PS 9/2007: Basis-Know-how Leistungsdiagramm
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PS 9/2007: Basis-Know-how Leistungsdiagramm
Basis-Know-how Vom Prüfstand zum Leistungsdiagramm MESSDIENER-R MESSDIENER38 PS 9/2007 ie ein handesüblicher PS-Prüfstandslauf vor sich geht, ist im Prinzip nicht schwer vorzustellen: Motorrad auf den Prüfstand schieben, Hinterrad mittig auf die Rolle bringen, Vorderrad festklemmen, Prüfstand mit der Motorradelektronik verbinden und Gewicht auflegen, damit das Hinterrad auf der Rolle nicht durchdreht. Motor starten, bei niedriger Drehzahl in den höchsten Gang durchschalten, dann dem Prüfstandscomputer sagen, dass die Messung jetzt losgeht und das Gaskabel bis zum Anschlag spannen. „Aha“, sagt der aufmerksame Beobachter, „es wird also eine >Volllastmessung“. Der Prüfstand misst zunächst einmal keine Leistung, sondern die Geschwindigkeit (Formelzeichen: v), mit der die Prüfstandsrolle rotiert. Das funktioniert ungefähr wie bei einem Fahrradtacho, nur genauer. Ändert sich die Geschwindigkeit von einer Messung auf die nächste, kann man aus der Geschwindigkeitsdifferenz ⌬v (lies: „Delta-vau“) und dem Zeitabstand W 120 160 FORMELSAMMMLUNG 110 150 100 140 Beschleunigung: 130 90 120 Geschwindigkeitsdifferenz / Zeitdifferenz Formel: a = ⌬v / ⌬t Ducati Monster S4R 95,1 kW (129 PS) bei 9200/min 100 Nm bei 7500/min Drehmoment in Nm 80 110 100 70 90 60 80 50 70 60 40 Motorleistung 30 20 der beiden Messungen ⌬t die Beschleunigung a errechnen: a = ⌬v/⌬t. Ein Beispiel: Wenn die Rolle ihre Rotationsgeschwindigkeit sekündlich um 4 Umdrehungen/Sekunde erhöht (z. B. sie dreht sich in der ersten Sekunde viermal, in der zweiten Sekunde achtmal, in der dritten Sekunde zwölfmal, ...) beträgt die Beschleunigung 4/s². Das heißt – noch gar nichts. Jetzt kommt das >Massenträgheitsmoment (Formelzeichen: Q) der Prüfstandsrolle ins Spiel. Eine ziemlich unhandliche Größe, aber zum Glück gibt’s für den geometrischen Spezialfall „massive zylindrische Rolle rotiert um ihre Symmetrieachse“ eine einfache Formel: Q = ½ • Masse • Radius². Eine 1000 Kilogramm schwere Rolle mit 46 Zentimetern Durchmesser (d. h. 23 cm Radius) hat also das Massenträgheitsmoment Q = ½ • 1000 kg • (0,23 m)² = 26,45 kg m². Und plötzlich ist alles ziemlich einfach: Das >Drehmoment M, das eine Rolle mit dem Massenträgheitsmoment Q um das 50 110 100 90 80 70 60 40 30 20 10 10 kW PS 4 5 0 3 1 6 2 Motordrehzahl in 1/min x 1000 7 8 9 10 11 12 13 Murphys Gesetz: Die interessantesten Größen sind die, die sich der unmittelbaren Messung verweigern. Zum Beispiel Leistung und Drehmoment eines Motorradmotors. -REPORT REPORT Massenträgheitsmoment der Rolle: Masse • Radius² Formel: Q = m • r² Drehmoment: Massenträgheitsmoment • Beschleunigung Formel: M = Q • a Leistung: (in kW) Drehmoment • Drehzahl / 9549 Formel: P = M • n / 9549 Zum Eingewöhnen – nicht zum Auswendiglernen: Damit der Prüfstand eine Leistungskurve ausspuckt, muss er gewaltig rechnen. TEXT: MANUEL FUCHS FOTOS: ARCHIV, MPS-STUDIO Ein Motorrad nach dem Spitzenwert seiner Leistungskurve einzuordnen, ist ungefähr so, wie den Wohnwert eines Einfamilienhauses nach der Giebelhöhe abzuschätzen. Wer eine Leistungskurve richtig lesen will, muss wissen, wie sie entsteht. PS 