Ein Problem von Verwöhnten

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Ein Problem von Verwöhnten
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Tages-Anzeiger – Samstag, 18. Oktober 2014
Schweiz
«Ein Problem von Verwöhnten»
Der Basler Stadtentwickler Thomas Kessler versteht den Unmut über die Zuwanderung nicht. Er begreift
die Schweiz als eine grosse Stadt und freut sich über die Anregungen von Bundesrätin Simonetta Sommaruga.
Mit Thomas Kessler
sprach Philipp Loser
Bundesrätin Simonetta Sommaruga
schwärmt für Verdichtung
(TA von gestern). Verschwindet
der alte Schweizer Wunsch nach
einem eigenen Haus im Grünen?
Nein, der Nachkriegstraum vom Häuschen, vom Auto und der Kleinfamilie ist
in der Schweiz noch lange nicht ausgeträumt. Diese Sehnsucht, deren innerer
Kern die Idealisierung des Bauernlebens
ist, wurde über Generationen kultiviert
und in der Gesetzgebung festgeschrieben. Das System stilisiert das Eigenheim
im Grünen und die Kleinfamilie zum
Ideal. Schauen Sie sich doch nur die
Steuererklärung an: Abzüge für die Familie: danke CVP. Abzüge fürs Eigenheim: danke FDP und Hauseigentümerverband. Abzüge fürs Pendeln: danke
Autogeneration.
Was also ist zu tun?
Man kann nicht auf der einen Seite das
Pendeln begünstigen und auf der anderen Seite den Schutz der Natur und des
Kulturlands fordern. Natürlich soll jeder
nach seiner eigenen Façon leben dürfen.
Aber die Behörden müssen die Fehlanreize aus dem System rausnehmen. Der
Pendelabzug ist ein Anachronismus.
Der wurde ja kürzlich
auf 3000 Franken beschränkt.
Reicht das nicht?
Die Senkung hat nur eine Minderheit
tangiert.
Ihre Vorschläge dürften nicht
auf grossen Zuspruch stossen. Die
Masseneinwanderungsinitiative und
die Debatte über Ecopop zeigen,
dass die Menschen die Schweiz
als immer enger empfinden.
Das Problem der Schweiz ist nicht die
Anzahl ihrer Einwohner. Auch nicht
die Zunahme der Wohnbevölkerung.
Im Vergleich zur Generation unserer
Urgrosseltern sind das alles sehr moderate Entwicklungen. Das allgemeine Gestöhne über die Zuwanderung, die Hektik und die raschen Veränderungen unserer Zeit sind die Wohlstandsprobleme
von Verwöhnten. Unser Problem ist der
Wohlstandskonsum. Wir erleben eine
Kumulation von höchsten Ansprüchen.
Wir haben den höchsten Wohnungsbestand der Geschichte, den höchsten
Wohnflächenkonsum der Geschichte
und möchten gleichzeitig in einer Idylle
leben, die in der Schweiz so gar nie existierte.
Sie können den Schweizerinnen
und Schweizern nicht vorschreiben,
wo sie leben sollen.
Nein, ihr Traum muss auch gar nicht geopfert werden. Wer am Samstag immer
noch Rasen mähen will, der soll das
auch weiterhin tun können. Die Veränderung braucht es in den erschlossenen
Gebieten, in den kleinen und mittleren
Städten, die heute schon vollständig für
eine Bevölkerung von zehn Millionen
Menschen reichen würden. 1970 lebten
in den Städten mehr Menschen als
heute. Es braucht nur eine moderate
Verdichtung und einen rigorosen Schutz
der nicht erschlossenen Freiflächen.
Wie soll diese sanfte Verdichtung
aussehen?
Wenn wir unseren durchschnittlichen
Wohnflächenverbrauch von 45 Quadratmetern um 4 Quadratmeter verkleinern,
wird niemand Komforteinbussen erleiden, niemand Dichtestress verspüren.
Es braucht die richtigen Anreize – ein geringerer Flächenkonsum muss honoriert werden – und die richtigen Angebote. Generationenwohnungen wie sie
im Moment auf der Basler Erlenmatte
entstehen oder seit längerer Zeit in
St. Gallen angeboten werden. Zehn Minuten vom Stadttheater entfernt leben
dort Menschen ab 50 in kleinen Eigentumswohnungen, erleben Privatheit
und soziale Kontakte in Gemeinschaftsräumen. Das ist das Zukunftsmodell.
Nächtlicher Blick auf Zürich: Moderne Städte bieten hohe Lebensqualität. Foto: Keystone
Also doch ein neuer Traum.
Ja. Die Lebensqualität in den Städten ist
heute so hoch, wie sie es früher in der
idealisierten Vorstellung vom Leben auf
dem Land war. Was die Menschen suchen – Sauberkeit, Sicherheit im Verkehr, Familiarität und soziale Kontakte,
jene Elemente, die man früher auf dem
Land wähnte –, wird heute in den Städten angeboten. Das wird einem immer
wieder bewusst, wenn man mit den Zuzügern über die Schweiz spricht. Für sie
ist die Schweiz eine Stadt der kurzen
Wege mit 8 Millionen Einwohnern. Die
Menschen leben in überschaubaren
Quartieren und können alles zu Fuss
oder mit einem super öffentlichen Verkehr machen. Darum kommen die Forscher so gern nach Basel: Sie gewinnen
über zwei Stunden Lebenszeit pro Tag,
wenn sie hier statt in Shanghai oder Boston arbeiten und leben. Wir Schweizer
müssten uns öfter vor Augen führen, wie
gut es uns eigentlich geht.
