischen Personen bis zum Beweis des Gegenteils am Ort des
satzungsmäßigen Sitzes vermutet (Art. 3 Abs. 1 S. 2).
Die Vermutungsregel berücksichtigt die Annäherung von
Sitztheorie und Gründungstheorie im internationalen Gesell25
schaftsrecht. Sie hilft allerdings nur bedingt weiter, da das
gemäß einzelstaatlichem Recht sachlich und örtlich zuständige
Gericht die internationale Eröffnungszuständigkeit bei Zwei26
felsfragen von Amts wegen ermitteln muss. Die für die Bestimmung des Mittelpunkts maßgebenden Kriterien deuten
die Erwägungsgründe der EGInsVO zumindest an: Es soll auf
27
die Erkennbarkeit nach außen hin ankommen. Demnach
liegt der Interessenmittelpunkt dort, wo der Schuldner in für
die Gläubiger erkennbarer Weise ganz überwiegend seinen
wirtschaftlichen Aktivitäten nachgeht. Im wesentlichen entspricht dies dem von der Sitztheorie im deutschen internationalen Gesellschaftsrecht befürworteten Anknüpfungsmerkmal
des effektiven Verwaltungssitzes. Bei natürlichen Personen
28
wird dies ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort sein.
Der EGInsVO liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein
Schuldner nur einen Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen hat. Zwingend ist dies nicht, so dass es positive Kompetenzkonflikte geben kann. In solchen Fällen soll entsprechend
dem Grundsatz des Gemeinschaftsvertrauens und des Vertrauens in die sachgerechte Ausübung der gerichtlichen Kom29
petenzen das Prioritätsprinzip gelten, wobei es sinnvollerweise auf den Zeitpunkt der Antragstellung ankommen sollte.
Denn es können bereits vorläufige Sicherungsmaßnahmen, die
der Verfahrenseröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens vorausgehen, anerkannt werden, so dass bereits vor der eigentlichen Eröffnung die Notwendigkeit entsteht, die Rangordnung
30
zu bestimmen.
b) Anerkennung und anwendbares Recht
Die EGInsVO enthält in den Art. 16 ff. eigene Vorschriften
dazu, um dem Universalverfahren auch in den anderen Mitgliedstaaten Wirkung zu verleihen. Die anderen Mitgliedstaaten anerkennen die Eröffnungsentscheidung des Universalverfahrens mit der Folge der Wirkungserstreckung. Zudem bestimmt die allseitige Kollisionsnorm des Art. 4 Abs. 1, dass für
das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen auch im Anerkennungsstaat das Recht des Eröffnungsstaates (lex fori concursus) gilt. Verschiedene Regelungen der EGInsVO enthal-
Kolmann (oben Fn. 5), S. 271 sowie S. 329; Gottwald, Grenzüberschreitende Insolvenzen, München (D), 1997, S. 21 ff.
25
Kritisch Wimmer, Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren, ZInsO 2001, S. 103; Taupitz (oben Fn. 11), S. 320 f.
26
Vgl. Erwägungsgrund (33) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Vgl. Erwägungsgrund (14) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Kolmann (oben Fn. 5), S. 273 m.w.N.; vgl. Bericht zum EuInsÜ, abgedruckt in: Stoll (oben Fn. 17), S. 32 ff., unter Nr. 11, 44, 45, 82, 93, 94.
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 304.
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29
30
Vgl. W. Lüke, Das europäische internationale Insolvenzrecht, ZZP 111,
1998, S. 288.
Gottwald (oben Fn. 19), S. 20 f.
Vgl. Erwägungsgrund (13) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Kolmann (oben Fn. 5), S. 285 f.; Taupitz (oben Fn. 11), S. 326; für
Wohnsitz beispielsweise Balz (oben Fn. 18), S. 949.
Vgl. Erwägungsgrund (28) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Ausführlich hierzu Kolmann (oben Fn. 5), S. 287 f.
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ten kollisionsrechtliche Sonderanknüpfungen und auch einige
Sachvorschriften.
2. Partikularverfahren
Die EGInsVO nennt die Nebenverfahren im Sinne des Modells der kontrollierten Universalität „Partikularverfahren“.
Mit diesem Begriff kommt das Wesen des Partikularverfahrens zum Ausdruck, dass es sich in seinen Wirkungen räumlich-gegenständlich auf das in einem Mitgliedstaat belegene
Schuldnervermögen beschränkt (vgl. Art. 3 Abs. 2 S. 2). Im
übrigen sind Partikularverfahren grundsätzlich vollwertige Insolvenzverfahren mit eigener Verwaltung, Verwertung und
Verteilung des Schuldnervermögens. Die EGInsVO lässt sie in
zwei verschiedenen Formen zu: Sofern das Partikularverfahren zeitlich einem anerkannten Universalverfahren (sog.
„Hauptinsolvenzverfahren“) nachfolgt, sprechen Artt. 3
Abs. 2, 16, 27 von einem „Sekundärverfahren“. Zudem gestattet die Verordnung – dogmatisch ein grundsätzlich unerwünschter Sonderfall innerhalb des Modells der kontrollierten
Universalität –, vor der Eröffnung eines Universalverfahrens
sog. isolierte Partikularverfahren zu eröffnen. Beide Formen
von Partikularverfahren haben Gemeinsamkeiten wie die bereits genannte räumlich-gegenständliche Beschränkung. Teilweise gestaltet die EGInsVO sie jedoch unterschiedlich.
a) Ausgewählte Gemeinsamkeiten
31
Gemäß Art. 3 Abs. 2 sind die Gerichte eines Mitgliedstaates
nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, d.h.
international zuständig, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet dieses Mitgliedstaates hat. Art. 2 lit. h) definiert die Niederlassung als „jeden Tätigkeitsort, an dem der
Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht, die den Einsatz von Personal und
Vermögenswerten voraussetzt.“ In bewusster Abweichung
vom Niederlassungsbegriff in der Auslegung des EuGH zu
32
Art. 5 Nr. 5 EuGVÜ kommt es auf eine Entfaltung wirtschaftlicher Aktivität zum Markt hin an, die von gewisser
Dauerhaftigkeit und mit einem Mindestmaß an Organisation
33
verbunden sein muss. Die bloße Vermögensbelegenheit genügt jedenfalls nicht, d.h. die Eröffnung eines Partikularverfahrens ist unzulässig. Hierdurch erschwert die EGInsVO die
Eröffnung von Partikularverfahren und verleiht dem Universalverfahren umfassendere Wirkung.
Im Rahmen des beschränkten Geltungsumfangs eines Partikularverfahrens finden die Bestimmungen der Verordnung
zum anwendbaren Recht grundsätzlich auch auf Partikularverfahren Anwendung; für Sekundärverfahren werden diese
teilweise modifiziert, um eine Abstimmung mit dem Hauptinsolvenzverfahren sicherzustellen. Nach überwiegender Auffassung schreibt die Verordnung zwingend die Teilnahmemöglichkeit sämtlicher Gläubiger in jedem Partikularverfah34
ren vor. Die Anerkennung eines Partikularverfahrens in den
31
32
33
34
Ausführlich zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten Kolmann (oben
Fn. 5), S. 327 ff.
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 70; zu Art. 5 Nr. 5 EuGVÜ
grundlegend: EuGHE 1978, S. 2190 ff.
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 71.
Ausführlich zum Meinungsstand Kolmann (oben Fn. 5), S. 342 ff.
anderen Mitgliedstaaten besagt, dass seine Wirkungen dort
nicht in Frage gestellt werden dürfen (Art. 17 Abs. 2 S. 1).
