Kinderschutz vor dem Kollaps - Fachgruppe Sozial-, Kinder
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Kinderschutz vor dem Kollaps - Fachgruppe Sozial-, Kinder
Kinderschutz vor dem Kollaps Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Aufbruch Rückblick � � Veranstaltung „Fallzahlen 70 +? Wir garantieren für nichts mehr“ am 29. April 2014 in der ver.di-Bundesverwaltung Demo „Kinderschutz braucht Zeit und Geld“ am 30. April 2014 vor der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Gemeinden Berlin-Brandenburg Kinderschutz in Berlin Fachbereich Gemeinden Schluss mit der Verantwortungslosigkeit! Die ver.di-Fachgruppe Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe in Berlin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen der Arbeitsbedingungen im Sozial- und Erziehungsdienst, insbesondere bei den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in den Jugendämtern. Im Augenblick haben wir einige Aufmerksamkeit für die Kolleginnen und Kollegen auch in der politischen Landschaft. So gab es eine kleine Anfrage der Etwa 100 Kolleginnen und Kollegen nahmen an der Veranstaltung zum Thema „70+? Wir garantieren für nichts mehr“ teil, vornehmlich aus den Regionalpädagogischen Diensten (RSD) der Jugendämter Berlins. Neben der GEW Berlin fordert auch ver.di Berlin mehr Mittel für den Kinderschutz, mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Die Familien, Kinder und Jugendlichen dürften nicht die Leidtragenden der Berliner Haushaltspolitik sein. Fraktion Die Linke aus dem Abgeordnetenhaus zum Thema Personalausstattung im Allgemeinen Sozialen Dienst. Darauf antwortete die neue Jugendstaatssekretärin Sigrid Klebba: „Es obliegt den Bezirken, die Leistungsfähigkeit Berlins sicher zu stellen. Dies beinhaltet auch die angemessene Personalplanung und Entwicklung sowie Umsetzung von Personal- und Organisationsstandards.“ Weiter heißt es: „Mit den Ergebnissen des Projektes Personalausstattung hat der Senat bereits im Jahr 2010 einen Orientierungsrahmen für die Personalausstattung bereit gestellt und empfohlen. Dieser bezieht sich auch auf die Regionalen Sozialpädagogischen Dienste.“ Das vorgeschlagene Musterjugendamt wurde allerdings vom Rat der Bürgermeister abgelehnt. 2 Dieser wollte sich keine verbindliche Struktur seiner Jugendämter vorschreiben lassen. Immer wenn ich oder Kolleginnen und Kollegen auf einer Personalversammlung anmahnen, Stellen zu besetzen oder neue Stellen zu schaffen, sagen die Bezirksstadträte, sie seien vollkommen unserer Meinung. Allerdings würde der Senat nicht genügend Personalstellen zur Verfügung stellen. Von Senatsseite, von Staatssekretärin Klebba, hört man dann beispielsweise: „Dies liege alles im Benehmen der Bezirke. Sie können mit ihren Stellen machen, was sie wollen.“ Mit dieser Haltung kommt man sich vor wie bei Kafka oder wie ein Hamster im Tretrad. Man wird von einer Stelle zur anderen geschickt. Keiner fühlt sich zuständig, niemand verantwortlich. Ich nenne das organisierte Verantwortungslosigkeit, gegen die wir kämpfen müssen. Der ver.di-Bundesfachbereichsvorstand, aber auch der ver.di-Bundesfachgruppenvorstand SKJ hat die Belastung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten definiert. Wir sind dabei von fünf Kernbereichen ausgegangen: • Die Hilfen zur Erziehung - Fallbearbeitung • Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung, Beratung • Verfahren bei Trennung und Scheidung • Präventive Beratungsprozesse • nicht fallbezogene Aufgaben, Kooperation, Vermittlung, sozialtherapeutische Vernetzung, Fortbildung, die entsprechenden Dokumentationsarbeiten, Anleitung von Praktikantinnen und Praktikanten sowie neuen Kolleginnen und Kollegen. Die von uns geforderte Fallbelastung von maximal 28 Fällen pro Sozialarbeiterin beziehungsweise Sozialarbeiter wäre damit durchaus begründbar. Wenn wir das umsetzen, würde dies für Berlin bedeuten, dass wir die Zahl der Stellen in den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten etwa verdoppeln müssten. Im Augenblick rennen wir mit unseren Forderungen offene Türen ein, auch bei der Politik, dem Abgeordnetenhaus. Nur: Sie sagen JA, aber sie tun nichts. Nach jahrelanger Darstellung unserer Situation wurde anerkannt, dass die Kolleginnen und Kollegen im Regionalen Sozialen Dienst (RSD) eine verantwortungsvolle und anspruchsvolle Arbeit leisten. Diese Aufgabe zu erfüllen, geht bis an die Belastungsgrenzen, oft darüber hinaus. Jede Kollegin, jeder Kollege kann berichten, wie es zu Zusammenbrüchen, zu BurnoutSyndrom bei den Beschäftigten kommt. Ein Kollegin, mit der ich vor vielen Jahren zusammengearbeitet habe, sagte mir mal: „Früher bin ich nachhause gekommen und ich war müde. Heute komme ich nachhause und ich bin einfach kaputt.“ Das ist die Situation, unter der Sozialarbeit in dieser Stadt stattfindet. Die Aufgaben der Kolleginnen und Kollegen im sozialen Bereich werden wahrgenommen und verbal durchaus wertgeschätzt. Aber dazu gehört auch eine angemessene Bezahlung. Deshalb fordern wir, dass die Berliner Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im RSD nicht schlechter entlohnt werden als Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Potsdam, in Königs Wusterhausen oder in Nauen. Immerhin verdienen sie dort zwischen 400 bis 450 Euro brutto monatlich mehr. Was ich noch loswerden will: Die Berliner Rechtsmediziner der Charité, Michael Tsokos und Saskia Guddat, haben ein Buch geschrieben: „Deutschland misshandelt seine Kinder.“ Sie werden gehört. Ihr Buch wurde im ZDF und auf der Bundespressekonferenz vorgestellt. Darin erfolgt ein pauschaler Rundumschlag: Schuldzuweisungen an Kinderärzte, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Richter. Der einzige Berufsstand, der gut dabei wegkommt, sind die Rechtsmediziner. In einem Interview sagte Tsokos: „Die Rechtsmediziner sind eigentlich die wahren Anwälte der Kinder.