Thomas Kessler
Der frühere Drogendelegierte und
Informationsbeauftragte von Basel-Stadt
ist seit 2009 Leiter
der Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung im Präsidialdepartement.
Verdichtung
SP-Bundesrätin lebt im grünen Paradies
Simonetta Sommaruga
plädiert für verdichtetes
Wohnen. Selber lebt sie
in einem Haus mit Garten.
Stefan Häne
Die Schweizer Bevölkerung soll näher
zusammenrücken, statt Ausländern den
Zuzug in die Schweiz zu verwehren: Unter anderem mit dieser Botschaft will
Justizministerin Simonetta Sommaruga
das Stimmvolk für ein Nein zur EcopopInitiative gewinnen. Die SP-Bundesrätin
plädiert dafür, in den Städten verdichtet
zu bauen. Die Verdichtung habe in der
Schweiz zu Unrecht einen schlechten
Ruf, findet sie.
Selber lebt Sommaruga nicht eben in
beengten Verhältnissen. Die Magistratin
wohnt vielmehr an ziemlich vornehmer
und ruhiger Lage: im Spiegel-Quartier in
Köniz bei Bern, in einem Zweifamilienhaus mit Garten, der Hunderte von Quadratmetern gross und auf drei Terrassen
angelegt ist, wie die «Schweizer Illustrierte» einst schrieb. Für Sommaruga,
eine passionierte Gärtnerin, ist diese
grüne Oase ein «wichtiger Ort, wo ich
mich nicht nur erhole, sondern auch abreagieren kann», verriet sie dem «Blick».
Im Magazin «Schweizer LandLiebe»
schliesslich beschrieb sie ihre Liebe zur
Natur, der Sorge zu tragen sei. Andernfalls sei es «zu spät – verbaut ist verbaut». Zusätzlich zu ihrem Wohnsitz verfügt Sommaruga über eine Absteige in
der Berner Innenstadt. Nach Abenden
mit langen Sitzungen kann sie sich so die
zirka fünfzehnminütige Heimreise ersparen. Ein Ferienhaus besitze sie nicht,
heisst es beim Justizdepartement.
Auf die Frage, ob Sommaruga mit
ihrem Plädoyer für Verdichtung glaubwürdig sei, antwortet das Justizdepartement: Die Bundesrätin wohne in der Gemeinde Köniz, die vor zwei Jahren den
Wakkerpreis für vorbildliche Siedlungsentwicklung erhalten habe. Sie vertrete
die Meinung, dass in den städtischen
Räumen sinnvoll verdichtet werden
solle. Und zwar gerade damit die ländlichen Räume geschützt werden könnten.
Genau das fordere auch das Raumkonzept Schweiz, das der Bundesrat
2012 verabschiedet habe.
Karriere endet mit
Bed and Breakfast
Unter Druck von Medien und
Politik tritt die Baselbieter
Landratspräsidentin Daniela
Gaugler per sofort zurück.
Seit Monaten stand
Landratspräsidentin Daniela Gaugler
im Zentrum eines
politisch-medialen
Sturms. Der Grund
dafür war ein Bedand-BreakfastBetrieb in der Gewerbezone
von Daniela Gaugler.
Lausen, in welchem
Gaugler mit ihrem Mann Wohnungen für
Dauergäste anbietet. Als die Medien im
Sommer auf das B & B aufmerksam wurden, eröffnete das Bauinspektorat eine
Untersuchung. Das Resultat, das für sie
negativ ausfiel, wurde Gaugler vor einer
Woche per Verfügung zugestellt. Sie weigerte sich, diese öffentlich zu machen,
und kündigte einen Rekurs an. Das stiess
bei vielen Politikern auf Unverständnis.
Es gehe nicht an, dass die höchste Baselbieterin in einen Rechtsstreit mit dem eigenen Kanton verwickelt sei. Aber genau
das will sich Gaugler nicht nehmen lassen. Sie sei nicht bereit, ihre Rechte dem
Amt zu opfern, heisst es im Rücktrittsschreiben von gestern. Sie werde als normale Bürgerin für ihr Recht kämpfen.
Die SVP bedauert den Rücktritt und
ist gleichzeitig empört, wie mit Daniela
Gaugler umgegangen wurde. Die Partei
macht sich nun Gedanken über eine
Nachfolge. Bis diese gefunden ist, übernimmt der Vizepräsident des Landrats
die Aufgaben von Gaugler. (los)
Nachrichten
Einbürgerung
Amerikaner akzeptiert
Entscheid der Einsiedler
Der Amerikaner Irving Dunn, der sich in
Einsiedeln einbürgern lassen wollte und
dessen Gesuch die Bürger abgelehnt haben, akzeptiert den Entscheid (TA vom
Mittwoch). Dies berichtete der «Einsiedler Anzeiger». Der 75-jährige frühere
ETH-Dozent kennt laut der Einbürgerungskommission die lokale Politik und
Geografie zu wenig und er sei zu schlecht
integriert. (bl)
Wahlen 2015
Ruth Humbel kandidiert
für den Ständerat
Die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth
Humbel will bei den eidgenössischen
Wahlen 2015 den vor 20 Jahren verlorenen Sitz der CVP im Ständerat zurückholen. Die Delegiertenversammlung der
Kantonalpartei hat die 57-Jährige am
Donnerstagabend nominiert. (SDA)
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