Energie

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Energie
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5 Euro
02.03.2007
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www.zegna.com
1585_d_00_Titel
1585
Business Journal Deutsche Börse Group
Energie
• Aus der Tiefe • An der Börse • Auf dem Hochseil
1585_d_U2U3
03.03.2007
17:40 Uhr
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FOTOSTORY
CORPORATE & INVESTMENT BANKING
I
ASSET MANAGEMENT
I
PRIVATE WEALTH MANAGEMENT
I
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PRIVAT- UND GESCHÄFTSKUNDEN
Ihr direkter Weg, erfolgreich in neuen
Märkten zu landen.
Anders Petersen – Untitled from the series Gap, 2005
Für weitere Informationen: www.deutsche-bank.de
220x300_NewMarke_DE_BJdBG.indd 1
20.02.2007 9:36:48 Uhr
A. Petersen – Untitled from the series Gap, 2005
Walid Raad / The Atlas Group – My Neck Is Thinner Than A Hair, 2000–2003
Walid Raad / The Atlas Group – Already Been In A Lake Of Fire, 1999–2002
Philippe Chancel – Red Guard Cadet
Philippe Chancel – Kim Ill-sung S, before the celebrations begin
1585_d_03_Inhalt
03.03.2007
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1585 Energie
Nina Lüth, 36, hat sich alle Fotoideen in dieser Ausgabe überlegt und
sie umgesetzt. Die gebürtige Rheinländerin arbeitet für renommierte
Printmedien, Agenturen und Kunden im deutschsprachigen Raum.
Als Wahl-Berlinerin kennt Lüth strengen Frost und Schnee. Die klirrende
Kälte Islands aber war auch für die eiserprobte Fotografin und ihre
Technik ein Härtetest bei den Aufnahmen für die Titelgeschichte von
„1585“. „Die Sonne ging erst gegen 12 Uhr auf und am frühen Nachmittag schon wieder unter – da hieß es, schnell zu sein.“ Und
unerschrocken: Urplötzlich fauchte der Geysir Strokkur und schoss
vor ihren Füßen nahezu 30 Meter in die Höhe.
Lüth zuckte einen Moment – und drückte auf
den Auslöser ihrer Kamera. Das Ergebnis ist auf
dem Titel zu sehen. Den größten persönlichen
Energieschub brachte ihr die Begegnung mit
Konrad Thurano. „Sein Charme und seine Weisheit beeindrucken.“
06 REPORT
20 FEATURE
26 INTERVIEW
30 GUIDE
Das Land ohne Emissionen
Dank Wasserkraft und Erdwärme verfügt Island über
Energie im Überfluss. Jetzt investiert der Inselstaat in den
Treibstoff der Zukunft: Wasserstoff. Und wird damit zum
Vorkämpfer gegen den weltweiten Klimawandel.
Börse unter Strom
Seit der Liberalisierung ist
Europas Energiemarkt gehörig in Schwung gekommen.
An Marktplätzen wie der EEX
in Leipzig brummt das Geschäft megawattmäßig. Auch
die Finanzindustrie ist längst
elektrisiert.
„Ich mache immer weiter“
Konrad Thurano ist 98, hat die
ganze Welt bereist und steht
noch heute mit seinem Sohn
fast jeden Abend auf der Varieté-Bühne. Woher nimmt
der weltweit älteste aktive
Artist bloß die Energie und
Kraft?
Am Puls des Tigers
Keine Stadt in Irland profitiert
so sehr vom Wachstum des
„keltischen Tigers“ wie Dublin. Top-Börsianer Brian Healy
führt durch „seine“ City –
jenseits von Wirtschaft und
Finanzen. Plus Gewinnspiel:
Hotelwochenende für zwei.
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NEWS / IMPRESSUM
PORTRAIT Für Betroffene wie Hubert Wesseling ist die Diagnose ADS Fluch und Segen zugleich
FACTS & FIGURES Energieleistungen – von Menschen, Elefanten, Glühwürmchen und Börsen
KOLUMNE Anthony Hilton über Wohl und viel Wehe staatlicher Eingriffe in die Energiewirtschaft
FOTOSTORY Die vier Finalisten des Deutsche Börse Photography Prize 2007 und ihre Werke
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06.03.2007
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NEWS
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1 IN ZUKUNFT: STROMAUSFALL? Dass auf
2 ERSTE KOMMERZIELLE WELLENFARM Vor
Knopfdruck das Licht angeht, ist für die meisten Menschen in Europa
der Nordküste Portugals entsteht derzeit das erste kommerzielle Wel-
selbstverständlich. Mittlerweile häufen sich aber die Defekte: Anfang
lenkraftwerk der Welt. Drei jeweils 150 Meter lange Stahlröhren mit
Januar beschädigten Stürme Leitungen in Polen, Schweden und Wa-
einer Leistung von insgesamt etwa 2,25 Megawatt sollen mithilfe der
les, über eine Million Menschen saßen im Dunkeln. Im Herbst 2006
Meeresbewegung Strom erzeugen, um spätestens im Jahr 2008
waren weite Teile Deutschlands und der Nachbarstaaten ohne Strom,
etwa 1.500 Haushalte zu versorgen. Die Wellenfarm kostet acht Mil-
nachdem ein Energiekonzern eine wichtige Leitung abgeschaltet
lionen Euro. Die Konstruktionen bestehen aus jeweils vier Teilen, die
hatte. Dass es in Europa künftig häufiger zu Ausfällen kommen könn-
durch Gelenke miteinander verbunden sind. Wegen ihres Aussehens
te, zeigt die siebte European Energy Market Observatory-Studie, die
haben ihre Erfinder vom schottischen Unternehmen Ocean Power
das Beratungsunternehmen Capgemini Ende 2006 veröffentlicht hat.
Delivery Ltd. sie Pelamis (dt.: Seeschlange) getauft. Einen Prototyp
Demnach hapert es nicht nur an der Netzsicherheit, auch die Reser-
testen sie seit 2004 erfolgreich vor den britischen Orkneyinseln. Pe-
ven der europäischen Anbieter schrumpfen. Die durchschnittliche
lamis basiert auf einfachen physikalischen Prinzipien: Das Konstrukt
Spanne zwischen Angebot und Nachfrage lag 2005 zu Verbrauchs-
schwimmt auf den Wellen und passt sich flexibel Veränderungen an.
spitzenzeiten nur noch bei 4,8 Prozent – gegenüber 5,8 Prozent im
Hydraulische Generatoren wandeln die Bewegung in elektrische
Vorjahr. Die Gründe sind steigender Verbrauch und extreme Wetter-
Energie um. Ein Kabel am Meeresboden leitet den Strom zu einer
bedingungen. Die Stromkonzerne gaben in den vergangenen Jahren
Station an Land. Das Meer gilt als hoffnungsvoller Stromlieferant der
nach Recherchen von Capgemini immer weniger für Ausbau und In-
Zukunft. Das amerikanische Electric Power Research Institute schätzt
standhaltung von Anlagen und Netzen aus. 2004 lagen die Investi-
allein das Potenzial vor den US-amerikanischen Küsten auf 260.000
tionen denn auch mit etwa acht Prozent des Umsatzes auf einem
Gigawattstunden. Auch in europäischen Meeren schlummert unge-
Tiefpunkt. Zuletzt stieg die Quote zwar wieder auf zehn Prozent, liegt
nutzte Energie. Ein Bericht des Forschungsdirektorats der EU-Kom-
aber immer noch unter dem langjährigen Durchschnitt von zwölf Pro-
mission kam hier auf mehr als 300 Gigawatt Energiepotenzial im
zent. Neben einer Investitionsoffensive raten die Experten von Cap-
Meer. Zum Vergleich: Ein Atomkraftwerk kommt auf etwas mehr als
gemini zu einer simplen Strategie: Energie sparen.
ein Gigawatt Gesamtkapazität.
Internet: www.capgemini.com
Internet: www.oceanpd.com
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NEWS
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3 ABLASSHANDEL FÜR VIELFLIEGER Mit nur
beim Ticketkauf oder im Internet erwerben. Das Zertifikat für den
einem Flug von Frankfurt nach New York und zurück pustet jeder
Hin- und Rückflug Frankfurt–New York kostet etwa 80 Euro.
Passagier so viel klimaschädliche Gase in die Luft wie vier Inder zu-
Internet: www.atmosfair.de
sammen in einem ganzen Jahr. Der Anteil des Flugverkehrs am vom
Menschen verursachten Treibhauseffekt lag vor 15 Jahren bei etwa
4 ENERGIE IM DREIVIERTELTAKT Tanzen liefert
3,5 Prozent. Heute sehen ihn Wissenschaftler bei etwa zehn Prozent.
Herzpatienten (Lebens-)Energie. Das geht aus einer Studie hervor,
Die Alternative zum Fliegen kann in Zeiten der Globalisierung aber
die italienische Forscher vom Lancisi-Herzinstitut in Ancona kürzlich
auch nicht die totale Immobilität sein. Eine marktwirtschaftliche
vorstellten. Demnach erreichten die beteiligten herzkranken Men-
Lösung bietet da atmosfair, eine gemeinnützige GmbH, die aus einem
schen durch regelmäßige Walzertänze sogar bessere Fitnesswerte
Forschungsprojekt des deutschen Bundesumweltministeriums ent-
als Teilnehmer, die ein klassisches Aufbautraining auf dem Laufband
standen ist. Passagiere zahlen hier freiwillig für die von ihnen verur-
oder Fahrrad absolvierten. Nach acht Wochen hatte sich etwa ihre
sachten Klimagase. Mindestens 80 Prozent des Geldes werden in
Sauerstoffaufnahme um 18 Prozent verbessert, im Vergleich zu
Solar-, Wasserkraft-, Biomasse- oder Energiesparprojekte in Entwick-
16 Prozent bei der anderen Trainingsgruppe. Ärzte bewerten die Er-
lungsländern investiert, um dort genau die Menge an Treibhaus-
gebnisse als sehr interessant, da bei klassischen Rehabilitations-
gasen einzusparen, die eine vergleichbare Klimawirkung hat wie die
programmen etwa 70 Prozent aller Patienten vorzeitig aussteigen. Ein
Emission aus dem Flugzeug. Die Reisenden können die Zertifikate
Tanzkurs mache mehr Spaß und fördere auch soziale Kontakte.