Beiden Formen von Partikularverfahren ist das Problem
gemeinsam, die von einem Partikularverfahren erfassten Vermögensgegenstände zu bestimmen. Entscheidend ist allein die
Belegenheit von Vermögen im Niederlassungsstaat; auf einen
Bezug zur Niederlassung kommt es nicht an. Bei körperlichen
Gegenständen entscheiden grundsätzlich die tatsächlichen
Verhältnisse über die Belegenheit; jedoch gelten Gegenstände
oder Rechte, bei denen das Eigentum oder die Rechtsinhaberschaft in ein öffentliches Register einzutragen ist, als in dem
Mitgliedstaat belegen, unter dessen Aufsicht das Register geführt wird. Forderungen sind dann im Niederlassungsstaat belegen, wenn dort der zur Leistung verpflichtete Dritte den
Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 hat (vgl. jeweils Art. 2 lit. g). Ungeregelt blieb
beispielsweise, unter welchen Voraussetzungen nicht erfüllte
gegenseitige Verträge als im Niederlassungsstaat belegen anzu35
sehen sind. Aus Art. 18 Abs. 1 EGInsVO lässt sich ableiten,
dass der für die jeweilige Belegenheitsbestimmung maßgebende Zeitpunkt der Eingang des Eröffnungsantrages sein muss.
b) Ausgewählte Unterschiede
Die Eröffnung eines isolierten Partikularverfahrens setzt
voraus, dass entweder die Eröffnung eines Universalverfahrens nicht möglich ist oder ein Gläubiger, der einen besonderen Bezug zum Niederlassungsstaat hat oder dessen Forderung von der Niederlassung des Schuldners herrührt, den Eröffnungsantrag gestellt hat (Art. 3 Abs. 4). Aus diesen Einschränkungen wird deutlich, dass isolierte Partikularverfahren
grundsätzlich unerwünscht sind. Wie der Eröffnungsgrund
bei einem isolierten Partikularverfahren festgelegt werden
kann, ob insbesondere eine Ermittlung zumindest der EUweiten Finanzlage des Schuldners erforderlich wird, regelt die
36
Verordnung nicht.
Bei der Eröffnung eines Sekundärverfahrens, die neben den
nach einzelstaatlichem Recht hierzu befugten Personen auch
der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens beantragen kann
(Art. 29), ersetzt die Tatsache eines Hauptinsolvenzverfahrens
die Prüfung des Eröffnungsgrundes (Art. 27). Anders als das
isolierte Partikularverfahren muss das Sekundärverfahren
zwingend ein Liquidationsverfahren im Sinne des Art. 2 lit. c
i.V.m. Anhang B sein (Art. 3 Abs. 3 S. 2), wodurch eine im
Rahmen des Hauptinsolvenzverfahrens vorgesehene Sanierung unter Umständen erheblich erschwert werden kann. Dies
37
ist das Ergebnisses eines Kompromisses, wonach liquidationsabwendende Insolvenzverfahren in den Anwendungsbereich der Verordnung einbezogen wurden.
Isolierte Partikularverfahren können auch Verfahren im
Sinne des Anhang A sein. Wird später ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet, sollen die Vorschriften zur Koordinierung eines Sekundärverfahrens mit dem Hauptinsolvenzverfahren für
isolierte Partikularverfahren entsprechend gelten, soweit dies
35
36
37
Ausführlich zu Fragen der Masseabgrenzung Kolmann (oben Fn. 5),
S. 339 ff., 220 ff.
Hierzu Kolmann (oben Fn. 5), S. 335 m.w.N.
Balz, Am. Bankr. L. J. 70, 1996, S. 498 ff.
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nach dem Stand des isolierten Partikularverfahrens möglich ist
(Art. 36). Zudem erhält der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens das Recht, die Umwandlung des isolierten Partikularverfahrens in ein Liquidationsverfahren im Sinne des Anhang
38
B zu verlangen (Art. 37). Auch wenn Artt. 36, 37 im Detail
39
Schwierigkeiten mit sich bringen, wird das Bemühen der
EGInsVO erkennbar, den durch die Zulassung isolierter Partikularverfahren herbeigeführten Systembruch wieder zu bereinigen.
3. Koordinierung mehrerer Verfahren
Bezogen auf seinen Geltungsumfang hat ein Partikularverfahren gegenüber dem Hauptinsolvenzverfahren nach dem
Spezialitätsprinzip Vorrang (vgl. auch Art. 17 Abs. 2, 18
Abs. 1). Sekundärverfahren haben die vor ihrer Eröffnung
durch ein anerkanntes Hauptinsolvenzverfahren herbeigeführten Wirkungen allerdings zu übernehmen, sofern nicht
vorläufige Sicherungsmaßnahmen im Rahmen des Sekundärverfahrens dies verhindern. Mit Eröffnung des Sekundärverfahrens kommt es bezüglich des anwendbaren Rechts zudem
40
zu einem Statutenwechsel: Nunmehr gilt im Grundsatz nicht
die lex fori concursus des Hauptinsolvenzverfahrens, sondern
diejenige des Niederlassungsstaates.
Trotz des Vorrangs des Sekundärverfahrens bindet die EGInsVO den Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens in die
Abwicklung des Sekundärverfahrens ein und verleiht ihm verschiedene Befugnisse, um den dortigen Verfahrensablauf im
Sinne des Hauptinsolvenzverfahrens beeinflussen zu können.
Auf diese Weise kann das Ziel einer einheitlichen Insolvenzabwicklung trotz einer Verfahrensmehrheit grundsätzlich erreicht werden.
4. Unterrichtung der Gläubiger und Anmeldung ihrer
Forderungen
Hintergrund eines Insolvenzverfahrens ist regelmäßig, dass
das Schuldnervermögen nicht zur vollständigen Befriedigung
aller Gläubiger ausreicht. An die Stelle der Einzelrechtsverfolgung tritt daher eine Gesamtabwicklung, in der alle Gläubiger
ihre Rechte geltend machen können. Bei grenzüberschreitenden Insolvenzen begegnet die Teilnahme aller Gläubiger häufig praktischen Problemen, die beispielsweise auf Sprachschwierigkeiten, Unkenntnis der Formalitäten bei der Forderungsanmeldung oder sogar darauf beruhen können, dass ausländische Gläubiger von einem inländischen Insolvenzverfahren keine Kenntnis erlangen. Weit verbreitet war auch die
Auffassung, dass Ansprüche eines ausländischen Hoheitsträgers wie beispielsweise Steuerforderungen, nicht in einem inländischen Insolvenzverfahren befriedigt werden dürfen. Derartige Schwierigkeiten hält die EGInsVO für regelungsbedürftig und widmet ihnen die Art. 39 – 43. Hierbei handelt es sich
um einheitliche Sachvorschriften; ausdrückliche europarecht38
39
40
Portugal hat bereits erklärt, bei Umwandlungen gegebenenfalls auf den
ordre public zurückgreifen zu wollen, vgl. ABl. EG C 183 vom
30. 6. 2000, S. 1.
Vgl. Thieme, Vermögensgerichtsstände, Inlandsbezug und Partikularkonkurs, Jahresheft 1995/96 der Internationalen Juristischen Vereinigung Osnabrück, S. 82, 91.
Zu den sich hieraus ergebenden Folgen Kolmann (oben Fn. 5), S. 347 f.
liche Regelungen betreffend Gläubiger in Drittstaaten gibt es
allerdings nicht.
Wird ein Insolvenzverfahren in einem Mitgliedstaat eröffnet,
muss das zuständige Gericht oder der bestellte Verwalter unverzüglich alle bekannten Gläubiger, die in den anderen Mitgliedstaaten ihren gewöhnlichen Aufenthalt, Wohnsitz oder
Sitz haben, einschließlich der Steuerbehörden und Sozialversicherungsträger (vgl. Art. 39), unverzüglich und individuell
(vgl. Art. 40 Abs. 2) durch ein gesondertes Formblatt in einer
der Amtssprachen des Staates der Verfahrenseröffnung (vgl.