“ Ich sage: Die wahren Anwälte der Kinder sind hier, sind die Kolleginnen und Kollegen in den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten in Berlin. Und sie dürfen mit Recht auf Wertschätzung hoffen. Werner Roepke, ver.di-Landesbezirksfachbereichsleiter Gemeinden Jugendämter vor dem Kollaps Einstiegsgehalt zu gering Weil Finanzsenator Ulrich Nußbaum vor zwei Jahren einen Einstellungsstopp in Teilen des öffentlichen Dienstes verhängte, fehle heute fast der komplette Mittelbauch der Beschäftigten, erzählt Kerstin Kubisch-Piesk, Sozialarbeiterin im Jugendamt Wedding. Es gebe vielfach nur Berufsanfänger und die völlig überarbeiteten Kollegen mit langer Berufserfahrung. Viele Berufsanfänger halten den Job nicht lange durch und bewerben sich weg, auch, weil das Einstiegsgehalt … vielen zu gering ist. Keine 11 Millionen Euro zusätzlich Im Dezember letzten Jahres hatte das Jugendamt Mitte aus Protest weiße Fahnen aus den Fenstern gehängt, die symbolische Kapitulation. Seitdem ist der Protest verpufft. Der Senat verweist an die Bezirke, die für die Personal- und Mittelausstattung der Jugendämter verantwortlich sind. Die spielen den Ball wieder zurück zum Senat. Es fehlten die Gelder. Eigentlich sollten mit dem neuen Haushalt 2014/15 rund elf Millionen Euro zusätzlich in die Kinder- und Jugendarbeit investiert werden. Das blieb aus. Offenen Brief ignoriert Jugendamtsleiter der zwölf Bezirke hatten vor fast zwei Jahren an den Regierenden Bürgermeister, zuständige Senatsverwaltungen und Jugendstadträte in einem offenen Brief appelliert, dass Kürzungen und nicht neu besetzte Stellen im Personalbereich irgendwann zum Kollaps der Jugendarbeit führen werden. Wie schon beim Protest in Mitte blieb eine Reaktion aus. Im Februar 2013 verwies die Bildungsverwaltung lediglich auf eine Analyse aus dem eigenen Haus über die Personalausstattung in den Jugendämtern, an der man sich bitte orientieren solle. Aus dem ND vom 14. April 2014 / Autorin: Christin Odo 3 Kinderschutz in Berlin Fachbereich Gemeinden Mehr Zeit für Klienten – weniger Regelungen und Kontrollen Aus dem Referat von Prof. Dr. Manfred Neuffer, Experte für den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) Thema: „Gebt den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern eine Chance, fachlich zu handeln“ Ich denke, wir müssen stärker Fragen zur Fachlichkeit, zur Professionalität ins Blickfeld rücken. Wir sind genauso eine Profession wie Mediziner und Juristen. Leider steckt das professionelle Geschehen im ASD in einem Zwangskorsett, versehen mit Richtlinien, Fachanweisungen, Regelwerken, einem ausufernden Formularwesen, Standards, starren Abläufen, Kontrollen im Steuerungsbereich, einem unsäglichen Dokumentationssystem. Das heißt, Sie werden über Regelungen und Kontrollen gelenkt, vielleicht sogar erstickt. Dabei verkümmert Fachlichkeit, passieren auch Fehler. Jedes ASD-Team muss den Spielraum haben, sein eigenes Konzept, seine eigene Struktur zu entwickeln, in der Teammitglieder mit unterschiedlichen methodischen Kompetenzen ihre Arbeit leisten können. Der Versuch, ASD-Teams zu vereinheitlichen, widerspricht meines Erachtens dem Bedarf der Klientel und seines Umfeldes. In einem Diskussionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/KSD wird deutlich, dass der ASD vor einem Paradigmenwechsel steht, nämlich weg von Beratung Mit seinem Vortrag verfolgte Prof. Manfred Neuffer die Absicht, über die reine Personalbemessung in den Jugendämtern, worüber in Deutschland derzeit vorrangig diskutiert wird, hinauszugehen. Man müsse wegkommen von der alleinigen Forderung nach mehr Geld und mehr Stellen, sondern mit fundierten fachlichen Gesichtspunkten argumentieren. Der Dozent an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften im Department Soziale Arbeit in Hamburg bedauert, dass Case Management in der Sozialen Arbeit völlig falsch ausgelegt wird, im Gegensatz zu einem Konzept, das er in einem Lehrbuch veröffentlicht hat. Für ihn sei der ASD das Herzstück der Sozialarbeit. 4 und Unterstützung, hin zu mehr Steuerung und Planung, Controlling. Das hat seine Auswirkungen und tangiert die Berufsidentität der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Viele von ihnen, die sich in der Ausbildung befinden, sagen zu mir: „Ich habe nicht das Studium begonnen, um Manager zu werden. Das ist nicht mein Zugang zu diesem Beruf.“ Sehr stark wird gegenwärtig über die sogenannte sozialpädagogische Diagnostik in Zusammenhang mit dem Kinderschutz diskutiert. Sie gewährleistet, wenn sie fachlich ausgerichtet ist, das nachfolgende Geschehen qualifiziert zu gestalten. Im Hamburg müssen bis zu 40 durch Software vorgegebene Seiten ausgefüllt werden, damit die sozialpädagogische Diagnostik stimmt. Ein vom PC geleitetes Vorgehen. Für mich ein absolutes Misstrauen in das Können der dort Beschäftigten. Eine Scheinsicherheit, die das Gegenteil bewirkt von dem, was eigentlich erreicht werden soll. Es gibt viel einfachere, qualifiziertere Fallanalysesysteme zur Diagnose. Beispielsweise die von unseren Schweizer Kollegen entwickelte Systemische Denkfigur. Dort werden anhand weniger, aber sehr qualifizierter Kriterien Gespräche geführt und Fallsituationen analysiert. Seit zwei Jahren gibt es in Hamburg ein Dokumentationssystem JUS-IT. Dies soll von der Jugendhilfe genutzt werden, hinzu kommt die Sozialhilfe, ebenso die Wohngeldstelle. Inzwischen kostet das Ganze 133 Millionen Euro. 133 Millionen Euro für ein Softwaresystem! Das muss man sich einmal vor Augen halten. Behauptet wird, dass dieses System die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter unterstützt, beispielsweise sollen Notfälle relativ schnell über dieses System herausgefiltert werden können. Nach nunmehr zwei Jahren beschwerten sich über 250 Kolleginnen und Kollegen auf der letzten Personalversammlung und äußerten, dass sie mit dem System nicht arbeiten könnten, es würde sie zu stark an den PC zwingen. In der derzeit laufenden Personalbemessung müsse