IMPRESSUM
Herausgeber: Deutsche Börse AG, Neue Börsenstraße 1, 60487 Frankfurt am Main, Internet: www.deutsche-boerse.com, E-Mail: [email protected]
Chefredaktion Gruppe Deutsche Börse: Ulrich Meißner (V. i. S. d. P.), Andreas von Brevern, Ralph Kühn Verlag: corps. Corporate Publishing Services GmbH, Kasernenstraße 69,
40213 Düsseldorf Geschäftsführung corps: Holger Löwe, Wilfried Lülsdorf Redaktion: Florian Flicke (Ltg.), Lasse Dudde, Daniel Ferling, Birgit Gehrmann, Eva Grillo,
Anthony Hilton, Nicolas Nonnenmacher Objektleitung: Jan Leiskau Anzeigenleitung: Ralf Zawatzky, E-Mail: [email protected] Artdirection: formwechsel.de
Fotografie: Nina Lüth Übersetzung: Burton Münch & Partner, Düsseldorf Repro: ORT Studios, Berlin Druck: Rademann, Lüdinghausen Bestellnummer: 1000-2308
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Verwendung nur mit Genehmigung. ©2007 Gruppe Deutsche Börse
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Wunderschöne Naturgewalt:
Gullfoss, der „goldene Wasserfall“ östlich
von Reykjavik, ist der meistfotografierte
Islands. Die Wassermassen des Gletscherflusses stürzen über zwei Stufen
32 Meter hinab – und setzen unglaubliche Energie frei.
Das Land ohne Emissionen
Dank Wasserkraft und Erdwärme verfügt Island über Energie im Überfluss. Doch statt
nur zu prassen, investieren die Nordländer lieber in den Treibstoff der Zukunft: Wasserstoff. Der Inselstaat wird zum Vorkämpfer gegen den Klimawandel.
„Legen Sie bei der Abgabe den Wagenschlüssel einfach ins Handschuhfach“, sagt der Mann von der
Autovermietung am Flughafen. „Aber schließen Sie
nicht ab. Auf einer Insel macht es wenig Sinn, ein
Auto zu klauen.“
Ankunft in einem Land, in dem auch sonst so manches anders ist: Auf den 45 Kilometern der wenig
befahrenen Hauptstraße 41 vom Airport Keflavik zur
Hauptstadt Reykjavik bekommt der Besucher schon
eine erste Vorstellung, was es heißt, auf einer großen
Insel mitten im Nordatlantik zu leben: karge, menschenfeindliche Natur aus versteinerter Lava und
Geröll, so weit das Auge reicht. Vier Stunden Tageslicht im Winter, wenn sich die Sonne denn je einmal
durch die schwere Wolkendecke zu kämpfen vermag. Dazu ein eisiger Wind, der einem durch Mark
und Bein geht.
Highlife am Ende der Welt
Dann dies: Erreicht man nach einer guten halben
Stunde Autofahrt die Hauptstadt, erwartet den
Besucher alles andere als Lethargie und Leere: Auf
vier bis sechs Spuren rollen fast rund um die Uhr
Blechkolonnen aus hochgestelzten Pickups und
SUVs europäischer, amerikanischer und fernöstlicher
Bauart über die Ausfallstraßen. Moderne Gewerbegebiete wechseln sich plötzlich mit ansehnlichen
bunten Wohnsiedlungen ab: Reykjavik leuchtet, und
man hat den Eindruck, irgendwie mehr als jede
andere Hauptstadt. Überall, so scheint es, werden
weitere Bürotürme und neue Apartments hochgezogen, es wimmelt von Baukränen und futuristisch
anmutenden Glasfassaden, zuweilen könnte man
den Eindruck haben, weite Teile der isländischen Metropole seien erst vor wenigen Tagen fertiggestellt
worden.
Inmitten der Siedlungen stehen kleine Schuppen
mit Blechverkleidung. Aus einem dünnen Rohr
entweicht wattiger Dampf. Was auf den ersten Blick
wie eine fensterlose Würstchenbude wirkt, ist in
Wahrheit eine der vielen Druckausgleichsstationen
des einzigartigen Fernwärmesystems der Hauptstadt – unter Islands Erde kocht und brodelt es. Und
diesen Umstand haben sich die Wikingernachfahren inzwischen zunutze gemacht. Unverhofft ist das
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REPORT
Vom isländischen Wirtschaftswachstum – 5,9 Prozent im Jahr 2006 – kann Kontinentaleuropa nur
träumen. Auf der Insel im Nordatlantik herrscht
nahezu Vollbeschäftigung.
Land, das erst 1944 unabhängig wurde, zu einem
Zentrum und Anschauungsobjekt regenerativer
Energien geworden.
Während um Reykjavik herum der dunkle Atlantik mit seinen schäumenden Brechern droht,
die sich über den urtümlichen schwarzen Gesteinsund Lavaformationen auflösen, tobt davon völlig
unbeeindruckt auch zur kalten Jahreszeit ein junges
Leben auf den Straßen. Helle Kneipen und Shops
wechseln sich zwischen der Laugavegur und der
Lækjargata in einer Weise mit glitzernden Boutiquen
und schmucken Restaurants ab, dass man sich
ohne Weiteres auch in London, Mailand, München
oder Kopenhagen wähnen könnte. „Wir sind eben
ein echtes Power-Volk“, sagt die Physikstudentin
Gudbjörg, die im Szenetreff Kaffibarinn ein einheimisches „Viking“-Bier trinkt. „Vielleicht haben uns
Isländern gerade die widrigen äußeren Umstände
eine derartige Kraft gegeben.“
Vom Armenhaus zum Hort des Wohlstands
Noch vor 100 Jahren gehörte Island zu den Armenhäusern des alten Kontinents. Erst spät kam dann mit
dem Fischfang der Reichtum. Heute gehören die
Isländer zu den reichsten Bewohnern der Erde mit
einem der fünf höchsten Pro-Kopf-Einkommen
unter den Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD). Obwohl die Wikingernachfahren mit rund
800 Trawlern eine der weltweit größten Fischfangflotten betreiben und die weit überwiegende Mehrheit der Exporte in den Fanggründen erwirtschaftet
wird, steht längst der Dienstleistungssektor für sieben von zehn Arbeitsplätzen in der Inselrepublik.
Vom Wirtschaftswachstum in Höhe von 5,9 Prozent im vergangenen Jahr und prognostizierten
5,5 Prozent in diesem Jahr kann Kontinentaleuropa
nur träumen. Mit einer Arbeitslosenquote von
2,6 Prozent im Jahr 2006 und einem Beschäftigungsgrad von 84,2 Prozent verfügt Island über die besten Werte unter allen Industriestaaten der Erde. Es
herrscht nahezu Vollbeschäftigung auf der Nordatlantikinsel. Ausländische Arbeitskräfte, vor allem
aus Polen, Schweden, Portugal, Litauen und
Deutschland, sind begehrt. Laut isländischem Amt
für Statistik hat sich die Zahl der Arbeitsmigranten von 1998 bis 2005 auf rund 9.000 verdreifacht.
Auch die Zahl der Einheimischen hat sich im Gegensatz zu vielen anderen westlichen Staaten in den
vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht. Die Geburtenrate steigt ständig: Rund 300.000 Einwohner
zählt die Republik heute. Sollte der Trend anhalten,
könnten schon im Jahr 2013 350.000 Menschen auf
der Insel leben, sagen die Statistiker. „Lange hat
man von uns überhaupt keine Notiz genommen“,
meint Gudbjörgs Freund Janne. „Als kleine Nation
sorgt man eben eher selten für Schlagzeilen. Man
assoziierte uns in erster Linie mit der Popsängerin
Björk oder dem Islandtief.“
Nordische Mystik und Energie im Überfluss
Doch jetzt ist alles anders – und Island unversehens
weltweit Gesprächsstoff.
Fährt man weiter Richtung Osten ins Landesinnere, dorthin, wo das Wasser der Geysire wie aus
dem Nichts 20 oder 30 Meter in die Höhe schießt
oder siedend aus dem Boden blubbert, wo das Donnern des 32 Meter in die Tiefe stürzenden Wasserfalls Gullfoss alles andere übertönt, dann bekommt
die menschenleere Natur Islands für manchen Besucher plötzlich etwas Einschüchterndes. Und
man beginnt inmitten der ungezügelten Naturgewalten zu verstehen, weshalb viele Isländer nach wie
vor an die Welt der Elfen und Trolle glauben.
Vor allem versteht man aber, weshalb die Insulaner aus dem Norden einer der drängendsten Zukunftsfragen der Menschheit heute mit zunehmender Gelassenheit begegnen: der Energiefrage.
„Wir haben hier so viel Energie, dass wir gar
nicht wissen, wohin damit“, weiß Jónas Elíasson,
früher einmal stellvertretender Energieminister,
heute Unternehmer und so etwas wie der EnergiePapst des Inselreiches. „Und das Beste daran ist:
es handelt sich hier ausschließlich um regenerative
Energien.“ Das heißt heute: vor allem Wasserkraft
und Erdwärme.
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REPORT
Bereits Anfang des vergangenen Jahrhunderts begannen die Insulaner die Tatsache, dass Island zu
rund zwölf Prozent von Gletschern bedeckt ist, für
sich zu nutzen, indem sie die massiven Ströme des
Schmelzwassers in Wasserkraftwerke leiteten. Heute macht Wasserkraft mit 80 Prozent den Löwenanteil an der isländischen Stromversorgung aus. Und
das Potenzial wäre noch ausbaufähig. Bei Weitem.
Für die restlichen 20 Prozent Stromversorgung
sorgt ebenfalls Mutter Natur: Unter Island stoßen
die amerikanische und die eurasische Kontinentalplatte aufeinander. 200 Vulkane und ihre Lavafelder
bestimmen das Landschaftsbild. Schon seit 1940
nutzen die Isländer systematisch die unterirdische
Hitze und ihre heißen Quellen. Aus bis zu 2.000
Metern wird heute heißer Dampf mit einer Tempe-
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Nördlicher Vorposten Westeuropas:
Mit Breitengrad 64° 08’ ist Reykjavik
die nördlichste Hauptstadt der Welt, fast
auf dem Polarkreis. Doch hinter der
Fassade aus Eis und Schnee pulsiert
das Leben.
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REPORT
37 Grad Celsius:
So warm ist das Salzwasser
der Blauen Lagune, das sich
in einem früheren Lavafeld
angesammelt hat. Für die
Farbe sorgen die Kieselsäuremoleküle im Wasser, die das
Licht brechen. Ein weiteres
beliebtes Ausflugsziel ist das
Glücksbecken beim Geysir
Strokkur (rechts).
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REPORT
ratur von mehr als 200 Grad Celsius an die Oberfläche gefördert. Die Pipelines leiten die heiße Fracht
dann in die geothermischen Kraftwerke mit ihren
Wärmetauschern, die schon von Weitem an ihren
abgeleiteten Dampfwolken zu erkennen sind. Geradezu archaisch faucht es mitten in der Einöde aus
kleinen oder auch riesigen Schloten. Damit lassen
sich Häuser und Schwimmbäder beheizen und Turbinen antreiben, die Strom produzieren. Quasi als
Abfallprodukt sind inzwischen Wellness-Oasen wie
die „Blaue Lagune“ bei Grindavik im äußersten Südwesten entstanden, wo die heißen, schwefelhaltigen Quellen in Naturbecken geleitet werden. Längst
ist die Einrichtung nicht nur eine Feierabend- und
Wochenendattraktion für die Einheimischen, sondern zu einem der wichtigsten touristischen Highlights ausgebaut worden.
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Durchbruch für die Erdwärme
99 Prozent der Erdkugel sind heißer als 1.000 Grad. Doch bislang
wurde die Energiequelle Erdwärme in unseren Breitengraden kaum genutzt. Dank innovativer Technologien wandelt sich das Bild.