Art. 42 Abs. 1) benachrichtigen (Art. 40 Abs. 1). Hierbei ist
anzugeben, welche Fristen einzuhalten, welches die Versäumnisfolgen sind, welche Stelle für die Entgegennahme der Anmeldungen zuständig ist und welche weiteren Maßnahmen
vorgeschrieben sind. Ferner ist anzugeben, ob bevorrechtigte
oder dinglich gesicherte Gläubiger ihre Forderungen anmelden müssen (Art. 40 Abs. 2).
Jeder Gläubiger, ob benachrichtigt oder nicht, hat das Recht,
seine Forderungen im Insolvenzverfahren anzumelden
(Art. 39). Der Gläubiger muss seine Forderung schriftlich anmelden, wobei er eine Kopie der gegebenenfalls vorhandenen
Belege zu übersenden, die Art, den Entstehungszeitpunkt und
den Betrag mitzuteilen sowie anzugeben hat, ob er für die
Forderung ein Vorrecht, eine dingliche Sicherheit oder einen
Eigentumsvorbehalt beansprucht und welche Vermögenswerte Gegenstand seiner Sicherheit sind (Art. 41). Wahlweise
kann der Gläubiger seine Forderung in der Amtssprache des
Ansässigkeits-Staates anmelden (Art. 42 Abs. 2). Dann muss
die Anmeldung allerdings in einer Amtssprache des Staates
der Verfahrenseröffnung den Hinweis „Anmeldung einer
Forderung“ enthalten; zudem kann eine Übersetzung der
Forderungsanmeldung in eine Amtssprache dieses Staates verlangt werden (Art. 42 Abs. 2).
IV. Anerkennung
1. Anerkennungsgegenstände
Eine Anerkennung „des Insolvenzverfahrens“ kennt die
EGInsVO nicht; die Überschrift des Kapitel II ist insoweit
missverständlich. In nahezu vorbildlicher Weise unterscheidet
die EGInsVO verschiedene Anerkennungsgegenstände. Hierzu gehören die Entscheidungen zur Eröffnung eines Hauptinsolvenz- sowie Partikularverfahrens (Art. 16 Abs. 1), Entscheidungen zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens einschließlich ein gerichtlich bestätigter Vergleich (Art. 25 Abs. 1 UnterAbs. 1), Entscheidungen, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in
engem Zusammenhang damit stehen, auch wenn diese Entscheidungen nicht von demjenigen Gericht stammen, welches
das Verfahren eröffnet hat (Art. 25 Abs. 1 UnterAbs. 2) sowie
schließlich Entscheidungen über Sicherungsmaßnahmen, die
nach dem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens getroffen werden (Art. 25 Abs. 1 UnterAbs. 3). Für die Anerkennung anderer Entscheidungen als die genannten gilt im
Rahmen seines Anwendungsbereichs das EuGVÜ (Art. 25
Abs. 2). Wie Entscheidungen und Maßnahmen im Sinne des
Art. 25 Abs. 1 vollstreckt werden, richtet sich nach den Art.
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31 – 51 EuGVÜ, mit Ausnahme des Art. 34 Abs. 2 EuGVÜ
41
(Art. 25 Abs. 1 UnterAbs. 1 S. 2 i.V.m. UnterAbs. 2 und 3).
Für alle diese Entscheidungen liegt der EGInsVO der verfahrensrechtliche, jedoch nicht ein kollisionsrechtlicher Aner42
kennungsbegriff zugrunde. Die nachfolgenden Ausführungen betrachten schwerpunktmäßig die Anerkennung der Eröffnungsentscheidungen.
2. Anerkennungsvoraussetzungen
a) Qualifikation als Insolvenzverfahren
Im einzelstaatlichen internationalen Insolvenzrecht stellt es
eine der Hauptfragen dar, ob die ausländische Entscheidung,
um deren Anerkennung es geht, ein Insolvenzverfahren im
Sinne der internationalinsolvenzrechtlichen Normen eröffnet.
Die EGInsVO beantwortet dies im Zusammenhang mit ihrem
Anwendungsbereich (vgl. insbesondere Anhang A). Eine Überprüfung der anderen Mitgliedstaaten dahingehend, ob das
Gericht des verfahrenseröffnenden Mitgliedstaates sachlich
richtig das Vorliegen einer Insolvenz bejaht hat, findet im
Rahmen der Anerkennung nicht statt. Insoweit gilt der
43
Grundsatz des Gemeinschaftsvertrauens. Art. 16 Abs. 1 verlangt lediglich die Wirksamkeit der Entscheidung und meint
hiermit offensichtlich den Zeitpunkt, ab dem die Entscheidung Geltung erlangt; ihre formelle Rechtskraft ist nicht er44
forderlich.
b) Internationale Zuständigkeit
aa) Bezüglich der Eröffnungsentscheidung
Die EGInsVO gestaltet die internationale Zuständigkeit bezüglich der Verfahrenseröffnung als Eröffnungszuständigkeit,
so dass die internationale Zuständigkeit systematisch keine
Anerkennungsvoraussetzung darstellt. Aus dem Fehlen einer
Regelung in der EGInsVO, die in Anlehnung an Art. 28
Abs. 3 EuGVÜ eine Überprüfung der internationalen Zuständigkeit ausdrücklich untersagt, sollten zumindest in Bezug auf
die Eröffnungsentscheidungen keine gegenteiligen Schlüsse
45
gezogen werden. Somit kommt es allein darauf an, dass das
jeweilige Gericht überhaupt seine internationale Zuständigkeit
im Sinne des Art. 3 EGInsVO bejaht (vgl. Art. 16 Abs. 1, 21
Abs. 2 S. 2).
bb) Bezüglich der übrigen Anerkennungsgegenstände
International zuständig für Entscheidungen zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens, insbesondere
für die Bestätigung eines Vergleichs, ist gemäß Art. 25 Abs. 1
UnterAbs. 1 das Gericht, von dem die Eröffnungsentscheidung stammt. Um solche Entscheidungen von denjenigen im
Sinne des Art. 25 Abs. 1 UnterAbs. 2 abgrenzen zu können,
41
42
43
44
45
sollten hierunter lediglich die insolvenzrechtlichen Kernent46
scheidungen mit verfahrensrechtlichem Charakter fallen. Die
internationale Zuständigkeit desselben Gerichts besteht auch
für Sicherungsmaßnahmen im Sinne des Art. 25 Abs. 1 UnterAbs. 3.
Probleme wirft die internationale Zuständigkeit für „Entscheidungen, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen“,
auf. Derartige Entscheidungen sind nach einem Urteil des
47
EuGH , an das sich die Verfasser der EGInsVO gebunden
fühlten, vom Anwendungsbereich des EuGVÜ ausgeschlossen, unterliegen also weder seiner Zuständigkeitsordnung
noch seinen Anerkennungsregeln. Art. 25 Abs. 2 erweitert den
Anwendungsbereich des EuGVÜ darüber hinausgehend
nicht, sondern hat insoweit nur klarstellende Bedeutung. Daher müssen künftig nicht nur die maßgeblichen Kriterien gebildet werden, um die Regelungsbereiche des EuGVÜ und der
EGInsVO voneinander abzugrenzen. Für die EGInsVO stellt
sich vor allem die Frage der internationalen Zuständigkeit.