laut der Verantwortlichen die Mehrbelastung durch den Computer (!) berücksichtigt werden. Die Belastung durch bürokratische Vorgaben beträgt bei den Hamburger Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mittlerweile bis zu 70, 80 Prozent ihrer Tätigkeit. Höchstens 30 Prozent bleiben für die Klienten. Das kann nicht so bleiben. Für die Verwaltungsarbeit im ASD sollten maximal 20 Prozent der Arbeit aufgewendet werden. Ein anderer Punkt: Sie müssen auf Ihre Arbeitsbedingungen im RSD/ASD achten, auf eine gesunde Arbeitsgestaltung. Da geht es nicht um den ergonomisch geformten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter müssen genügend Spielraum haben, um aus ihrer fachlichen Kompetenz heraus Fallsituationen zu analysieren, Beratung anzubieten, ein Vertrauensverhältnis zu Klienten zu gestalten, Unterstützung zu organisieren, Veränderungsprozesse zu begleiten, Zeit für Gespräche zu haben. Schreibtischstuhl. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in extremen Lebenssituationen arbeiten, sind einem besonderen gesundheitlichem Risiko ausgesetzt. Psychosoziale Überbeanspruchung, Erschöpfung, Zeitdruck, Termindruck werden in Untersuchungen als organisationsbedingte Stressoren ausgewiesen. In der Folge ergeben sich Überlastungsanzeigen, ein hoher Krankenstand und längere Ausfallzeiten. Aus diesen Gründen ist die betriebliche Gesundheitsvorsorge auch für den ASD ein Muss. Dazu zählen geregelte Arbeitszeiten, Regelungen für Vertretungen, eine Fallzahlobergrenze, Supervision, Fortbildung und so weiter. Nach § 5 Arbeitsschutzgesetz ist auch bei psychischen Belastungen eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. In dem bereits genannten 14. Deutschen Kinder- und Jugendbericht steht ausdrücklich, dass die Kinderrechte gegenüber den Eltern zu stärken sind. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinderrechte einen anderen Stellenwert erhalten. Es ist einfach notwendig, dass Sie in bestimmten Situationen sagen können: Nein, jetzt nicht die Eltern. Jetzt das Kind. Das Aktionsbündnis Kinderrechte (Deutsches Kinderhilfswerk, UNICEF Deutschland, Deutsche Liga für das Kind, Deutscher Kinderschutzbund) hat einen Formulierungsvorschlag für einen neuen Artikel 2a Grundgesetz vorgelegt, um dies deutlich zu machen. Da heißt es: „Jedes Kind hat das Recht auf Förderung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeit zur bestmöglichen Entfaltung seiner Persönlichkeit“ oder „Dem Kindeswohl kommt bei allem staatlichen Handeln, das die Rechte und Interessen von Kindern berührt, vorrangige Bedeutung zu“. Kontrollieren, steuern, Regeln einhalten, Kosten senken, managen – das sind Begriffe, die in fast allen Konzepten der Fachbehörden zu finden sind. Wichtig finde ich, mit den Klienten im Prozess der Hilfe und an dessen Ende darüber zu sprechen, was wurde erreicht, was muss noch erledigt werden. Das würde ein Beschwerdemanagement erübrigen. Ich denke, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit Unterstützung externer Kräfte selbst ihre Verfahrensweisen und Handlungsmittel überprüfen und selbst entscheiden sollten, was dokumentiert wird und was nicht. Sie werden nur motiviert, wenn man nicht ausschließlich nach Mängeln, Fehlern, Zuständigkeiten, Regelverletzungen und Defiziten sucht, sondern vor allem herausarbeitet, was ihnen gelungen ist, was noch verbessert werden kann. Sie brauchen Wertschätzung und Anerkennung für Ihre sehr anstrengende Tätigkeit. Ich sage Ihnen: Bleiben Sie am Ball! Werden Sie aktiv! So können Sie jede Menge erreichen, verändern. Davon bin ich zutiefst überzeugt. 5 Kinderschutz in Berlin Ständig wird umstrukturiert Achim Christophersen, Sozialarbeiter im Sozialamt des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg, Mitglied im Sprecherrat der ver.diFachgruppe Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe Berlin Unsere Arbeit ist in hohem Maße mit psychischen Belastungen verbunden. Durch die schlechten Arbeitsbedingungen in unseren Behörden herrscht bei uns jede Menge Unmut und Frust. Ständig wird umstrukturiert und nach neuen Verfahren gesucht, mit denen wir unsere Arbeit immer noch umfassender und reibungsloser erledigen sollen. Das führt zu einer zunehmenden Verunsicherung bei den Kolleginnen und den Kollegen. Das Instrument der psychischen Belastungs- und Gefährdungsbeurteilung, zu dem der Gesetzgeber den Arbeitgeber durch das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, ist recht gut geeignet, auf gesundheitliche Gefährdungen durch Arbeitshetze, ständig steigende Mengen, Personalknappheit und so bedingte Überlastungen hinzuweisen. Nur müssen wir, die Betroffenen, auch selber unsere Arbeitsbedingungen zum Thema machen und auf Abhilfe und Veränderungen drängen. Podiumsdiskussion Mehr Fachlichkeit ins Visier Wolfgang Wienert, Sozialarbeiter beim RSD des Jugendamtes Bezirksamt Mitte Wir im Jugendamt stehen vor einem Scherbenhaufen. Die Fachlichkeit im Jugendamt ist in den letzten Jahren und besonders seit der Einführung des Kinderschutz-Netzwerkes immer mehr verloren gegangen. Präventive Arbeit und unterstützende Hilfen finden immer weniger statt. Aber wir haben das auch mit uns machen lassen! Wir haben vergessen, uns „einzubringen“ und uns zu wehren. Wir können uns weder auf unsere Vorgesetzten noch auf die Politiker verlassen. Damit sich etwas verändert, müssen wir aktiver werden. Einzelne Aktionen reichen nicht. Um Wertschätzung kämpfen! Uwe Schütt, Personalratsvorsitzender beim Bezirksamt Reinickendorf, Sozialarbeiter Wir haben gehört, wie dramatisch die Situation in den Jugendämtern ist. Gemessen an dem Problem muss viel mehr passie- Prof. Dr. Manfred Neuffer auf der Podiumsdiskussion Woher kommt das Misstrauen? Es gibt einen Kreislauf der Angst. Angst vor Todesfällen bei Kindern. Eltern haben Angst vor den Jugendämtern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter haben Angst davor, dass sie bei Todesfällen in die Medien und vor die Staatsanwaltschaft gezerrt werden könnten. Angst besteht auch bei den Fachbehörden und politisch Verantwortlichen, die bei einem Todesfall möglicherweise ihre Position gefährdet sehen. Dahinter steckt die Motivation, sich über Checklisten und über vorgegebene Verfahren zu schützen. 