Ziel ist die emissionsfreie Gesellschaft
„Wir können uns energietechnisch also bestens
selbst versorgen“, freut sich Elíasson. „72 Prozent unserer gesamten Energieversorgung stammt aus
sauberen Quellen.“ Die restlichen 28 Prozent machen
fossile Energien wie Benzin oder Diesel aus. Auf
Island gibt es immerhin rund 190.000 Autos, dazu
Busse, Lastwagen, Traktoren und vor allem die
enorme Fischereiflotte. „Da wollen wir ran“, heißt
es entschlossen aus dem Umweltministerium. Tatsächlich hat sich die nordische Republik schon vor
drei Jahren nicht weniger zum Ziel gesetzt als den
kompletten Ausstieg aus der Ölwirtschaft und die
völlige Umstellung auf einen emissionsfreien Energieträger: Wasserstoff.
„Unser Ziel ist die kohlendioxidfreie Gesellschaft“, sagt Jónas Elíasson. „Irgendjemand muss ja
den Anfang machen. Denn irgendwann ist das Öl
aus. Und dass wir etwas für das Klima tun müssen,
weiß inzwischen jeder. Also wollen wir den Einstieg
in die Wasserstoffgesellschaft.“
Das Prinzip ist denkbar einfach: Brennstoffzellen
sind elektrochemische Stromerzeuger, die – ohne
den Umweg über die Wärme – direkt aus einer chemischen Verbindung Elektrizität erzeugen. Die
Heißwasserreservoire direkt unter der Erdoberfläche wie in Island sind
hierzulande eher selten. Neue Technologien wie das Hot-Dry-Rock-Verfahren (HDR) könnten nun aber auch der Erdwärme in Kontinentaleuropa im wahrsten Sinne des Wortes zum Durchbruch verhelfen. Beim
HDR-Verfahren bohren Forscher und Ingenieure in Tiefenbereiche von bis
zu 5.000 Metern.
Unterhalb der Erdoberfläche wird es mit jedem Meter heißer und heißer.
Während in den oberen zehn bis 20 Metern die Temperaturen mit zehn
bis zwölf Grad noch moderat sind, macht sich mit zunehmender Tiefe
der Einfluss des gewaltigen Wärmestroms aus dem Erdinneren bemerkbar. Faustregel: Pro 100 Meter Tiefe steigt die Temperatur um jeweils
drei Grad an. Im Erdkern vermuten Wissenschaftler Hitzerekorde von
5.000 bis 6.000 Grad.
Wenn man jetzt über ein Bohrloch Wasser in den Untergrund treibt,
kann es sich dort aufheizen und über ein zweites Bohrloch als heißer
Wasserdampf wieder nach oben befördert werden. So entsteht ein Kreislaufsystem, an das Erdwärmekraftwerke zur Stromerzeugung angeschlossen werden. Die heißen Gesteinsschichten im Erdinneren werden also
praktisch als Durchlauferhitzer verwendet. Ganz ohne Risiken und
Nebenwirkungen ist allerdings auch diese Technologie nicht. Im schweizerischen Basel löste ein Erdwärmeprojekt vor Kurzem mehrere Erdbeben aus – die Bohrungen wurden vorerst eingestellt.
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03.03.2007
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REPORT
Energie der Zukunft:
Energiefabriken wie in
der Nähe von Pingvellin
(links) nutzen die Kraft
der Quellen und finden
sich überall. Der Treibstoff der Zukunft soll
Wasserstoff werden –
erste Tankstellen gibt
es bereits (rechts).
Technologie basiert auf der Umkehr der elektrolytischen Zersetzung des Wassers. Bei der Elektrolyse
entstehen durch einen Stromfluss aus Wasser die
Gase Wasserstoff und Sauerstoff. Bei der Brennstoffzelle läuft die Wirkungskette genau anders herum.
Übrig bleibt hier reines Wasser, das dann durch das
Abgasrohr eines Fahrzeugs entweicht.
Für die Herstellung von Wasserstoff wird viel
Strom benötigt. Und den gibt es auf Island mehr als
reichlich. Aus dem sauberen Strom aus Wasserkraft
und Erdwärme könnte langfristig der Treibstoff der
Zukunft entstehen. Die Frage ist nur: Kann Island
mit seiner geologischen Besonderheit so einfach ein
Vorbild für die übrige Welt sein, wo Strom meistens
teuer und umweltbelastend produziert wird?
Der erste Schritt in die Zukunft ist getan
„Sicher ist die Umstellung kein Projekt, das man von
heute auf morgen bewältigen kann“, bekennt Jón
Björn Skúlason, Chef von Icelandic New Energy
(INE), einem Unternehmen, das den Weg zur sauberen Energie bahnen soll. Neben isländischen Firmen und dem Staat sind DaimlerChrysler, der Ölmulti Shell sowie der norwegische Energiekonzern
Norsk Hydro an der Firma beteiligt. Einen Anfang
hat man jedenfalls gemacht. Drei Wasserstoffbusse
aus dem Hause Daimler haben drei Jahre lang pro-
blemlos den Alltagstest im Liniendienst bestanden.
Als Nächstes soll eine Flotte aus Brennstoffzellenautos zwischen den Vulkanen, Geysiren und Wasserfällen unterwegs sein. Irgendwann will man sich
dann auch die Fischfangflotte mit ihren schweren
Dieselmotoren vornehmen. „In 30 Jahren wird
alles anders sein“, sagt INE-Boss Skúlason.
„Die Zeit der Theorie ist vorüber“, meint denn
auch Professor Herbert Kohler, Umweltbeauftragter
von DaimlerChrysler und Mitglied der Executive
Group der Europäischen Kommission zur Einführung einer Wasserstoffwirtschaft. „Wasserstoff
ist der Kraftstoff der Zukunft, zumal dann, wenn er
wie in Island aus regenerativen Quellen hergestellt
wird.“
Island hat eben eine Reihe von Vorteilen – neben
der Tatsache, dass niemand sein Auto abzuschließen
braucht.
Lasse Dudde, 42, fror bei zwölf Grad minus auf Island wie ein
Schneider und freute sich entsprechend über den Sprung in das heiße
Thermalbad bei Grindavik. Der Journalist aus Lübeck staunte auf
der Reise nicht schlecht, als er die vielen geöffneten Fenster der
Häuser sah: „Wahrscheinlich ist es mit der Energie wie mit dem Geld.
Man lernt das Haushalten nur, wenn sie knapp ist.“
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www.aignermunich.com
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Shop
Bonn • Markt 38-40 • Tel. 0228/654520
Düsseldorf • Königsallee 60 • Tel. 0211/3230955
Köln • Domkloster 1 • Tel. 0221/2577481
2500256_81_BusinessJDB_1B 1
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PORTRAIT
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Chaos im Kopf
Menschen mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) vollbringen aufgrund einer
Funktionsstörung im Gehirn häufig schöpferische Höchstleistungen, scheitern jedoch
auch oftmals an dieser Tatkraft. Hubert Wesseling hat beide Extreme durchlebt.
Der Zusammenbruch kam plötzlich. Ohne Vorwarnung, ohne Vorahnung. „Ich habe überhaupt nicht
gemerkt, dass ich ein Problem habe“, sagt Hubert
Wesseling (Name geändert). Ganz im Gegenteil, beruflich schien alles gut zu laufen: Gemeinsam mit
drei Geschäftspartnern hatte er sich in der Bauzuliefererindustrie selbstständig gemacht, verantwortete
den gesamten technischen Bereich und hatte innerhalb kürzester Zeit fast 60 Mitarbeiter eingestellt.
Doch der Erfolg hatte Kehrseiten: Arbeitstage von
zwölf bis 14 Stunden waren die Regel, Wesseling
machte immer mehr Fehler, bekam zunehmend Probleme mit seinen Geschäftspartnern, Mitarbeitern
und Kunden. „Irgendwann wurde der Druck dann zu
groß und ich erlitt einen Nervenzusammenbruch“,
so Wesseling.
Aufbrausend und niedergeschlagen zugleich
Kreativer Wirrwarr:
ADS-Betroffene wie
Hubert Wesseling sind
impulsiv und unkonzentriert. Zugleich sind sie
aber auch häufig geniale
Denker, Erfinder oder
Firmenchefs.
Der Unternehmer wurde in eine Universitätsklinik
eingeliefert. Dort diagnostizierten die Ärzte schwere
Depressionen – und das Aufmerksamkeits-DefizitSyndrom (ADS). Bei Menschen, die von ADS betroffen sind, funktioniert – lapidar formuliert – ein Teil
des Gehirns anders. Das dopaminerge System, das
Sinneseindrücke, Emotionen und Handlungsplanungen ordnet und dämpft, ist bei ihnen gestört. Diese Störung hat einerseits sehr unangenehme Folgen.
ADS-Betroffene sind häufig impulsiv, aber auch
schneller erschöpft, und leiden unter einer mangelnden Feinsteuerung der Aufmerksamkeit: Sie sind
unkonzentriert, lassen sich leicht ablenken und halten in ihrem Tun selten lange aus. „ADSler haben
darüber hinaus immer Probleme, Zeiten richtig abzuschätzen. Häufig ist auch die Feinmotorik beeinträchtigt“, erklärt Wesseling.
Andererseits versucht das Gehirn, seine Störung
zu kompensieren und verhilft den Betroffenen oft
zu schöpferischen und kreativen Höchstleistungen.
ADSler seien Schnelldenker, erklärt Wesseling. Sie
schafften das in einem einzigen Gedankenschritt,
wofür andere Menschen sechs bis sieben Stufen benötigten. „Wenn die anderen dann die Gedanken
des ADSlers nachvollziehen können, ist dieser meist
schon sehr viel weiter. Das macht die Betroffenen
oft zu Außenseitern und Mobbingopfern“ – und zu
Verlierern in einer Arbeitswelt, in der Teamfähigkeit und soziale Kompetenz ständig an Bedeutung
gewinnen.
Zugleich sind diese Menschen oft auch geniale
Denker, Erfinder oder Unternehmer: Wissenschaftler sind aufgrund der jeweiligen Biografien überzeugt, dass Leonardo da Vinci, Albert Einstein und
Bill Gates ADS hatten beziehungsweise haben,
ebenso wie Wolfgang Amadeus Mozart, Kaiserin
Sissi oder Wilhelm II. Vermutlich tritt das Phänomen bei etwa jedem zehnten bis zwanzigsten
Menschen auf dieser Erde auf. Häufig wissen die Betroffenen jedoch gar nichts von ihrer Besonderheit.
Später Durchstarter
Auch Hubert Wesseling ahnte bis zu seinem Zusammenbruch nicht, dass sein Gehirn anders funktioniert als bei den meisten Menschen. Rückblickend
betrachtet hat er jedoch eine typische ADS-Karriere
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PORTRAIT
Andenken und Mahnmal zugleich:
Wesselings Garage sieht aus wie jede
andere auch. Doch Schubkarre, Spaten oder Blaumann erinnern den einstigen Bauunternehmer zugleich an die
schwerste Phase seines Lebens.
durchlaufen. An seine Kindheit erinnert sich Wesseling kaum. „Ich weiß nur noch, dass ich sehr unruhig war, meine Eltern und Lehrer mussten mich immer ermahnen stillzusitzen“, so Wesseling. Sich
selbst beschreibt er als „Spätzünder“, der zunächst
die Hauptschule besuchte und zwischenzeitlich
sogar Gefahr lief, auf die Sonderschule abzurutschen.
