Zügellose Gewalt prägt den Alltag der sowjetischen Besatzung

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Zügellose Gewalt prägt den Alltag der sowjetischen Besatzung
LEIBNIZ | FRIEDEN UND KONFLIKTE
Die
Regeln
der Gewalt
Zügellose Gewalt prägt den Alltag der sowjetischen Besatzung
Afghanistans. Sie bestimmt die Kämpfe zwischen Rotarmisten
und Mudschaheddin – und einen Krieg, der die Gesellschaft der
untergehenden Sowjetunion verändern wird.
Als die Elitekämpfer des KGB
am Abend des 27. Dezembers
1979 den zehn Kilometer vor
den Toren Kabuls gelegenen
Tajbeg-Palast erobern, nehmen
sie keine Gefangenen. Zunächst
töten sie den wenige Monate
zuvor an die Macht gelangten
afghanischen Präsidenten Hafizullah Amin, seine Söhne und
seine Geliebte mit einer Handgranate. Dann – so wird man es
sich später erzählen – erschießen sie alle afghanischen Zeugen von Operation „Sturm 333“.
Weit außerhalb
des Völkerrechts
30 Die Kommandoaktion markiert
den Auftakt der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan, den
Auftakt zu neun Jahren und zwei
Monaten erbitterter Kämpfe.
Zugleich ist sie Sinnbild für die
Natur des Krieges am Hindukusch: So erbarmungslos wie die
Geheimdienstler ihn in dieser
Kabuler Winternacht beginnen,
wird er bis zu seinem Ende im
Februar 1989 geführt. Gewalt ist
dabei mehr als ein bedauerlicher,
aber unvermeidbarer Teil des
Konflikts. Sie ist die Sprache, in
der Rotarmisten und Mudschaheddin kommunizieren.
„Beide Seiten sind extrem brutal
vorgegangen; sie haben diesen
Krieg weit außerhalb der Regeln
des Völkerrechts geführt“, sagt
Jan C. Behrends vom Zentrum
für Zeithistorische Forschung in
Potsdam. Seit 2011 beschäftigt
sich der Historiker mit dem Sowjetisch-Afghanischen Krieg und
der Frage, welche Rolle Gewalt
darin gespielt hat. Wie erlebten
die meist jungen Soldaten den
von Brutalität geprägten Alltag?
Wo lagen die Wurzeln des Mordens und der Massaker? Und wie
wirkte die Gewalt auf die Sowjetunion zurück?
Seine Recherchen führen Behrends in Archive wie die Russische Staatsbibliothek in Moskau
und die Washingtoner Library of
Congress. Er stößt auf Interviews,
die Soziologen kurz nach Kriegsende mit sowjetischen Soldaten
geführt haben. Die Erinnerungen der in Russland „Afghantsy“
genannten Veteranen stehen damals noch nicht unter dem Einfluss des öffentlichen Gedenkens
und der Afghanistanfilme späterer Jahre. Weil es die Zeit von
Glasnost ist, nehmen sie in ihren Schilderungen kein Blatt vor
den Mund. „Die Gespräche sind
dadurch authentischer als jedes
Interview, das ich heute führen
könnte“, sagt Behrends.
Das Material ermöglicht es ihm,
die Gewaltsituation in Afghanistan zu rekonstruieren. Bei
der Auswertung stützt er sich
auf ein theoretisches Konzept
des Soziologen Wolfgang Sofsky.
Darin beschreibt Sofsky, wie Gewalt bei kompletter Abwesenheit
staatlicher Regeln und Kontrolle
zur wichtigsten Ressource im
menschlichen Zusammenleben
werden kann. Als „Gewaltraum“
bezeichnet er diese soziale Ordnung, in der kein Schutz für
Schwächere existiert und jeder
kämpfen und töten muss, um zu
überleben. Regeln, so Jan C. Behrends‘ These, die auch für die sowjetischen Soldaten in Afghanistan galten.
Töten um zu
überleben
Eigentlich plant das Politbüro nur
einen Kurzeinsatz in dem zentralasiatischen Land. Erst wird der
in Ungnade gefallene Präsident
Amin von der Spitze der kommunistisch geprägten Demokratischen Volkspartei Afghanistan
entfernt, die sich im April 1978
an die Macht geputscht hatte.