6 Irgendwann den Arbeitstag abschließen Ich finde es toll, dass über 100 Kolleginnen und Kollegen zur heutigen Veranstaltung gekommen sind. Solche Aktivitäten sollte man nicht gering schätzen. Ich bin überzeugt, dass auch hier in Berlin Engagement entsteht. Ich habe Verständnis für die Beschäftigten in den Jugendämtern. Irgendwann muss man den Arbeitstag abschließen können. Die Forderung, Ihr müsst aktiv werden, sollte daher nicht zu sehr überzogen werden. Durch das IT- Dokumentationssystem in Hamburg sollen in erster Linie Kosten eingespart und Fehler vermieden werden. Ich denke, mit dem neuen System passieren eher mehr Fehler. ren, so auch über die Beschäftigtenvertretungen. Ihr wollt Wertschätzung? Nur fällt einem diese nicht wie Sterntaler in den Schoß. Wertschätzung muss man sich erkämpfen. Ich wünsche mir, dass Ihr Euch den Rücken stärkt und sagt: Wir gehen einen Schritt voran, engagieren uns über unsere tägliche Arbeit vor Ort hinaus. Man kann nicht sagen, ich habe keine Zeit, meine Säge zu schärfen, ich muss Bäume absägen. Das ist die falsche Haltung. Schluss mit dem Sozialabbau! Siggi Kühbauer, Sozialarbeiter auf der Weddinger Kinderfarm, Sprecher des Arbeitskreises Kinder- und Jugendarbeit Fachbereich 3 und 7 ver.di Berlin Wir alle müssen mehr zusammenhalten, werden doch schon die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen gegeneinander ausgespielt. Gerade in der Jugendarbeit wird abgebaut, privatisiert, gekürzt, mit der Begründung, unbedingt Kinderschutzstellen zu erhalten. Wir haben uns auseinander dividieren lassen. Immer mehr Mittel wurden gestrichen, Sozialabbau betrieben. Das muss aufhören! Ich finde, Gerichtsmediziner leisten eine sehr gute Arbeit. Aber sie wissen scheinbar nicht, dass es auch hervorragende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Jugendämtern gibt. Gemeinsam müssen wir uns gegen den Sozialabbau wehren! Nur gemeinsam sind wir stark! Spaltpilz Schuldenbremse 10 Prozent Kosteneinsparung lasten aufgrund der Schuldenbremse in Hamburg auf der Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendarbeit kann damit nicht mehr in dem Maße gefördert werden, wie wir eigentlich wollen. Der eigentliche Spaltpilz in dem ganzen Geschehen. Was in Hamburg an Sozialleistungen eingespart werden soll, da tränen mir die Augen. Ich verstehe nicht, dass eine absolute Mehrheit im SPD-Senat dieses Zeichen setzt: Eigentlich brauchen wir Euch nicht! Netzwerk schaffen! Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich ein Netzwerk für Informationen schaffen, in dem Sie zum Beispiel die Stellungnahmen der AGJ, der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/KSD und so weiter erhalten, auch der 14. deutsche Kinder- und Jugendbericht ist hochinteressant. Fachliches und methodisches Handeln notwendig! Auch in Berlin hat die Diskussion um den Kinderschutz riesige Wellen geschlagen. Anders als in Hamburg haben sich hier allerdings die Jugendamtsleiter aus fast allen Bezirken auch zu Wort gemeldet, die chronische Unterfinanzierung und die immer unerträglicher werdenden Rahmenbedingungen gegenüber der Fachbehörde und der Politik beklagt. Es ist schon merkwürdig, dass Gesetze erlassen werden, ohne dass sich die Politik darum kümmert, inwieweit diese überhaupt eingehalten werden können. Berlin und Hamburg sind aus meiner Sicht nur die Spitze des Eisberges, den die Öffentlichkeit durch häufig willfährige, nicht hinreichend recherchierende Medien sehen soll. Die Politik muss in Zeiten, in der SIE die Schuldenbremse zum Ausgangspunkt staatlichen Handelns macht, mehr zur Verantwortung herangezogen werden und gerade jetzt - was das SGB VIII angeht - ausreichende Ressourcen zur Verfügung stellen. Die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich muss gerade wirtschaftlich weniger begüterten Menschen das Vertrauen in bestehende Gesetze belassen. Wir Gewerkschafter fordern das in Hamburg wie in Berlin. Die Beschäftigten in den RSDen (ASD in Hamburg) müssen fachlich handeln können. Dazu gehört auch, dass methodisches Arbeiten in kooperativen Zusammenhängen zeitlich organisatorisch berücksichtigt sein muss. Peter Meyer, Rentner, ehemals Sozialarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) im Bezirksamt Wandsbek in Hamburg, Mitglied der ver.di-Bundesfachgruppe Sozial-, Kinderund Jugendhilfe 7 Kinderschutz in Berlin Bürokratiewut bremsen Katharina Kaiser, Sozialarbeiterin im Jugendamt CharlottenburgWilmersdorf Ich kann mich noch gut erinnern, als in den 90er Jahren der Stuttgarter Kinderschutzbogen auf bundesweiten Veranstaltungen vorgestellt wurde. Er hat uns fasziniert, weil er ein gutes Instrument war, um uns die Vielfalt der Informationen, unser intuitives Wissen und unsere Eindrücke über Familien bewusst zu machen und gut zu beschreiben. Im Laufe der Jahre wurde dieser Bogen immer ausgefeilter, umfangreicher, verbindlicher, gleichzeitig technokratischer, mutierte vom Hilfsinstrument zum zentralen Dokumentationsinstrument im Kinderschutz. Immer neue Nutzanwendungen kamen dazu. Plötzlich waren diese zur Absicherung wichtiger als das, was mal am Anfang stand. Wenn dann noch die Bürokratiewut nicht gebremst wird und die Begeisterung für Computertechnik Oberhand gewinnt, ist in der Tat alles zu spät. Konstruktiv zusammenarbeiten Kornelia Galle, hauptamtliche Lehrkraft bei der Berliner Feuerwehr und Rettungsdienst-Akademie, Dipl.