„Der Kick kam dann mit 14, 15 Jahren“, sagt Wesseling. Mit Beginn seiner Maurerausbildung konnte
er theoretisches Wissen mit praktischer Arbeit verquicken. „Das hat mich sehr viel weiter gebracht.
Danach war ich kaum noch zu halten.“ Mit nahezu
unglaublicher Energie schloss Wesseling seine Lehre
als einer der fünf Besten von 120 Auszubildenden
ab, holte einen höheren Schulabschluss nach. Er studierte Bautechnik, arbeitete zunächst als Projektleiter, dann als Abteilungsleiter mit 40 Mitarbeitern
und wagte schließlich den Schritt in die Selbstständigkeit. „Mir fehlte in der Zeit einfach die Bremse.
Ich habe immer weiter gearbeitet, ohne irgendwelche Erholungsphasen“, so Wesseling. So lange, bis
sein Körper die weitere Arbeit verweigerte.
Für Wesseling folgten drei Monate in der geschlossenen Psychiatrie. „Das war die Hölle“, sagt er
rückblickend. Selbst die einfachsten Dinge fielen ihm
schwer: „Ich war kaum in der Lage, mich selbst anzuziehen. Und wenn ich den Tisch decken musste,
war ich nachher schweißgebadet.“ Geholfen haben
ihm in dieser harten Zeit seine Familie, der Freundeskreis und der Glaube an Gott. „Ohne diese drei
Stützen hätte ich die Zeit wahrscheinlich nicht so gut
überstanden.“
ADS meist ein Leben lang
Ohnehin hat der heute 41-Jährige großes Glück gehabt, dass die Ärzte die Funktionsstörung in seinem
Gehirn überhaupt erkannt haben. Was sich als Zappelphilipp-Phänomen bei Kindern in den vergangenen 20 Jahren zum Modethema entwickelt hat,
über das bereits viel geforscht wurde, ist im Erwachsenenbereich noch kaum untersucht. Das renommierte „Deutsche Ärzteblatt“ kam im Jahr 2004 immerhin zu dem Ergebnis, dass 1,3 bis 4,7 Prozent
aller in Deutschland lebenden Erwachsenen von ADS
betroffen seien. 30 bis 70 Prozent der Kinder behalten
ihre Störung auch nach der Pubertät – das ist seit
etlichen Jahren bekannt. Das Durcheinander im Gehirn kann allerdings gedämpft werden, etwa mit der
amphetaminähnlichen Substanz Methylphenidat,
besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin. Es
ist der Medizin jedoch bis heute noch nicht gelungen, das ADS-Chaos komplett zu ordnen. Auch die
Ursachen von ADS sind längst noch nicht umfassend erforscht. Sicher scheint nur, dass die Vererbung
eine dominierende Rolle spielt. Betroffene betrachten
ADS daher häufig als lebenslange Charaktereigen-
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PORTRAIT
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Das Zuhause als Stütze:
Nach dem Kollaps verbrachte der 41Jährige Monate in der geschlossenen
Psychiatrie – und drohte durchzudrehen.
„Ohne Familie, Freunde und Gott“ hätte
er die Zeit kaum überstanden.
schaft, vergleichbar mit der Körpergröße, der Haaroder Augenfarbe. Mit dieser Eigenschaft müssen sie
leben, ob sie wollen oder nicht.
Eine Gabe, keine Krankheit
Inzwischen hat Wesseling sich mit ADS arrangiert,
sein Leben auf die besondere Funktion seines Gehirns eingerichtet. „Auch wenn ich aufgrund von
ADS einige Probleme hatte – ich betrachte es als
Gabe und nicht als Krankheit“, sagt er. Schließlich
habe er während seiner Selbstständigkeit in der
wenig innovativen Baubranche nebenbei drei Patente angemeldet, erklärt er nicht ohne Stolz. Und auch
heute arbeitet er wieder als Freiberufler im Bereich
Forschung und Entwicklung. Sein stärkster Halt ist
dabei seine Familie. „Meine Frau ist der ruhende Pol
in meinem Leben. Sie zieht die Fäden in der Familie,
kümmert sich um die Organisation“, sagt Wesseling. Er selbst lebt inzwischen nach strikten Zeitplänen, hat sich gezwungen, Bremsen in sein Leben
einzubauen. „Mehr als drei bis dreieinhalb Stunden
pro Tag arbeite ich nicht mehr. Und da ich hierzu
nicht jeden Tag in der Lage bin, nehme ich nur Aufträge an, die ich mit einer Arbeitszeit von sieben bis
acht Stunden pro Woche bewältigen kann“, sagt
Wesseling. Zwar verdiene er deutlich weniger Geld
als früher, sei aber auch wesentlich glücklicher.
„Nach dem Zusammenbruch hab ich mich komplett
aus meinem Unternehmen zurückgezogen. Ich wollte einfach einen Schlussstrich unter mein bisheriges Leben ziehen.“
Natürlich gibt es auch heute noch Phasen im Leben von Hubert Wesseling, in denen er sich mit viel
Energie einer Sache widmen kann. Diese nutzt er,
um sich noch intensiver mit ADS auseinanderzusetzen. „Ich arbeite schon lange ehrenamtlich in der
Strafgefangenenseelsorge“, sagt Wesseling. Unter
Inhaftierten gibt es überdurchschnittlich oft das
Phänomen ADS. Betroffene ecken im Alltag häufiger an, haben Probleme damit, ihr Leben auf die
Reihe zu bringen – und tragen damit bereits in sich
ein höheres Risiko, auf die schiefe Bahn zu geraten.
„Mein Wunsch ist es, mich um genau diese Gefangenen zu kümmern.“ Und seine Erfahrungen an all
diejenigen weiterzugeben, die es noch schlimmer
erwischt hat.
Daniel Ferling, 29, hat sich für diesen Artikel erstmals mit ADS
beschäftigt. Fasziniert von der Vielschichtigkeit des Phänomens wird
er das Thema weiterverfolgen – und für Leser, die sich in einer
ähnlichen Situation befinden, gern den Kontakt zu Hubert Wesseling
herstellen.
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Energieleistungen
Leuchtkraft: Glühwürmchen sind bei der Energieumwandlung
Gieriger Rüssel: Rund 250.000 Kalorien nimmt ein ausge-
äußerst effektiv. 95 Prozent der sofort verfügbaren Energie in
der Zelle, Adenosintriphosphat oder kurz ATP genannt, wandeln sie zu Licht um. Bei einer Glühbirne gehen 95 Prozent
der elektrischen Energie als Wärme verloren, so die Forscher der
deutschen Max-Planck-Gesellschaft.
wachsener Elefant zu sich – täglich. Die niedlichen Pandabären
verschlingen immerhin noch 20.000 Tageskalorien. Ein Mann
mit normaler Tätigkeit sollte am Tag nicht mehr als 2.600 Kalorien aufnehmen, sonst wird er zu dick. Frauen kommen auf
einen täglichen Bedarf von 2.300 Kalorien. Eine Maus bringt es
gerade mal auf 20 Kalorien täglich.
Schwere Öle, leichte Pilze: Eine Kilokalorie entspricht der
Energiemenge, die benötigt wird, um einen Liter Wasser um
ein Grad zu erwärmen. Dabei hat Wasser selbst keine Kalorien.
Umso mehr haben jedoch Öle und Schmalze. 100 Gramm
Weizenkeimöl haben zum Beispiel 900 Kalorien. Gefolgt von
Sojaöl (899), Schweineschmalz und Sonnenblumenöl (je 898),
Olivenöl und Butterschmalz (je 897) sowie Erdnussöl (895). Wenige Kalorien haben hingegen Pilze. Austern-, Butter- und Steinpilze sowie Champignons kommen jeweils nur auf elf, zwölf,
27 und 21 Kalorien pro 100 Gramm.
Effizienter Drahtesel: Fahrräder setzen die Muskelkraft des
Radlers zu 90 Prozent in Bewegung um – ein Topwert. Die
Dampfturbine eines Kraftwerks vergeudet weitaus mehr Energie. Ihr Energieeffizienzwert liegt bei gerade 35 Prozent, der
des Auto-Benzinmotors nur bei 20 bis 25 Prozent.
Langschläfer: Um beim Winterschlaf Energie zu sparen, senken manche Tiere nicht nur Herzschlag, Körpertemperatur
und Atemfrequenz ab, sondern verkleinern auch Organe wie
Darm und Magen um die Hälfte. Der größte Faulpelz unter
den Winterschläfern ist laut Veterinärmedizinischem Institut
der Universität Wien der Siebenschläfer. Sechs bis acht Monate schlummert er vor sich hin. Murmeltiere, Haselmäuse und
Schildkröten bringen es auf sechs Monate.
Stromfresser Kühlschrank: Kühl- und Gefriergeräte machen
nach Recherchen der Lokalen Agenda 21 Allensbach durchschnittlich etwa 29 Prozent des Gesamtstromverbrauchs eines
vierköpfigen Haushalts aus. Herd und Backofen verbrauchen
dagegen nur etwa 15 Prozent der Energie. Waschmaschinen „verschleudern“ bis zu neun Prozent.
Mehr Hirn: Das Gehirn eines Dreijährigen verbrennt doppelt
so viel Energie wie das eines Erwachsenen, da die tägliche Lernleistung um Einiges höher ist. Das bleibt so, bis das Kind etwa
zehn Jahre alt ist. Danach nimmt die Aktivität des Gehirns wieder ab, sodass im Alter von 18 Jahren der durchschnittliche
Energieverbrauch erreicht ist. Der Grund: Bei Neugeborenen hat
jede Hirnstelle 2.500 Kontakte mit anderen Nervenzellen, bei
Dreijährigen schon 15.000. Später selektiert der Mensch die Verbindungen durch Erfahrungen, sodass nur die übrig bleiben,
die er regelmäßig braucht. Die anderen verkümmern.
Kein Witz: Dass Lachen gesund ist, ist dem Volksmund schon
lange bekannt. Dass es auch gut für die Figur ist, ist neu – und
ein Forschungsergebnis der Vanderbilt University in Nashville,
Tennessee. Zehn bis 15 Minuten Lachen am Tag verbrennen
zehn bis 40 Kalorien. Umgerechnet aufs Jahr bedeutet dies einen
Gewichtsverlust von durchschnittlich zwei Kilogramm.
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FACTS & FIGURES
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Aufs Treppchen: Treppensteigen ist um Einiges effektiver als
zum Beispiel Joggen. Ein normalgewichtiger Mann verbrennt
etwa 200 Kalorien, wenn er zehn Minuten Treppen steigt. Würde er genauso lange joggen, betrüge der Energieverbrauch nur
125 Kalorien. Bei einem zusätzlichen Verbrauch von 2.000
Kalorien durch Treppensteigen pro Woche lässt sich das Herzinfarktrisiko statistisch um mehr als 50 Prozent senken.
Gejagter Jäger: Der Gepard ist der schnellste Läufer der
Welt und lebt trotzdem gefährlich. Während der Hetzjagden
verbraucht die Wildkatze so viel Energie, dass schon vier
missglückte Jagdversuche den Hungertod herbeiführen können.