9/2007 39 DREHMOMENT MASSENTRÄGHEITSMOMENT Durch den gezielten Einsatz von Drehmoment lässt sich Gummi in Rauch verwandeln. Und Gestank. Maß a beschleunigt, ergibt sich aus der Multiplikation dieser Größen: M = Q • a. Für unser Beispiel heißt das also: 26,45 kg m² • 4/s² = 105,8 kg m²/s. Die Rechnerei schüttelt der Prüfstandscomputer aus dem Ärmel. Die Einheit für Kraft, Newton (N) kann man auch als kg m/s schreiben, also sind 105,8 kg m²/s exakt 105,8 Nm – voilà, ein Drehmomentwert. Was das Auge sieht und der Geist ahnt, würde eine Messung bestätigen: Scheibenräder sind träge. Mit so viel Drehmoment wurde die Rolle also beschleunigt – und wo kommt es her? Vom Hinterrad des Motorrads. „Aber das Drehmoment ist ja gar nicht immer gleich groß – sieht man doch an den Kurven in PS!“ Scharf beobachtet und klug mitgedacht. Der Prüfstand merkt das daran, dass die Rolle eben nicht konstant beschleunigt. Als Bezugsgröße, wann sie um wie viel schneller wird, greift der Prüfstandscomputer die Motordrehzahl (Formelzeichen: n) des zu messenden Fahrzeugs aus dessen Bordelektronik ab und ordnet dann jedem errechneten Drehmomentwert einen Drehzahlwert zu, zum Beispiel 105,8 Nm bei 4450/min. „Alles klar, und weil die Leistung im Prinzip das Integral des Drehmoments DREHMOMENT Ein Drehmoment entsteht, sobald eine Kraft über einen Hebel wirkt. Anschaulich: Eine Maß Weißbier (ca. 10 N) am angewinkelten Arm (ca. 0,25 m) zu halten, erwirkt ein Drehmoment von 10 N • 0,25 m = 2,5 Nm. Um dasselbe Drehmoment mit einem Kristallweizen (ca. 5 N) aufzubringen, bräuchte man einen 50 Zentimeter langen Arm. Ein Kölsch (ca. 2 N) müsste, um das gleiche Drehmoment zu erzeugen, über einen 1,25 m langen Hebel angreifen, eine Tafel Schokolade (ca. 1 N) über einen 2,5-Meter-Hebel. IDENTISCHES DREHMOMENT: HALBE MASSE, DOPPELTE HEBELLÄNGE Nicht vom Begriff verwirren lassen: Ein Drehmoment liegt auch dann an, wenn sich für den Moment einmal nichts dreht. Hauptsache, eine Kraft wirkt über einen Hebel. MASSENTRÄGHEITSMOMENT Diese physikalische Größe drückt – grob formuliert – aus, wie sehr sich ein starrer Körper dagegen wehrt, in eine Drehung versetzt oder aus einer solchen gebremst zu werden. Dabei ist nicht nur die absolute Masse entscheidend, sondern auch deren Verteilung: Je weiter weg von der Drehachse, desto träger ist der Körper. Anschaulich machen das die Gemüsedosen auf dem Käserondell rechts: Beide Konstellationen sind gleich schwer, aber wenn die Dosen am Rand stehen, ist das Massenträgheitsmoment größer. 40 PS 9/2007 Sind die Dosen entlang der Drehachse gestapelt, lässt sich die Scheibe deutlich leichter andrehen. Am Rand der Drehscheibe verteilte Dosen erhöhen deren Massenträgheitsmoment massiv. VERLUSTLEISTUNG VOLLLASTMESSUNG Sieht unschuldig aus, frisst aber Leistung: der Antriebsstrang. Verzichten will trotzdem keiner auf ihn. über die Drehzahl ist...