Die EGInsVO ist nicht eindeutig. Würde sie entgegen ihrem
Wortlaut eine direkte internationale Zuständigkeit zugunsten
der Gerichte des Staates, in dem das Verfahren eröffnet wurde,
bestimmen, würde die EGInsVO ein der vis attractiva concursus (d.h. das Insolvenzgericht zieht die - oft ausschließliche Zuständigkeit für derartige Streitigkeiten an sich) angenähertes
Konzept einführen. Dies entspricht jedoch nicht dem Willen
48
ihrer Verfasser. Richtig dürfte sein, dass die EGInsVO die
internationale Zuständigkeit überhaupt nicht regelt, sondern
nur die Rechtsfolge der Anerkennung, die lediglich unter dem
49
Vorbehalt des ordre public steht. Akzeptabel erscheint dies
allenfalls für spezifisch insolvenzrechtliche Probleme wie beispielsweise für Anfechtungsklagen und Haftungsklagen gegen
den Insolvenzverwalter, nicht hingegen für Herausgabeklagen
sowie die meisten Teilungsmasse- und Schuldenmassestreitigkeiten. Insoweit ist auf eine baldige Klärung durch den EuGH
zu hoffen, die die Lücke des EGInsVO schließen kann und
sich hierbei am Rechtschutzbedürfnis der Betroffenen orien50
tiert.
c) Ordre public
Für Eröffnungsentscheidungen stellt der ordre public die
einzige echte Anerkennungsvoraussetzung dar; er gilt in gleicher Weise auch für die übrigen Anerkennungsgegenstände.
Gemäß Art. 26 darf die Anerkennung nicht zu einem Ergebnis
führen, das offensichtlich mit der öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen unvereinbar ist. Dieser Vorbehalt ist eng und ergebnisorientiert auszulegen; er betrifft sowohl verfahrensrechtliche als auch mate51
riellrechtliche Fragen.
Gemäß Art. 25 Abs. 3 EGInsVO kann die Anerkennung
Hierzu Kolmann (oben Fn. 5), S. 299 ff.
46
W. Lüke (oben Fn. 25), S. 280 m.w.N.
47
Vgl. Erwägungsgrund (22) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom
29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
48
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 147.
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 202, 144; Kolmann (oben
Fn. 5), S. 283.
49
50
51
Trunk, Internationales Insolvenzrecht, Tübingen (D), 1998, S. 419.
EuGHE 1979 I, S. 733.
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 77.
Zum Meinungsstand Kolmann (oben Fn. 5), S. 290 ff.
So auch W. Lüke (oben Fn. 25), S. 295.
Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 204, 206.
n The European Legal Forum n Heft 3-2002
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wegen eines Verstoßes gegen den ordre public versagt bleiben,
wenn eine Entscheidung die Einschränkung der persönlichen
Freiheit oder des Postgeheimnisses zur Folge hätte. Es stellt
hingegen gemäß Art. 16 Abs. 1 UnterAbs. 2 keinen Versagungsgrund dar, wenn das Vermögen des Schuldner im Anerkennungsstaat keinem Insolvenzverfahren unterworfen werden könnte; derartigen Insolvenzverfahren kann die Anerkennung nicht unter Hinweis auf den ordre public verweigert
werden. Entscheidungen und Maßnahmen eines nicht international zuständigen Gerichts sollen zumindest grundsätzlich
nicht zur Verweigerung der Anerkennung unter Hinweis auf
52
den ordre public berechtigen.
d) Weitere Anerkennungsvoraussetzungen
Die Gegenseitigkeit ist zwischen den Mitgliedstaaten durch
die EGInsVO ohnehin verwirklicht. Die Frage nach Sinn und
Zweck, die Gegenseitigkeit im internationalen Insolvenzrecht
53
zur Anerkennungsvoraussetzung zu erheben, stellt sich somit nicht. Bei anderen Entscheidungen als Eröffnungsentscheidungen wird man die Anerkennung davon abhängig machen müssen, dass auch die Eröffnungsentscheidung anerkannt wurde bzw. (im Falle von vorläufigen Sicherungsmaß54
nahmen) anerkannt wird.
3. Kein förmliches Anerkennungsverfahren
Ein gesondertes Anerkennungsverfahren, wie es beispiels55
weise das UNCITRAL-Modellgesetz vorsieht, findet nach
der EGInsVO nicht statt. Es gilt der Grundsatz der automatischen Anerkennung; die angerufenen Stellen im Anerkennungsstaat prüfen die Anerkennungsvoraussetzungen inzi56
dent. Die EGInsVO verzichtet zudem auf weitere Förmlichkeiten oder eine Legalisation der jeweiligen Entscheidung.
Dieser Verzicht kann theoretisch sich widersprechende Entscheidungen zur Anerkennungsfähigkeit in einem Anerkennungsstaat mit sich bringen. Ferner kann die automatische
Anerkennung zur Folge haben, dass im Anerkennungsstaat
Wirkungen eintreten, von denen die dort ansässigen Beteiligten nichts wissen. Teilweise reagiert die EGInsVO auf diese
Problembereiche. Dies wird nachfolgend im Zusammenhang
mit den Anerkennungswirkungen dargestellt.
4. Anerkennungswirkungen
54
55
56
57
b) Befugnisse des Verwalters – Begrenzungen und Klarstellungen
Art. 18 Abs. 1 wiederholt den vorgenannten Grundsatz.
Zugleich stellt die Vorschrift klar, dass der Verwalter ein im
Anerkennungsstaat eröffnetes Partikularverfahren oder vorläufige Sicherungsmaßnahmen beachten muss; sie haben Vorrang. Unter dem weiteren Vorbehalt der Art. 5 und 7 darf der
Verwalter die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem
Gebiet des Anerkennungsstaates entfernen. Stets muss er jedoch das Recht des Anerkennungsstaates bei der Ausübung
seiner Befugnisse beachten, insbesondere hinsichtlich der Art
und Weise der Verwertung von Massegegenständen. Zwangsmittel darf er ebenso wenig anwenden wie er eine quasihoheitliche Streitentscheidungs-Kompetenz hat (Art. 18
Abs. 3). Im Ergebnis bedeutet dies eine Kumulationslösung:
Das Recht des Eröffungsstaates bestimmt das „Ob“ der Befugnisse, bezüglich des „Wie“ gelten die Vorschriften des An59
erkennungsstaates.
Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 202. Für eine Korrektur in
Ausnahmefällen Leipold (oben Fn. 17), S. 192.
Nachweise zum Meinungsstand im deutschen Recht bei Kolmann (oben Fn. 5), S. 128 Fn. 135.
58
Die Anerkennung der Eröffnungsentscheidung eines Uni57
versalverfahrens hat gemäß Art. 17 Abs. 1 zur Folge, dass die
Eröffnungsentscheidung in jedem Mitgliedstaat die gleichen
Wirkungen hat wie im Eröffnungsstaat, sofern die Verord-
53
Zugleich führt die Anerkennungsfähigkeit der Eröffnungsentscheidung eines Universalverfahrens dazu, dass auch im
Anerkennungsstaat das gleiche Recht anwendbar wird wie im
Eröffnungsstaat: Die Anerkennungsfähigkeit ist eine Vorfrage
für die Anwendbarkeit der Kollisionsregel des Art. 17, die auf
das Recht der lex fori concursus, also auf Art. 4 sowie die kol58
lisionsrechtlichen Sonderanknüpfungen verweist. Unter anderem hat das zur Folge, dass beispielsweise der Verwalter infolge der Anerkennung grundsätzlich auch in den Anerkennungsstaaten bei seinen dortigen Handlungen die gleichen Befugnisse hat wie nach dem Recht des Eröffnungsstaates. Um
den Nachweis seiner Verwalterstellung führen zu können, erhält der Verwalter eine beglaubigte Abschrift seiner Bestallung
oder eine vergleichbare Bescheinigung, die gegebenenfalls übersetzt werden muss, jedoch in keinem Fall einer weiteren
Förmlichkeit wie beispielsweise einer Legalisation bedarf (Art.
