Glücksfall Hartz IV - Katholische SonntagsZeitung

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Glücksfall Hartz IV - Katholische SonntagsZeitung
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29./30. Januar 2011 / Nr. 4
Pfarrer
Klaus Weyers
Die Sache mit
dem Wasser
Könnte ein Hering denken,
müsste er über Wasser nachdenken. Denn er lebt drin, bekommt
es kostenlos, kann es aber weder herstellen noch bezahlen.
Als denkender Katholik muss
ich über die Gnade nachdenken.
Ich lebe in ihr und bekomme
sie kostenlos, kann sie aber weder herstellen noch bezahlen.
Und wenn ich nicht mehr in der
Gnade bin, gleiche ich einem
Karpfen in einem ausgebaggerten Braunkohletagebau, was bekanntlich tödliche Folgen hat.
Der Chefapostel Paulus beendete seine Briefe mit den Worten: „Die Gnade unseres Herrn
Jesus Christus sei mit euch!“
Gnade heißt auf griechisch „charis“. Das ist verwandt mit unserem deutschen Wort „charmant“.
Ein von Gott begnadeter Mensch
müsste eigentlich ein charmanter Mensch sein, der viel lächelt.
Auf dieses Lächeln habe ich keinen Anspruch, kann es nicht
kaufen und nicht in einem Prozess erzwingen. Aber wenn es
mir unerwartet geschenkt wird,
bin ich glücklich.
Gott hätte keinen Grund, uns
zuzulächeln. Wir haben nichts
zu bieten. Aber Gott schenkt uns
sein Lächeln, seine Zuneigung,
ja sogar seine ganze Liebe. Warum Gott uns in das Kraftfeld
seiner Gnade holt, wissen wir
nicht. Gott hätte es nicht nötig.
Sein Lächeln ist die völlig umsonst und total voraussetzungslos geschenkte Gnade. Zu Maria
sagt der Engel: „Du bist voll der
Gnade.“ Doch sie war mindestens auf dieses Lächeln vorbereitet. In ihr war nichts, das Gottes
Zuneigung abgeblockt hätte.
Ich kann aber auch die unverdiente Liebe, die mir jemand
schenkt, an mir ablaufen lassen wie Wasser am Regenmantel. Gott lächelt uns an, und wir
stehen eiskalt da wie tiefgefrorene Fragezeichen. Was heißt das
Wort Gnade? Es ist die prall gefüllte bunte Kurzformel für alles das, was uns Gott an Zuwendung, Liebe und Lebenserfüllung
schenkt, und zwar ohne Vorbedingung. Du kannst in Gnade
schwimmen wie ein Fisch im
Wasser. Du sollst es auch.
SonntagsZeitung
Katholische
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Erzbistum Berlin
Seite I
Glücksfall Hartz IV
Schulden, Sucht und Obdachlosigkeit – Langzeitarbeitslose
haben häufig viele Probleme. Das Jobcenter kann ihnen helfen
BERLIN – Während sich die Politiker noch immer über die
Hartz IV-Reform streiten, hilft
Fallmanager René Walther im
Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg Langzeitarbeitslosen, einen
Weg aus der Abwärts-Spirale zu
finden.
Die „Agenda 2010“ nennt An­
dreas K.* einen „Glücksfall“. Ohne
die würde der 55-Jährige noch immer auf der Straße sitzen. Arbeitslosigkeit und Drogensucht haben ihn
Ende der 1990er Jahre dorthin gebracht. „Hartz IV bedeutete für mich
den sozialen Aufstieg. Endlich hatte
ich wieder Papiere und eine Wohnung“, erinnert er sich.
Wenn es nicht mehr einfach
„nur“ um eine Arbeitsplatzvermittlung geht, sondern Dinge wie
Schulden, Sucht und Obdachlosigkeit dazukommen, dann beginnt
René Wal­thers Aufgabe als Fallmanager. In der Woche führt er 20 bis
25 Gespräche mit Kunden. „Wir
analysieren die Probleme und hinterfragen die Ursachen, um dann
mit Hilfe unseres weit gefächerten
Netzwerkes gezielte Hilfe ansprechen zu können“, erklärt Walther.
Das kann die Vermittlung an ein
Drogentherapiezentrum oder an
eine Schuldnerberatung sein. Die
Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt bleibt dabei höchstes Ziel,
doch dafür müssen erst die Probleme gelöst werden.