-Medizinpädagogin und Rettungsassistentin Das Thema Kinderschutz betrifft ebenso den Rettungsdienst, die dort tätigen Feuerwehrmänner und Feuerwehrfrauen. Die Berliner Feuerwehrund Rettungsdienst-Akademie hat das Thema Kindesmisshandlung in ihre Ausbildung integriert. Wir möchten die auszubildenden Rettungs- wie Notfallsanitäter für Anzeichen von Vernachlässigung und Misshandlung sensibilisieren. Sie sind es, die zuerst am Ort des Geschehens eintreffen, dafür sorgen müssen, dass der Transport des misshandelten Kindes gewährleistet wird. Eine genaue Dokumentation im Rettungsdienstprotokoll kann sehr hilfreich sein, Beweismittel zu sichern. Feuerwehr und Rettungsdienst sind allerdings Grenzen gesetzt. Daher ist es umso wichtiger, mit 8 Podiumsdiskussion ob Gewerkschaft, Personalrat, die zu betreuenden Familien und Fachgremien. Das ist leichter gesagt als getan. Wir sit„Ohne die oft langwierige und zen nicht umsonst heute hier, wollen etvon Widersprüchen geprägte was verändern. Klar, dürfen wir nicht den Beziehungsarbeit lässt sich beim Blick fürs Ganze verlieren. Wo können Großteil des Klientel der Soziawir gemeinsam unsere Kräfte bündeln? len Arbeit in aller Regel keine Von unserer Jugendamtsdirektorin hören vertrauensvolle Zusammenarbeit wir: Wir wollen alles neu berechnen. Dies entwickeln. Welches Klientel ist betrifft die Pensenberechnung, wie viele bereit und in der Lage, an einem Familien jeder Sozialarbeiter, jede Soziproblemlösungsorientierten Maalarbeiterin zu betreuen hat. Leider gibt nagementprozess teilzunehmen? sie nur die nachweisbaren Zahlen: von Welche Zielgruppe der Sozialen der Hilfe zur Erziehung (KostenübernahAm Ende der Veranstaltung wurde eine „Erklärung der Beschäftigten der Regionalen Arbeit vertraut einem Case Manamen), Meldungen der KinderschutzfälSozialpädagogischen Dienste der Berliner Jugendämter“ an die Politik angenommen, mit ger? Hier liegen die Probleme.“ le und Kosten-Leistungs-Rechnung der einer Stimmenthaltung. „Unsere Resolution wird nicht reichen“, mahnte FachbereichsleiMengen in familiengerichtlichen Verfahter Werner Roepke. „Wir lassen nicht locker, machen weiter, bohren dicke Bretter.“ (Hille, STANDPUNKT: SOZIAL, Heft 2/2006) ren. Nur wie wird die Beratung von Familien erfasst? Wir tragen in unserem Beruf anderen Bereichen konstruktiv zusammen zu arbeiten, so Projekt zur Gefährdungsbeurteilung eine hohe Verantwortung. Wie wird diese bewertet? Das mit den Ärzten, der Polizei, dem LKA, Kindernotdienst, mit Werner Roepke, ver.di-Landesbezirksgeht nur anhand von Fakten, die wir auf den Tisch legen fachbereichsleiter Gemeinden dem Jugendamt sowie mit Kitas und Schulen. müssen. Viel zu oft werden unser Leistungspensum und Mit der Gefährdungsanzeige haben unser fachliches Können nicht wahrgenommen. Tretet in die Gewerkschaft ein! wir zwar ein neues Instrument, aber Angelika Spautz, Vorsitzende der Profession in den Vordergrund noch keine Erfahrung damit, nur bei ver.di-Bundesfachgruppe Sozial-, KinMichael Süßkind, Sozialarbeiter Überlastungsanzeigen. Im Zweifel der- und Jugendhilfe, Personalratsvorbeim RSD des Jugendamtes bringt eine Überlastungsanzeige gar nichts. Es wird immer sitzende bei der Stadtverwaltung Mainz Charlottenburg-Wilmersdorf nur das Ergebnis einer manchmal dramatischen Entwicklung gesehen. Währenddessen Sozialarbeiter im Geschehen Probleme mit der rechtsanwaltlichen Die Verbindung zwischen öffentlichen stehen und leider keine hellseherische Fähigkeiten besitzen. Vertretung gibt es in allen Kommunen. und freien Trägern ist ein stückweit Wir sind dabei, die Frage der Gefährdungsbeurteilung in Als Gewerkschaftsmitglied kann ich da nur sagen: Tretet in verloren gegangen. Im Grunde haben einem ASD von Frankfurt (Oder) aufzugreifen. Im Rahmen die Gewerkschaft ein! Darüber ist auch die Rechtsvertrewir in der sozialen Arbeit die gleichen Ziele. Aber wenn wir tung gesichert! Das Instrument der Gefahrenanzeige oder eines Projektes wollen wir mittels Analyse und bestimmter im Amt nur noch steuern und managen, werden wir zu Überlastungsanzeige mit der deutlichen Zurückgabe der Instrumente versuchen, die Situation zu verbessern. Auftraggebern. Das führt teilweise zu devotem Verhalten Verantwortung sollten wir viel mehr nutzen. Damit die unvon Vereinen, von freien Trägern statt zur gemeinsamen mittelbaren Vorgesetzten hellhörig werden, müssen wir als Fakten auf den Tisch! Arbeit an den gleichen Zielen und auf Augenhöhe. Deshalb Beschäftigte begründet die Verantwortung ablehnen. Dann Birgit Scheddin, Sozialarbeiterin im brauchen wir für die Profession Soziale Arbeit auch die müssen diese etwas tun. Wir als Bundesfachgruppe haben RSD des Jugendamtes Reinickendorf Unterstützung von Hochschulen und Wissenschaft, von ein Positionspapier zur Fallzahlbegrenzung herausgegeben. Ich habe manchmal das Gefühl, dass Berufsverbänden und so weiter. Aber auch jeder Einzelne Die Zustände in den RSDen müssen skandalisiert werden. wir wie Hampelmänner agieren. Jeder bei sich selbst ist gefordert, die soziale Arbeit als Profession Gemeinsam können wir Veränderungen erreichen. erwartet von uns, aktiv zu werden, egal zu pflegen und in den Vordergrund zu stellen. Erklärung der Beschäftigten angenommen Case Management in der Kritik 9 Kinderschutz in Berlin „Immer weniger Zeit – Arbeitsbelastungen nehmen deutlich zu“ – für diesen Beitrag in der ver.di-Zeitung „standort“ vom April 2014 interessierten sich auch zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung im ver.di-Haus Berlin, im Saal Aida. Koordinierungskreis für Aktionen „Möge die Veranstaltung Auftakt für weitere Aktionen sein.“ Dies hofft Gewerkschaftsekretärin Anna Sprenger. „Wir wollen zeigen: Mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der RSD ist zu rechnen! Wir lassen uns nicht mehr alles gefallen!“ Aus gegebenem Anlass lädt ver.di dazu ein, im Koordinierungskreis für Aktionen mitzumachen. Erster Termin war der 13. Mai 2014. Eine Gruppe Interessierter hat sich zur Mitarbeit bereit erklärt. 