Außerdem kann er sein Tempo von maximal 115 km/h nur etwa
500 Meter lang halten, da seine Körpertemperatur auf bis zu
41 Grad Celsius ansteigt und Überhitzung droht. Nach einer Jagd
ist der Gepard so erschöpft, dass er für 30 Minuten nicht fressen kann und anderen Raubtieren ausgeliefert ist.
Energie an der Börse: Das Angebot an Aktien, Fonds
oder derivativen Finanzprodukten zum Thema Energie wächst
stetig. Aktuell liefert die „Kurssuche“ auf der Internetseite
„Deutsche-Boerse.com“ für die Stichworte „Energie“ und
„Energy“ fast 200 Aktien, 64 Indizes, 22 Exchange Traded
Funds, nahezu 500 Anlage- und Hebelprodukte sowie fünf
Anleihen (Stand: 1. März 2007).
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FEATURE
Die Pulsader der Strombörse:
Acht Mitarbeiter in der Marktsteuerung
der EEX überwachen und steuern auf
ihren Bildschirmen die Geschäfte auf
den elektronischen Spot- und Terminmärkten. Neben Strom werden dort
Kohle und Emissionszertifikate gehandelt. Spätestens im Oktober soll der
Startschuss für den Gashandel fallen.
Börse unter Strom
Die Elektrizität kommt nach wie vor aus der Steckdose. Doch beim Energiehandel ist seit
der Marktliberalisierung in Europa nichts mehr wie früher. An Marktplätzen wie der
European Energy Exchange in Leipzig werden zunehmend auch Finanzanbieter elektrisiert.
U
nd nach den Nachrichten noch ein kurzer Blick an die
Börse. Der Phelix notiert aktuell bei …“ Phelix? Zugegeben:
Noch spielt der „Physical Electricity Index“ in den Wirtschaftssendungen im Fernsehen kaum eine Rolle. Doch die wachsende
Bedeutung des Themas Energie und der Erfolg der mehr als
ein Dutzend Energiebörsen in Europa könnten das Szenario bald
Wirklichkeit werden lassen.
Strom, Kohle und Gas an der Börse
Der Phelix ist das tägliche Preisbarometer für die aktuellen Spotmarkt-Strompreise in Deutschland. Seine Mutter ist die European Energy Exchange AG in Leipzig, kurz EEX. Nach der
Osloer Nord Pool ASA, dem gemeinsam betriebenen Handelsplatz von Norwegern, Schweden, Dänen und Finnen, ist die EEX
die Nummer zwei unter den europäischen Energiebörsen. Dabei ist Nord Pool nicht nur Konkurrent, sondern auch Aktionär.
Der nordische Verbund hält 17,4 Prozent der EEX-Anteile,
genauso viel wie die Sachsen LB. Größter Einzelaktionär ist mit
23,2 Prozent die Eurex Zürich AG.
Der Startschuss für die Energiebörsen fiel 1998, als auf Druck
der Europäischen Kommission der europäische Energiemarkt
liberalisiert wurde. Ein Jahr später begann der Handel in Leipzig.
Doch erst seit 2002, nach der Fusion der LPX Leipziger Power
Exchange und der bisherigen EEX in Frankfurt am Main,
kommt das Geschäft so richtig auf Touren. Allein im vergangenen Jahr hat sich das Handelsvolumen bei Strom nahezu verdoppelt. Doch die EEX trüge ihren Titel als „Energiebörse“ umsonst, wenn Strom das einzige Standbein wäre: Das Business
mit Kohle und Kohlendioxid läuft schon, den Start der Gasbörse
plant Dr. Hans-Bernd Menzel, Vorstandsvorsitzender der
EEX, spätestens zum Oktober.
Highnoon ist Auktionszeit
Wie beim Vorbild Strom soll es auch für Gas einen Spotmarkt
und einen Terminmarkt geben. Der Spotmarkt mit Aushängeschild Phelix ist ein Day-Ahead-Markt: Hier wird täglich ab
8 Uhr auf einer elektronischen Handelsplattform der Strom
gehandelt, der am nächsten Tag von 0 bis 24 Uhr durch die
Netze fließt. „Die momentan 158 Teilnehmer im Spotmarkt der
EEX kaufen und verkaufen hier den Strom mit physischer
Lieferung“, sagt Toralf Michaelsen, Leiter der Marktsteuerung
bei der EEX. „Physische Lieferung“ bedeutet, dass nach dem
Geschäft auch tatsächlich Strom fließt. Doch dass Elektrizität
aus Norddeutschland am nächsten Tag etwa in Münchner
Haushalten ankommt, fällt nicht in die Zuständigkeit der
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FEATURE
Große Perspektiven am traditionsreichen Standort:
Die EEX residiert im nobel sanierten „Städtischen Kaufhaus“ mitten in der Leipziger Altstadt. Doch im Tagesgeschäft bleibt Börsenchef Hans-Bernd Menzel (oben
links) kaum Zeit, die reich verzierte neobarocke Fassade zu würdigen. Er setzt verstärkt auf das Stromtermingeschäft und den Emissionshandel.
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FEATURE
43 Mitarbeiter bei der EEX in Leipzig. Nach einem SpotmarktAbschluss liefern sie die Handelsdaten in Form von sogenannten Fahrplänen an die Betreiber der Übertragungsnetze, die
dann die Schalter umlegen und die Lieferung garantieren. Beim
Spotgeschäft gibt es die Varianten fortlaufender Handel und
Auktionshandel. Um 12 Uhr wird beim Auktionsverfahren für
jede der 24 Einzelstunden des nächsten Tages ein Strompreis
ermittelt.
Mit rund 90 Prozent Marktanteil ist die EEX Europas Platzhirsch
im Segment Spotmarkt. Dennoch werden „nur“ 18 Prozent des
deutschen Stromvolumens oder knapp 90 Terawattstunden
am Spotmarkt gehandelt „Die meisten Stromverträge sind langfristig ausgerichtet. Am Spotmarkt dagegen werden nur die
Volumina gehandelt, die noch kurzfristig zu haben sind“, erklärt
Menzel, der vor seinem Wechsel nach Leipzig geschäftsführender Gesellschafter einer Unternehmensberatung in Frankfurt am
Main war.
„Kartellverdacht aus der Luft gegriffen“
Den in sich ruhenden, gebürtigen Rheinländer kann nichts aus
der Fassung bringen – außer der Vorwurf, der Spothandel an der
EEX sei manipuliert, die Börse ein Kartell und die Preise seien
überhöht. Politiker aus Bund und Ländern hatten die EEX in den
vergangenen Monaten mitunter massiv angegriffen und für die
hohen Strompreise in Deutschland verantwortlich gemacht. „Es
gibt nicht, wie fälschlicherweise häufig behauptet wird, nur
vier dominierende Stromanbieter, die Handel und Preise unter
sich aufteilen würden“, so der 51-Jährige. Tatsächlich gebe es
unter den derzeit 158 Teilnehmern im Spotmarkt jeden Monat
mindestens 40 Nettoverkäufer. „Viele der sogenannten Verbraucher im Markt verfügen über eigene Kraftwerke oder Stromnutzungsverträge, die den Weiterverkauf des eingekauften
Stroms erlauben. Umgekehrt muss so mancher Erzeuger beim
Ausfall eines Kraftwerks Strom kurzfristig zukaufen.“ Ein Anfang dieses Jahres fertiggestelltes Gutachten der Anwaltskanzlei White & Case LLP und des Beratungsunternehmens Nera
Economic Consulting im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Arbeit – der für die EEX zuständigen Aufsichtsbehörde – spricht die Börse ebenfalls von jedem
Verdacht frei.
Silvester gab es Strom praktisch umsonst
Auch die jahreszeitlichen Preisausschläge am Markt bestätigen
Menzels These vom lebhaften Handel: Im Extremjuli 2006
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kostete eine Megawattstunde Strom am Spotmarkt in der
Spitze etwa 2.400 Euro, in den letzten Dezemberstunden des
Jahres gab es ihn dagegen gelegentlich umsonst. Der Preisverfall
hat einen simplen Grund: Einmal erzeugter Strom ist nicht
speicherbar – und muss auf den Markt. Da um den Jahreswechsel herum jedoch Millionen Menschen auf den Straßen unterwegs sind, Raketen in die Luft schießen und Sektkorken knallen
lassen, aber selten Waschmaschine und Trockner anstellen,
Staub saugen oder am PC sitzen, ist der Preisrutsch zum Jahreswechsel die logische Folge des Wechselspiels von Angebot und
Nachfrage.
Britische Banken und deutscher Strom
Viel bedeutender für Gegenwart und Zukunft der EEX und aller
übrigen Strombörsen in Europa ist indes der Terminhandel.
Hier können die derzeit 76 Teilnehmer bereits heute den Preis
für künftige Monats-, Quartals- oder Jahreslieferungen an
Strom aushandeln. „Neben der Absicherung von Strompreisen
eignen sich die Warentermingeschäfte auch für spekulative
Zwecke und zur Arbitrage“, so Toralf Michaelsen. So hat der
Käufer einer Stromlieferung auf Termin bis zum eigentlichen
Liefertermin Zeit, den Strom mit Profit an der EEX weiterzuverkaufen – wenn seine Rechnung aufgeht und der Strompreis
weiter steigt. Ausländer dominieren unter den Teilnehmern.
„Unsere ausländischen Handelsteilnehmer kommen vor allem
aus der Schweiz, aus Osteuropa, selbst aus den USA“, sagt
Menzel. Doch den größten Block machen mit 21 Teilnehmern
Banken mit Sitz in London aus. Barclays Bank PLC, Deutsche
Bank AG oder Morgan Stanley haben den Stromhandel für sich
entdeckt. Doch was will eine ausländische Bank mit deutschem
Strom? „Die Banken haben entsprechende Terminprodukte
auf der anderen Seite stehen, die sie bei uns absichern müssen“,
erklärt Menzel.
Insgesamt wurden auf Spot- und Terminmarkt im Jahr 2006
mehr als 1.100 Terawattstunden in Leipzig gehandelt – und auch
abgerechnet. Das übernimmt die im vergangenen Jahr ausgegründete Tochter European Commodity Clearing AG. Das integrierte Modell aus Handel und Clearing bei der EEX kommt
damit dem Konzept der Gruppe Deutsche Börse sehr nahe. Auch
sonst gibt es viele Parallelen und Schnittstellen. Seit 2004
betreibt Information Technology der Deutschen Börse auf ihren
Systemen den gesamten Stromhandel im Spot- und Derivatemarkt der EEX – vom Handel über das Clearing bis zur Abwicklung. Die EEX übernimmt mit ihren Systemen auch immer
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FEATURE
Wichtige Terminsache Energie
Entwicklung von Spot- und Terminmarkt an der EEX
1.133
Terawattstunden
(TWh)
1.044
603
391
398
151
43
4
2000
89
2001
2002
2003
Terminmarkt
Spotmarkt
2004
2005
2006
PIEA. Das Kürzel steht für Periode I des Kyoto-Protokolls, die
Ende 2007 endet. EA bedeutet EU-Allowance, also europäische
Emissionsrechte. Das EU-Handelssystem funktioniert nach
dem Prinzip des „Cap and Trade“: Zu Beginn wird die maximale
Emissionsobergrenze aus Industrieanlagen, die unter das
System fallen, und damit die Zahl der Rechte festgelegt. Für die
Ausgabe sind die einzelnen Mitgliedsländer der EU zuständig.