19).
Einen Sonderfall regelt Art. 38 EGInsVO, indem er die Befugnisse des vorläufigen Verwalters eines Universalverfahrens
erweitert. Hiernach kann der vorläufige Verwalter im Anerkennungsstaat diejenigen vorläufigen Sicherungsmaßnahmen
beantragen, die das Recht dieses Mitgliedstaates, in dem der
Schuldner eine Niederlassung hat, für Liquidationsverfahren
vorsieht. Diese Möglichkeit wird der vorläufige Verwalter
insbesondere dann nutzen, wenn die dortigen Sicherungsmaßnahmen weiter reichen als diejenigen nach „seinem“ Recht.
Schwierigkeiten, weil Sicherungsmaßnahmen nach dem Recht
des Eröffnungsstaates in das Rechtsgefüge des Anerkennungs-
a) Wirkungserstreckung, Verhältnis zum anwendbaren
Recht
52
nung nichts anderes bestimmt und solange in diesem Mitgliedstaat kein Partikularverfahren eröffnet ist. Im Regelfall bedeutet dies zunächst eine Erstreckung der Gestaltungswirkungen
wie die Sperre der Einzelrechtsverfolgung sowie den Übergang der Verfügungsbefugnis vom Schuldner auf den Verwalter.
Kolmann (oben Fn. 5), S. 293.
Hierzu ausführlich Kolmann (oben Fn. 5), S. 413 ff.
Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 143, 152.
Zur Rechtsnatur des Art. 17 sogleich im Text.
59
Nur der unmittelbare Inhalt der Eröffnungsentscheidung wird verfahrensrechtlich anerkannt. Weitere Folgen der Anerkennung sind kollisionsrechtlich zu ermitteln. Zur Abgrenzung von verfahrensrechtlicher
Anerkennung und kollisionsrechtlicher Verweisung: Kolmann (oben
Fn. 5), S. 278, S. 110 ff.
Kolmann (oben Fn. 5), S. 323.
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staates anzupassen sind, entfallen. Zudem kann die Vorschrift
des Art. 38 EGInsVO dazu beitragen, die Wirkungen eines
Universalverfahrens und eines späteren Sekundärverfahrens
voneinander abzugrenzen.
norm ist Art. 4 Abs. 1. Welche Regelungsbereiche dem Insolvenzstatut zuzuordnen sind, listet Art. 4 Abs. 2 S. 2 exemplarisch auf und erleichtert somit die insolvenzrechtliche Qualifikation.
Eine wegen der automatischen Wirkungserstreckung folgerichtige Vorschrift ist Art. 20 Abs. 1: Hiernach kann der Verwalter von einem Gläubiger, der nach Eröffnung des Universalverfahrens auf irgendeine Weise, insbesondere durch
Zwangsvollstreckung aus einem Gegenstand der Masse eine
Befriedigung erlangt hat, vorbehaltlich der Art. 5 und 7 die
Herausgabe des Erlangten verlangen.
Beispielsweise zählt hierzu auch die Frage der Massezugehörigkeit (Art. 4 Abs. 2 S. 2 lit. b). Allerdings können Gemeinschaftspatente oder Gemeinschaftsmarken sowie ähnliche
Rechte gemäß Art. 12 nur zur Masse eines Universalverfahrens gehören. Weitere Einschränkungen der Reichweite der
lex fori concursus enthalten die nachfolgend dargestellten
Sondervorschriften, die zu einer kumulativen oder alternativen Berücksichtigung eines anderen Rechts führen. Diese
Sondervorschriften sind abschließend; einer Entwicklung weiterer Sonderanknüpfungen schiebt die Verordnung einen Riegel vor.
c) Bekanntmachung, Registereintragungen
Die effektive Abwicklung einer Insolvenz mit grenzüberschreitenden Bezügen setzt voraus, dass alle Beteiligten möglichst bald nach der Verfahrenseröffnung von einem Insolvenzverfahren Kenntnis erlangen können. Daher kann der
Verwalter auf Kosten der Masse (Art. 23) in jedem Mitgliedstaat die Veröffentlichung der Eröffnungsentscheidung, ihren
wesentlichen Inhalt sowie seine Bestellung nach den dort geltenden Vorschriften für öffentliche Bekanntmachungen beantragen (Art. 21 Abs. 1). Dies sollte er jedenfalls dann tun,
wenn Anzeichen für einen Bezug der Schuldnerinsolvenz zu
einem anderen Mitgliedstaat bestehen, da sich der Verwalter
ansonsten Haftungsrisiken aussetzt. Die Veröffentlichung
muss darüber Auskunft geben, ob es sich um ein Universaloder ein Partikularverfahren handelt; sinnvollerweise sollte die
entsprechende Information bereits in der Eröffnungsentscheidung enthalten sein. Hat der Schuldner in einem Mitgliedstaat
eine Niederlassung, muss der Verwalter besonders darauf achten, ob dieser Mitgliedstaat von seiner Befugnis gemäß Art. 21
Abs. 2 Gebrauch gemacht hat und die Bekanntmachung obligatorisch vorschreibt.
Bis zur Bekanntmachung wird, sofern der Beweis des Gegenteils nicht gelingt, in jedem Falle der gute Glaube eines
Drittschuldners daran geschützt, schuldbefreiend an den
Schuldner leisten zu dürfen, obwohl er richtigerweise nur
noch an den Verwalter des in einem anderen Mitgliedstaat eröffneten Insolvenzverfahrens hätte leisten dürfen (vgl.
Art. 24). Die frühzeitige Bekanntmachung kann also dazu beitragen, eine Verkürzung der Masse zu verhindern.
Ferner muss der Verwalter eines Universalverfahrens prüfen, ob ein Mitgliedstaat zwingend die Eintragung der Eröffnung eines Universalverfahrens in ein dortiges Grundbuch,
Handelsregister oder sonstiges öffentliches Register verlangt
(vgl. Art. 22). Zumindest kann die Eintragung auf Antrag des
Verwalters und auf Kosten des Verfahrens (Art. 23) erfolgen.
V. Anwendbares Recht
1. Geltung der lex fori concursus als Grundsatz
Wie bereits erwähnt, gilt sowohl im Eröffnungsstaat als auch
in den Anerkennungsstaaten grundsätzlich das Insolvenzrecht
des Eröffnungsstaates. Die EGInsVO folgt dem kollisionsrechtlichen Grundsatz, wonach auf internationale Sachverhalte das Recht anzuwenden ist, zu dem die engste Verbindung
60
besteht. Die entsprechende allseitig formulierte Kollisions60
Für das internationale Insolvenzrecht: Gottwald, (oben Fn. 19), S. 31.
2. Sonderregelungen
a) Anhängige Rechtsstreitigkeiten
Art. 4 Abs. 2 S. 2 lit. f bestimmt, dass der lex fori concursus
nicht die Wirkungen auf anhängige (in Deutschland: rechtshängige) Rechtsstreitigkeiten zu entnehmen sind. Art. 15 füllt
diese Lücke aus und unterwirft die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Gegenstand oder ein Recht der Masse ausschließlich dem Recht
des Mitgliedstaates, in dem der Rechtstreit anhängig ist. Die
EGInsVO stellt somit klar, dass es sich insoweit um eine verfahrensrechtlich, nicht aber um eine insolvenzrechtlich zu
qualifizierende Frage handelt. Entsprechend gilt die jeweilige
61
lex fori.
b) Dingliche Rechte Dritter
Die EGInsVO übernimmt die rechtspolitische Vorgabe,
dass der Wirtschaftsverkehr in Bezug auf Rechte an Gegenständen des Schuldnervermögens im Belegenheitsstaat aus
Gründen der Rechtssicherheit zu schützen ist. Demzufolge
berührt die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht die be62
reits bestehenden dinglichen Rechte eines Gläubigers oder
eines Dritten an körperlichen oder unkörperlichen, beweglichen oder unbeweglichen Gegenständen des Schuldners, die
sich zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung im Gebiet eines
anderen Mitgliedstaates befinden (Art. 5 Abs. 1).