Dann soll das sowjetfreundliche
Regime unter dem Schlagwort
der „sozialistischen Bruderhilfe“
2/2014
LEIBNIZ | KRIEG UND KONFLIKTE
auf den Kampf gegen die religiösen Stämme außerhalb Kabuls
vorbereitet werden – auch um zu
verhindern, dass die verfeindeten
USA an Einfluss über Afghanistan
gewinnen. Eine wenige Monate
währende Intervention, so das
Kalkül. Doch Moskau irrt: Schon
bald stehen die sowjetischen
Truppen im Zentrum eines zermürbenden Partisanenkriegs.
Die meisten Soldaten ahnen
nicht, dass ihnen ein Kampfeinsatz bevorsteht, als sie nach Afghanistan aufbrechen. Sie glauben, sich auf eine Hilfsmission zu
begeben, wollen den Afghanen
die sowjetische Moderne näher
bringen, am Hindukusch den
Kommunismus aufbauen. Für die
Jüngeren ist der Einsatz zudem
eine Chance, der Tristesse und
Perspektivlosigkeit des spätsozialistischen Alltags zu entfliehen. „Ich ging voller Enthusiasmus nach Afghanistan“, erinnert
sich ein Major. „Ich dachte, dass
ich dort etwas Nützliches tun
­könnte.“
Foto: RIA Novosti/A. Solomonov
Hinterhalte
in den Bergen
2/2014 Hinter der Grenze herrscht eine
andere Realität. Wer in Kabul stationiert ist, hat noch Glück. Die
Stadt ist relativ friedlich, es gibt
ein sowjetisches Viertel und riesige Basare voller Produkte, die
zu Hause als Mangelware gelten:
Jeans, Kassettenrecorder, Lederjacken. Außerhalb der Hauptstadt lauert das Grauen. Immer
wieder geraten sowjetische Einheiten in der unübersichtlichen
Berglandschaft in Hinterhalte. In
Interviews und Tagebucheinträgen berichten sie von verstümmelten Kameraden. „Was hier
passiert, jagt mir Todesangst ein“,
notiert ein Rekrut 1980. „Die Angriffe gehen weiter und die Mudschaheddin verfügen über Granatwerfer.“
Die Furcht betäuben viele Soldaten mit Drogen, die es in Afghanistan in rauen Mengen gibt. Auf
die Attacken der vom Westen unterstützten Partisanen antworten
sie mit brachialer Gewalt. In Vergeltungsaktionen werden ganze
Dörfer niedergebrannt. Übergriffe auf Verwundete, Zivilisten und
das Vieh der Afghanen gehören
Nach neun
Jahren Krieg:
Am 15. Februar 1989
verlassen die letzten
sowjetischen Soldaten
Afghanistan über die
„Brücke der
Freundschaft“.
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LEIBNIZ | FRIEDEN UND KONFLIKTE
Die Regeln
des Gewaltraums
32 Folgt man der Theorie Wolfgang Sofskys, blieb Soldaten
wie Tamarov keine Wahl. „Sie
mussten sich den Regeln des Gewaltraums unterwerfen, um Afghanistan zu überleben“, erklärt
Behrends. Später seien viele
von Scham und Schuldgefühlen
eingeholt worden. Doch – das
konnte der Gewaltforscher den
Berichten der Afghantsy entnehmen – gab es auch jene, die
der amerikanische Soziologe
Randall Collins als „violent few“
bezeichnet: Sie gewöhnten sich
nicht nur an die Gewalt. Sie fanden irgendwann Gefallen ­daran.
Konsequenzen drohten ihnen
nicht. Früh scheint die Armeespitze entschieden zu haben,
Kriegsverbrechen zu tolerieren.
Die exzessive Gewalt, so vermutet Behrends, war fester
Bestandteil einer Strategie, die
darauf abzielte, den Gegner einzuschüchtern, indem man noch
mehr Gewalt anwendete und
sich noch unnachgiebiger zeigte
als er. Man könne belegen, dass
Moskau von Dezember 1979 an
klare Signale an die Truppen
sendete: Hart sollten die Soldaten auftreten, den Gegner nicht
schonen, stets doppelte Vergeltung üben. Diese Erkenntnisse
decken sich mit den Annahmen
der Gewaltforschung, die davon
ausgeht, dass Gewalt nicht aus
dem Nichts losbricht. „Man kann
genau zeigen, wer von wem angestachelt und welche Belohnung ihm in Aussicht gestellt
wurde, Beförderungen, Lebensmittel, Orden“, sagt Behrends.