10 Meinungen Politik muss Verantwortung übernehmen Martin Warpakowski, Sozialpädagoge im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst in Pankow, Ortsteil Pankow Mich stört, dass seit Jahren die Sozialarbeiter, insbesondere junge Kolleginnen und Kollegen, im RSD nicht adäquat nach ihrer Verantwortung und ihrer fachlichen Kompetenz bezahlt werden. Viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen über 80, 90, manche sogar über 100 Fälle bearbeiten. Wer 70 hat, liegt im Durchschnitt. Kinderschutzfälle nehmen immer mehr zu. Das hat grundsätzlich etwas mit Politik zu tun. Wie wird der Kinderschutz überhaupt wahrgenommen, die Gesellschaft dafür sensibilisiert? Wann fängt Kinderschutz an? Wir tun einiges, um Eltern und Einrichtungen zu sensibilisieren, Kinder zu schützen. Das läuft konform mit den Ansprüchen, mit den Herausforderungen an Sozialarbeit. Die Politik kann nicht sagen: Wir wollen Kinderschutz an erster Stelle. Personell passiert nichts. Unsere Leute werden in Stich gelassen. Auch ich bin im Dauerstress. Viele Kolleginnen und Kollegen kommen unweigerlich an ihre Grenzen, stehen fast vor Burnout. Sie können nicht mehr. Wenn du stets und ständig mehr machen musst als möglich ist, gehst du immer mit dem Gefühl nach Hause, dass du noch einen Haufen Arbeit liegen lässt. Kein gutes Gefühl. Auf Dauer ist das zermürbend. Beim Kinderschutz spielen viele Dinge eine Rolle wie Trennungen, Scheidungen, Armut, soziale Isolation, psychische Erkrankungen, fehlende Präsenz der Eltern und so weiter. Das Spektrum der Probleme wird immer größer. Das Schlimmste für uns ist, dass wir den Kopf hinhalten für den Kinderschutz. Das heißt, wenn irgendwas passieren sollte, wird die zuständige Sozialarbeiterin oder der zuständige Sozialarbeiter im Grunde fast haftbar gemacht, nicht die Politik, nicht das Bezirksamt und nicht der Senat. Ich fordere die Politik auf, Bedingungen zu schaffen, dass der Sozialarbeiter seine Arbeit qualitativ hochwertig erfüllen kann. Ich habe größten Respekt vor unseren Mitarbeitern. Sie geben ihr Bestes, arbeiten immer noch hochqualitativ, nur geht das auf die Knochen. Die Politik muss dafür die Verantwortung übernehmen. Wenn es so weiter geht, werden immer weniger Menschen bereit sein, sich für den Kinderschutz zu engagieren, für Kinder und Familien. Abends regelrecht fertig Amai Wietek, seit 28 Jahren Sozialpädagogin, im ASD Friedrichshain-Kreuzberg tätig Ich habe eine 32-Stunden-Stelle und momentan 78 Fälle. Andere von uns mit Vollzeitstelle liegen zwischen 90 und 101 Fällen. Zum Feierabend dröhnt auch bei mir der Kopf. Abends bin ich regelrecht fertig, kann niemandem mehr zuhören. Freitags habe ich frei, versuche mich dann zu entspannen. Wir fahren viel weg und ich versuche, in dieser Zeit die Arbeit einfach zu vergessen. Von der Politik erwarte ich nicht viel. Was passiert denn, um unsere Lage zu verbessern? Dienst nach Vorschrift geht bei mir nicht. Ich hab´s probiert. Ich fühle mich verantwortlich. Wir haben eine Gesamtüberlastungsanzeige für den gesamten ASD Friedrichshain-Kreuzberg gestellt, die anerkannt wurde. Reagiert wurde darauf nicht. Leider schaffen wir es nicht, die Kolleginnen und Kollegen so zu solidarisieren, dass auch mal alle nicht zum Dienst erscheinen. Das wäre eine sinnvolle Variante, um ein Zeichen zu setzen. Der Punkt ist längst überschritten, aber irgendwie kommen unsere Leute doch immer wieder. Ich gehe mittlerweile auch zum Dienst, wenn ich krank bin. Leider. Sonst schaffe ich meine Arbeit nicht. Mit jedem Tag, den man nicht da ist, wird es immer schlimmer. Und die Angst davor, noch weniger zu schaffen als ohnehin schon, wird immer größer. Das führt zu einem unglaublichen psychischen Druck, macht krank. Ich selber leide unter zu hohem Bluthochdruck und massiven Schlafstörungen obwohl ich mich gesund ernähre, mich viel bewege. Dazu kommt eine teilweise Froh und erleichtert über ihren Entschluss, endlich ver.di-Mitglied zu werden: Amai Wietek. Schon seit langem wollte die 55-jährige in die Gewerkschaft eintreten. Nach der Veranstaltung hat sie ihre Beitrittserklärung abgeschickt. „Wir müssen unbedingt etwas tun. So wie bisher geht es nicht weiter“, findet die gebürtige Hamburgerin. „Viele Jahre habe ich geglaubt, wir schaffen es alleine. Aber das funktioniert nicht.“ stressbedingte Schwerhörigkeit. Am schlimmsten für mich ist das ständige Gefühl, nie fertig werden zu können, es einfach nicht mehr zu schaffen. Mich nervt die unglaubliche Bürokratie. Das ist nicht die Sozialarbeit, wie ich sie wollte, überhaupt nicht mehr. Durch die Bürokratisierung verliert man das Bauchgefühl für die Arbeit. Das finde ich ganz schlimm. Das brauchen wir aber, um Situationen vor Ort einschätzen zu können. Wir gehen nicht mit Kinderschutzbogen in die Familien rein. Reagieren ohne bürokratischen Rückhalt muss man können. Bis zur Pension werde ich wohl nicht durchhalten in meinem Job. Früher stellten wir Kolleginnen und Kollegen viel mehr auf die Beine, gab es eine viel größere Solidarität untereinander. Unsere gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen haben das vorangetrieben. Sie sind alle weg, in Pension. Heute, mit den Jüngeren ist es schwierig, auch mit den Älteren. Viele von ihnen haben resigniert. Heute muss doppelt so viel geschafft werden wie damals. 11 Demo „Kinderschutz braucht Zeit und Geld“ Fachbereich Gemeinden Ein politischer Skandal Heike Schlizio-Jahnke, Sozialpädagogin beim RSD im Jugendamt Mitte, GEW Berlin Wir können die Standards zum Kinderschutz nicht mehr einhalten, den Kinderschutz in dieser Stadt nicht mehr gewährleisten. Ein politischer Skandal! Wir fordern Frau Scheeres auf: Sorgen sie dafür, dass wir gut ausgebildete und ausreichend Sozialarbeiterinnen im Jugendamt haben! Sorgen Sie dafür, dass wir endlich eine Fallzahlbegrenzung bekommen! Wir arbeiten im Auftrag der Gesellschaft und erledigen den Kinderschutzauftrag als Wächter. Das ist eine besondere Aufgabe. Diese erfordert eine gerechte Entlohnung für alle Beschäftigten im Jugendamt. 