Wer anschließend mehr aus den Schornsteinen pustet, als er
Rechte besitzt, muss anderen Unternehmen an der Börse
welche abkaufen – das Spiel von Angebot und Nachfrage hat begonnen. In Periode I waren die Zertifikate für die Industriefirmen bei der Zuteilung kostenlos – und erhielten erst an der
Börse ihren Preis. In der nächsten Handelsperiode, die 2008
beginnt, können allerdings bis zu zehn Prozent der Rechte versteigert werden. Umwelt- und Finanzminister sind, aus unterschiedlichen Motiven, Feuer und Flamme. Auch der deutsche
Bundeswirtschaftsminister Michael Glos denkt um: „Wenn man
den Marktpreis als die ausschlaggebende Größe beim Zertifikatehandel akzeptiert, spricht nichts dagegen, künftig Zertifikate im Stromsektor zu verkaufen oder zu versteigern.“
Quelle: EEX
mehr Clearing-Aufgaben für außerbörsliche Geschäfte, im Fachjargon OTC-Market. In dieser Sparte des Großhandelsmarkts
handeln Anbieter und Nachfrager ohne Umweg über die Börse
direkt untereinander individuelle Produkte wie Forwards. Das
Clearing befreit sie von dem daraus resultierenden Ausfallrisiko,
das es beim Börsenhandel nicht gibt. Hinter Forwards verbergen sich außerbörslich gehandelte, individuell gestaltete Festgeschäfte mit einer fixen Laufzeit. Ist deren Ende erreicht, muss
bei physischen Forwards der Basiswert Strom zum vorab vereinbarten Preis geliefert oder abgenommen werden. Daneben gibt
es Forwards mit finanzieller Erfüllung.
Hans-Bernd Menzel freut sich über das ständig bessere Klima
in Sachen Emissionshandel. Noch macht das Geschäft mit den
Zertifikaten (erst) fünf Prozent des EEX-Umsatzes aus, der im
Geschäftsjahr 2005 insgesamt etwa 23,5 Millionen Euro betrug.
Eindeutiger Marktführer mit rund 80 Prozent Marktanteil
beim Emissionshandel ist die European Climate Exchange (ECX)
in Amsterdam. Doch Menzel will kräftig aufholen – und setzt
dabei auf zusätzliche Branchen neben der Industrie, etwa auf die
Landwirtschaft und vor allem auf eine Ausdehnung des CO2Handels auf Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien.
Damit künftig nicht mehr allein der Phelix aus Leipzig die
Schlagzeilen für das Wirtschafts-TV liefert.
Prima Klima an der Energiebörse
Das Geschäft der Zukunft verspricht jedoch der Handel mit
Emissionszertifikaten zu werden. „Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es die Möglichkeit, über einen Marktmechanismus
den Umweltverbrauch mit einem Preis zu versehen“, freut sich
Menzel. Am 9. März 2005 fand an der EEX europaweit die erste
Spotauktion für Emissionsrechte statt, im August desselben
Jahres begann der fortlaufende Handel – ebenfalls auf Xetra®. Wie
jede Aktie tragen die Emissionsrechte eine Wertpapierkennung:
Florian Flicke, 37, freute sich als studierter Volkswirt
bei seiner EEX-Visite vor allem darüber, dass dank
des Emissionshandels marktwirtschaftliche Prinzipien
in der Umweltpolitik endlich populär und erfolgreich
geworden sind. „Die Preisbildung für eine Tonne
Kohlendioxid überlasse ich dann aber doch lieber den
Marktkennern.“
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KOLUMNE
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„Energie-Investoren brauchen
vor allem Sicherheit“
Großbritannien war europäischer Vorreiter bei der Privatisierung der Energiewirtschaft. Heute ist die energiepolitische Zukunft des Landes jedoch umstrittener
denn je – und ein Lehrstück für andere Nationen.
E
rst wurde Ende der 80er British Gas privatisiert, Anfang der 90er folgte die Stromindustrie und vor gut zehn Jahren schließlich wurden mit British Energy die Juwelen der Kernkraftindustrie verkauft. Anfangs standen alle Zeichen in der privatisierten britischen Energiewirtschaft
auf Erfolg. Die neuen privaten Anbieter hoben Einsparpotenziale, die Kunden zahlten niedrigere Tarife, Gewinne und Aktienkurse stiegen. Aber das dicke Ende ließ nicht lange auf sich warten. Der Gas-Gigant führte sich weiter als Monopolist auf und provozierte so selbst seine Zerschlagung in Vertrieb, Übertragung und Exploration. Nicht viel später führte eine Deregulierung
des Strommarkts, die eigentlich nur den Wettbewerb ankurbeln sollte, zu einem folgenschweren
Preisverfall: Die Unternehmen waren vielfach gezwungen, Investitionen zurückzustellen und
Kapazitäten stillzulegen, einige mussten sogar Konkurs anmelden. Für die dicksten Schlagzeilen
sorgte der Fall des Kernkraftbetreibers British Energy, der ohne staatliche Hilfe vom Aus bedroht
war – und sie prompt erhielt. Notleidende Kernkraftwerke wollte die Politik nicht riskieren.
Aber es sollte, trotz wieder anziehender Stromtarife im Schlepptau der steigenden Ölpreise, noch
schlimmer kommen: Zum ersten Mal drohten Großbritannien Versorgungsengpässe. Jetzt rächte
sich der Investitionsstau vor allem der Erzeuger, die einst von problembehafteten US-Unternehmen wie TXU oder Dynergy übernommen worden waren. Die Briten hatten versäumt, der Privatwirtschaft auch die langfristigen Investitionen in die Energieerzeugung zu überantworten.
Foto: Sebastian Pfütze
Heute sieht sich Großbritannien vor sehr reale energiepolitische Herausforderungen gestellt –
ein Fall wie aus dem Lehrbuch für jedes Land mit privatwirtschaftlich aufgestelltem Energiesektor.
Viele Kohle- und Kernkraftwerke gehen aufgrund der begrenzten Restlaufzeiten bald vom
Netz, Ersatz muss her. Der dank massiver staatlicher Hilfen boomende Bereich erneuerbarer Energien kann die Lücke nicht füllen. Und gegen neue Kohle- oder Gaskraftwerke spricht die Sorge
vor Kohlendioxidemissionen. Die privaten Erzeuger werden Mittel und Wege finden müssen,
neue Nuklearanlagen zu finanzieren. Dabei fehlt angesichts der Sorgen um die Sicherheit,
Entsorgung und Folgekosten der Meiler ein politischer Konsens zum Thema Atomkraft. Hinzu
kommt, dass die Investoren den Kollaps von British Energy noch deutlich vor Augen haben.
Anthony Hilton:
Seit 35 Jahren beobachtet
der britische Journalist
das nationale und internationale Wirtschaftsgeschehen. Sein Steckenpferd sind die Finanzmärkte. Hilton berichtete
aus London und New
York für „London Evening
Standard“, „Times“ und
„Sunday Times“. Aktuell
ist er Wirtschafts- und
Finanzkolumnist für die
„City Pages“ des „Evening
Standard“.
Jeder ordentliche Banker muss die Ausgangssituation als Albtraum empfinden. Wer auf lange
Sicht investieren soll, hat ein Anrecht auf ein Mindestmaß an Planungssicherheit. Aber die gibt
es nicht, daher lassen sich weder Kosten noch Cashflows seriös hochrechnen – und ergo gibt es
auch keine Finanzierung. Solange der Staat als Zahlmeister auftrat, mochte das kaum eine Rolle
spielen. Die Privatwirtschaft aber geht mit ihrem Geld weit gewissenhafter um – zulasten des
immer drängenderen Erneuerungsbedarfs in der britischen Kernenergie. Um hier etwas in Bewegung zu bringen, muss die Politik die nötigen Sicherheiten schaffen. Dann klappt nach Überzeugung der Industrie auch die private Finanzierung. Ob das dann auch den letzten Zweifler davon
überzeugt, dass man die Energieversorgung künftig getrost privaten Anbietern und dem Markt
überlassen darf, bleibt fraglich. Für Diskussionsstoff jedenfalls dürfte auf Jahre hinaus gesorgt sein.
Und das nicht nur in Großbritannien.
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INTERVIEW
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„Solange mich das Publikum sehen
will, mache ich weiter“
Konrad Thurano hat den meisten seiner Mitmenschen einiges voraus: Er ist 98 und hat die ganze
Welt bereist. Auch sonst hebt er sich vom Durchschnitt ab, denn er strotzt vor Energie – trotz seines
Alters. Fast jeden Abend steht der weltweit älteste aktive Artist mit seinem Sohn auf der Bühne.
Der erste Eindruck überrascht: Ein Stock erleichtert
Konrad Thurano den Gang in die Garderobe. Unerwartet
gebrechlich wirkt der schmale, etwa 1,60 Meter große
Mann. Schließlich wird er in drei Stunden auf der Bühne
stehen, an einer Stange zwei Meter in die Höhe klettern,
um dann, auf einer Plattform am Ende des Drahtseils stehend, seinem Sohn das Springseil zu schlagen. Damit
nicht genug, wird er im Anschluss, an zwei Fingern hängend, Klimmzüge machen.
Herr Thurano, Sie stehen noch immer Abend für Abend
auf der Bühne – woher nehmen Sie die Energie?
Das Varieté ist alles für mich, ich liebe die Bühne und das Publikum. Egal, ob da zehn Leute sitzen oder 100. Wenn das Publikum fröhlich ist, bin ich es auch. So hält mich die Arbeit jung.
Wenn etwas Spaß macht und man es mit Liebe macht, ist es
das Schönste, was es gibt. Das ist doch in jedem Beruf so. Wahrscheinlich ist es aber auch meine ganze Einstellung, mein fröhlicher Charakter. Sogar wenn ich allein bin, habe ich ein Lächeln
auf den Lippen oder summe ein Liedchen.
Kein Gedanke daran aufzuhören?
Solange das Publikum mich sehen will, mache ich weiter. Ich
möchte nur nicht, dass die Leute mich auslachen und denken:
„Ach, der arme Mann!“ Ich war früher oft mit Starclown Charlie
Rivel zusammen und habe seine letzte Vorstellung gesehen.
Er hatte keine Bewegung mehr, konnte kaum noch laufen. Das
wirkte sehr traurig und es hat auch das Publikum traurig gemacht. Das will ich nicht.
Für Ihre Auftritte brauchen Sie viel Kraft. Wie viel trainieren Sie?
