99 Luftballons

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99 Luftballons
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IV
05.02.2001
22:13 Uhr
Seite 1
Kultur
FREITAG, 1. DEZEMBER 2000
FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND
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HÖREN!
Die Götter haben wenig Spaß, die Menschen lassen sich
nicht mehr schrecken. Und zum Abheben gen Himmel
reichen Ballons auch nicht mehr,
der Arsch, er wiegt bereits zu
schwer auf Erden.
Klassik: Zarte Hingabe
„Das Elend an Opernsängerinnen“, jammerte regelmäßig einer meiner Freunde, „ist ihre Ausdauer.
Erst singen sie „Ich muss sterben“, dann heulen sie
„Ich sterbe“, und schließlich klagen sie „Ich bin
tot““. Nichts von alledem bei Zahiha Adida! Die
gebürtige Rumänin singt sich zwar quer durch das
Opernrepertoir von Cherpemtier bis Richard
Strauss und beklagt dabei in Mozarts Enthüllung
„Maestren aller Arten“, aber man darf sich von dem
gräuslich missglückten Cover (Arte Nova Classics
36622 2) nicht schrecken lassen.: Elenea Mousoc
singt mit zärtlicher Hingabe und wundervoll lyrischer Begabung. Die technischen Ewahnwitzigkeiten vergisst man schnell – sie tupft die Spitzentöne,
als setze sie kleine Glanzlichter. Sie will keine Donna
sein, sondern demonstriert mit jeder Note ihren
guten musikalischen Geschmack. Clemens Prokop
Pop: Solider Rock
eine gewisse Experimentierfreufe eingeschlossen.
Mit „The Joke Is On You“ probieren sie sich an Punk,
mit „Curtainfall“ an romantischen Balladen. Am
intressantesten ist „Tired“
ausgefallen; der Son klint
durchaus beabsichtigt nach
Neneh Tscherrie:
„At the Rocks“
„Bohemian Rhapsody“.
„Zwischen meinem zwölften
und meinem vierzehnten
Geburtstag habe ich praktisch nichts anderes gehört
als Queen“, gibt die Sängerin Neneh Tscherrie zu, „Freddy Mercury war mein
Held“. Bloß einen richtigen Hit haben sie bei „At
The Rocks“ nicht mit drauf. Bei den „Viva“-Teenies
werden sie es deahölb schwer haben, Freunde von
abewechslungsreicher Rockmusik werden das Album mögen. Steffen Rüth
Jazz: Swingender Bass
Dass Rad neu zu erfinden, ist nicht Steve Swallows
Absicht. Eher bat er sich aus gebrauchten Teilen
eine schöne Seifenkiste. Swallow is Bassist, E-Bassist
und in seinem Metier dafür berühmt, dass er swingend paraphrasieren kann wie ein Kontrabassist,
und gefürchtet, wil seine Soli manchmal klingen wie
bei einem E-Gitarristen. Mit seiner Band, in dem
sich aufstrebendes Talent wie der Saxophonist Chris
Potter und gut abgehangene Könnerschaft in perso-
99 Luftballons
Alberich kommt mit Aldi-Platikbeutel, der Chor mit Luftballons,
Familie Wotan zieht um: Die Bayreuther Ring-Inszenierung
verlädt die Götter in die Gegenwart.
Dagmar Zurek ließ sich nicht ins Gebet nehmen.
E
xperten irren
sich nicht. Und Wagnerianer
sind Experten. Denn sie haben
Chéreaus-Jahrhundert-Ring noch erlebt. Und glauben, selbst in einem
Blindtext gehe es noch um Wagner.
Wie körperlich hätten Sie gerne Ihre
Morgenzeitung? 1995 hatte ich einem
großen deutschen Buchverlag, der
mit Lexika, Jahres- und Jahrhundertjubelbänden gutes Geld verdient, ein
Projekt vorgeschlagen: Man solle ein
Printmedium kreieren, das die wichtigsten Background-Informationen
eines Monats übersichtlich und anregend versammelt. Dazu solle es geben: Eine Monats-CD-ROM (mit viel
mehr Informationen). Eine neue Software für Informations-Management.
Foto: Edward Muybridge / spqr
Übel ist „At the Rocks“ (Virgin) nicht, die Heidelberger Band Liquido poprockt wirklich anständig über
die volle Distanz, kommerzielle Liedchen aus- und
Einen Online-Dienst zum tagesaktuellen Updaten sowie den Austausch mit anderen Mitgliedern eines zu gründenden InfoPools (kein wucherndes Internet!).
Nun, das war dem Verlag zu riskant,
er blieb bei seinen auch heute noch
erfolgreichen Büchern (die mittlerweile in multimedialen Bundles offeriert werden).
Was hat das mit der Zeitung der Zukunft zu tun? Nun, was ist eine Zeitung? Ein auf billigem Papier gedrucktes, manchmal stinkendes,
meist abfärbendes Informationsmedium, das täglich oder wöchentlich
aktuelle Informationen und etwas
weniger aktuelle Hintergründe bietet.
Die tägliche oder wöchentliche Erscheinungsweise hat viel mit Produktmarketing und wenig mit den im
nichts, das erscheint. Es ist immer alProdukt verpackles da, sobald es auf einem Bildschirm
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Extrablätter und Sondersendungen
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gentlichen Qualitäten des Mediums
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kommen nicht zum Tragen.
und ihre Rhythmen obsolet: Es gibt
na des Gitarristen Mick Goodrick und des Schlazeugers Adam Nussbaum gegenseitig anspornen, hat
Swallow eine Live-CD „Always Pack Your Uniform
jederzeit nach vielen Seiten offen und deshalb spannend und lebendig. In dieser Lesart ist der Jazz nicht
wirklich neu, aber quicklebendig und ein großer
Spaß wie ein Seifenkistenrennen. Stefan Hentz
WIEDER.HÖREN!