12 Einsatz für besseren Personalschlüssel Demo am 30.4.2014 vor der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft „Kinderschutz braucht Zeit und Geld“ – unter diesem Motto demonstrierten am 30. April 2014 über 200 Kolleginnen und Kollegen aus der Kinder- und Jugendhilfe vor der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, unterstützt von seiten der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Bündnis 90/Die Grünen) aus dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sowie durch die Jugendstadträtinnen Christine Keil (Die Linke) und Christa Markl-Vieto (Bündnis 90/ Die Grünen) aus den Bezirken Pankow sowie SteglitzZehlendorf. Wir müssen Druck aufbauen! Monika Herrmann, Bezirksbürgermeisterin von FriedrichshainKreuzberg Seit 15 Jahren wird der Landeshaushalt durch den Personalabbau in den Bezirken konsolidiert. Es heißt: Die Bezirke seien selbst verantwortlich wie sie ihr Personal ausstatten. Eine Lüge. Das Abgeordnetenhaus hat beschlossen, in den Bezirken nur noch 20 000 Vollzeitäquivalente zu belassen. Jedes Jahr bei der Haushaltsplanaufstellung werden die Personalmittel zu einem bestimmten Prozentsatz automatisch gekürzt. Es ist wichtig, immer wieder zu sagen, wer die Verantwortung dafür trägt. Der Landesgesetzgeber ist für den Haushalt zuständig, das Abgeordnetenhaus dafür verantwortlich. Wir müssen Druck aufbauen, dort, wo die Leute sitzen, die Verantwortung tragen für den Haushalt. Die CDU hat den Abbau des Personals im Abgeordnetenhaus gefeiert. Wir müssen die Lügen widerlegen und sagen, wie es in der Realität aussieht. Bald wird der große Jugendhilfetag stattfinden. Ein Leuchtturm Berlins wird das Kinderschutzsystem sein. Leute, wenn Ihr da seid, auf den Foren, sagt, dass der Kaiser keine Kleider anhat, wie es Euch geht! Sie feiern ihr Kinderschutzsystem, sind aber nicht bereit, es zu finanzieren. Das ist Betrug. Berlin muss lernen, diese Stadt von unten zu denken. Das gilt für Parteien, für die Presse und für die Gewerkschaft. Die Stadt von unten denken heißt, dass die Verwaltungen in den Bezirken optimal ausgestattet sind. Hier leben die Menschen. Wenn dort alles ausreichend finanziert wird, können wir überlegen, ob wir uns eine Landesbibliothek oder andere Leuchttürme leisten. Ich war eine der Jugendstadträtinnen, die sich gegen das sogenannte Musterjugendamt stellten. Denn das Modell orientiert sich nicht am Bedarf, an den Aufgaben, sondern wurde nach Kassenlage berechnet. Erst wenn wir eine verbindliche Zusage für die erforderlichen Stellen und deren Finanzierung bekommen, können wir dem Musterjugendamt zustimmen. Wir fordern, dass diese Praxis ein Ende hat, freie Stellen auch finanziert werden. Christine Keil, Jugendstadträtin in Pankow Nicht nur der Finanzsenator oder die Senatsverwaltung für Finanzen tragen Verantwortung für die Personalsituation in den Jugendämtern, sondern das Abgeordnetenhaus in Gänze. Dort werden der Haushalt und die Personalausstattung, Personalzielzahlen, beschlossen. Die Bezirke sollen sich immer wieder verteidigen dafür, dass sie Geld brauchen für die Arbeit im Jugendamt, welches Personal. Die Jugendämter haben sich dazu bekannt, eine Zielvereinbarung zu verabschieden. Sie wollen gute Arbeit abliefern, erwarten dafür entsprechende Anerkennung, auch durch ausreichend Personal und Geld. Mehr Personal heißt mehr Zeit für die Arbeit und für den einzelnen Fall. Wir brauchen Zeit, um inne zu halten, nachzudenken, was wir tun. Und nicht von Fall zu Fall hetzen. Wir brauchen Zeit, unsere Arbeit zu reflektieren, zu analysieren, Konzepte und Strategien zu entwickeln, aber auch für Fortbildungen. Die Konzepte der Jugendhilfe im Land Berlin sind vorbildlich. Wir brauchen Zeit, sie umzusetzen. Die Entgeltgruppe muss erhöht werden, dem Aufgabenspektrum der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter entsprechen. Es kann nicht sein, dass sie mit Ordnungsamtsmitarbeitern in der Vergütung verglichen werden. Personalnotsituationen bestimmen unseren Alltag. Ich werde mich auf jeden Fall für einen besseren Personalschlüssel einsetzen, für bessere Arbeitsbedingungen, dafür, dass wir gehört werden. 13 Demo „Kinderschutz braucht Zeit und Geld“ Fachbereich Gemeinden Mehr Raum und Zeit für Qualität Generationswechsel verschärft Lage Werner Roepke, ver.di-Landesbezirksfachbereichsleiter Gemeinden Ich bediene mich eines Satzes des deutschen Soziologen Max Weber: „Politik ist das Bohren dicker Bretter.“ Und ich sage Euch: Die Bretter in Berlin sind dick. Wir müssen noch eine Vielzahl von Dingen anpacken, Lobbyarbeit leisten und uns auch mal im Hauptausschuss des Berliner Senats sehen lassen. Ich habe gelesen: Die Jugendhilfe sei der größte Feind der Haushälter, weil sie besonders teuer sei. Sie müsse man deckeln. Und weil sie gedeckelt wird, reicht man den Druck an Euch weiter. Wer Milliarden für einen Flughafen ausgibt, muss auch Geld für vernünftige Arbeit bereitstellen. Wir fordern eine Begrenzung auf 28 Familiensysteme für eine Sozialarbeiterin, für einen Sozialarbeiter. Damit Raum und Zeit bleibt für mehr Qualität eines komplexen Falles. Wir stehen ein für geeignete Hilfen statt primärer Kostenreduzierung, sind gegen die Ökonomisierung der Sozialarbeit. Die Sozialarbeiter tragen eine hohe Verantwortung für den Kinderschutz. Dem muss die Politik auch gerecht werden. Wir unterstützen ausdrücklich den Kampf und die Forderungen unserer Hamburger Kolleginnen und Kollegen. Katharina Kaiser, Sozialarbeiterin im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf Wir können und wollen es nicht mehr aushalten, dass Stellen unbesetzt bleiben und Dauervertretungen die Regel sind! Alle Verantwortlichen im Bezirk versichern uns, dass sie für eine zügige Besetzung freier Stellen sorgen wollen. Nur bewegt sich viel zu wenig. Schwer zu verstehen und beunruhigend zugleich. Inzwischen konkurrieren Ämter um junge, interessante Bewerberinnen und Bewerber. Langsame Behörden wie bei uns in Charlottenburg-Wilmersdorf haben das Nachsehen. Wegen der langwierigen Verfahren vermittelt man den künftigen Kolleginnen und Kollegen nicht das Gefühl, herzlich willkommen zu sein. Aufgrund des Generationswechsels in allen Berliner Bezirken fragen wir uns: Wo bleiben wir, wenn die anderen schneller sind, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter woanders besser eingruppiert werden, so wie im Umland? Wir erwarten, dass alle beteiligten Ämter, Gremien und Personen im Bezirksamt gut zusammenarbeiten. Wir fordern ein Handeln im Verbund und ein Personalkonzept, um die Übergänge gestalten zu können. 