„Gewalt hat eine Struktur – auch
der Krieg ist kein normenloser
Raum.“
Zuhause in der Sowjet­union
ist von den Missständen wenig
bekannt. Die politische Füh-
Denkmal in Jekaterinburg: Die
Gewalterfahrung in Afghanistan
konnten einige sowjetische
Veteranen nicht verwinden.
rung setzt alles daran, es dabei zu belassen: Die Särge der
schätzungsweise 15.000 sowjetischen Soldaten, die in Afghanistan umkommen, kehren
versiegelt zurück. Die Hinterbliebenen dürfen die Gefallenen
nur im engsten Kreis beerdigen.
Über sie sprechen dürfen sie
nicht.
Ende
des Schweigens
Das Schweigen endet 1988. Drei
Jahre nachdem Gorbatschow
mit Perestroika und Glasnost
Umbau und Öffnung des politischen Systems eingeleitet hat,
fällt das Tabu Afghanistan. In
kritischen Artikeln berichten
Journalisten über die Kriegsverbrechen und die Brutalität
der Kämpfe, die über eine Million afghanische Krieger und
Zivilisten das Leben kosten. Sie
berichten auch über Korruption
und die Gewalt innerhalb der
Roten Armee, die immer wieder
Tote fordert und die Moral der
Truppe untergräbt. Die Glaubwürdigkeit der politischen und
militärischen Führung bröckelt.
Afghanistan wird ein weiterer
Stein im Niedergang der Sowjet­
union. Bald kommt Moskau zu
dem Schluss, dass dieser Krieg
nicht zu gewinnen ist. Und sucht
nach Wegen, Afghanistan zu verlassen, ohne das Gesicht zu verlieren.
Zurück vom Hindukusch ist
der Weg ins zivile Leben für die
Afghantsy steinig. Manche fühlen sich nackt, wenn sie ohne
Waffe auf die Straße treten, andere setzen ihre Gewaltkarriere
im Organisierten Verbrechen
fort oder heuern bei privaten Sicherheitsdiensten an. Noch heute sieht man Afghantsy, die die
Gewalterfahrung nie verwinden
konnten, bettelnd durch die
Einkaufsstraßen und U-Bahnen
Moskaus und anderer Städte
ziehen. Sie fühlen sich vom Staat
missbraucht und im Stich gelassen. Und es fällt ihnen schwer,
sich und anderen ihr Handeln
im Krieg zu erklären.
Schandfleck
in der Geschichte
In der Bevölkerung stoßen die
Afghantsy nach ihrer Rückkehr
auf wenig Mitgefühl. Anders als
die Veteranen des Zweiten Weltkriegs werden sie nicht als Helden verehrt, sondern oft als Gewalttäter wahrgenommen. „Es
erging ihnen ähnlich wie einigen amerikanischen VietnamVets“, sagt Jan C. Behrends. „Man
warf ihnen vor, den Namen des
­Mutterlandes beschmutzt zu haben.“ Vielen Russen gilt der Einsatz in Afghanistan bis heute als
sinnloser Krieg, als Schandfleck
in der Geschichte des Landes,
den sie am liebsten vergessen
möchten.
Der Wunsch zu vergessen
scheint sich schon am 15. Februar 1989 anzudeuten, über neun
Jahre nach Operation „Sturm
333“. Als letzter sowjetischer
Soldat verlässt Generaloberst
Boris Gromow an diesem Tag
das Kriegsgebiet. Auf einem
Panzer überquert er die „Brücke
der Freundschaft“, die Afghanistan mit der damaligen Sowjetrepublik Usbekistan verbindet.
Die letzten Meter legt Gromow
zu Fuß zurück, ehe er um 11:55
Uhr vor die wartenden Journalisten tritt. Er habe beim Überqueren der Brücke „große Freude“ empfunden, dass die Armee
ihre Pflicht gegenüber dem
Mutterland erfüllt hat, gibt er zu
Protokoll. Und fügt hinzu: „Ich
habe nicht zurückgeblickt.“
d av i d sc h el p
Foto: Flickr/Jason Eppink
zum Alltag. „Wir schossen auf jeden Schatten, alles, was sich bewegte, bedrohte uns“, erinnert
sich Vladislav Tamarov, der als
Fallschirmjäger in Afghanistan
diente. „In diesem komischen
Spiel gewann derjenige, der zuerst tötete.“
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