Eine Definition der dinglichen Rechte sieht die EGInsVO
nicht vor. Sie begnügt sich mit einer beispielhaften Aufzählung dinglicher Rechte in Art. 5 Abs. 2 und stellt ihnen in
Art. 5 Abs. 3 die deutsche Vormerkung gleich. Ob derartige
Rechte wirksam entstanden sind, muss vorfrageweise ermittelt
63
werden. Für Sachen gilt insoweit die lex rei sitae. Ergänzend
bestimmt Art. 5 Abs. 4, dass die insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit, Nichtigkeit oder relative Unwirksamkeit einer
Rechtshandlung nach Art. 4 Abs. 2 S. 2 lit. m unberührt
bleibt.
Im Ergebnis können dingliche Rechte also nur dann in die
61
62
63
Vgl. BGH (D) Vorlagebeschluss des IX. Senat vom 13. 5. 1997, ZIP
1997, S. 1242 ff.
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 96.
Ausführlich Kolmann (oben Fn. 5), S. 304.
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Insolvenzabwicklung einbezogen werden, wenn der Gegenstand des Schuldnervermögens in einem Mitgliedstaat liegt, in
dem der Schuldner eine Niederlassung hat und dort ein Partikularverfahren eröffnet wird. Andernfalls kann der Gläubiger
bzw. der Dritte sein dingliches Recht außerhalb des Insolvenzverfahrens verwerten. Nur bedingt hilft insofern weiter,
dass der Verwalter zumindest über den Vermögensgegenstand
als solchen insoweit verfügen darf, als die dinglichen Rechte
64
nicht beschränkt werden (vgl. Art. 18 Abs. 1 S. 2).
c) Aufrechnung
Die Möglichkeit eines Gläubigers, in der Insolvenz gegen
eine Forderung des Schuldners aufrechnen zu können, hat
faktischen Sicherungscharakter. Die Verordnung spricht die
Aufrechnung in Art. 4 Abs. 2 S. 2 lit. d sowie in Art. 6 an.
65
Hieraus ergibt sich im einzelnen richtigerweise folgendes:
Das Statut der Hauptforderung, gegen die aufgerechnet werden soll (lex causae), regelt die materiellrechtlichen Voraussetzungen der Aufrechnung. Hieran ändert die EGInsVO nichts.
Hinsichtlich der insolvenzrechtlichen Zulässigkeit der Aufrechnung bedarf es einer Differenzierung: Grundsätzlich gilt
insoweit die lex fori concursus. Nur wenn diese die Aufrechnung als unzulässig betrachtet, kann sich der Gläubiger gemäß
Art. 6 auf das weitergehende Insolvenzrecht des Aufrechnungsstatuts berufen. Die insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit,
Nichtigkeit oder relative Unwirksamkeit einer Rechtshandlung bleibt gemäß Art. 6 Abs. 2 unberührt. Weil sich im Ergebnis die geringsten insolvenzrechtlichen Einschränkungen
der Aufrechnung durchsetzen, verwirklicht die EGInsVO den
faktischen Sicherungscharakter der Aufrechnung sehr umfas66
send.
d) Eigentumsvorbehalt
Die Verfasser der EGInsVO sahen den Eigentumsvorbehalt
des Verkäufers nicht als ein dingliches Recht i.S.d. Art. 5, sondern als einen Annex zum Kaufvertrag, so dass für den Eigentumsvorbehalt eine eigene Regelung besteht. Gemäß Art. 7
Abs. 1 lässt die Insolvenz des Käufers den nach der anwendbaren lex rei sitae wirksamen, nicht anfechtbaren oder nichtigen (vgl. Art. 7 Abs. 3) Eigentumsvorbehalt des Verkäufers an
solchen Sachen unberührt, die sich zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates befinden.
Eine echte Sachrechtsvereinheitlichung enthält Art. 7 Abs. 2,
der die Auswirkung der Verfahrenseröffnung auf einen nicht
erfüllten Kaufvertrag mit Lieferung unter Vorbehalt des Eigentums betrifft. Hiernach rechtfertigt die Verfahrenseröffnung nach Lieferung der Sache nicht die Auflösung oder Beendigung des Kaufvertrages, so dass der Schuldner trotzdem
das Eigentum erwerben kann, wenn sich diese Sache zum
Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung im Gebiet eines anderen
Mitgliedstaates befindet.
64
65
66
e) Verträge über unbewegliche Gegenstände, Arbeitsverträge, Zahlungssysteme und Finanzmärkte
Es liegt in der Natur unbeweglicher Gegenstände, dass sie
ihren engsten Bezug zur Rechtsordnung des Belegenheitsstaates haben. Abweichend vom Grundsatz des Art. 4 Abs. 2 S. 2
lit. e sind daher gemäß Art. 8 die Wirkungen der Verfahrenseröffnung auf Verträge, die zum Erwerb oder zur Nutzung
eines unbeweglichen Gegenstandes berechtigen, ausschließlich
dem Recht des Belegenheitsstaates unterstellt.
Bei Arbeitsverträgen nimmt die EGInsVO Bezug auf die
allgemeinen Regeln des internationalen Privatrechts: Gemäß
Art. 10 gilt für die Wirkungen auf Arbeitsverträge und das
Arbeitsverhältnis ausschließlich das nach IPR auf den Arbeitsvertrag anwendbare Recht. Mit dieser Regelungstechnik
berücksichtigt die EGInsVO die Flexibilität bei Arbeitsver67
hältnissen.
Unbeschadet des Art. 5 und des Art. 9 Abs. 2 unterstehen
die Wirkungen der Verfahrenseröffnung auf die Rechte und
Pflichten der Mitglieder eines Zahlungs- oder Abwicklungssystems oder eines Finanzmarktes ausschließlich dem Recht
des Mitgliedstaates, das für das betreffende System oder den
betreffenden Markt gilt (Art. 9 Abs. 1). Die Vorschrift erfasst
insbesondere Glattstellungs- und Nettingverträge sowie die
Veräußerung von Wertpapieren und garantiert im Ergebnis
die Sicherheit und Mobilität der Zahlungssysteme und Märk68
te.
f) Eintragungspflichtige Registerrechte
Die Verordnung enthält mehrere Vorschriften bezüglich
Gegenstände, die der Eintragung in ein öffentliches Register
unterliegen, und berücksichtigt hierbei zugleich die Interessen
des Rechtsverkehrs in die Richtigkeit der öffentlichen Register. Art. 22 bestätigt die Befugnis des Verwalters, eine Eintragung der Verfahrenseröffnung in die öffentlichen Register zu
verlangen. Grundsätzlich würde für die Wirkungen auf eintragungspflichtige Rechte des Schuldners, die zur Masse des
Insolvenzverfahrens gehören, allein die lex fori concursus gelten. Art. 11 begrenzt die Wirkungen des Insolvenzverfahrens
jedoch auf das nach dem Recht des Registerstaates bekannte
Maß; somit kommt es zu einer kumulativen Anwendung
zweier Rechtsordnungen. Auf diese Weise wird beispielsweise
69
der numerus clausus der Rechte an Immobilien geschützt.