Andreas K. war in der IT-Branche
tätig. Erst als Programmierer, dann
als Berater. „Ich war hoch angesehen im Unternehmen“, sagt er. Doch
die 60-Stunden-Wochen zehrten an
seinen Kräften. Irgendwann blieb es
nicht mehr bei einem Feierabendbierchen mit den Kollegen: „Ich habe
getrunken, um den Stress loszuwerden.“ Schließlich war Andreas K. für
seinen Arbeitgeber nicht mehr tragbar. Er verlor seinen Job und wenig
später auch die Wohnung. Um zu
vergessen, flüchtete sich der einst so
erfolgreiche Informatiker in noch
mehr Drogen.
Dass so hoch gebildete Menschen
wie Andreas K. in der Langzeitarbeitslosigkeit landen, ist für Fallmanager Walther keine Überraschung.
Er ist fest überzeugt, dass es jeden
treffen kann: „Ich habe schon viele
betreut, die hatten Abitur, Studium,
einen guten Beruf und dann kam
eine klinische Erkrankung. Plötzlich
entwickelten sie Sozialphobien, trauten sich nicht mehr aus dem
Haus.“
Fallmanager René Walther betreut derzeit 85 Kunden. Foto: cs
Seit siebeneinhalb Jahren ist AnAufgeben kommt für ihn trotzdem
dreas K. „clean“, erzählt er stolz. So- nicht in Frage. Jetzt hofft er, dass er
gar das Rauchen hat er mittlerweile bald wieder an einer Maßnahme
aufgegeben. Dafür wird er jetzt von oder einem Projekt teilnehmen
einer Nervenkrankheit geplagt, die kann. Dass er keine Beschäftigung
ihm das Gehen schwer macht. De- hat, nagt an ihm: „Ich brauche impressionen, weil er sich so hilflos mer eine Herausforderung.“
Die Mehrzahl seiner Kunden zeifühlt, kommen noch dazu. Trotzdem
sagt er: „Ich habe keinen Grund zu gen ein ähnliches Engagement, sagt
jammern.“ Im Jobcenter erfahre er Fallmanager René Walther. Mal ent„tätige Hilfe“. Am meisten ist er für stehen aber auch bei ihm Frustsitua­
seine Wohnsituation dankbar: „Ich tionen: „Wenn man alles tut, sich
habe panische Angst, dass ich noch persönlich für jemanden engagiert
einmal meine Wohnung verliere.“ und das dann manchmal mutwillig
Zu den Mitarbeitern hat er Vertrauen abgebrochen wird“, erklärt er. „Aber
aufgebaut, man kennt sich lange, die das ist ganz selten“, fügt er hinzu.
Menschen gehen auf seine Wünsche Aktuell betreut er 85 Kunden. Die
ein.
Zahl schwanke immer zwischen
So hat er als Bibliothekshilfe und 80 und 100.
Hausmeister gearbeitet und an zahlDauerhaft vom Jobcenter unabreichen IT-Qualifikationen teilge- hängig zu sein, das ist der größte
nommen. Besonders
Wunsch von An­
stolz ist er auf ein sehr
dreas K. Sein Privatle„Kein Grund
schwieriges PC-Zertifiben nennt er bereits erkat, das er geschafft hat.
füllt: „Ich habe ein guzu
jammern“
Nutzen wird es ihm
tes soziales Umfeld,
nichts. Seine Chancen,
eine Wohnung, fürchnoch einmal einen Job in der IT-Bran- terlich nette Nachbarn und eine
che zu finden, schätzt Andreas K. ge- Freundin.“ Von Politik und Wirtring ein: „Für mich sehe ich schwarz.“ schaft fordert er, dass hochqualifiTrotzdem fehlt ihm seine Arbeit als zierte Arbeitnehmer anerkannt werPC-Spezialist. Lange wollte er nicht den und ihnen eine Chance gegewahr haben, dass er in diesem Be- ben wird – vor allem auch denjenireich wohl nicht mehr Fuß fassen gen mit einem Bruch in ihrem Lewird. „Ich habe es erst nicht rea­ benslauf. „Die Politiker sollen Langlisisiert, dass mit 50 Schluss sein soll. zeitarbeitslose verstärkt fördern und
Trotz der vielen IT-Qualifikationen nicht noch an denen sparen!“
habe ich keinen neuen Job bekom- Christina Seik
men. Meine Kontakte von früher waren mittlerweile selbst pleite.“
*Name von der Redaktion geändert