“ Ja, Streber, richtig. Aber nicht so schnell. In Klardeutsch heißt das: Die kW-Leistung (Formelzeichen: P), die ein Motor bei einer bestimmten Drehzahl abgibt, errechnet sich, in dem man die Drehzahl und das zugehörige Drehmoment miteinander malnimmt und durch eine Konstante dividiert, die von Umdrehungen pro Minute auf Auch wenn der Prüfstand Vollastkurven ausspuckt: Sogar im Profi-Sport sind Teillasten fast wichtiger. Meter pro Sekunde umrechnet, so eine Art Adapterzahl. Diese Konstante lautet 60 000/2, wobei das Verhältnis von Kreisumfang zu Kreisdurchmesser beschreibt und ungefähr 3,14 beträgt. Also: P = n • M / 9549. Im Beispiel: Wenn bei 4450/min 105,8 Nm anliegen, leistet der Motor bei dieser Drehzahl 49,3 kW (=67,1 PS, da 1 kW = 1,36 PS). Fertig ist die Leistung am Hinterrad. Wer will – und PS will grundsätzlich – kann die >Verlustleistung addieren, um die Leistung an der Kurbelwelle zu erhalten. Jetzt lassen sich Koordinatensysteme mit wunderbaren Kurven füllen: Auf der horizontalen Achse die Drehzahl, auf der vertikalen Achse die kW- bzw. NmWerte. Immer wieder zu sehen in PS. VERLUSTLEISTUNG Hinterrad davonmachen – in Form von Wärme, aber auch Verformung, Materialabtrag, etc. Außerdem bleibt zwischen Kurbelwelle und Kupplung, also im Primärtrieb, Leistung auf der Strecke – das kann der Prüfstand nicht erfassen und nicht herausrechnen. Die EU-Richtlinie 95/1/EG setzt die Kurbelwellenleistung von Motorrädern mit geradverzahntem Primärtrieb (den haben die meisten Sportmotorräder) 2 Prozent über der Kupplungsleistung an: Kurbelwellenleistung = Kupplungsleistung • 1,02. Motorleistung 100 Ein verlustfreier Antriebsstrang, das wär’s. Aber egal, wie gut eine Kette geschmiert ist, sie erwärmt sich im Betrieb, zapft also Leistung ab, die man lieber am Hinterrad hätte. Um diesen Verlust zu messen, vergleicht man, wie lange eine Prüfstandsrolle braucht, um aus einer bestimmten Drehzahl zum Stillstand zu kommen, mit der Zeit, die sie braucht, wenn sich das Hinterrad eines ausgekuppelten Motorrades mitdreht. Aus der Zeitdifferenz kann man berechnen, wie viele kW sich zwischen Kupplung und 130 90 120 Kurbelwellenleistung 88,2 kW (120,0 PS) 80 110 bei 9500/min 100 Kupplungsleistung 70 90 86,4 kW (117,5 PS) 60 80 bei 9500/min 50 70 60 Hinterradleistung 40 50 80,9 kW (110,0 PS) 30 40 bei 9500/min Verlustleistung 20 30 5,5 kW (7,5 PS) 20 10 10 bei 9500/min kW PS 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Motordrehzahl in 1/min x 1000 10 VOLLLASTMESSUNG Heißt, dass bei voll geöffnetem Gasgriff gemessen wird. Teillastmessungen, etwa für 2, 5, 10, 25, 50, 60 und 75 Prozent der maximalen Gasgriffstellung, führen Tuner durch, wenn sie neue Kennfelder für die Zünd-/Einspritzanlage austüfteln. „Was gibt’s denn da zu messen? Bei 50 Prozent wird wohl die halbe Leistung rauskommen, oder?“ Großer Irrtum! Schon allein, weil die Fläche, die die Drosselklappen freigeben, nicht linear mit dem Öffnungswinkel wächst. Von den vollkommen anderen Strömungsbe- dingungen, die halboffene Drosselklappen im Einlasstrakt erzeugen, wollen wir gar nicht anfangen. Es führt nichts dran vorbei, so etwas muss gemessen werden. Die Firma Micron erledigt so etwas beispielsweise mit einem an den Gasgriff geklemmten Winkelmesser. Wenn PS einem Testmotorrad leistungsmäßig auf den Zahn fühlt, sind solche Teillast-Überlegungen normalerweise zweitrangig. Dann geht’s nur um jene kW- und Nm-Werte, die sich einstellen, wenn die Drosselklappen auf Durchzug stehen. Cleveres Instrument: ein Gasgriff mit Winkeln für Teillastmessungen. 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