Ich tue nur noch ein bisschen was für meine Arme. Ab und zu
drücke ich mich auf den Seitenlehnen der Stühle hoch. Und
zu Hause in Dänemark habe ich eine Hollywoodschaukel im
Garten stehen, der habe ich das Dach abgenommen, nur die
Stange ist noch da. Daran mache ich ab und zu Klimmzüge, nur
so viel, wie ich kann. Das habe ich immer so gehalten, nicht
wie im Profisport. Ich habe alle Achtung davor, was Sportler
leisten, aber die machen sich früh kaputt, mit 40 oder 50 haben die sich verausgabt. Ich habe nie gezählt, wie viele Klimmzüge ich schaffe, und immer nur gezeigt, was ich kann. Heute
reicht es schon, wenn ich zwei oder drei auf der Bühne mache,
dann habe ich das Publikum schon – und darum geht es.
Heute muss ein Klimmzug genügen, denn Konrad Thurano
ist angeschlagen. In der Vorwoche stand er in Holland
auf der Bühne, zweimal pro Tag. Das war zu viel. Trotzdem
jubelt das Publikum, der Artist strahlt, will nachlegen.
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INTERVIEW
Vater-Sohn-Rolle:
Sohn John (im Vordergrund) ist noch heute
treuer Begleiter – vor und
hinter der Bühne. Seine
zwei Mädchen turnen
dagegen nicht mehr mit
Vater Thurano.
Sein Sohn John hält ihn zurück. Oft müsse er seinen Vater
bremsen, erzählt er später. Nächstes Jahr würden sie kürzer treten, weil John seine Frau und seine Familie häufiger
sehen möchte.
Woran merken Sie, dass Sie älter geworden sind?
Ich habe viel Kraft verloren. Die Tricks, die ich früher gemacht
habe, kann ich heute nicht mehr zeigen. Ich war früher am Trapez, an den Ringen oder auf dem Hochseil, mit meinem Schwager zusammen hatte ich eine Luftnummer und in Schweden
habe ich mal einen Handstand auf der Spitze des Zirkuszelts
gemacht. So was geht nicht mehr. Das, was ich jetzt mache,
ist nur noch ein Überbleibsel von dem, was ich mal konnte. Aber
ich denke nicht ans Alter. Denn sobald der Vorhang auf-, das
Licht angeht und die Musik spielt, fühle ich mich so jung wie
nur irgendwas.
Das strahlt er auch aus, als er später mit seinem Sohn
im ausverkauften Kasseler Varieté den „Crazy Wire Act“
zeigt. Heute Abend sind sie die letzte Nummer, der
Programmhöhepunkt. Was die beiden zeigen, ist kein
atemberaubender Balanceakt mehr. Eher Comedy mit
artistischen Elementen. Denn der alte Thurano hört und
sieht mittlerweile schlecht. Trotzdem ist er der Star
des Abends, turnt, strahlt und lässt fast vergessen, wie
alt er ist.
Viele Menschen werden im Alter unsicher. Sind Sie ängstlicher geworden?
Nein! Vor ein paar Jahren bin ich im Düsseldorfer Apollo Varieté
gestürzt und habe mir die Nase gebrochen. Da stand ich am
nächsten Abend wieder auf der Bühne. Das war immer so. Ich
bin oft gefallen, aber wenn etwas schiefgegangen ist, bin ich
immer gleich zurück.
Gab es bei Ihnen neben der Bühne Anlass zu Ängsten
oder Zweifeln?
Wirkliche Angst habe ich nie gekannt. Aber ich habe Anfang
1937 schon gefühlt, dass in Deutschland was im Kommen war.
Über Artisten haben die damals nicht gut gedacht. Ich hatte
gerade ein Angebot aus Südafrika bekommen und wir wollten
möglichst weit weg. Als wir drüben waren, ging der Krieg los.
Mussten Sie auch mal Rückschläge einstecken?
Oh ja, ich habe Schläge gekriegt. Nicht körperlich: Ich wurde
oft betrogen, als wir in Südafrika waren. Die Schwiegereltern
hatten mir aus Deutschland ein Zirkuszelt nachgeschickt,
den ersten Viermaster dort. Damit sind wir durchs Land gezogen. Aber ich war kein Direktor, sondern Artist – und alleine
im fremden Land. So bin ich das ein oder andere Mal auf meine
Geschäftsführer reingefallen. Manche nennen das Dummheit.
Ich habe das immer abgeschüttelt und weitergemacht. Egal, ob
ich meine Nummern auf der Straße oder auf der Bühne machte.
Mich hat nur interessiert, dass meine Familie zu essen hatte
und ich unsere Wohnung bezahlen konnte.
Ihre Familie spielt eine wichtige Rolle in Ihrem Leben ...
Natürlich. Ich hatte eine gute Frau, wir waren sehr glücklich
miteinander, 71 Jahre lang. Sie war immer mit dabei, sie ist ja im
Wagen geboren. Anfangs hatte sie noch Tierdressuren, später
hatten wir sogar eine Luftnummer zusammen. Sie hat mich verstanden und ich sie. Mit meinen Kindern bin ich heute noch
zusammen, wir sind wie eine Clique. Die Mädchen haben sich
zwar abgesetzt und geheiratet, aber John ist dabeigeblieben.
Bis heute. Seit er ein Kind war, steht der mittlerweile
60-jährige John mit seinem Vater auf der Bühne. Das ist
auch ein Rekord. Weltweit gibt es kein Artistenduo,
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INTERVIEW
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geschweige denn eine Vater-Sohn-Nummer, die länger
besteht als ihre. Konrads Karriere begann vor fast 85 Jahren, als ihn eine Akrobatengruppe im Strandbad beim
Turnen entdeckte. Er schmiss seine Banklehre und schloss
sich ihnen an. Das war der Beginn einer großen Reise
um die Welt. Nach ihrer Zeit in Südafrika kamen Stationen in Paris, Las Vegas, Tokio, Mailand, Madrid.
Jedes Land ist anders, auch darin, wie es einen aufnimmt. Ich
habe mich überall wohlgefühlt, denn ich habe mich immer den
Menschen angeschlossen und immer gemacht, was landesüblich war. In Japan habe ich mich verhalten wie die Japaner, in
Frankreich wie die Franzosen. Ich habe mich nie über Religionen gestritten, ich lasse jedem seinen Glauben. Damit bin ich
am besten rumgekommen.
Sie sind weit gereist. Gibt es einen Ort auf der Welt, an
dem Sie sich besonders zu Hause gefühlt haben, an dem
Sie besonders herzlich empfangen wurden?
Wenn Sie zurückdenken: An welches Ereignis erinnern
Sie sich am liebsten?
Da rede ich nicht gerne drüber, ich mag keine Angeberei, aber
gut: Als wir damals im Lido in Paris engagiert waren, habe
ich Jerry Lewis kennengelernt. Das war ein lieber Kerl, sehr
lustig. Der war zur gleichen Zeit im Olympia-Theater und
wollte uns gerne für seine Show haben. Jeden Abend holte er
uns mit seinem Wagen ab. Besonders meine Frau Jetta hatte
er ins Herz geschlossen, er mochte die Reibekuchen so gerne,
die sie mir in der Pause immer gemacht hat. Darüber sind wir
uns nähergekommen.
Während er sich erinnert, blitzen seine Augen vor Heiterkeit und nun fallen ihm auch noch weitere Erlebnisse
ein. Vor der Queen sei er einstmals aufgetreten, sie trug
damals Himmelblau und lächelte ihn an. Beim ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau war er zu Gast,
ganz herzlich, ganz selbstverständlich sei der zu ihm
gewesen. Und neben Jerry Lewis zählten weitere große
Namen wie Charlie Chaplin, Sammy Davis Jr., Josephine
Baker und Marlene Dietrich zu seinen Bekanntschaften.
Was für Wünsche haben Sie noch?
Vielleicht bin ich da ein wenig primitiv, aber ich habe nie was
erwartet. Ich habe nie gehofft, reich zu werden, ich hatte nie
hochtrabende Pläne. Dabei habe ich mehr erlebt, als ich gedacht
hätte, und bin keinem was schuldig geblieben. Ich habe viel
Glück gehabt und bin zufrieden. Ich würde mich wieder für
dieses Leben entscheiden.
Konrad Thurano
Er wurde 1909 als Konrad Thur in Düsseldorf geboren, sein Vater war Prothesenbauer, seine Mutter Hausfrau. Immer schon ein begeisterter Turner, ergriff Thurano
1924 die Möglichkeit, als ihm eine Gruppe Akrobaten ein Angebot machte. Das
war der Beginn der großen Artistenkarriere. Während eines Engagements beim Zirkus
Althoff lernte er seine Frau Henrietta Althoff kennen. Sie starb 2004. Wenn er
nicht auf Tournee ist, lebt der 98-Jährige in Dänemark, wo sich zwei seiner drei
Kinder niedergelassen haben. Mehr über sein Leben erzählen die Biografie „Beruf:
Artist“ und die Dokumentation „Die Thuranos. Leben auf dem Drahtseil“.
Internet: www.thuranos.de
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GUIDE
Ein Ort mit Tradition:
Brian Healy im ehemaligen Handelssaal
der Irish Stock Exchange. Seit der
Umstellung auf elektronischen Handel
im Juni 2000 dient dieser der Börse
hauptsächlich als Vorstands- und Besprechungsraum.
Am Puls des keltischen Tigers
Keine Stadt in Irland profitiert so sehr vom Wirtschaftswachstum des „keltischen Tigers“ wie Dublin.
Brian Healy, verantwortlich für Handel und Marktaufsicht bei der Irish Stock Exchange, weiß das ganz genau.
„1585“ zeigt er „sein“ Dublin – jenseits von Wirtschaft und Finanzen.
Z
uerst bin ich Ire, dann aus Cork, dann aus
Dublin!“ Wenn man Brian Healy nach seinen
Wurzeln fragt, setzt er klare Prioritäten. In Cork ist
er geboren, für Cork schlägt sein Herz. Doch mit
Dublin verbindet ihn weit mehr als eine Arbeitsbeziehung: Seit 1990 wohnt er in der Hauptstadt, hat
dort promoviert und seinen ersten Job als Wirtschaftsprüfer bei Arthur Andersen angetreten. Er hat
den Wandel von der grauen Großstadt zur Boomtown Europas hautnah miterlebt. „Dublin hat sich in
dieser Zeit grundlegend verändert“, erklärt er sichtlich beeindruckt. Denn bei aller Liebe zu Cork: Brian
Healys Herz schlägt auch kräftig für Dublin.
Ausgangspunkt für die Stadtbesichtigung ist das Gebäude der Irish Stock Exchange (ISE) im lebhaften
Stadtteil Temple Bar. In der Anglesea Street ist der
Hauptsitz des Unternehmens. Beeindruckend ist
der ehemalige Handelssaal im ersten Stock. Heute
ist er der Hauptbesprechungs- und Vorstandsraum
der Börse und dient hin und wieder als repräsentativer Empfangs- und Konferenzsaal. Grund dafür
ist eine vor Jahren gefällte Entscheidung, mit der die
Dubliner Börse in eine neue Dimension vorstieß:
Am 6. Juni 2000 schloss die ISE ihr Parkett und stell-
te komplett auf elektronischen Handel um. „Wir
haben unsere Möglichkeiten abgewägt und uns am
Markt nach einer leistungsfähigen Spitzen-Handelstechnologie umgeschaut“, sagt Healy. Seit 2000
werden irische Aktien und andere Wertpapiere auf
ISE Xetra gehandelt, ein separates Kontrollsegment
auf Xetra, dem elektronischen Handelssystem
der Deutsche Börse AG. Nach sechs Monaten lief die
ISE-Xetra-Plattform – und parallel dazu wurden
auch das interne Managementinformationssystem
und die Anbindung der Teilnehmer abgeschlossen.