14 Jetzt müssen Taten folgen! Finanzen angemessen verteilen! Peter Meyer, Mitglied der ver.di-Bundesfachgruppe Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe Es kann nicht sein, dass Kinderschutz einerseits öffentlich so betont wird und andererseits die Kolleginnen und Kollegen der RSD aller Berliner Bezirke sowie die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter vieler durchführender Träger immer öfter in extreme Situationen geraten, oft genug auf dem Zahnfleisch laufen. Und das, weil gesetzliche Vorgaben überbordende Sicherheitsbedürfnisse erzeugen, die nötigen Rahmenbedingungen fehlen, entsprechend der vorgegebenen gesetzlichen Gegebenheiten. Jetzt müssen den Worten der verantwortlichen Politiker und der leitenden Beschäftigten in der hiesigen Fachbehörde Taten folgen! Außerdem gehört das Thema in der kommenden Tarifrunde stärker in den Fokus. Christa Markl-Vieto, Jugendstadträtin im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf Für Familien wird es immer schwieriger, die täglichen Anforderungen zwischen Beruf und Familie zu meistern. Konflikte bleiben da nicht aus. Es sind die Jugendämter, die all das, was durch die Umstände nicht mehr funktioniert, richten müssen. Aber wir bekommen nicht die Ressourcen, um alles gut zu machen. Es müssen die Aufgaben geklärt, der Aufwand dafür definiert werden. Dem muss sich die Senatsverwaltung stellen, ihr Ressort kritisch unter die Lupe nehmen, die Zuweisungen angemessen und gerecht verteilen, die Kosten- und Leistungsrechnung neu gestalten. Hier müssen Vorschläge erarbeitet werden. Wir brauchen eine verantwortungsbereite Senatsverwaltung, die sich ernsthaft den Herausforderungen stellt. Wir brauchen Hilfe! 15 Wir sind ein Stück „Feuerwehr“ Erklärung der Beschäftigten der Regionalen Sozialpädagogischen Dienste der Berliner Jugendämter Wir, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendämter, arbeiten in einem sogenannten Hochrisikobereich, in dem die Verfahren und Abläufe sehr komplex sind. Wir holen alle Familienmitglieder und alle beteiligten Institutionen an einen Tisch, wir recherchieren und tragen Informationen zusammen, um auch komplizierteste Familiensituationen zu entwirren und den Kern des Geschehens zu verstehen. Wir erreichen viel, aber manchmal ist es schwer abzuschätzen, welche Hilfemaßnahme die geeignete ist. Elternrechte haben einen hohen Stellenwert, was die Vertretung von Kinderrechten an der einen oder anderen Stelle nicht einfach macht. Auch psychiatrische Gutachter, Ärzte, Richter und Fachleute sind sich in ihrer Einschätzung nicht immer einig. Jede Familiensituation ist anders und entwickelt sich auch immer wieder neu. Daher gibt es keine einfachen Lösungen. Die Bevölkerung achtet verstärkt auf den Kinderschutz und wir erhalten täglich sehr viele Meldungen. Dies ist positiv zu bewerten, denn die Aufmerksamkeit für das Leben von Kindern ist hoch. Wir sind ein Stück „Feuerwehr“ in Notfällen, wir beraten Trennungs- und Scheidungspaare und regeln mit ihnen den Umgang und den Kontakt zu ihren Kindern, wir unterstützen Jugendliche, die zuhause nicht zurechtkommen, wir unterstützen Familien mit Migrationshintergrund bei der Integration oder wissen Rat bei Erziehungsproblemen, bei Krisen und bei Krankheiten. Oft können wir hilfreich sein und auch kompetent weiterverweisen. Mit dem Ansteigen des Unterstützungsbedarfs sind auch die Kosten im Jugendhilfebereich in den letzten Jahren immer weiter angestiegen. Das bedeutet, wir haben immer mehr Familien zu betreuen, die vielfältige und schwerwiegende Probleme haben, und wir sind gleichzeitig angehalten, kosteneffizient zu verfahren und jede teure Hilfe auf den Prüfstand zu stellen. Wie sollen wir hilfreich für Familien sein, wenn wir unzumutbare Rahmenbedingungen vorfinden? Unsere Arbeit ist verantwortungs- und anspruchsvoll. Sie führt uns oft an die Grenzen der Belastbarkeit, bei mehr als 70 zu bearbeitenden Fällen, auch oft darüber hinaus. Dennoch erfüllen wir unsere gesellschaftlich wichtigen Aufgaben gern. Wir erwarten dafür allerdings von Politik und Arbeitgebern vernünftige Rahmenbedingungen und Wertschätzung. Zur Wertschätzung gehört auch, dass wir – anders als jetzt – angemessen bezahlt werden. Deshalb fordern wir: • eine Begrenzung auf 28 Familiensysteme, damit Zeit und Raum für die Erfüllung aller unserer Aufgaben bleibt und nicht nur auf Kinderschutzfälle reagiert werden kann. • Primat der Qualität eines komplexen Fallverstehens und der geeigneten Hilfen statt Primat der Kostenreduktion. Schluss mit dem Ökonomisieren der Sozialarbeit! • Eine angemessene Bezahlung, welche die Bedeutung und Verantwortung (Garantenfunktion im Kinderschutz) unserer Arbeit widerspiegelt. Wir unterstützen ausdrücklich die Forderungen unserer Hamburger Kolleginnen und Kollegen. Und wenn wir jetzt nicht weitreichende Unterstützung erhalten, dann müssen wir auch die Frage stellen, wer dann in Zukunft die Verantwortung für diese Politik trägt. Wir sind es nicht. Beschäftigte aller RSDen in Berlin IMPRESSUM Herausgeber: ver.di-Landesbezirksfachbereich Gemeinden Berlin-Brandenburg, Köpenicker Straße 30, 10179 Berlin Verantwortlich: Werner Roepke, ver.di-Fachbereichsleiter Gemeinden, mobil: 0170 57 48 535 29. April 2014 Text und Fotos: Renate Stiebitz, Tel.: 0331 622 834 Satz u. Layout: Rüdiger Metzler / fgl-werketage.de Herstellung: Druckerei Bunter Hund, Saarbrücker Straße 24, 10405 Berlin