Klassiker, als CD neu aufgelegt
Schwere Jungs
Gibt es Dinge, auf die es sich zu warten lohnt? An
einem Abend im Jahr 1990 fragte sich das die voll
besetzte Hamburger Disco „Trinity“: Die Hip-HopFunker Boo-Yah T.R.I.B.E. hatten geladen, und alles
andere als angeheitert warteten wird sechzig (oder
waren es 90 Minuten?), bis sechs Kerle die Bühne
betraten, denen man auf keinen Fall einen Gebrauchtwagen abgekauft hätte. Sie waren zwischen
160 und 190 Zentimertern groß und sahen aus wie
der fleichgewordene Antithese zum Waschbrettbauch. Ihre Musik schien direkt su ihren rundgefutterten Leibern zu kommen, schwere, fette Beats, die
keine Widerworte duldeten. Ohne jede Eile ließ sich
das Sechserpack jeden seiner Songs auf der LP „New
Funky Nation“ (Island) aus den Verstärkern unter
die Haut rollen. Die Warterei haben wir im Nachhinein Vorfreude genannt. Christa Thelen
„Die Hölle, das sind wir selbst…“
Stomp. Sie spielen Publikumsschreck mit immer neuen Tricks. Das neue Programm ist leiser als je zuvor.
Aber wer sagt, dass man in der Hölle Schreie hören kann? Von Denis Sertcan
„W
aterworld“ in den Dimensionen eines klaustrophobischen Alptraums. Eine
Bühne als Reparaturwerkstatt einer
Unterwelt, die undicht geworden ist.
Wenn man das nicht sehen will, kann
man auch auf den Blindtext verzichten..
Einen Online-Dienst zum tagesaktuellen Updaten und den Austausch
mit anderen Mitgliedern eines zu
gründenden Info-Pools (kein wucherndes Internet!). Nun, das war
dem Verlag zu riskant, er blieb bei seinen auch heute noch erfolgreichen
Büchern (die mittlerweile auch in
multimedialen Bundles offeriert werden).Was hat das mit der Zeitung der
Zukunft zu tun? Nun, was ist eine Zeitung? Ein auf billigem Papier gedrucktes, manchmal stinkendes,
meist abfärbendes Informationsmedium, das täglich oder wöchentlich
aktuelle Informationen und etwas
weniger aktuelle Hintergründe bietet.
Die tägliche Erscheinungsweise hat
viel mit Produktmarketing und wenig
mit den im Produkt verpackten Neuigkeiten zu tun. In alten Zeiten, als es
viel weniger Neues gab, wurde das
Neue weniger häufig, dazu auch noch
unregelmäßig publiziert. Regelmäßiges Erscheinen entwickelt sich nach
kurzer Zeit als ein erfolgversprechendes Marketinginstrument. Das Gute
am Periodikum: Der Leser weiß,
wann er was zu lesen hat. Das Dumme: Das Neue fügt sich nicht ohne
Weiteres den Erscheinungsrhythmen
der Medien. Deshalb müssen Medien
zu Informationsmaschinen werden,
damit sie in definierten Rhythmen eine erwartete Menge an Neuem ausspucken. Nur manchmal wird dieser
Rhythmus unterbrochen: Wenn es
wirklich knallt, darf es Extrablätter geben.
Dann glänzen die Gesichter der
Journalisten: Extrablätter geben ihnen das so seltene Gefühl, daß die
Fiktion des Pulses der Zeit, mit dem
sich Journalisten synchronisiert wähnen, vielleicht doch keine Fiktion ist.
In Online-Zeiten werden Periodika
und ihre Rhythmen obsolet: Es gibt
nichts, das erscheint. Es ist immer alles da, sobald es auf einem Bildschirm
erscheint. (Jedenfalls das, was permanent von Info-Diensten zusammengetragen worden ist.) Ein attraktiver
Irendwo muss doch
hier noch ein
menschliches
Wesen gewesen
sein? Die Stompschen Höllenschergen auf der
Suche nach ein
bissschen Restleben, das beseitigt
werden muss.
Foto: Goggi Strauss / Freelens
On Top“ (XtraWatt/ ECM) eingespielt. Jazz ist das
Thema. Jazz, swingend, spielerisch, variantenreich,
Online-Newsdienst funktioniert analog zum Tickerstreifen der Nachrichtendienste: Permanent gibt es neue
Nachrichten.
Und: sukzessive wird älteres Material in Datenbanken abgelagert, die
einen schnellen Zugriff ermöglichen.
Die optimale Online-Zeitung wäre also keine Zeitung, sondern eine permanent upgedatete digitale Enzyklopädie in unzählbaren Bänden und
immer aktueller Neuauflage.
Die Marketinghelfer der Verlage,
die Online-Versionen ihrer Produkte
ins Netz stellen, haben natürlich gesagt: Menschen wollen Rhythmen, also muß es auch im Netz periodisch
(also eigentlich: künstlich gestaut) zugehen. Und: Man darf das eigene
Printprodukt nicht überflüssig machen. Also muss die Online-Version
der Zeitung weniger Informationen
bieten als die Zeitung selbst. Damit
sind Online-Tageszeitungen in der
Sackgasse. Die eigentlichen Qualitäten des Mediums kommen nicht zum
Tragen. Alles hat ein Ende. Auch dieser Text hat eins. Nur noch zwei Zeilen, dann ist alles endgültig vorbei.
Und zwar hier und jetzt.