„Wir hatten einen sehr engen Zeitplan, aber das
Projekt wurde rechtzeitig fertiggestellt – und hat die
Erwartungen am Markt voll erfüllt. Und vor allem
hat es wesentlich dazu beigetragen, dass die ISE das
Liquiditätszentrum für irische Aktien ist“, erzählt
Healy stolz. Die Zusammenarbeit mit der Deutschen
Börse läuft hervorragend; die ISE hat den XetraVertrag vorzeitig bis 2010 verlängert. Außerdem erbringt die Deutsche Börse seit 2005 auch ClearingDienstleistungen für die ISE.
Dank Rauchverbot zum Eheglück?
Wer Dublin besucht, sollte Temple Bar nicht auslassen – vor allem abends, wenn die Pubs sich füllen
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Historie und Moderne:
Dublin lebt Geschichte
und ist zugleich eine der
quirligsten Metropolen
Europas. Bis zu 70.000
Ausländer suchen jedes
Jahr ihr berufliches
Glück in Irland – die
meisten davon in der
Hauptstadt.
und das Ausgehviertel mit seinen verwinkelten
Gassen auflebt. Nicht nur in den Pubs ist dann viel
los, sondern auch davor, denn Irland hat 2004 als
erstes Land der Europäischen Union ein generelles
Rauchverbot an öffentlichen Orten eingeführt.
Seitdem sind Raucher „außen vor“ – und die englische Sprache ist um einen weiteren Begriff reicher:
„Smirting“, eine Kombination aus „Smoking und
„Flirting“ – eine Beschreibung dessen, was sich
vor den Pubs tut. In Temple Bar liegt auch das Temple Bar Music Center, ein beliebtes Konzerthaus
der Stadt, wo eine Reihe irischer Popmusik-Größen
aufgetreten sind: U2, Sinead O’Connor, Bob Geldorf. Ihr Konterfei hängt an der Fassade des Gebäudes. Ein Stückchen weiter ist Les Frères Jacques, ein
französisches Restaurant, das Brian Healy gerne
empfiehlt. „Dublin hat eine tolle Auswahl an Restaurants – und hier ist der Fisch besonders gut!“
GUIDE
Der Stadtrundgang führt zur Grafton Street, Dublins
Haupteinkaufsstraße, bis auf einen kleinen Abschnitt
eine reine Fußgängerzone. „Es gibt in Dublin mittlerweile eine echte Kaffeehaus-Kultur, entlang der
Grafton Street sind zahlreiche sehr gute Cafés“, erklärt Healy. „Sie sollten sich Bewleys Café nicht entgehen lassen!“ Ein Café gibt es auch in der National
Gallery am Merrion Square – das ist an diesem Werktag voll besetzt. „In praktisch allen Museen in Irland
ist der Eintritt frei.“ Am Merrion Square liegt auch
der Archbishop Ryan Park; dort steht als Statue
ein Kind der Stadt: Oscar Wilde. „Dublin hatte kul-
turell schon immer viel zu bieten“, erzählt Healy.
Große Literaten hat Irland hervorgebracht: Neben
Oscar Wilde auch Samuel Beckett, der Sprachen
studierte an der ältesten Universität Irlands, Dublins
Trinity College, 1592 von Königin Elisabeth I. gegründet – und nur einen Steinwurf von der Dubliner
Börse entfernt. James Joyce studierte Philosophie
am ebenso berühmten University College Dublin,
wo Brian Healy einen weiterführenden Abschluss
in Wirtschaft und Finanzen machte.
Verbriefung, U2 und Strände
Das nächste Reiseziel ist etwas weiter weg – unterwegs kommt Healy auf die Irish Stock Exchange zu
sprechen: „Die ISE ist heute das weltgrößte Zentrum für die Börsennotierung von Investmentfonds
und die führende europäische Börse für die Notierung komplexer verbriefter Forderungen.“ Er arbeitet
seit 1998 für die Dubliner Börse und hat maßgeblichen Anteil an der Internationalisierung und dem
Erfolg des Unternehmens. Wobei auch die Rahmenbedingungen günstig waren: Seit 1994 hat Irland
die dynamischste Volkswirtschaft Westeuropas.
„Wir haben seit fünf Jahren durchschnittlich fünf
Prozent Wachstum des Bruttosozialprodukts und
de facto Vollbeschäftigung“ – davon kann so manch
europäischer Nachbar nur träumen. „Junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte, eine aufgeschlossene nationale Wirtschaftspolitik und vor allem eine global
orientierte Haltung sind die Gründe für den Erfolg“,
sagt Healy. Irland ist längst zu einem beliebten
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GUIDE
Einwanderungsland in Europa geworden: Seit sechs
Jahren nimmt es jährlich 60.000 bis 70.000 ausländische Arbeitnehmer auf – die meisten kommen
nach Dublin. „Dublin wird immer mehr zum kulturellen Schmelztiegel – ein bisschen wie Amsterdam
oder sogar Frankfurt“, erzählt Healy. Die Stadt ist rasant gewachsen, neue Stadtviertel wie das Irish
Financial Service Center (IFSC) in der Nähe des Hafens sind entstanden. „Vor gut zehn Jahren gab es
in dieser Gegend nur fünf Bürogebäude. Heute ist das
IFSC Arbeitsstätte von mehr als 10.000 Bankern,
Händlern und anderen Mitarbeitern aus dem Finanzbereich“, so Healy. Selbst Sänger und Volksheld Bono
von Irlands erfolgreichstem Exportartikel U2 musste
sein Musikstudio für ein Bürogebäude räumen.
Der Rundgang geht zu Ende. Aber einen Tipp hat
Brian Healy noch für die Besucher Dublins: „Es gibt
hier traumhaft schöne und saubere Sandstrände –
und mit dem DART (Dublin Area Rapid Transit) sind
es nur wenige Stationen bis dorthin.“ Und was
hält Brian Healy vom irischen Nationalgetränk, dem
Guinness? „Das beste Guinness in town gibt es im
Mulligan’s – übrigens in ,Ulysses‘ von James Joyce erwähnt – aber ich muss zugeben, dass ich lieber ein
Glas guten Rotweins trinke.“
1585Quiz
Die Welt ist voller Legenden. Eine davon besagt, dass die irische
Beantworten Sie dazu bitte einfach unsere Frage und schicken
Küche kaum empfehlenswert ist. Das stimmt weder in der Breite
Sie die Lösung bis zum 13. April 2007 per E-Mail an:
noch für das Still Restaurant des Dylan Hotels in der Haupstadt
[email protected]
Dublin im Besonderen. „Das Essen dort“, schwärmte unlängst die
Restaurantkritikerin des irischen „Sunday Independent“, „ist das
In welchem Jahr wurde das Trinity College in Dublin – Irlands
Beste, was sich in Dublin finden lässt.“ Die 44 Plätze dort sind
älteste und renommierteste Universität – gegründet?
schnell vergeben – früh buchen lohnt sich. Das gilt auch für das
a) 1542
b) 1592
c) 1628
Hotel selbst: Der neue Eigentümer Fylan Group hat das frühere
Hibernian Hotel in einem gekonnten Stilmix aus hipper Moderne
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mitarbeiter der Gruppe
und traditionsreichem Schick umgebaut. Die Lage ist ideal: nur ein
Deutsche Börse und ihre Angehörigen dürfen nicht teilnehmen.
paar Minuten Fußweg entfernt von der grünen Lunge St. Stephens
Green und der Einkaufsmeile Grafton Street.
Den in Heft 4/06 verlosten zweitägigen Aufenthalt für zwei Personen im Nobelhotel Villa Kennedy in Frankfurt am Main hat
„1585“ verlost zwei Übernachtungen für zwei Personen im Dylan
Susanne Steinbach von der Kreissparkasse Köln gewonnen. Herz-
(bei eigener Anreise) einschließlich Champagnerbegrüßung.
lichen Glückwunsch!
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06.03.2007
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FOTOSTORY
Fiona Tan – News from the Near Future 2003,
video projection: 9 minutes and 30 seconds,
Image: screen still
Fiona Tan – The Changeling 2006, Installation
And the winner is …
Am 21. März gibt die Londoner Photographers’ Gallery den Gewinner des mit
30.000 Pfund dotierten Deutsche Börse Photography Prize 2007 bekannt.
E
r gilt als der renommierteste internationale
Preis für zeitgenössische Fotografie und wird jedes
Jahr an einen Fotografen vergeben, der im Vorjahr in
Europa einen herausragenden Beitrag auf dem Gebiet der Fotografie geleistet hat – durch eine Ausstellung oder Publikation. Am 18. Oktober hat die Jury
aus rund 70 Kandidaten vier Fotografen nominiert,
deren Bilder bis zum 9. April in der Photographers’
Gallery in London gezeigt werden.
Das sind die vier Finalisten: Philippe Chancel
(*1959, Frankreich), Anders Petersen (*1944, Schweden), Fiona Tan (*1966, Indonesien) und „The Atlas
Group“, ein Projekt von Walid Raad (*1967, Libanon).
Ihre Arbeiten bieten ein breites Spektrum an Stilen
und Motiven: von Fotojournalismus bis zu intimer
Gesellschaftsfotografie; von der Erkundung kultureller und örtlicher Komplexität bis hin zur zeitgeschichtlichen Dokumentation. Nach London gastiert
die Ausstellung vom 10. Mai bis zum 8. Juli imAlten
Postfuhramt bei C/O Berlin und ab Ende August
2007 in der Neuen Börse Frankfurt.
Die Photographers’ Gallery hat die Auszeichnung
1996 ins Leben gerufen, um die besten Werke zeitgenössischer Fotografen zu fördern. Die Deutsche
Börse ist seit 2005 Titelsponsor. Jedes Jahr setzt sich
die Jury aus neuen Persönlichkeiten der europäischen Fotografie-Institutionen und aus Fotografen
zusammen. Einige Gewinner des Photography Prize
finden sich in der Art Collection Deutsche Börse,
darunter Andreas Gursky (1998), Rineke Dijkstra
(1999) und Joel Sternfeld (2004). 2005 erhielt Luc
Delahaye den Deutsche Börse Photography Prize,
2006 Robert Adams.
Weitere Informationen zum Deutsche Börse Photography Prize finden Sie
unter www.deutsche-boerse.com/art und bei www.photonet.org.uk.
FOTOSTORY
Anders Petersen – Untitled from the series Gap, 2005
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A. Petersen – Untitled from the series Gap, 2005
Walid Raad / The Atlas Group – My Neck Is Thinner Than A Hair, 2000–2003
Walid Raad / The Atlas Group – Already Been In A Lake Of Fire, 1999–2002
Philippe Chancel – Red Guard Cadet
Philippe Chancel – Kim Ill-sung S, before the celebrations begin
10:56 Uhr
Seite 1
5 Euro
02.03.2007
1/07
www.zegna.com
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1585
Business Journal Deutsche Börse Group
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