In engem Zusammenhang mit den genannten Vorschriften
steht Art. 14, der bei entgeltlichen Geschäften des Schuldners
über die dort genannten Gegenstände im Ergebnis den guten
Glauben des Dritterwerbers in die Richtigkeit des Registers
entsprechend dem Recht des registerführenden Staates
schützt, sofern Eintragungen gemäß Art. 22, 11 den guten
Glauben nicht zerstören. Der Schutz des guten Glaubens bei
unentgeltlichen Verfügungen sowie bezüglich sämtlicher Verfügungen über nicht in Art. 14 genannte Gegenstände unter70
liegt der lex fori concursus.
Vgl. Flessner, in: FS Drobnig, Tübingen (D), 1998, S. 284 f.
67
Ausführlich Kolmann (oben Fn. 5), S. 309 ff.; zustimmend Bork, Die
Aufrechnung im internationalen Insolvenzverfahrensrecht, ZIP 2002,
S. 690 ff.
68
Kritisch beispielsweise Kemper, Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000
über Insolvenzverfahren, ZIP 2001, S. 1617.
69
70
Zustimmend auch Flessner, in Stoll (oben Fn. 23), S. 225.
Kemper (oben Fn. 66), 1617; vgl. auch Erwägungsgrund (27) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom 29. 5. 2000 über Insolvenzverfahren.
Balz (oben Fn. 18), S. 950.
Kolmann (oben Fn. 5), S. 322.
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g) Anfechtung, benachteiligende Handlungen
Ob und welche Rechtshandlungen, die die Gesamtheit der
Gläubiger benachteiligen, nichtig, anfechtbar oder relativ unwirksam sind, richtet sich gemäß Art. 4 Abs. 2 S. 2 lit. m
grundsätzlich nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung. Zugleich will die Verordnung aber diejenigen durch
die Handlung begünstigten Personen schützen, die in den Bestand und die Wirksamkeit der Handlung vertraut haben.
Art. 13 gestattet diesen Personen eine Einrede und legt ihnen
die Nachweispflicht dafür auf, dass die Handlung einem anderen materiellen Recht (eines Mitgliedstaates!) als dem Recht
des Staates der Verfahrenseröffnung unterliegt und dass zusätzlich dieses Recht der Handlung in jeder Hinsicht rechtlichen Bestand gewährt. Gelingt der Nachweis, kann sich die
Anfechtbarkeit etc. nach der lex fori concursus nicht durchsetzen. Im Rahmen der Möglichkeiten des IPR eröffnet die
Regelung daher Missbrauchsmöglichkeiten, indem die Parteien eine Rechtshandlung durch Vereinbarung dem Recht desjenigen Mitgliedstaates unterstellen können, dessen insolvenzrechtliches Instrumentarium der Anfechtung etc. am schwächsten ist.
VI. Koordinierung von Hauptinsolvenz- und Sekundärverfahren
1. Allgemeines
a) Grundsätzlich stehen Hauptinsolvenz- und Sekundärverfahren verfahrensrechtlich selbständig nebeneinander. Diese
Selbständigkeit weicht die Verordnung jedoch beispielsweise
bei der Eröffnung des Sekundärverfahrens auf (vgl. Antragsberechtigung, Verzicht auf Prüfung des Eröffnungsgrundes)
und führt dies in Übereinstimmung mit den Zielen des Modells der kontrollierten Universalität darüber hinausgehend
fort. Da mit Beendigung des Sekundärverfahrens sein verfahrensrechtlicher Vorrang endet, muss der Verwalter des Sekundärverfahrens einen eventuell nach Befriedigung der festgestellten Forderungen verbleibenden Überschuss an das
Hauptinsolvenzverfahren unverzüglich herausgeben (Art. 35).
Für die Zwischenzeit enthält die Verordnung zahlreiche weitere Kooperationsregeln.
b) Art. 31 Abs. 1 verpflichtet die Verwalter generalklauselartig, gegenseitig, umfassend und unverzüglich Informationen
auszutauschen, wenn sie für das jeweils andere Verfahren von
Bedeutung sein können, insbesondere soweit sie den Stand der
Anmeldung und Prüfung der Forderungen sowie alle Maßnahmen zur Beendigung des Insolvenzverfahrens betreffen.
Noch weitergehend müssen die Verwalter gemäß Art. 31
Abs. 2 im Rahmen ihrer rechtlichen Möglichkeiten gegenseitig
zusammenarbeiten. Insbesondere muss der Verwalter des
Hauptinsolvenzverfahrens zu gegebener Zeit die Möglichkeit
haben, Vorschläge zur Verwertung sowie zu jeder Art der
Masseverwendung unterbreiten zu können (Art. 31 Abs. 3),
jedenfalls bei wichtigen Entscheidungen wie beispielsweise
der Fortführung des Niederlassungsbetriebs.
c) Gemäß Art. 32 Abs. 2 können die Verwalter die in „ihrem“ Verfahren angemeldeten Forderungen auf Kosten der
Gläubiger auch im anderen Verfahren anmelden, sofern dies
nach einer abstrakten Prüfung zweckmäßig erscheint. Einer
Mitwirkung der Gläubiger, die gemäß Art. 32 Abs. 1 das Anmelderecht in jedem Insolvenzverfahren haben, bedarf es
nicht. Sie können der Forderungsanmeldung jedoch widersprechen. Bei der Verteilung eines Verwertungserlöses im anderen Verfahren nimmt ein Gläubiger aus Gründen der Gläubigergleichbehandlung allerdings erst dann teil, wenn die
Gläubiger gleichen Rangs oder gleicher Gruppenzugehörigkeit in diesem Verfahren die gleiche Quote erlangt haben, die
der Gläubiger bereits in einem anderen Verfahren erlangt hatte
(Art. 20 Abs. 2). Dies erfordert eine konsolidierte Quoten71
übersicht. Art. 32 Abs. 3 gibt jedem Verwalter das Recht,
„wie ein Gläubiger“ an einem anderen Insolvenzverfahren
mitzuwirken. Hiervon wird ein Verwalter insbesondere dann
Gebrauch machen, wenn er die in „seinem“ Verfahren getroffene Verwertungsentscheidung auch in den übrigen Insolvenzverfahren umsetzen möchte: Er wird versuchen, die
Gläubiger der anderen Verfahren bei der Gläubigerversammlung zu überzeugen.
d) Besonders wichtig für die Umsetzung der im Hauptinsolvenzverfahren getroffenen Verwertungsentscheidung ist die
Befugnis des Hauptverwalters, in einem Sekundärverfahren
gemäß Art. 33 beim dortigen Gericht die Aussetzung der
Verwertung zu beantragen. Die Vorschrift gibt dem Gericht
zugleich Ermessenskriterien an die Hand, wann es dem Antrag des Verwalters folgen und wann die gerichtliche Maßnahme wieder aufgehoben werden soll. Bemerkenswerterweise ist das Gericht berechtigt, zusätzliche Auflagen o.ä. anzuordnen, um eine im Einzelfall angemessene Lösung herbeizu72
führen. Dies schafft eine wünschenswerte Flexibilität, wie sie
die sachgerechte Koordinierung mehrerer Insolvenzverfahren
erfordert.
2. Liquidationsabwendende Verfahrensbeendigung
Art. 34 Abs. 1 S. 1 gewährt dem Hauptverwalter das Recht,
nach dem Recht des Sekundärverfahrens einen Sanierungsplan, einen Vergleich oder eine ähnliche Maßnahme zur Verfahrensbeendigung vorzuschlagen. Er wird dies vor allem
dann tun, wenn in „seinem“ Verfahren eine derartige Verfahrensbeendigung geplant ist. Die Verordnung bemüht sich also,
das notwendige Instrumentarium bereitzustellen, damit trotz
ihrer verfahrensrechtlichen Selbständigkeit alle Verfahren mit
73
einer einheitlichen Sanierungsmaßnahme enden können.
Umgekehrt bedürfen derartige Maßnahmen des Sekundärverfahrens im Grundsatz der Zustimmung des Hauptverwalters.
Nach einer Aussetzung der Verwertung gemäß Art. 33 hat der
Hauptverwalter oder (mit seiner Zustimmung) der Schuldner
allerdings das alleinige Vorschlagsrecht (Art. 34 Abs. 3).
Liquidationsabwendende Maßnahmen führen häufig zu einer Beschränkung der Gläubigerrechte (z.B. Restschuldbefreiung des Schuldners). Die Verordnung sieht es allerdings als
nicht akzeptabel an, wenn die Gläubigerrechte beschnitten
werden sollen, obwohl dem Sekundärverfahren nur ein beschränkter Teil des Schuldnervermögens zugrunde lag. Eine
71
72
73
Vgl. Bericht zum EuInsÜ (oben Fn. 23), Nr. 36.
Hierzu Kolmann (oben Fn. 5), S. 351 f.
Kolmann (oben Fn. 5), S. 353.
n The European Legal Forum n Heft 3-2002
177
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über den Geltungsbereich des Sekundärverfahrens hinausgehende Wirkung auf das in anderen Mitgliedstaaten belegene
Schuldnervermögen setzt gemäß Art. 34 Abs. 2 voraus, dass
alle betroffenen Gläubiger der Maßnahme zugestimmt haben.
Welche Bedeutung dem Unterschied gegenüber der Formulie74
rung in Art. 17 Abs. 2 S. 2 hierbei zukommt, ist unklar.
VII. Zusammenfassung
Auch wenn die EGInsVO in Teilbereichen Auslegungsschwierigkeiten mit sich bringt und sie nicht in jeder Hinsicht
überzeugen kann, muss es insgesamt als ein großer Erfolg gewertet werden, dass sie nunmehr in Kraft tritt und damit endlich einheitliche Regeln zur Abwicklung grenzüberschreitender Insolvenzen schafft, die nicht nur auf dem Papier eine
Verwirklichung des Prinzips der Gläubigergleichbehandlung
ermöglichen. Ob und inwieweit die kollisionsrechtliche Vorgehensweise und die Koordinierung mehrer Verfahren praktikabel ist, muss die Praxis zeigen. Schon jetzt kann allerdings
prophezeit werden, dass auf lange Sicht an einer Vereinheitlichung des Insolvenzsachrechts kein Weg vorbeiführen wird.
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EuGH 19. 2. 2002 – C-256/00 – Besix SA ./. WABAG
(Wasserreinigungsbau Alfred Kretzschmar GmbH &
Co. KG) u.a.
1
EuGVÜ Art. 5 Nr. 1 – Zuständigkeit in vertraglichen
Streitigkeiten – Erfüllungsort – geografisch unbegrenzt
geltende Unterlassungspflicht – Verpflichtung zweier Unternehmen, im Zusammenhang mit einem öffentlichen
Auftrag keine Bindung mit anderen Partnern einzugehen –
Anwendung von Art. 2
___________________________________________________
Die besondere Zuständigkeitsregel für vertragliche Streitigkeiten gemäß Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ ist nicht anwendbar
in einem Fall, in dem, wie im Ausgangssachverhalt, der Erfüllungsort der den Gegenstand des Verfahrens bildenden
Verpflichtung deshalb nicht bestimmt werden kann, weil
die streitige vertragliche Verpflichtung eine geografisch
unbegrenzt geltende Unterlassungspflicht ist und damit
durch eine Vielzahl von Orten gekennzeichnet wird, an denen sie erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre; in einem
solchen Fall kann die Zuständigkeit nur nach dem allgemeinen Zuständigkeitskriterium gemäß Art. 2 Abs. 1 des
Übereinkommens bestimmt werden.
Sachverhalt: WABAG, die zur Gruppe Deutsche Babcock gehört, und Besix unterzeichneten am 24. 1. 1984 in Brüssel einen
Vertrag, mit dem sie sich zur Abgabe eines gemeinsamen Angebots
74
1
Hierzu Kolmann (oben Fn. 5), S. 353 f.
Übereinkommen vom 27. 9. 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit
und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. 10. 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark,
Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und – geänderte Fassung – S. 77).
für einen öffentlichen Auftrag des Vorhabens Wasserzuführung in
elf städtischen Zentren von Kamerun des Ministeriums für Bergbau und Energie von Kamerun und im Fall des Zuschlags zu gemeinsamer Vertragserfüllung verpflichteten. Laut dem unterzeichneten Vertrag verpflichteten sich die beiden Unternehmen,
Ausschließlichkeit zu wahren (...) und keine Bindung mit anderen
Partnern einzugehen. Bei der Öffnung der Angebote stellte sich
jedoch heraus, dass Plafog, die wie WABAG zur Gruppe Deutsche
Babcock gehört, gemeinsam mit einem finnischen Unternehmen
ebenfalls ein Angebot für den fraglichen öffentlichen Auftrag abgegeben hatte.
Nach Prüfung aller Angebote wurde der Auftrag aufgeteilt. Die
Arbeiten wurden in verschiedenen Losen an mehrere Unternehmen vergeben. Ein Los erhielt die Arbeitsgemeinschaft, zu der
Plafog gehörte, während die schlechter eingestufte Arbeitsgemeinschaft WABAG-Besix keinen der Teilaufträge bekam. Da nach
Auffassung von Besix eine Verletzung der Ausschließlichkeits- und
Wettbewerbsverbotsklausel vorlag, erhob sie am 19. 8. 1987 beim
Tribunal de commerce Brüssel gegen WABAG und Plafog Klage
auf Schadensersatz in Höhe von 80 000 000 BEF.
Das Tribunal de commerce bejahte seine internationale Zuständigkeit für die Klage gemäß Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ mit der Begründung, dass nach dem für es geltenden belgischen Kollisionsrecht
das Recht des Staates anwendbar sei, zu dem der Vertrag die engsten Beziehungen aufweise, und dass die Verpflichtung zur Ausschließlichkeit als Nebenpflicht der Ausarbeitung des gemeinsamen Angebots in Belgien zu erfüllen sei. Es wies die Klage aber als
unbegründet ab. Die Cour d’appel Brüssel, bei der Besix gegen
diese Entscheidung Berufung einlegte, hat ihr Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Auszug aus den Gründen: „(...)
Brüsseler Übereinkommen
3. Die Zuständigkeitsvorschriften des Übereinkommens finden sich in
dessen Titel II mit den Art. 2 bis 24.
4. Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens, der zum 1. Abschnitt Allgemeine
Vorschriften des Titels II gehört, lautet:
Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens sind Personen,
die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben,
ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses
Staates zu verklagen.
5. Im selben Abschnitt bestimmt Art. 3 Abs. 1:
Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats
haben, können vor den Gerichten eines anderen Vertragsstaats nur gemäß den Vorschriften des 2. bis 6. Abschnitts verklagt werden.
6. In Art. 5 im 2. Abschnitt Besondere Zuständigkeiten des Titels II des
Übereinkommens heißt es:
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:
1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand
des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre.
(...)
16. Die Cour d’appel Brüssel meint, die vertragliche Verpflichtung, die im Sinne von Art. 5 Nr. 1 des Übereinkommens den
Gegenstand des Verfahrens bilde, sei die - nach Auffassung von
Besix durch WABAG und Plafog verletzte - Verpflichtung, im
Rahmen des fraglichen öffentlichen Auftrags die Ausschließlichkeit zu wahren und keine Bindungen mit anderen Partnern einzugehen.
17. Mit Rücksicht auf die ständige Rechtsprechung seit dem Ur-